14. Unter dem Fußboden

Nach einer Portion Müsli und einem Becher unglaublich schwarzen Kaffee ging ich nach draußen, um zu sehen, ob ich den Wagen vielleicht doch irgendwie zum Laufen kriegen konnte. Obwohl er nicht mal richtig laufen musste. Es hätte schon genügt, wenn er gehumpelt wäre. Liz hatte sich bereits auf den Weg zum Tropical Bird Park gemacht. Sie trug ein sehr enges schwarzes T-Shirt, dazu einen äußerst kurzen kanariengelben Rock und gelbe hohe Stiefel. Ich wusste nicht, ob sie mich scharf machen oder ob sie mir zeigen wollte, dass ich mindestens zehn Jahre älter war als sie. Vielleicht war sie auch einfach nur pervers.

An der Küchentür hatte sie mir dann aber einen Kuss gegeben, ohne die Augen zu schließen, und mir in den Schritt gegriffen, während sie >danke< hauchte. Ich blieb mit dem Gefühl zurück, dass ich ihr irgendetwas gegeben hatte, was sie hatte haben wollen.

Ich sah nach Danny und Charity. Beide schliefen immer noch fest. Nachdem ich Charity gebadet und ihr die Haare gewaschen hatte und sie eine Bluse von Liz trug, sah sie nicht mehr wie aus einem anderen Jahrhundert aus. Fast kam es mir unmöglich vor, dass ich sie aus dem Jahr 1886 hergeholt hatte.

Ich ging aus dem Haus, und das Erste, was mir in die Augen fiel, war der Renault von Dennis Pickering, der neben meinem demolierten Audi geparkt war. Oh Gott! Ich hatte seinen Wagen völlig vergessen! Ich fühlte mich schrecklich schuldig und entsetzt. Schuldig, weil seine Frau längst außer sich sein musste, da er noch nicht nach Hause gekommen war. Entsetzt, weil die Polizei unweigerlich den vor Fortyfoot House geparkten Wagen sehen und zwangsläufig (und in gewisser Weise sogar zu Recht) auf den Gedanken kommen würde, dass Liz und ich etwas mit seinem Verschwinden zu tun haben könnten.

Ich ging um den Wagen und stellte fest, dass er nicht abgeschlossen war. Die Schlüssel hatte Pickering aber nicht stecken lassen. Ich hätte die Handbremse lösen und den Wagen außer Sichtweite schieben können, aber was hätte ich dann mit ihm anfangen sollen? Ich hatte keine Ahnung, wie man einen Wagen kurzschließt. Und abgesehen davon musste die gesamte Bevölkerung von Bonchurch und Ventnor den Wagen kennen. Ich hätte keine hundert Meter mit ihm fahren können, ohne von irgendeinem Aufpasser gesehen zu werden.

Ich versuchte noch immer, eine Lösung für das Problem zu finden, als überraschend der Rover von Detective Sergeant Miller in der Einfahrt auftauchte. Miller stieg aus. Er hatte ein Hemd mit kurzen Ärmeln an und trug eine Sonnenbrille. Als er sie abnahm, wirkte er so erschöpft wie nach drei Tagen ohne Schlaf. Detective Constable Jones folgte ihm auf dem Fuß und wirkte munter. Er roch intensiv nach Brut 33.

»Aha, hier hält sich also der vermisste Mr. Pickering auf«, sagte Miller, ging zum Renault und trat gegen das Hinterrad.

»Tja, also ... genau genommen ist er nicht hier«, erwiderte ich. Ich wusste, dass ich meine Worte sorgfältig wählen musste.

»Wie bitte?«, fragte Miller in einem seltsamen Tonfall.

»Er kam her, das ist richtig. Aber er ist jetzt nicht hier.«

»Sein Wagen ist aber noch hier«, bemerkte Jones.

»Ja«, erwiderte ich.

