II. Teil

13. Ursprünge

Das Landungsboot flog knapp unter Mach 1 auf einer Höhe von fünf Meilen.

Dreizehntausend Meilen waren für das kleine Raumschiff keine Affäre. Louis' Vorsicht machte den Kzin ganz hippelig: »In zwei Stunden könnten wir aus der Stratosphäre auf die fliegende Stadt hinunterstoßen oder uns von unten nach oben pirschen! Sogar in einer Stunde, ohne daß unsere Bequemlichkeit darunter leiden müßte!«

»Sicher. Wir kämen vom Himmel herunter wie eine Sternschnuppe, zögen den glühenden Schweif unseres Fusionsantriebes hinter uns her. Hast du vergessen, wie wir Halrloprillalars fliegendes Gefängnis erreichten? Mit dem Kopf nach unten und einem Kurzschluß im Motor unserer Flugräder?«

Chmeees Schwanz peitschte die Rückenlehne seines Copiloten-Sitzes. Er erinnerte sich nur zu gut daran.

»Wir wollen uns diesmal nicht mit irgendeiner alten Maschine verdächtig machen. Die Superleiter-Bakterienplage scheint ein paar von diesen Dingern verschont zu haben.«

Die Grasebene wurde von Kulturland abgelöst und dann von einem sumpfigen Dschungel. Das senkrechte Sonnenlicht spiegelte sich im Wasser unter blühenden Bäumen.

Louis fühlte sich großartig. Er hatte nicht einsehen wollen, daß sein Krieg mit dem Sonnenblumenfeld ein vergebliches Bemühen sei.Und er hatte sich nicht umsonst gegen das scheinbar Unlösbare aufgelehnt. Er hatte sich energisch in diese Aufgabe hineingekniet. Er hatte mit Intelligenz und den Werkzeugen, die ihm zur Verfügung standen, ein schwieriges Problem gemeistert.

Das Sumpfland schien kein Ende zu nehmen. Einmal machte Chmeee Louis auf eine kleine Stadt aufmerksam. Sie war nicht leicht auszumachen, da die Gebäude fast im Wasser ertranken und Lianen und Buschwerk die Mauern von oben zu erdrücken versuchten. Die Häuser hatten einen seltsamen Baustil. Jede Mauer und jedes Dach, sogar die Türen, waren nach außen gewölbt, so daß die Straßen von dieser Kropfarchitektur arg eingeengt wurden. Diese Stadt konnte unmöglich von Halrloprillalars Artgenossen erbaut sein.

Als die Sonne genau zwischen zwei Schattenblenden stand, hatte das Landungsboot mehr Meilen zurückgelegt, als Ginjerofer oder der König der Riesen ihr ganzes Leben lang wandern würden. Wie dumm von mir, dachte Louis, diese Wilden nach der Stadt zu fragen. Sie waren so weit von der schwebenden Metropole entfernt wie nur irgend zwei Punkte auf der Erde.

Der Hinterste meldete sich.

Heute war seine Mähne ein schimmernder Regenbogen, streifenweise in den Grundfarben des Spektrums getönt. Hinter ihm flitzten Puppetiers auf langen Reihen von Transportscheiben dahin, drängten sich vor Schaufenstern, stießen mit den Hälsen aneinander, ohne sich dafür zu entschuldigen oder gar deswegen aufzuregen. Nein, sie waren eingehüllt von einer Wolke harmonischer Melodien, in denen sich vor allem Flöten und Klarinetten hervortaten: Puppetier-Sprache. Der Hinterste fragte: »Was haben Sie inzwischen erfahren?«

»Sehr wenig«, erwiderte Chmeee. »Wir haben Zeit vergeudet. Tatsächlich hatte vor siebzehn Falans eine große Sonneneruption stattgefunden — ungefähr vor dreieinhalb Jahren, um es in unsere Zeitbegriffe zu übersetzen — aber soweit waren wir mit unseren Vermutungen ja auch schon gekommen. Die Sonnenblenden schlossen sich, um die Ringwelt vor gefährlicher Strahlung zu schützen. Das Sonnenblenden-Leitsystem muß unabhängig von der Ringwelt operieren.«

»Das deduzierten wir ebenfalls schon. Was noch?«

»Louis' hypothetisches Reparaturzentrum ist zweifellos nicht mehr in Betrieb. Der Sumpf, den wir gerade überfliegen, war nicht von den Architekten geplant. Wahrscheinlich hat ein größerer Fluß so viel Land angeschwemmt, daß er damit den Abfluß eines Meeres blockierte. Wir entdeckten eine Vielzahl von Hominiden, teils mit Intelligenz begabt, teilweise nicht. Von den Baumeistern der Ringwelt nicht eine Spur; falls sie nicht Halrloprillalars Vorfahren gewesen sind. Ich bin geneigt, letzteres für wahrscheinlich zu halten.«

Louis öffnete den Mund. und blickte nach unten, auf eine Schmerzschwelle in seinen Beinen. Vier Kzinokrallen hakten sich in seinen Unterschenkel. Er schloß wieder den Mund. Chmeee fuhr fort: »Bisher sind wir noch auf keinen Vertreter von Halrloprillalars Rasse gestoßen. Vielleicht war ihre Gattung von vorneherein auf diesem Planeten sehr dünn gesät. Wir vernahmen Gerüchte von einer anderen menschlichen Gattung, dem Maschinen-Volk, die offenbar im Kommen ist und Halrloprillalars Artgenossen verdrängt. Wir sind gerade unterwegs zu diesen Leuten.«

»Das Reparaturzentrum arbeitet nicht mehr«, sagte der Hintereste energisch. »Ja, das habe ich inzwischen auch festgestellt. Ich schickte eine Sonde dorthin.«

»Sie haben doch zwei Sonden«, unterbrach Chmeee den Hintersten. »Warum verwenden Sie nicht beide?«

»Eine halte ich in Reserve, damit ich den Treibstoff der Heißen Nadel ergänzen kann. Mit der anderen habe ich das Rätsel der Schüttberge gelöst. Sehen Sie mal.«

Der äußerste rechte Schirm zeigte einen Ausschnitt der Ringwelt, durch das Auge der Sonde gesehen. Die Sonde raste an der Ringmauer entlang, passierte etwas so schnell, daß man Einzelheiten nicht zu erkennen vermochte. Die Sonde wurde langsamer, wendete, flog auf ihrer Spur zurück.

»Louis riet mir zu einer Erkundung der Ringmauer. Die Sonde hatte kaum mit ihrer Verzögerung begonnen, als sie auf das dort stieß. Ich dachte, es lohnte sich, das da näher zu betrachten.«

Da war eine Schwellung auf der Ringmauer — eine Röhre, die über die Mauerkrone gehängt war. Die Röhre war der Form der Ringmauer angepaßt, etwas flachgedrückt, und bestand aus dem gleichen durchsichtigen grauen Scrith wie der Ringweltboden. Die Sonde flog auf diese Röhre zu, bis die Kamera in die Mündung einer ovalen Öffnung schaute, die einen Durchmesser von einer Viertelmeile besaß.

»Viele architektonische Einzelheiten auf der Ringwelt zeigen Züge von primitiver, roher Gewalt«, erläuterte der Hinterste. »Die Sonde bewegte sich an dieser Röhre entlang, über die Mauerkrone hinweg und dann an der Außenseite des Artefakten bis zu der Stelle, wo das Rohr im Schaumstoff verschwand, der als Schutz gegen Meteore auf der Unterseite der Ringwelt aufgetragen war.«

»Ich verstehe«, sagte Louis. »Und diese Röhre war ebenfalls außer Betrieb?«

»Richtig. Ich versuchte, die Röhre weiter zu verfolgen und hatte auch einigen Erfolg damit.«

Die Szene wechselte abrupt. Jetzt zeigte sie rasche schattenhafte Konturen, als die Sonde in einiger Entfernung außen an der Ringwelt vorbeiraste. Landschaften im versenkten Relief glitten über der Sonde im infraroten Licht dahin. Die Sonde verzögerte wieder, hielt an, bewegte sich nach oben.

Wenn ein Meteor in diesen Artefakten einschlug, kam er zunächst aus dem interstellaren Raum; und er prallte mit dieser Geschwindigkeit auf der Ringwelt auf, wobei man noch die Eigengeschwindigkeit des Artefakten, nämlich siebenhundertsiebzig Meilen pro Sekunde, hinzuzählen mußte. Hier war ein Meteor mit dieser brutalen Gewalt eingeschlagen. Die Plasmawolke hatte eine tiefe Narbe über mehrere hundert Meilen Meeresboden gezogen, indem sie den schützenden Schaumstoff verdampft hatte. Und in dieser Narbe vermochte man eine Röhre zu erkennen, die vielleicht einen Durchmesser von hundert Metern hatte. Diese Röhre führte durch den Scrith auf die andere Seite des Meeresbodens.