»Aber er nicht?«

»Nein, er hatte gestern Abend ... ein paar Gläser getrunken. Er wollte zu Fuß nach Hause gehen.«

»Wie viel sind >ein paar Gläser

»Vielleicht sechs oder sieben Gläser Wein. Wir haben uns unterhalten, wir haben alle etwas zu viel getrunken. Ich glaube, keiner von uns hat wirklich mitgezählt.«

»Oh«, sagte Miller. »Das ist schade. Wann ist er denn aufgebrochen? «

»Schwer zu sagen. Vielleicht um halb elf.«

Miller setzte seine Sonnenbrille wieder auf und stand da, die Arme in die Hüften gestemmt, und schien Löcher in die Luft zu starren. Obwohl die Sonne schien, wirkte Fortyfoot House hinter ihm kalt und dunkel und in sich gekehrt, so wie ein alter Verwandter, der bei einer Familienfeier wortlos dasitzt und nur an früher und an die denkt, die damals lebten, die er kannte und die ihn liebten und die alle seit langer Zeit tot waren.

»Mr. Pickering hatte seiner Frau versprochen, dass er sie gegen elf Uhr anrufen wollte«, sagte Miller.

»Tatsächlich?«

»Er hatte ihr gesagt, dass er erst hierher kommt und dann nach Shanklin Old Village gehen wollte, um Mrs. Martin zu besuchen.«

»Davon hat er mir nichts gesagt.«

Miller nickte, sagte aber weiter nichts. Jones versetzte dem Reifen des Renault noch einen Tritt, was Miller mit einem missbilligenden Blick konterte. »Sieht ein bisschen platt aus«, erklärte Jones und errötete ein wenig.

In dem Moment tauchten Danny und Charity an der Tür auf. Danny trug seinen Schlafanzug, Charity hatte Liz' Bluse an.

»Daddy!«, rief Danny. »Charity möchte wissen, was sie anziehen soll.«

»Einen Augenblick bitte«, sagte ich zu Miller.

»Keine Ursache. Sie haben ja wohl alle Hände voll zu tun. Wer ist denn die Kleine?«

»Meine Nichte«, log ich. »Die jüngste Tochter meiner Schwester.«

»Tja, es geht nichts über einen Urlaub am Meer mit einem Onkel«, sagte Miller und wandte sich ab. »Sie melden sich doch, wenn Mr. Pickering kommt, um seinen Wagen abzuholen? Ich vermute, er ist einfach abhanden gekommen. Offenbar hat er das schon früher gemacht. Mrs. Pickering sagt, er hatte schon mal Schwierigkeiten mit seiner sexuellen Identität.«

»Ein heimlicher Transvestit, mit anderen Worten«, warf Jones ein.

Miller warf ihm einen flüchtigen verärgerten Blick zu. »Mrs. Pickering sagte uns, er spaziere am Strand auf und ab und rede mit Gott.«

»Und dabei versucht er, nicht an die knackigen Arsche seiner Chorknaben zu denken«, sagte Jones und ergab sich ganz seinen Vorurteilen.

»Würden Sie die Klappe halten, Jones?«, forderte Miller ihn auf.

»'tschuldigung«, erwiderte dieser grinsend.

Die beiden kehrten zum Rover zurück und waren nur noch Sekunden davon entfernt, die Türen zuzuschlagen, als Charity mit durchdringender Stimme rief: »Sir! Sir! Können wir wirklich zwei Eier zum Frühstück haben? Danny sagt, das geht!«

Miller zögerte einen Moment lang, dann stieg er aus, nahm erneut seine Sonnenbrille ab und fragte mich mit der

Gelassenheit eines erfahrenen Polizisten: »Wie heißt das Mädchen?«

»Charity«, antwortete ich. »Wieso?«

Ohne auf meine Frage zu reagieren, rief Miller: »Charity? Komm doch mal bitte her, Charity!«

Charity eilte barfuß über den Kies, ohne einen Augenblick zu zogern. Sie war es gewohnt, auf der Stelle zu reagieren, wenn Erwachsene etwas von ihr wollten. Sie lief zu Miller und machte einen Knicks.

Miller sah Charity mit offensichtlicher Irritation an.

»Ist er dein Onkel?«, fragte er und deutete mit der Brille auf mich.

Charity sah mich ängstlich an, woraufhin ich versuchte, ihr ein >Ja< zu suggerieren, ohne dabei meinen gelassenen Gesichtsausdruck zu verändern, den ich angenommen hatte, als Miller noch einmal aus dem Wagen gestiegen war. Ich weiß nicht, wie mein Gesicht in jenem Moment aussah, auf jeden Fall musste es sonderbar genug sein, damit Charity mich perplex ansah und schließlich sagte: »Nein, Sir, er ist nicht mein Onkel.«

»Ooh«, brachte Miller nachdenklich heraus. »Er isl nicht dein Onkel?«

»Aber er ist ein mutiger Gentleman. Er hat mich gerettet, bei sich aufgenommen und mich gebadet.«

»Ach, er hat dich gebadet?«

»Oh, um Gottes willen, Sergeant«, warf ich ein. »Liz hat sie gebadet.«

»Aber Sie sind nicht ihr Onkel.«

»Ich benutze lieber das Wort Onkel.«

»Aber Sie sind es nicht.«

»Nein.«

»Na gut«, sagte Miller mit dieser schrecklichen, unerträglichen Geduld in seinem Tonfall, den die Polizei anwandte, um Verdächtige so sehr zu langweilen, dass sie schließlich ein Geständnis ablegten. »Wenn er nicht dein Onkel ist, wer ist er dann?« »Er ist Dannys Papa. Er hat mich gerettet und bei sich aufgenommen. Der Gentleman Reverend wurde getötet, aber er hat mich gerettet.«

»Der Gentleman Reverend wurde getötet?«

»Hören Sie nicht auf sie«, sagte ich und machte eine abfällige Handbewegung. »Sie hat eine zu rege Fantasie. Geburtsfehler, um ehrlich zu sein.«

Miller blieb aber hartnäckig: »Und wer hat den Gentleman Reverend umgebracht, mein Liebling?«

»Sie sollten wirklich nicht auf sie hören«, warf ich ein.

Charity machte einen besorgten Gesichtsausdruck. »Der Gentleman hat ihn nicht umgebracht, Sir. Der Gentleman hat mich gerettet. Umgebracht hat ihn ...«

Sie legte die Hände so vor ihr Gesicht, dass nur noch ihre Augen unbedeckt waren, um verstohlene, umherhuschende Blicke anzudeuten. Dann krümmte sie ihre Fingerspitzen, bis sie aussahen wie-Zähne, und machte einen Buckel, der auf eine abscheulich beschwörende Weise an Brown Jenkin erinnerte. Schließlich hüpfte sie vor dem Detective Sergeant so hin und her, dass er vor Beunruhigung regelrecht erstarrte.

»Sir«, flüsterte Jones. »Was in drei Teufels Namen soll denn das sein?«

»Brown Jenkin«, sagte Miller, dessen Gesicht kreidebleich geworden war.

»Was, Sir?«

»Ich sagte: Ich denke nach.«

»Oh, gut, Sir. Sehr gut, Sir.«

Miller bückte sich zu Charity hinab, fasste sie an den Händen und sah ihr direkt in die Augen. »Charity, wo wurde der Gentleman Reverend ermordet?«

»Im Wohnzimmer, Sir.«

»Er ist aber nicht mehr dort, oder?«

»Nicht jetzt, Sir.«

Miller war aufmerksam genug, um die ungewöhnliche Betonung des Wortes >jetzt< zu bemerken, aber offenbar verstand er nicht dessen wirkliche Bedeutung. Wer hätte das auch schon gekonnt? Selbst Charitys altmodisches Benehmen hätte keinen halbwegs vernünftigen Polizisten auf den Gedanken bringen können, dass ich sie erst vor kurzem aus dem Jahr 1886 mitgebracht hatte. Ich konnte es ja selbst kaum glauben. Es war wie ein Traum oder wie ein Film.