»Ein Recycling-System«, murmelte Louis.

Der Puppetier sagte: »Ohne ein Gegengewicht zur Erosion hätte sich in ein paar tausend Jahren die Humusschicht der Ringwelt vollkommen im Meer aufgelöst. Ich vermute, daß diese Röhren durch den Meeresboden an der Außenseite der Ringwelt entlangführen und dann an der Mauerkrone enden. Sie lagern den Schlamm, der sich auf dem Meeresboden aufhäuft, jenseits der Mauer als Schüttberge ab. Das im Schlamm enthaltene Wasser verdunstet in dem Beinah-Vakuum am Gipfel dieser Aufschüttung, die dreißig Meilen hoch ist. Der Berg bricht nach und nach unter seinem eigenen Gewicht zusammen. Das aufgeschüttete Material wird von Winden und Flüssen wieder von der Ringmauer weggetragen, zurück zu der Stelle, wo es herkam.«

Chmeee sagte: »Reine Hypothese, aber glaubhaft. Wo befindet sich zur Zeit Ihre Sonde, Hinterster?«

»Ich will sie wieder aus dem Vakuum vor der Ringweltschale zurückholen und in das Ringmagnetensystem eingliedern.«

»Tun Sie das. Verfügt die Sonde über Tiefenradar?«

»Ja, aber der Sender ist nicht besonders stark.«

»Führen Sie eine Tiefenradar-Erkundung der Schüttberge durch. Die Schüttberge sind. ich vermute, sie liegen zwanzig- bis dreißigtausend Meilen auseinander. Also müssen wir mit ungefähr fünfzigtausend Schüttbergen an den Ringmauern beider Halbkreise rechnen. Eine Handvoll davon könnte sich vortrefflich als Versteck für das Reparaturzentrum eignen.«

»Aber warum sollte man denn das Reparaturzentrum verstecken?«

Chmeee machte ein unhöfliches Geräusch. »Was wäre, wenn die Untertanen revoltierten? Was geschähe bei einer Invasion? Selbstverständlich ist das Reparaturzentrum versteckt und befestigt dazu. Lassen Sie jeden Schüttberg genau untersuchen.«

»Schön. Ich werde die Ringmauer an Steuerbord eine Ringwelt-Umdrehung lang von der Sonde beobachten lassen.«

»Aber vergessen Sie dann die andere Seite der Mauer nicht.«

Louis sagte: »Und halten Sie die Kameras eingeschaltet. Wir suchen immer noch nach den Steuerdüsen. obgleich mir inzwischen Bedenken gekommen sind, daß sie auch noch andere Möglichkeiten einer Orbit-Korrektur realisiert haben könnten.«

Der Hinterste schaltete sich wieder ab. Louis wandte sich dem Panoramafenster zu. Er hatte etwas bemerkt, das ihn von dem Gespräch mit dem Hintersten erheblich ablenkte: ein blasser Faden, der sich am Rande des Sumpfgebietes befand, viel zu gerade für einen Fluß. Nun sah er auch zwei kaum noch wahrnehmbare Punkte, die sich auf diesem Faden bewegten. »Ich denke, das müßten wir uns etwas näher anschauen. Wir müssen mit dem Landungsboot bis auf Baumwipfelhöhe hinuntergehen.«


Es war eine Straße. Aus einer Höhe von dreißig Metern sah der Belag etwas grob und steinig aus. Offenbar hatte man das Zeug auf die Trasse gegossen. Louis sagte: »Vermutlich ein Werk der Maschinen-Leute. Sollen wir diese Fahrzeuge dort unten verfolgen?«

»Warten wir noch damit, bis wir etwas näher an die schwebende Stadt herangekommen sind.«

Eine so günstige Gelegenheit auszulassen, war unklug. Trotzdem widersprach der Kzin nicht. Die Erregung des Tigerwesens war so stark, daß man sie förmlich riechen konnte.

Die Straße vermied die tief gelegenen, sumpfigen Bereiche. Sie schien in gutem Zustand zu sein. Chmeee folgte ihr auf einer Höhe von dreißig Metern mit stark gedrosselter Geschwindigkeit.

Sie kamen an einer Handvoll Gebäude vorbei, deren größtes eine chemische Fabrik zu sein schien. Ein paarmal beobachteten sie kastenartige Fahrzeuge, die unter ihnen die Straße passierten. Sie selbst wurden nur ein einziges Mal entdeckt. Ein Kastenwagen hielt plötzlich an, menschenähnliche Gestalten kamen zum Vorschein, rannten im Kreis herum und richteten stockähnliche Gebilde auf das Landungsboot. Einen Moment später waren sie nicht mehr zu sehen.

Da waren auch große blasse Gestalten im morastigen Dschungel. Das konnten keine von Gletschern zugeschliffene Findlingsblöcke sein. Nicht hier auf dieser Kunstwelt. Louis überlegte sich, ob es sich bei diesen blassen Gebilden um Riesenpilze handeln könne. Doch diese Überlegungen hörten kurzschlußartig auf, als er eines dieser Gebilde sich bewegen sah. Er versuchte, den Kzin auf das Wesen aufmerksam zu machen. Doch Chmeee ignorierte ihn.

Die Straße schwang in weitem Bogen nach antispinnwärts, als sie sich einer Bergkette näherten. Louis sah, daß die Straßenbauer darauf verzichtet hatten, sich eine ideale Trasse über das Gebirge zu suchen. Die Straße folgte dem Bergrücken, bis er von einer tiefen Kerbe durchbrochen wurde. Nachdem sich die Straße dort hindurchgefädelt hatte, kehrte sie in weitem Bogen wieder bis zum Rand des Sumpfwaldes zurück, Chmeee schwenkte jedoch mit dem Landungsboot nach links und beschleunigte. Das Raumschiff raste an der Backbordseite des Gebirgszuges entlang, einen langen Kometenschweif hinter sich herziehend. Dann ließ der Kzin plötzlich das Landungsboot rotieren, bremste und setzte es am Fuß der Granitsteilwand auf den Boden.

»Gehen wir hinaus und vertreten wir uns die Beine«, sagte er.

Der Scrith-Kern des Berges schirmte sie gegen die Radiowellen ab, so daß der Hinterste sie nicht belauschen konnte. Trotzdem fühlten sie sich nur vor einem Lauschangriff sicher, wenn sie das Landungsboot verließen. Louis folgte dem Kzin ins Freie.

Es war ein schöner, sonniger Tag — viel zu hell, da sich dieser Bögen der Ringwelt auf seinem exzentrischen Kurs der Sonne immer mehr näherte. Ein steifer warmer Wind blies ihnen ins Gesicht. Der Kzin sagte: »Louis, wolltest du dem Hintersten die Wahrheit über die Ringwelt-Ingenieure berichten?«

»Vielleicht. Warum nicht?«

»Ich vermute, wir sind zu dem gleichen Schluß gekommen.«

»Das bezweifle ich. Was weiß ein Kzin schon von den Pak-Protektoren?«

»Ich weiß alles, was darüber in den Unterlagen des Smithsonian-Institutes berichtet wird, so wenig das auch sein mag. Ich habe die Bekenntnisse des Asteroidengürtel-Bergwerksunternehmers, Jack Brennan gelesen und die Hologramme der mumifizierten Überreste des fremdartigen Phssthpok gesehen. Desgleichen die Aufnahmen der Ladeduchten seines Raumschiffes.«

»Chmeee, wie bist du an dieses Zeug herangekommen?«

»Spielt das jetzt eine Rolle? Schließlich hatte ich den Status eines Diplomaten. Die Existenz des Pak ist schon seit Generationen ein Staatsgeheimnis der Patriarchie; aber für jeden Kzin, der sich mit den Menschen auseinandersetzen muß, sind diese Dokumente eine Pflichtlektüre. Wir müssen doch unseren Feind kennenlernen. Vielleicht weiß ich sogar mehr über deine Vorfahren als du selbst. Und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß die Ringwelt von den Pak erbaut wurde.«


Sechshundert Jahre vor Louis Wus Geburt war ein Pak-Protektor als Missionar der Barmherzigkeit auf das Planetensystem von Sol gekommen. Von diesem Phssthpok, durch die Vermittlung von Jack Brennan, erfuhren die Historiker von den Ursprüngen ihrer Entstehung.

Die Pak waren Eingeborene einer Welt im galaktischen Kern. Ihr Leben verlief in drei Phasen: Kindheit, Fruchtbarkeit, Beschützer. Die Erwachsenen oder Fortpflanzungsfähigen waren gerade intelligent genug, um eine Keule schwingen oder einen Stein werfen zu können.

In mittleren Jahren, wenn sie dieses Alter überhaupt erreichten, entwickelte sich bei den Pak-Fortpflanzungsfähigen ein Zwang, von einer Pflanze zu essen, die Lebensbaum genannt wurde. Ein symbiotischer Virus in dieser Pflanze löste eine Verwandlung aus. Der fortpflanzungsfähige Pak verlor seine Geschlechtsorgane und Zähne. Sein Schädel und sein Gehirn dehnten sich aus. Lippen und Gaumen vereinigten sich zu einem harten, stumpfen Schnabel. Seine Haut wurde faltig und erhielt eine schuppenartige Konsistenz. Seine Gelenke vergrößerten sich erheblich, so daß die Glieder mit größerer Muskelkraft bewegt werden konnten. Damit nahm auch ihre Stärke zu. In den Lenden entwickelte sich ein Herz mit zwei Kammern.

Phssthpok folgte den Spuren eines Pak-Kolonialschiffes, das die Erde vor mehr als zwei Millionen Jahren erreicht hatte.

Die Pak befanden sich in einem konstanten Kriegszustand. Kolonien, die auf Welten in der Nähe des galaktischen Kerns errichtet worden waren, wurden alsbald von einer neuen Welle von Raumschiffen überrannt. Das mag der Grund gewesen sein, daß dieses Kolonialschiff sich so weit vom galaktischen Kern entfernt hatte.

Diese Kolonie war groß, hervorragend ausgerüstet und von Wesen regiert worden, die viel zäher und intelligenter waren als die Menschen. Trotzdem war diese Kolonie gescheitert. Der Lebensbaum entwickelte sich zwar in irdischer Erde, aber nicht der Virus. Und so waren die Protektoren ausgestorben und hinterließen eine verlorene Schar von Pak-Zeugungsfähigen, die nun für sich selbst sorgen mußten, und hinterließen auch Dokumente von einem Notschrei, der dreißigtausend Lichtjahre die Galaxis durchquerte, bis er auf der Heimatwelt der Pak aufgefangen wurde.

Phssthpok entdeckte diese Dokumente von dem Notschrei in einer uralten Pak-Bibliothek. Und Phssthpok durchquerte nun dreißigtausend Lichtjahre lang das Universum, ganz allein in einem Raumschiff, das langsamer war als das Licht, um das Planetensystem Sol zu suchen. Die geistigen und materiellen Mittel, die ihm den Bau seines Raumschiffes und die Ausrüstung seiner Expedition ermöglichten, gehörten zu der Beute eines Kriegszuges. Seine Ladeduchten waren mit den Wurzeln und Samenkapseln des Lebensbaumes vollgestopft, und außerdem fand man Säcke voller Thalliumoxyd. Die Entdeckung dieses ungewöhnlichen, dem Erdreich beizugebenden Düngemittels verdankte er seiner eigenen Forschung.

Dabei mochte es ihm auch geschwant haben, daß die fortpflanzungsfähigen Paks sich inzwischen durch Mutation erheblich verändert harten.

Bei den Pak selbst hatte ein Mutant nicht die geringste Chance. Wenn die Enkelkinder für die Protektor-Großeltern nicht den richtigen Körpergeruch ausströmten, wurden sie getötet. Auf der Erde — vielleicht hatte Phssthpok mit einer viel geringeren Mutations-Rate gerechnet, da dieser Planet doch so weit von der mörderischen Dichte kosmischer Strahlen der galaktischen Kern-Sonnen entfernt war. Deshalb versprach er sich wahrscheinlich etwas von seinem gewagten Alleingang.

Die geschlechtsreifen Paks hatten sich in der Tat durch Mutationen verändert. Zu Lebzeiten von Phssthpok hatten sie nur noch eine geringe Ähnlichkeit mit den zeugungsfähigen Paks — wenn man von gewissen Veränderungen im mittleren Lebensalter absah, die Produktion von Eiern aufhörte und beide Geschlechter Falten bekamen, die Zähne verloren, ihre Glieder anschwollen und sie eine Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit überkam — offenbar Symptome des ursprünglichen Hungers nach den Lebensbaum-Pflanzen. Mit fortschreitendem Lebensalter kam es dann zu einem Herzversagen, weil ihnen kein zweites Herz gewachsen war.

Phssthpok sollte allerdings die Wahrheit, was aus der Nachkommenschaft der ehemaligen Kolonie geworden war, niemals erfahren. Er, der als Heiland einem uralten Notruf gefolgt war, starb fast schmerzlos und nur mit einem leisen Verdacht, daß diejenigen, die er hatte retten wollen, inzwischen zu Monstern entartet waren und seiner Schirmherrschaft gar nicht bedurften.

So lautete die Geschichte, die Jack Brennan den Vertretern der Vereinten Nationen erzählte, ehe er verschwand. Aber Phssthpok war damals bereits tot, und Jack Brennans Bericht wenig glaubwürdig. Er hatte selbst von dem Lebensbaum gegessen. Er war zu einem Monster geworden. Sein Schädel hatte sich ungewöhnlich erweitert und war seltsam mißgestaltet. Vielleicht war er durch diese Verwandlung verrückt geworden.


Die Bergflanke sah aus, als wäre ein Flugzeug mit einer Ladung Spinatnudeln an der Felswand zerschellt. Dort, wo sich Erdreich in den Felsspalten angesammelt hatte, klebten länglichgrüne Streifen, die sich klebrig anfühlten. Wolken von Insekten summten in Knöchelhöhe um sie herum, hielten sich immer wenige Zentimeter über dem Boden auf.

»Pak-Protektoren«, sagte Louis. »Das war das Endprodukt meiner Überlegungen, obwohl ich Mühe hatte, mich mit dieser Theorie anzufreunden.«

»Die Raumanzüge«, erwiderte Chmeee, »und die Rüstung des grasessenden Riesen: sie zeigten die gleiche Form. Die Form eines Humanoiden, aber mit vergrößerten Gelenken und einem vorgewölbten Gesicht. Und ich habe noch mehr Beweise gefunden. Betrachten wir nur die vielen verschiedenartigen menschenähnlichen Wesen, denen wir bisher begegnet sind. Sie mußten von einem gemeinsamen Ahnherren abstammen: deinem eigenen Ahnherrn, den Pak-Geschlechtswesen in der zweiten Phase ihres Lebenszyklus.«

»Das ist richtig. Das gibt uns auch Aufschluß, wie Prill ihren Tod fand.«

»Tatsächlich?«

»Boosterspice, unsere Verjüngungsdroge, war auf den Stoffwechsel von Homo Sapiens abgestimmt. Für Halrloprillalar war diese Droge wirkungslos. Sie hatte ihr eigenes Lebenselexier, das für eine Reihe von Spezies wirksam war. Da kam mir der Gedanke, daß Prills Artgenossen ihr Lebenselixier vielleicht aus Pflanzenteilen des Lebensbaumes herstellten.«

»Wieso?«

»Nun, die Protektoren lebten mehrere Jahrtausende. Es läßt sich denken, daß irgend ein Faktor dieser Lebensbaum-Pflanze oder eine subkritische Dosis davon genügt, um das Leben eines Hominiden zu verlängern. Und der Hinterste behauptet doch, daß man Prills Vorrat an Lebenselixier gestohlen hätte.«

Chmeee nickte. »Ja, ich erinnere mich jetzt. Eines von euren Transportschiffen, die für die Bergwerksgesellschaft auf dem Asteroidengürtel Erze abholen wollte, inspizierte das aufgegebene Pak-Raumschiff. Der älteste Mann von der Besatzung bekam den Geruch des Lebensbaumes in die Nase und wurde davon verrückt. Er aß so viel von dem Zeug, bis sein Magen platzte, und starb daran. Seine Kollegen konnten ihn selbst mit Gewalt nicht daran hindern, von dem Zeug zu essen.«

»Ja. Läßt sich nicht analog dazu vermuten, daß einen Laboranten der Vereinten Nationen die gleiche Versuchung überkam? Prill betritt die Zentrale der Vereinten Nationen und hat eine Flasche des Ringwelt-Lebenselixiers bei sich. Die Vereinten Nationen wollen eine Probe von dem Lebenselixier haben. Ein junger Mann, der vielleicht gerade das Alter für seine erste Dosis Verjüngungsdroge erreicht hat — vierzig oder fünfundvierzig Jahre alt — öffnet die Flasche. Er möchte eine Pipette eintauchen, und der Geruch des Elixiers steigt ihm in die Nase. Sofort trinkt er die ganze Flasche aus.«

Chmeees Schwanz peitschte die Luft. »Ich möchte nicht so weit gehen, zu behaupten, daß ich Halrloprillalar mochte. Aber sie war eine Verbündete.«

»Ich mochte sie.«

Der heiße Wind hüllte sie jetzt mit Staub ein. Louis wurde nervös. Sie würden nicht noch einmal die Gelegenheit bekommen, sich unter vier Augen zu unterhalten. Die Sonde, die als Relaisstation diente, würde bald hoch oben auf dem Bogen der Ringwelt stehen, so daß der Hinterste im Raumschiff ihr Gespräch mithören konnte.