Miller richtete sich wieder auf und sah mich geduldig an. »Ich glaube, Sie sollten mir besser erzählen, was geschehen ist«, sagte er, während er so dicht neben mir stand, dass Jones ihn nicht verstehen konnte. »Meine Vorgesetzten werden es wohl kaum glauben, ebenso Jones. Aber ich glaube es, und ich sage Ihnen, dass dem Ganzen ein Ende gesetzt wird, bevor noch mehr Menschenleben zu beklagen sind.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen helfen kann«, erwiderte ich.

Ich hatte meine eigenen Pläne für Fortyfoot House, ich wollte nicht, dass Detective Sergeant Miller alles nur noch komplizierter machte.

»Warum sollte mir dieses Mädchen wohl erzählen, dass Mr. Pickering umgebracht wurde?«, fragte er.

»Lebhafte Fantasie, würde ich sagen.«

»Aber ... wir könnten uns ja mal im Haus umsehen, oder?«

»Natürlich. Wenn Sie das möchten.«

Miller drehte sich um und nahm Charity an die Hand. »Warum zeigst du mir nicht, wo der Gentleman Reverend ermordet wurde, Charity?«

Sie führte ihn gehorsam zum Haus. Jones und ich folgten den beiden. »Kinder«, sagte Jones. »Ich hasse Ermittlungen mit Kindern. Man weiß nie, wie viel wahr ist, wie viel sie dazu-dichten und wie viel sie aus dem Fernsehen haben.«

Ich sagte nichts. Mir schien es am sichersten, den Mund zu halten.

Miller ging bis ins Wohnzimmer und schlich herum. Natürlich sah der Raum anders aus als 1886. Die Holzvertäfelung war verschwunden, die Möbel waren durch moderneres Mobiliar ersetzt worden. Der Kamin war noch an seinem Platz, doch den viktorianischen Stil hatte man in den dreißiger Jahren mit beigefarbenen Kacheln modernisiert.

»Also ... Zeichen für einen Kampf kann ich nicht sehen«, sagte Miller. »Wo genau wurde der Gentleman Reverend denn umgebracht?«

Charity deutete auf die Stelle, wo gestern vor 106 Jahren Brown Jenkin Dennis Pickering auf unglaublich brutale Weise getötet hatte.

»Aha«, machte Miller. »Und wie wurde er umgebracht?«

Charity formte aus ihrer Hand eine Kralle und deutete eine aufwärts gerichtete aufreißende Bewegung an.

»Er hat sich zu Tode gekratzt«, meinte Jones.

Miller sagte nichts, kreiste aber weiter durch den Raum und inspizierte jeden Quadratzentimeter. Dann wandte er sich wieder Charity zu und fragte: »Was hat man denn mit dem Gentleman Reverend gemacht, nachdem er tot war?«

Charity schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Wir sind weggelaufen. Dannys Papa hat mich nach oben gebracht und mich gerettet.«

Jones warf Miller einen geringschätzigen Blick zu. »Um ehrlich zu sein, Sir, klingt das für mich schwer nach einem Märchen.«

»Hier müsste literweise Blut zu finden sein«, sagte Miller.

»Literweise«, stimmte ich ihm zu. Ich begann zu schwitzen, obwohl ich nicht wusste, warum. Miller schaffte es, dass ich mich schuldig fühlte, dabei hatte ich überhaupt nichts getan.

»Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich einen Blick unter den Teppich werfe?«, fragte Miller.

»Fühlen Sie sich wie zu Hause«, erwiderte ich.

Jones kippte den Sessel ein wenig, sodass Miller den Teppich darunter fortziehen konnte, um ihn dann ordentlich aufzurollen, damit er die Dielenbretter in der Mitte des Raums begutachten konnte. Er hatte ja eigentlich Recht, der ganze Boden war mit Pickerings Blut bedeckt worden, aber im Lauf von hundert Jahren war das zu einem dunklen, rostigen Rorschach-Muster geworden.