»Kannst du dich mir zuliebe in die Situation eines Pak versetzen, Chmeee?«

»Ich kann es versuchen.«

»Sie haben ihre Großen Ozeane mit den Landkarten aller Welten ausgestattet. Statt nun die Heimatplaneten der Kzinti, Downs, den Mars und Jinx in ihren Weltmeeren nachzugestalten, hätten sie doch einfach die Kzinti, Grogs, Marsianer und Bandersnatchi ausrotten können, oder etwa nicht?«

»Hmm. Warum nicht? Die Pak kannten wohl keine Skrupel, wenn man Brennans Berichten Glauben schenken darf. Sie rotteten rücksichtslos alle fremden Rassen aus.«

Chmeee ging auf und ab, während er über dieses Problem nachdachte.

Dann fuhr er fort: »Vielleicht rechneten sie damit, daß andere Paks ihnen nachfolgten. Vielleicht hatten sie einen Krieg verloren. Vielleicht erwarteten sie, daß die Sieger sie durch das Universum verfolgten. Für einen Pak bedeutete ein Dutzend zerstörter Welten im Umkreis von einem Dutzend Lichtjahren, daß ein anderer Pak in der Nähe war.«

»Hmm, vielleicht. Aber nun sage mir mal, warum sie überhaupt die Ringwelt erbauten. Wie, zum Kuckuck, hätten sie denn dieses Kunstprodukt gegen Invasoren verteidigen wollen?«

»Ich würde so ein gebrechliches Gebilde nicht zu verteidigen versuchen. Vielleicht lernen wir noch dazu. Ich wunderte mich auch, warum die Pak sich in diese Region des Universums zurückgezogen haben. Zufall?«

»Unmöglich! Dafür liegt die Ringwelt zu weit entfernt.«

»Nun?«

»Oh, wir verlegen uns aufs Raten. Nehmen wir an, ein Haufen von diesen Pakwesen wollte so schnell und so weit wie möglich flüchten. Nehmen wir weiter an, daß sie einen Krieg verloren und von der Pak-Welt vertrieben wurden. Nun, da gab es eine sichere Fluchtroute in die galaktischen Arme, die durch Planeten markiert war. Die erste Expedition, die die Erde besiedelte, erreichte das Planetensystem von Sol, ohne nennenswerte Gefahren bestehen zu müssen. Jedenfalls keine, die sie nicht zu meistern vermochten. Sie schickten entsprechende Nachrichten an ihre Heimatwelt. So kam es, daß die Verlierer der folgenden Kriege ihren Spuren folgten. Dann errichteten sie in einer sicheren Entfernung vom Planetensystem unserer Sonne ihre Werkstatt.«

Chmee dachte über diese Hypothesen nach. Dann sagte er: »Wie die Pak auch hierher gekommen sein mögen, sie waren intelligente und wehrhafte Fremdenhasser. Das erlaubt gewisse Rückschlüsse. Die Waffe, die die Tragflächen der Liar in Dampf auflöste — die Waffe, die deiner und Teelas Meinung nach eine Meteorverteidigungsanlage sein sollte — war meiner Meinung nach dafür programmiert, auf einfallende Raumschiffe zu feuern. Sie wird deshalb auch auf Heiße Nadel oder unser Landungsboot schießen, wenn sie eine Gelegenheit dazu bekommt. Zweitens darf der Hinterste niemals erfahren, wer die Ringwelt erbaute.«

Louis schüttelte den Kopf. »Sie müssen schon lange ausgestorben sein. Wenn wir Brennan Glauben schenken dürfen, gibt es für einen Protektor nur ein Motiv, nämlich, seine Nachkommenschaft zu schützen. Sie würden nie erlaubt haben, daß sich hier Mutationen entwickeln. Sie hätten niemals zugelassen, daß die Ringwelt von ihrem Kurs abkommt und auf die Sonne zugleitet.«

»Louis.«

»Tatsächlich müssen sie schon seit mehreren hunderttausend Jahren ausgestorben sein. Schau dir doch nur die Vielfalt der menschenähnlichen Gattungen an, die wir bisher registrierten.«

»Ich würde sagen, sie sind schon seit Millionen von Jahren ausgestorben. Sie müssen ihre Heimatwelt bereits verlassen haben, nachdem das erste Kolonialschiff einen Hilferuf aussendete, und schon bald nach der Erschaffung dieses Artefakten den Tod gefunden haben. Denn sonst hätten sich unmöglich so viele Mutationen von menschenähnlichen Wesen entwickeln können. Aber.«

»Chmeee, hör mir zu! Nehmen wir an, sie haben die Ringwelt vor einer halben Million Jahren erbaut. Rechnen wir eine Viertelmillion Jahre dazu, in denen sich die zeugungsfähigen Pak-Wesen auf der Kunstwelt ausbreiteten und die Protektoren sich nicht gegenseitig bekriegten, weil das Territorium ihres Artefakten praktisch unbegrenzt ist. Erst danach starben die Protektoren aus.«

»Woran starben sie?«

»An einem Mangel an Daten.«

»Theoretisch möglich. Weiter?«

»Also nehmen wir an, daß die Protektoren vor einer Viertelmillion Jahren ausstarben. Geben wir den Pak-Geschlechtswesen ein Zehntel der Zeit, die die Menschen auf der Erde für ihre Entwicklung brauchten. Ein Zehntel der Zeit und eine Vielzahl von Nischen in der Ökologie, weil die Protektoren keine Lebewesen mitbrachten, die ihre Nachkommenschaft als Beute betrachteten. Nehmen wir an, die Nachkommen, mit denen sie diese Kunstwelt bevölkerten, zählten mehrere Billiarden von Lebewesen.

Vergleichen wir das mit den Verhältnissen auf der Erde. Dort lebte vielleicht eine halbe Million fortpflanzungsfähiger Pak-Wesen, als die Protektoren ausstarben. Auf der Ringwelt, wo drei Millionen mal soviel Raum zur Verfügung steht als auf der Erde, und viel Zeit, sich darauf auszubreiten, ehe die Protektoren ausstarben, konnten sich die Mutanten fast ungestört entwickeln.«

»Diesmal kann ich deiner Theorie nicht ganz folgen«, erwiderte Chmeee mit ruhiger Stimme. »Ich habe das Gefühl, daß du etwas übersiehst. Aber geben wir zu, daß die Protektoren fast vollkommen ausgestorben sind, fast, sagte ich. Was würde geschehen, wenn der Hinterste erfährt, daß die Ringwelt ihr Eigentum oder ihre Heimat war?«

»Du liebe Güte! Er würde sofort flüchten. Mit oder ohne uns.«

»Aber wir haben doch unseren offiziellen Auftrag noch nicht erfüllt, das Geheimnis der Ringwelt-Konstruktion zu ergründen. Stimmst du mir da zu?«

»Ja.«

»Und wir suchen immer noch das Reparaturzentrum, nicht wahr? Der Geruch der Lebensbaum-Pflanze könnte für dich tödlich sein. Du bist schon zu alt, um noch ein Protektor zu werden.«

»Ich würde mir das auch nicht wünschen. Befindet sich ein Spektroskop im Landungsboot?«

»Ja.«

»Der Lebensbaum kann sich nicht richtig entwickeln, wenn dem Erdreich, auf dem er wächst, ein Spurenelement fehlt, nämlich Thallium-Oxyd. Thallium muß im galaktischen Kern viel häufiger vorgekommen sein als hier am Rand der Milchstraße. Folglich werden wir überall dort, wo die Protektoren sich längere Zeit aufgehalten haben, Thallium-Oxyd als Düngemittel für die Pflanzen finden. Wenn wir Thallium-Oxyd suchen, werden wir auch das Reparaturzentrum finden. Und wir werden dieses Gebäude nur in Raumanzügen betreten, wenn wir jemals dorthin gelangen sollten.«