Miller kniete nieder und strich über den Boden. » Hier ist zwar etwas verschüttet worden, aber nicht in jüngerer Zeit.« Jones gesellte sich zu ihm: »Sehen Sie hier, Sir. Der Boden ist irgendwann mal geöffnet worden. Das ist allerdings auch schon sehr lange her, aber es ist nicht ordentlich ausgeführt worden ...«

Millers Blick war so giftig, als wolle er mich auf der Stelle umbringen. Er machte kein Hehl daraus, dass ich seiner Ansicht nach mehr über Pickerings Verschwinden wusste, als ich ihm verriet. Dennoch war ich ziemlich sicher, dass er mich nicht für einen Mörder hielt. Anders als seine Kollegen war er bereit, an die Geräusche und die Lichter und die übernatürlichen Kräfte zu glauben, die den Frieden in Fortyfoot House störten. Sein einziges Problem war, Beweise zu erbringen.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir ein paar Bohlen herausnehmen, um zu sehen, was sich darunter befindet?«, fragte er mich.

»Es ist nicht mein Haus, da sollten Sie besser mit den Maklern sprechen.«

»Wir werden auch nichts beschädigen.«

»Trotzdem sollten Sie erst mit den Maklern reden. Dunn & Michael in Ventnor.«

Miller zuckte mit den Schultern. »Na gut, Mr. Williams. Wenn Sie das für erforderlich halten, werden wir das machen.«

»Ich will Sie nicht in Ihrer Arbeit behindern. Aber wenn irgendetwas beschädigt wird ... na ja, dann trage ich die Verantwortung.«

»Ich verstehe«, sagte Miller beschwichtigend. »Wir sind ungefähr in einer halben Stunde wieder da. Können wir den Teppich so liegen lassen?«

»Aber natürlich.«

Miller und Jones verließen Fortyfoot House ohne ein weiteres Wort. Ich stand vor der Tür und sah zu, wie sie abfuhren, dann wandte ich mich an Danny und Charity und sagte: »Warum geht ihr nicht runter zum Strand und spielt dort eine Weile? Danny, du kannst Charity zeigen, wie man ein Taschenkrebsrennen veranstaltet. Danach mache ich euch Frühstück.«

»Aber ich habe jetzt Hunger«, beschwerte sich Danny.

»Danny, bitte. Du weißt, dass es im Moment nicht ganz einfach für mich ist. Kommt in ... na, sagen wir, in zwanzig Minuten zurück. Komm, ich leihe dir auch meine Uhr.«

Ich nahm meine durchsichtige Swatch ab und legte sie um Dannys dünnes Handgelenk. Seit fast sechs Monaten hatte er mich bearbeitet, damit er so eine Uhr bekam, wie ich sie hatte, und jetzt war er so begeistert, dass er sein Grinsen gar nicht mehr abstellen konnte. Charity sah fasziniert auf die Uhr, aber Danny legte seinen Arm um ihre Schultern und sagte: »Komm, Charity! Lass uns Taschenkrebse suchen.« Dann rannten sie aus der Küche nach draußen in den Garten.

Während ich den beiden nachsah, wünschte ich mir die Unschuld dieser Zeit zurück. Für mich und Janie. Und für mich und Liz.


Ich nahm das kurze Stemmeisen aus meiner Werkzeugkiste und brachte es ins Wohnzimmer. Wenn irgendjemand oder irgendetwas unter diesen Dielen versteckt worden war, dann wollte ich es als Erster finden. Ich steckte das flache Ende des Stemmeisens zwischen zwei Bretter und bewegte es vorsichtig nach oben, um nicht zu deutliche Spuren zu hinterlassen. Zunächst wollten die Bretter aber nicht nachgeben. Sie saßen zwar locker und rutschten hin und her, wenn man auf sie trat, doch die Nägel, mit denen man sie befestigt hatte, waren mit großer Kraft eingeschlagen worden. Es würde erhebliche Mühen kosten, sie zu lockern.