14. Der Geruch des Todes

Die Stimme des Hintersten schrie sie an, als sie die Straße erreichten »LANDUNGSBOOT! CHMEEE, LOUIS, WO VERSTECKT IHR EUCH? HINTERSTER RUFT LANDUNGSBOOT.«

»Hören Sie auf, Tanj, verdammt noch mal! Drehen Sie den Lautstärkenregler herunter, oder uns platzt das Trommelfell!«

»Könnt ihr mich noch hören?«

»Wir können Sie nur zu gut hören«, erwiderte Louis. Chmeee hatte seine Ohren in die Felltaschen zurückgezogen. Louis wünschte sich, er hätte die gleiche Schutzvorrichtung. »Die Berge müssen den Sender blockiert haben.«

»Und was habt ihr diskutiert, während wir unterbrochen wurden?«

»Wir probten den Aufstand, entschieden uns aber gegen ihn.«

Einen Moment Funkstille. Dann: »Sehr klug. Ich möchte von Ihnen eine Interpretation dieses Hologramms.«

Auf einem der Schirme zeigte sich eine Konsole oder Stütze, die aus der Ringwand herausragte. Das Bild war leicht verzerrt und seltsam beleuchtet: vom Vakuum aus auf genommen, in das Sonnenlicht hinein, das rechts von der Kamera von der Landschaft dieses Kunstplaneten reflektiert wurde. Diese Konsolen schienen aus einem Stück zusammen mit der Ringmauer gegossen zu sein, als hätte man an dieser Stelle das Scrith-Material auseinandergezogen wie eine Bonbonmasse. Aber dieses vorspringende Gußstück enthielt zwei Dichtungsscheiben oder Wulste, die durch ihren eigenen Durchmesser voneinander getrennt waren. Außer diesem Gußfortsatz auf der Ringmauer war keine andere Unregelmäßikeit an der Mauerkrone zu erkennen. Es war unmöglich bei dieser Frontalansicht, die Ausmaße dieses Gußstückes zu erraten.

»Die Aufnahme stammt von der Sonde«, erklärte der Puppetier. »Ich habe, Ihrem Vorschlag folgend, die Sonde in das Ringmagnetensystem auf der Ringmauer eingeschleust. Die Sonde beschleunigt inzwischen antispinnwärts.«

»Ja. Was hältst du davon, Chmeee?«

»Es könnte sich hier um den Träger einer Steuerdüse handeln. Das Ding scheint aber noch nicht gezündet zu haben.«

»Vielleicht. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, eine Bussard-Rammdüse zu gestalten. Hinterster, haben Sie irgendwelche magnetischen Kräfte in der Nähe dieses Gebildes registriert?«

»Nein, Louis, die Maschine scheint inaktiv zu sein.«

»Aber die Superleiter-Seuche würde keine Geräte im Vakuum angegriffen haben. Und es sieht mir nicht beschädigt aus. Allerdings können die Steuereinrichtungen für diese Anlage irgendwo anders untergebracht sein. Vielleicht auf der Oberfläche der Ringwelt. Möglicherweise können sie repariert werden.«

»Aber dazu müssen Sie die Steuereinrichtungen zuerst finden. Ob sie im Reparaturzentrum untergebracht sind?«

»Möglich.«

Die Straße setzte sich zwischen dem Sumpfgebiet und einer steinigen Hochebene fort. Sie kamen an einer Anlage vorüber, die eine chemische Fabrik zu sein schien. Offenbar hatte man sie entdeckt; denn sie hörten das Blöken eines Nebelhorns und das schrille Pfeifen einer Dampfsirene. Chmeee brauste mit unverminderter Geschwindigkeit über die Dächer dieser Anlage.

Von den kastenartigen Fahrzeugen vermochten sie keines mehr auf der Straße zu entdecken.

Louis hatte etwas Großes, Blasses unter den Bäumen gesehen, das sich langsam auf den Sumpf zubewegte. Sie pirschten sich so vorsichtig heran wie Nebel über einem Wasser oder wie ein Ozeandampfer, der an einer Mole anlegt. Dann bewegte sich weit vor ihrem Bug eine weiße Gestalt unter den Bäumen hervor und hielt auf die Straße zu.

Über einem gewaltigen, langgestreckten weißen Leib wölbte sich ein schlanker Hals mit den Sinnesorganen dieser Bestie. Seine Kiefer befanden sich auf gleicher Höhe mit dem Boden; der Rachen pflügte wie ein Schneepflug durch die Sumpfpflanzen und das moorige Wasser, während die Bestie auf mächtigen muskulösen Beinen bergauf lief. Das Monster war größer als die gewaltigsten Dinosaurier, die auf der Erde gelebt hatten.

»Ein Bandersnatch«, sagte Louis. Was zum Kuckuck, suchten sie hier? Die Heimat der Bandersnatch war Jinx. »Flieg langsamer, Chmeee, der Bandersnatch will mit uns reden.«

»Und wenn schon?«

»Sie haben ein sehr langes Gedächtnis.«

»Und woran wollen sich die Bandersnatchi erinnern? Sie sind Sumpfbewohner, Moorfresser, die nicht einmal Hände besitzen, um sich Waffen anzufertigen. Nein.«

»Warum nicht? Vielleicht können Sie uns verraten, wie die Bandersnatchi auf die Ringwelt gekommen sind.«

»Das ist doch kein Geheimnis. Die Protektoren haben vermutlich ihre Landkarten im Großen Ozean mit Mustern aller Spezies versehen, die sie als mögliche Widersacher betrachteten.«

Chmee versuchte wieder, sich die Rolle des Führers anzumaßen. Das gefiel Louis ganz und gar nicht. »Was hast du nur? Wir könnten ihn doch wenigstens fragen.«

Der Bandersnatch schrumpfte hinter ihnen zu einem gewöhnlichen Lindwurm zusammen. Chmeee fauchte: »Du vermeidest jede Konfrontation wie ein Pierson-Puppetier. Aber Schlammfresser und Primitive möchtest du ausfragen! Und dann tötest du Sonnenblumen! Der Hinterste verschleppte uns hierher auf diesen dem Untergang geweihten Artefakten, und du verzögerst unsere Rache damit, daß du Sonnenblumen umbringst. Spielt es denn für die Eingeborenen der Ringwelt in einem Jahr eine Rolle, daß Louis, der göttliche Louis, auf seinem Weg über diesen Planeten einen Tag lang pausierte, um Unkräuter auszuzupfen?«

»Ich werde sie retten, soweit ich kann.«

»Wir können gar nichts tun. Es sind die Straßenbauer, mit denen wir reden wollen. Sie sind noch zu primitiv, um uns gefährlich werden zu können, aber schon so weit fortgeschritten, daß sie die Antwort für ein paar unserer Fragen wissen. Sobald wir ein Fahrzeug entdecken, stoßen wir auf das Vehikel hinunter.«


Am Nachmittag übernahm Louis den Pilotensitz.

Der Sumpf wurde zu einem Fluß, der sich nach spinnwärts hin schlängelte, weit von seinem ursprünglichen Bett entfernt.

Die grob gefertigte Straße folgte dem neuen Flußlauf. Das ursprüngliche Flußbett wand sich in sorgfältig angelegten S-Kurven nach Backbord, zeigte hier und dort eingebaute Stromschnellen oder Wasserfälle. Es war jetzt knochentrocken und mündete in einer knochentrockenen Wüste. Der Sumpf mußte ein Meer gewesen sein, ehe er verlandete.

Louis verzögerte und folgte dann dem ursprünglichen Flußbett.

»Ich glaube, unsere Zeittabelle ist richtig«, sagte er zu Chmeee. »Prills Spezies entwickelte sich lange nach dem Aussterben der Ringwelt-Ingenieure. Von allen intelligenten Rassen, die sich auf dieser Kunstwelt entwickelten, waren sie die Ehrgeizigsten. Sie bauten die grossen Wolkenkratzer-Städte. Und dann kam diese seltsame Plage über diese Welt und vernichtete die meisten ihrer Maschinen. Und jetzt haben wir es mit Maschinen-Leuten zu tun, die vielleicht derselben Rasse entstammen. Die Maschinen-Leute bauten diese Straße. Diese Straße wurde angelegt, nachdem sich der Sumpf längst gebildet hatte. Ich glaube, der Sumpf ist erst entstanden, nachdem die Herrschaft von Prills Spezies bereits zusammengebrochen war.«

»Folglich halte ich jetzt Ausschau nach einer alten Prill-Volk-Stadt. Vielleicht haben wir Glück und finden dort eine alte Bibliothek oder einen Kartenraum.«

Bei ihrer ersten Expedition hatten sie festgestellt, daß Städte knapp waren auf der Ringwelt. Heute waren sie schon seit dem frühen Morgen über das Land geflogen und hatten bisher nur zweimal eine Ansammlung von Zelten gesehen und vor etwa zwei Stunden einen Sandsturm von der Größe eines Kontinents.