Ich begann vorsichtig, doch nach sechs oder sieben erfolglosen Versuchen gab ich diesen Plan fast auf. Was sollte es auch? Ich sollte Fortyfoot House renovieren, und wenn ich dabei den Fußboden im Wohnzimmer aufreißen wollte, dann konnte ich das verdammt noch mal auch machen. Ich konnte immer noch sagen, dass ich Trockenfäule gerochen hätte.

Schließlich gelang es mir, von einem gequälten Knarren begleitet, einen der längsten Nägel aus dem Holz zu ziehen. Und mit ein wenig Anstrengung gab dann auch noch das Brett seinen Widerstand auf.

Darunter war es finster, aber trocken. Ich hatte meine Taschenlampe auf dem Treppenabsatz gelassen, aber ich wusste auch ohne sie, dass sich etwas unter diesem Fußboden befand.

Als ich ein weiteres Brett entfernte, sah ich, was Fortyfoot House seit Jahren unter seinem Fußboden verbarg: einen aschfahlen mumifizierten Körper, sorgfältig zwischen den Querbalken des Bodens verstaut. Die Haut war völlig trocken und hatte die Farbe von Mahagoni, die Arme waren wie Hühnerklauen angewinkelt, die Augenhöhlen waren leer, der Bauch war geöffnet worden und sah, nachdem er über viele Jahre hinweg getrocknet war, eher wie ein Wespennest aus.

Trotz des Mumifizierungsprozesses war sofort zu erkennen, um wen es sich handelte: Dennis Pickering, den man vor über 100 Jahren getötet und unter dem Fußboden begraben hatte. Die trockene Luft unter dem Fußboden hatte seinen Körper und seine Kleidung weitestgehend konserviert, und das, was von ihm übrig war, genügte für Detective Sergeant Miller, um ihn zu identifizieren. Wie Miller allerdings eine gut hundert Jahre alte Mumie in Hush Puppies und Unterwäsche von Marks & Spencer erklären wollte, war mir nicht klar, und ich wollte es auch nicht wissen. Sobald Miller mit Fortyfoot House fertig war, würde ich das Haus bis auf die Grundmauern abbrennen. Mit ein wenig Glück würde es uns alle von Brown Jenkin, vom jungen Mr. Billings und von Kezia Mason sowie von allen anderen Geistern befreien, die Bonchurch seit dem Tag heimgesucht hatten, an dem Fortyfoot House erbaut wurde.

Lange Zeit starrte ich Pickerings geschrumpften Leichnam an. Es war unvorstellbar, dass ich erst gestern noch mit ihm gesprochen hatte, und jetzt lag er dort vor mir wie ein Ausstellungsstück aus dem British Museum.

»Armes Schwein«, sagte ich tonlos. Noch nie hatte mir ein Mensch so Leid getan. Und das Schlimmste war, dass ich seiner Frau nicht mal sagen konnte, was ihm wirklich zugestoßen und wo er abgeblieben war.

Ich musste die Mumie loswerden, bevor Miller zurückkehrte, wusste aber nicht, wie ich das anstellen sollte. In der Gartenlaube gab es eine große altmodische Schubkarre, mit der ich ihn in den Garten hätte bringen und unter einem Komposthaufen verstecken können. Aber abgesehen von der Tatsache, dass er zu Staub zerfallen konnte, sobald ich ihn berührte, war das Risiko immens. Wenn Miller mich dabei erwischte, wie ich Pickerings Leiche beerdigte, würde er sofort und zu Recht annehmen, dass ich etwas über seinen Tod wusste. Dabei genügte es schon, dass er mir den Tod von Harry Martin und das unerklärliche Auftauchen von Charity hätte anhängen können.

Ich ging durch die Küche zurück. Ich wollte einen kurzen Blick auf den Komposthaufen werfen, um zu prüfen, ob ich Pickering darin verstecken konnte. Als ich aber die Haustür öffnete, sah ich, wie ein Streifenwagen neben meinem Audi hielt. Ein uniformierter Polizist stieg aus und setzte seine Mütze auf, um sich dann mit hinter dem Rücken verschränkten Armen neben seinen Wagen zu stellen. Miller hatte offensichtlich den Mann herbestellt, damit er ein Auge auf mich hatte.

Verdammt, was sollte ich jetzt tun? Die Situation wurde mit jeder Sekunde komplizierter. Wenn ich sicher gewesen wäre, dass Miller mir jedes Wort geglaubt hätte, dann hätte ich ihm die Wahrheit erzählt. Aber so sehr er auch an Geister, an Brown Jenkin und an die übernatürlichen Mächte in Fortyfoot House glauben mochte, musste er doch seinen Vorgesetzten einen Bericht vorlegen. Und wenn Pickerings

Leiche gefunden wurde, dann musste er mich unter Mordverdacht festnehmen. Dennis Pickering war immerhin der Vikar, nicht irgendein Penner oder ein besoffener Tourist. Natürlich konnte er nicht beweisen, dass ich etwas getan hatte, weil dem einfach nicht so war. Aber er konnte mich für Monate hinter Gitter und Danny zurück zu Janie oder zu einer Pflegefamilie bringen. Und Liz würde ich auch nie wiedersehen.

Ich ging zurück ins Wohnzimmer und betrachtete die mumifizierte Leiche. Ich konnte sie nicht hier und jetzt aus dem Haus schleppen, selbst wenn ich den Mut gefunden hätte, sie anzufassen. Aber was war, wenn ich sie damals, 1886, aus dem Haus brächte, nachdem Kezia Mason und Brown Jenkin Pickering begraben hatten?

Wenn ich es damals machte, dann würde der Tote jetzt nicht hier sein. Allerdings ging mir der Gedanke durch den Kopf, dass er möglicherweise aus dem Grund hier war, weil ich es 1886 nicht geschafft hatte, ihn aus dem Haus zu bringen. Könnte ich wirklich die Geschichte ändern? Könnte ich zurückreisen und dafür sorgen, dass man Pickerings Leiche niemals fand? Könnte ich vielleicht sogar verhindern, dass er überhaupt getötet wurde? Die Möglichkeiten erschienen mir unendlich. Vielleicht konnte ich ja dafür sorgen, dass Kezia Mason gar nicht erst ins Fortyfoot House gebracht wurde, dass der alte Mr. Billings nicht von einem Blitz getroffen wurde. Vielleicht konnte ich die Geschichte sogar dahingehend verändern, dass Brown Jenkin nie gezeugt wurde.

Ich setzte die Dielenbretter wieder ein und trat sie fest, dann schlug ich die Nägel wieder ein und nahm eine Hand voll Staub und Asche aus dem Kamin, um sie in die Spalten zwischen den Brettern zu reiben, damit sie so aussahen, als hätte sie seit hundert Jahren niemand mehr angerührt. Sehr überzeugend sah meine Arbeit nicht aus, aber falls Miller die Bretter schnell genug heraushebeln ließ, ohne sie erst gründlich zu studieren, dann war es denkbar, dass ihm nichts auffiel.

Ich sah aus dem Fenster nach Danny und Charity, die bei der Sonnenuhr spielten. Charity saß auf dem Gras und flocht ein Stirnband aus Gänseblümchen, während Danny auf einem Bein um sie herumhüpfte. Es sprach nichts dagegen, sie ein paar Minuten unbeobachtet zu lassen, damit ich über den Speicher gehen und Dennis Pickerings Leiche wegschaffen konnte.

Ich lief natürlich Gefahr, Brown Jenkin oder Kezia Mason zu begegnen, aber wenn ich vorsichtig war und ihnen aus dem Weg ging oder wenn ich wenigstens schnell genug rennen konnte, dann hatte ich durchaus eine Chance. Immerhin war ich diesmal auf das vorbereitet, was mich erwartete. Ich nahm mein Stemmeisen, ging auf den Speicher und lauschte. Einen Moment lang glaubte ich, Stimmen zu hören, aber dann wurde mir klar, dass es nur der Wind war, der sich am Dach fing. Ich hatte gehofft, dass noch immer Tageslicht zu sehen sein würde, doch es war stockfinster. Ich schaltete meine Taschenlampe an und suchte den Speicher ab ... aber nach was?