Die fliegende Stadt lag noch vor ihnen. Sie zeigte ihnen die Seitenansicht, so daß sie keine Einzelheiten auszumachen vermochten. Ein paar Dutzend Türme ragten am Stadtrand empor; dort, wo das Zentrum sein mußte, konnte man auch schwebende Kegel unterscheiden.

Der trockene Fluß verlor sich in einem trockenen See. Louis folgte in einer Höhe von zwanzig Meilen der Küstenlinie. Der Seeboden war seltsam flach, wenn man von den Inseln absah, die sich als erhabenes Relief mit buchtenreichen Ufern in sorgfältiger Gruppierung über dem Boden erhoben.

Chmeee rief: »Louis, stell den Autopiloten ein!«

»Was hast du entdeckt?«

»Einen Schlammbagger.«

Louis trat neben Chmee an das Teleskop.

Er hatte den Bagger für einen Teil einer Insel gehalten. Er war groß und flach, geformt wie eine Scheibe, und zeigte die gleiche Farbe wie der Modder auf dem ausgetrockneten Seeboden. Der Bagger war so dimensioniert, daß er wahrscheinlich bis knapp unter die Wasseroberfläche reichte. Der Rand der Baggerscheibe war so geformt wie die Schneide eines Schlichthobels. Die Maschine war von der Insel blockiert worden, die sie selbst aus dem Schlamm des Meeresgrundes aufgetürmt hatte.

So hatten die Ringwelt-Ingenieure also den Schlamm vom Boden ihrer Meere abgeräumt. Es war kein automatisches Überlaufsystem, weil dazu das Gefälle des Meeresbodens nicht ausreichte. Der Schlamm wurde also in die Röhren hineingepreßt. »Offenbar war die Abflußröhre verstopft«, dachte Louis laut nach. »Aber der Bagger arbeitete weiter, bis irgendein Teil seinen Dienst versagte oder die Kraftzufuhr unterbrochen wurde — vielleicht durch die Superleiter-Seuche. Soll ich den Hintersten verständigen?«

»Ja. Damit er zufrieden ist.«

Aber der Hinterste hatte wichtigere Neuigkeiten.

»Schauen Sie sich das an«, sagte er. Hologramme lösten sich in rascher Folge auf den Schirmen ab. Ein Rammdüsen-Halter schob sich schräg aus der Ringmauer heraus, an dessen Spitze ein paar Kupferschlangen-Toroide befestigt waren. Dann kam eine zweite Halterung, die aus größerer Entfernung aufgenommen worden war; auf diesem Bild konnte man auch einen Schüttberg am Fuß der Ringmauer erkennen. Der Schüttberg war nur halb so groß wie die Halterung der Rammdüse. Dann kam eine dritte Halterung ins Bild. Eine vierte, neben der ein Gerüst aufgebaut war. Eine fünfte — »Moment!« rief Louis. »Schalten Sie auf das vierte Bild zurück!«

Die fünfte Halterung verharrte noch einen Moment auf dem Schirm. An ihr war nichts befestigt. Dann brachte der Hinterste wieder das vierte Hologramm auf die Schirmwand.

Das Hologramm war etwas verzerrt, was an der hohen Geschwindigkeit der aufnehmenden Sonde liegen mußte. Schweres Hebegerät war auf der Ringmauer in der Nähe der Rammdüsen-Halterung befestigt: ein grobschlächtiger Fusionsgenerator; eine Kraftwinde; eine Kabeltrommel und ein Haken, der scheinbar ohne Verbindung unter der Trommel schwebte. Das Kabel, das sich von der Trommel abspulte, mußte unsichtbar dünn sein, dachte Louis. Möglicherweise handelte es sich dabei um Sonnenblenden-Draht.

»Ein Reparaturtrupp bei der Arbeit? Hmmm. Bauen sie nun Steuerdüsen ein, oder bauen sie die Dinger ab? Wie viele von diesen Düsen befinden sich noch in den Halterungen?«

»Die Sonde wird es uns verraten«, erwiderte der Hinterste. »Ich möchte jetzt Ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Problem lenken. Denken Sie wieder an die Kupferschlangen, die um den Rumpf des einen noch intakten Ringwelt-Raumschiffes gewickelt waren. Wir vermuteten, daß mit diesen Toroiden die elektromagnetischen Schöpffelder für die Bussard-Rammdüsen erzeugt wurden.«

Chmeee betrachtete die Schirmwand. »Die Ringwelt-Raumschiffe hatten alle die gleiche Form. Ich wunderte mich schon darüber. Sie mögen recht haben, Hinterster.«

Louis sagte: »Ich begreife nicht, worauf Sie hinauswollen. Was haben die Toroiden...«

Zwei einäugige Schlangen blickten ihn aus dem Schirm an. »Halrloprillalars Spezies baute das Ringmauer-Transportsystem, das ihnen nach seiner Fertigstellung den fast grenzenlosen Raum des Artefakten für die Erforschung und Kolonisation erschlossen hätte. Warum haben sie das System nicht zu Ende gebaut? Die ganze Ringwelt gehörte ihnen doch dank dieses Transportsystems. Warum ließen sie es unvollendet und unterzogen sich statt dessen der Mühe, mit Raumschiffen andere Sterne zu erreichen?«

Ja, diese Alternative gefiel ihm nicht. Louis wollte es nicht glauben, aber es paßte zu gut zusammen. »Sie bekamen die Motoren für ihre Raumschiffe umsonst. Sie bauten ein paar von den Ringwelt-Steuerdüsen aus, umgaben sie mit Schiffsrümpfen und flogen damit zu anderen Sternen. Und offensichtlich hatte das keine unangenehmen Folgen. Also bauten sie noch mehr von diesen Düsen aus. Ich frage mich nur, wie viele.«

»Die Sonde wird uns das zu gegebener Zeit beantworten«, erwiderte der Puppetier. »Jedenfalls schienen sie noch ein paar dieser Düsen auf der Mauer übrig gelassen zu haben. Warum haben sie aber nichts unternommen, die Ringwelt wieder auf richtigen Kurs zu bringen, ehe die Abweichung zu groß wurde? Chmeees Frage war klug gestellt. Werden die Motore jetzt wieder in ihren Halterungen befestigt oder gestohlen, um in Schiffen verwendet zu werden, damit noch ein paar von Halrloprillalars Spezies dem Untergang der Welt entrinnen können?«

Louis' Lachen klang bitter. »Und wie hört sich das Folgende an: Sie ließen fast alle Düsen in den Halterungen an der Ringwelt-Mauer. Dann kam eine Seuche und raffte fast alle ihre Maschinen hinweg. Ein paar von Halrloprillalars Artgenossen gerieten in Panik. Sie flohen mit den Schiffen, die ihnen zur Verfügung standen, und bauten neue Schiffe, so rasch sie nur konnten. Damit es schneller ging, montierten sie fast alle Steuerdüsen ab und verwendeten sie als Antrieb für ihre neuen Raumschiffe. Sie sind immer noch fieberhaft dabei, sich etwas zusammenzubasteln, mit dem sie flüchten und die Ringwelt ihrem Schicksal überlassen können.«

Chmeee sagte: »Diese Dummköpfe haben sich ihre Falle selbst gegraben.«

»Bist du so sicher? Ich bezweifle es.«

»Einige Umstände lassen mich an dieser Möglichkeit ebenfalls zweifeln«, sagte der Puppetier. »Hätten sie auf ihrer Flucht nicht soviel wie möglich von ihrer Zivilisation mitgenommen? Jedenfalls hätten sie um keinen Preis die Materie-Umwandler zurückgelassen.«

Diesmal war Louis seltsamerweise nicht versucht, zu lachen. Aber was für eine Antwort konnte er darauf geben?

Der Kzin fand etwas Passendes: »Sie würden alles auf die Flucht mitnehmen, was in ihrer Reichweite liegt. Jedenfalls alles, was sich in der Nähe der Raumhafen-Rampe befindet. Alles in der Nachbarschaft der Mauerkrone, wo das Magnetring-Transportsystem zur Verfügung stand. Wir müssen das Innere des Planeten absuchen und nach dem Reparaturzentrum forschen. Wenn wir dort noch Artgenossen von Prill antreffen, werden sie bestimmt versuchen, die Ringwelt zu retten, nicht, sie zu verlassen.«

»Möglich.«

Louis sagte: »Es würde uns weiterhelfen, wenn wir den Zeitpunkt genau bestimmen könnten, als die Seuche anfing, die Superleiter zu zerstören.«

Wenn er jetzt erwartete, daß der Hinterste zusammenzuckte, täuschte er sich. Der Puppetier sagte nur: »Sie werden das vermutlich noch vor mir herausfinden.«

»Ich dachte, Sie wüßten es bereits.«

»Rufen Sie mich, wenn Sie etwas Neues erfahren.« Die beiden Schlangenköpfe verschwanden von den Schirmen.