Zwar war es auf dem Speicher dunkel, aber ein ganz schwacher bläulicher Lichtschein fiel durch das Fenster herein. Es war noch immer der Dachboden des Jahres 1886. Nur war es diesmal mitten in der Nacht. Ich ging an dem Dachfenster vorüber und warf einen Blick nach draußen. Ich konnte die Sterne am Himmel und davor eine dünne Schicht grauer Wolken sehen.

Ich richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Klapptür. Sie war nach wie vor von der Speicherseite aus verriegelt, aber einer der Bolzen hatte sich gelockert, als hätte jemand von unten mit unvorstellbarer Kraft immer und immer wieder dagegen geschlagen.

Ich zögerte einen Augenblick, doch dann ging ich hinüber und schob die Riegel vorsichtig zurück. Als ich so weit war, hielt ich den Atem an und lauschte bestimmt eine halbe Minute lang, ob ich unter mir jemanden hören konnte. Wenn ich eines nicht wollte, dann war das, von Brown Jenkin die Beine zerfetzt zu bekommen, während ich mich in mein Schlafzimmer hangelte.

Ich öffnete die Klapptür und sah vorsichtig nach unten. Der Raum war dunkel, aber ich konnte die fahlen Umrisse des bezogenen Betts erkennen. Brown Jenkin musste den Stuhl weggetreten haben, da ich nur eines der Stuhlbeine erkennen konnte. Ich würde also direkt auf den Boden springen müssen, ohne zu viel Lärm zu machen. Ich lauschte wieder, konnte aber keine Stimmen hören. Das Einzige, was an meine Ohren drang, war das Schlagen einer Tür. Natürlich hatte ich keine Ahnung, welche Tageszeit es 1886 war. Ich wusste ja nicht einmal, ob ich an demselben Tag des Jahres 1886 zurückgekehrt war. Vielleicht war es jetzt eine Woche früher oder eine Woche später oder sogar das Jahr 1885 oder 1887. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass Brown Jenkin vor ein paar Stunden gegen den Stuhl getreten hatte. Er konnte genauso gut seit Monaten dort liegen, Fortyfoot House mochte längst verlassen sein.

Ich konnte nur darauf hoffen, dass die beiden Zeiten parallel verliefen, während ich mich in das Schlafzimmer hinabließ und das letzte Stück sprang. Nachdem ich gelandet war, stand ich eine Weile wie erstarrt da und horchte, um sicher zu sein, dass niemand mich gehört hatte. Das Schlafzimmer sah noch genauso aus wie bei meinem letzten Besuch. Von unten hörte ich die Standuhr elf Uhr schlagen.

Die Schlafzimmertür stand einen Spalt offen. Ich schlich langsam weiter, stets darauf bedacht, möglichst keine Geräusche zu verursachen. Eines der Bretter knarrte leise unter meinem Gewicht, aber insgesamt war der Fußboden recht stabil. Mein Herz raste und ich atmete so heftig wie ein Seiltänzer. Es konnte durchaus sein, dass Brown Jenkin im Korridor nur auf mich wartete oder dass Kezia Mason meine Anwesenheit spüren konnte.

Die Wände mit Samt bespannt, so schwarz, wie Sünde und so fein, hörte ich mich im Geiste sagen. Und kleine Zwerge kriechen raus ...

Ich zog die Schlafzimmertür auf und blickte in den Korridor, in dem es noch viel dunkler war. Ich wartete und lauschte, bis meine Ohren vor Anstrengung schmerzten.

In diesem Moment schälten sich aus der Dunkelheit erst eine kleine weiße Gestalt und dann weitere. Ich war so in Panik, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich schaffte es nicht mal, mein Stemmeisen zu heben. Die Gestalten kamen immer näher, verursachten aber fast keine Geräusche.

Zwerge, die aus dem Schrank entkommen waren, Geister, die ihrem Grab entstiegen waren. Oder ...


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