Chmeee blickte Louis seltsam an, sagte aber nichts. Louis setzte sich wieder in den Pilotenstuhl.


Die Terminator-Linie war ein breiter Schatten, der sich nach spinnwärts bewegte, als Chmeee die Stadt entdeckte. Sie waren einem mit Sand gefüllten Flußbett auf der Steuerbordseite des ausgetrockneten Meeres gefolgt. Hier gabelte sich das Flußbett, und dort, im Innenwinkel, der durch die Zuflüsse gebildet wurde, befand sich die Stadt.

Prills Artgenossen hatten auch dort großzügig gebaut, wo gar kein Anlaß dafür bestand. Die Stadt hatte sich zwischen den beiden Ufern nicht sehr weit ausbreiten können, aber dafür hatte sie in der Vertikalen um so mehr Platz gefunden. Und so waren auf enger Grundfläche riesige Wolkenkratzer entstanden, die sogar noch in der Luft schwebten und unter sich kleineren, mit der Erde verhafteten Gebäuden genügend Raum ließen, bis die Schwebemaschinen versagten und die Wolkenkratzer wieder auf die Erde zurückholten. Dabei hatten sie die Gebäude unter ihnen zerstört. Nur ein einziger schlanker Turm stand noch etwas verkantet über den Schutthalden. Er hatte sich wie ein Speer in ein anderes Gebäude hineingebohrt. Eine Straße kam von Backbord her, folgte dem äußeren Rand der linken Rußgabel und überquerte dann eine Brücke, die so massive Stützpfeiler hatte, daß sie nur von den Maschinen-Leuten gebaut sein konnte.

Halrloprillalars Artgenossen hätten entweder stabileres Material verwendet oder den Fluß mit einer Fähre überquert.

Chmeee sagte: »Die Stadt wird längst geplündert worden sein.«

»Nun, ja, vorausgesetzt, daß die Straße gebaut wurde, damit man sie plündern konnte. Warum gehst du mit dem Landungsboot nicht tiefer?«

»Die angeborene Neugierde des Affen?«

»Vielleicht. Du brauchst dieses Ding ja nur zu umkreisen, damit wir es aus der Nähe betrachten können.«

Chmeee befolgte die Aufforderung so heftig, daß fast ein freier Fall daraus wurde. Der Pelz des Kzin hatte sich inzwischen sehr stark verändert, war zu einem schimmerndneuen, hübschen sehr orangefarbenen Fell geworden, ein Indiz für Chmeees neuerwachte Jugend. Diese Jugend wirkte sich nicht gerade günstig auf sein Temperament aus. Vier Menschheits-Kzin-Kriege plus ein paar »Zwischenfälle«. Louis hielt lieber den Mund.

Das Landungsboot sackte unter ihnen weg. Louis wartete, bis der schreckliche Andruck sich milderte und begann dann das Okular der Außenkameras einzustellen. Er entdeckte es auf Anhieb.

Ein Kastenwagen war neben dem schiefen Turm geparkt. Der Wagen war groß genug für ein rundes Dutzend Fahrgäste. Das Motorgehäuse am Heck war so reichlich bemessen, daß man damit ein Raumfahrzeug von der Erde abheben konnte. aber das war ja noch ein sehr rückständiges Volk. Louis konnte an der Form des Motorgehäuses nicht erkennen, nach welchem Prinzip der Antrieb dieses Vehikels funktionierte. Er deutete nach unten und sagte: »Sobald wir ein isoliertes Fahrzeug entdecken, stürzen wir uns darauf, nicht wahr?«

»Das sagte ich.« Chmeee ging mit dem Landungsboot neben dem Fahrzeug nieder. Während des Landemanövers peilte Louis die Lage:

Der Wolkenkratzer-Turm hatte ein rechteckiges, erdverhaftetes Gebäude durchbohrt, das Dach durchschlagen, drei Stockwerke und vermutlich auch die Kellerdecke. Es war die Außenschale des kleineren, erdverhafteten Gebäudes, die den Wolkenkratzer-Turm aufrecht hielt. Weiße Dampf- oder Rauchwölkchen kamen in unregelmäßigen Intervallen aus zwei Fenstern des Turmgebäudes. Blasse, menschliche Gestalten tanzten vor dem breiten Eingang des erdverhafteten Gebäudes — tanzten oder hielten dort Springwettbewerbe ab. Zwei von ihnen lagen vor der Fassade. Das sah allerdings nicht nach Ausruhen aus.

Ehe die Fassade eines sonst bereits eingestürzten Hauses ihm den Blick versperrte, hatte Louis die Impressionen bei der Landung zu einem logischen Ganzen zusammengesetzt. Die bleichen Gestalten versuchten, den Eingang des Gebäudes über eine schuttbestreute Straße zu erreichen. Jemand in dem Turm schoß auf die bleichen Gestalten, um diesen Versuch zu vereiteln.

Das Landungsboot ruhte auf seinen Stützen. Chmeee stand auf und streckte sich. »Du scheinst auch der Glückslotterie deine Existenz zu verdanken, Louis. Wir können von der Annahme ausgehen, daß die Leute mit den Gewehren zu dem Volk der Maschinenbauer gehören. Es gehört zu unserer Strategie, diesen Leuten zu helfen.«

Das schien vernünftig. »Weißt du über Waffen Bescheid, die Projektile verwenden?«

»Wenn wir von der Annahme ausgehen, daß die Projektile mit chemischen Mitteln angetrieben werden, dann werden diese Projektile unseren Schutzanzug nicht durchschlagen können. Wir können daher unsere Fluggeschirre benützen, um den Turm zu erreichen. Bewaffne dich mit Betäubungsstrahlern. Wir wollen schließlich keinen Ärger mit unseren zukünftigen Verbündeten haben, indem wir sie schon bei unserer ersten Begegnung umbringen.«


Als sie das Landungsboot verließen, herrschte draußen schon Nacht. Der Himmel hatte sich mit Wolken überzogen. Trotzdem vermochte man hinter der Wolkendecke den Bogen der Ringwelt als schwachschimmerndes, weites Band zu erkennen. Die schwebende Stadt war eine eng beieinander stehende Sternengruppe backbords. Sie konnten sich also schwerlich verirren.

Louis Wu hatte ein unbehagliches Gefühl. Der Schutzpanzer war zu steif; und die Kapuze verdeckte fast sein ganzes Gesicht. Die gepolsterten Tragriemen des Fluggeschirres beengten ihn beim Atmen, und seine Füße schleppten hinter ihm her. Doch nichts, und sei es noch so bequem, würde ihm jemals wieder so ein harmonisches Gefühl vermitteln wie der Wonnedraht. Wenigstens fühlte er sich relativ sicher.

Er hing zwischen Himmel und Erde und benützte die Schutzbrille mit den restlichtverstärkenden Gläsern.

Die Angreifer schienen wahrhaftig nicht furchterregend. Sie waren vollkommen nackt und besaßen keine Waffen. Ihre Haare waren silberfarben; ihre Haut außerordentlich blaß. Sie waren schlank und hübsch anzusehen; selbst die Männer hatten glatte, bartlose Gesichter.

Sie hielten sich in dem Schatten der Schutthalden, lösten sich nur daraus, wenn sie im Zickzack paarweise oder einzeln auf den breiten Eingang des rechteckigen Gebäudes zuliefen. Louis hatte zwanzig silberhaarige Gestalten gezählt. Elf davon waren Frauen. Fünf weitere Gestalten lagen tot auf der Straße. Andere mochten sich bereits im Gebäude aufhalten.

Die Verteidiger hatten inzwischen mit dem Schießen aufgehört. Vielleicht war ihnen die Munition ausgegangen. Sie hatten zwei Fenster als Schießscharten verwendet, die sich auf der nach vorn geneigten Seite des Turmes befanden, und zwar im sechsten Stockwerk, soweit Louis das beurteilen konnte. Alle Fenster in dem Wolkenkratzer-Turm waren zerbrochen.

Louis lenkte ganz dicht an die schwebende Tigergestalt des Kzin heran. »Wir dringen von der Rückseite in das Gebäude ein. Wir stellen die Handscheinwerfer auf die geringste Energie und breiteste Öffnung. Ich gehe zuerst, weil ich ihnen zum Verwechseln ähnlich sehe. Okay?«

»Okay«, erwiderte Chmeee.

Die Fluggeschirre arbeiteten nach dem gleichen Repulsionsprinzip wie das Landungsboot. Im Tornistergerät befanden sich kleine Repulsionsdüsen, die mit dem Scrith reagierten. Louis schwebte in einer Kurve auf die Rückseite des Wolkenkratzers zu, bewegte den Kopf zur Seite, um sich zu vergewissern, daß Chmeee ihm folgte. Hoffentlich habe ich auch das richtige Stockwerk erwischt, dachte er, als er durch ein offenes Fenster das Gebäude enterte.

Er befand sich in einem großen, leeren Zimmer. Als er die Luft einatmete, reizte sie seine Schleimhäute. Da waren Polstermöbel, die aus Gurten bestanden, doch die Gurte waren längst zu Staub zerfallen. In der Mitte des Raumes stand ein langer Glastisch. Das Glas war zersprungen. Auf dem abschüssigen Fußboden lag etwas Formloses, das sich als Tornister mit Tragriemen entpuppte. Sie waren also hier gewesen. Und dieser Geruch.

»Kordit«, sagte Chmeee. »Chemischer Treibstoff. Wenn sie auf uns schießen, bedeckst du deine Augen.« Der Kzin bewegte sich auf die Tür zu. Er preßte sich gegen die Wand und stieß die Tür auf. Dahinter war eine Toilette. Leer.

Eine größere Tür hing in den Angeln, zeigte in die Richtung, in die das Gebäude verkantet war. Den Betäubungsstrahler in der einen Hand, den Handstrahler-Laser in der anderen, bewegte sich Louis durch diese offene Tür. Er spürte eine wachsende Erregung, die seine Furcht verdrängte.

Hinter der prächtig geschnitzten Holztür befand sich eine breite spiralförmig angelegte Treppe, die sich unter ihm im Dunklen verlor. Louis leuchtete an den Windungen der Treppe entlang, bis die Spirale sich im Erdgeschoß des Gebäudes in Schutt auflöste. Der Lichtstrahl brach sich an einer Waffe mit Schulterstütze, die man mit zwei Händen bedienen mußte, an einer Schachtel, um die herum winzige goldene Zylinder verstreut lagen. Etwas tiefer lag noch eine Waffe. Ein Rock, der mit Tragschlaufen versehen war. Noch mehr Kleidungsstücke auf der Spirale darunter. Eine menschliche Gestalt ganz unten, wo die Treppe abgeknickt war — ein nackter Mann, der offenbar dunkelhäutiger und muskulöser war als die Angreifer.

Louis' Aufregung hatte sich ins Unerträgliche gesteigert. War es das, was er die ganzen Jahre über gesucht hatte? Nicht den Wonnestecker, sondern Lebensgefahr, um sich selbst bestätigen zu können? Louis stellte die Düsen seines Fluggeschirrs neu ein und sprang über das Geländer in die Tiefe. Er fiel langsam nach unten. Da war nichts Menschliches auf den Treppenstufen, nur Gegenstände, die offenbar auf der Flucht weggeworfen worden waren: anonyme Kleidungsstücke, Waffen, Stiefel, noch ein Tornister. Louis sank von Stockwerk zu Stockwerk und wußte plötzlich, daß er das Richtige gefunden hatte. Eine rasche Drehung an dem Regler seines Fluggeschirrs, und er flog waagrecht durch einen Korridor, einen Geruch verfolgend, der sich radikal von dem Gestank unterschied, den Chmeee als Kordit bezeichnet hatte.

Er befand sich jetzt außerhalb des Wolkenkratzers. Fast wäre er mit voller Wucht gegen eine Wand geflogen. Er schwebte durch das niedrige, erdgebundene Gebäude, das dem Wolkenkratzer als Stütze diente. Irgendwo mußte er sein Licht verloren haben. Er drehte an dem Binokular seiner Schutzbrille und wandte sich nach rechts, dem Licht zu.

Da lag eine tote Frau auf der Schwelle einer breiten Tür: sie gehörte zu den Angreifern. Blut war aus einer Projektilwunde in ihrer Brust geflossen. Louis empfand eine tiefe Trauer für sie. und eine Erregung, die ihn mit sich fortriß, so daß er über sie hinwegflog, durch zwei weitere Türen und dann durch ein Fenster ins Freie.

Der durch den Restlichtverstärker betrachtete Bogen der Ringwelt schimmerte hell durch die Wolkendecke. Er hatte endlich die Angreifer gefunden, und auch die Verteidiger. Sie waren paarweise beisammen — die schlanken, blassen Gestalten mit den stämmigen Dunkelhäutigen, die immer noch Reste einer Bekleidung trugen — einen Stiefel, eine Mütze oder ein zerrissenes Hemd. In dem Taumel der Paarung beachteten sie den fliegenden Mann überhaupt nicht.

Doch eine von den silberhaarigen Frauen hatte noch keinen Partner gefunden. Als Louis knapp über dem Boden schwebte, streckte sie den Arm aus und faßte ihn am Fußknöchel. Sie tat es mit einer ungezwungenen, fast anmutigen Bewegung, ohne die geringste Furcht zu zeigen. Sie war sehr blaß, und das von den silbernen Haaren eingerahmte feingemeißelte Gesicht war unglaublich schön.

Louis schaltete sein Fluggeschirr ab und ließ sich neben ihr auf die Erde fallen. Er nahm sie in seine Arme. Ihre Hände tasteten suchend über seine seltsame Kleidung. Louis ließ den Lähmungsstrahler fallen, zog seine Weste und sein Fluggeschirr aus — seine Finger waren viel zu plump, dünkte ihm — seinen Schutzpanzer, seine Unterwäsche. Er nahm sie ohne Finesse. Sein Trieb war viel stärker als jedes Gefühl der Rücksichtnahme. Aber ihre Begierde war genauso stark wie seine.

Er achtete nicht mehr auf seine Umgebung, spürte nur noch seinen Körper und ihren. Jedenfalls hatte er keine Ahnung, daß Chmeee inzwischen Zeuge ihres Geschlechtsaktes geworden war. Er erkannte es erst — blitzartig —, als der Kzin seiner neuen Geliebten mit seinem Laser heftig über den Kopf schlug. Das pelztragende fremde Wesen packte mit seinen Klauen seine Geschlechtspartnerin bei den silbernen Haaren und riß ihren Kopf zurück, zog ihre Zähne aus Louis Wus Hals heraus.

15. Die Maschinen-Leute

Der Wind blies Staub in Louis Wus Nasenlöcher. Er schlug ihm die eigenen Haare um das Gesicht. Louis schob das Haar hinter die Ohren zurück und öffnete die Augen. Das Licht war gleißend hell. Seine tastenden Hände entdeckten ein Plastikpflaster am Hals. Die Schutzbrille mit den Restlichtverstärkern saß immer noch auf seiner Nase. Er zog sie zum Kinn herunter. Er rollte sich von der Frau weg und setzte sich auf.

Jetzt herrschte Zwielicht. Die Morgendämmerung brach herein: die Terminatorlinie teilte die Welt in hell und dunkel. Louis taten alle Muskeln weh. Ihm war, als hätte man ihn fürchterlich verprügelt. Paradoxerweise fühlte er sich großartig. Viel zu lange hatte er den Sex nur sparsam ausgeübt, dazu noch unlustig, als Tarnung, weil Wonnestrom-Süchtige bekanntermaßen kein Interesse an solchen Dingen haben. In der vergangenen Nacht. war seine ganze Seele darin aufgegangen.

Die Frau? Sie hatte ungefähr Louis' Größe und war eher eine kompakte Schönheit. Nicht gerade flachbrüstig, aber auch nicht vollbusig. Ihr Haar war in einen langen Zopf geflochten, und da war ein etwas zu langer Flaum am Kinn und unter den Jochbeinen. Sie schlief den Schlaf der Erschöpfung, und den hatte sie auch verdient. Beide hatten sie das. Jetzt kam die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück. Aber seine Rückblende machte ihn ganz konfus.

Er hatte gebumst — nein, er hatte sich Hals über Kopf auf diese schlanke blasse Frau mit den roten Lippen gestürzt und sich mit ihr vereinigt. Als er sein Blut auf ihren Lippen sah, den Stachel in seinem Hals fühlte, hatte er nur ein Bedauern gespürt, als erlitte er einen schrecklichen Verlust. Er hatte geheult vor Wut, als Chmeee ihren Kopf nach hinten drehte, bis ihr Genick zerbrach. Er hatte sogar mit dem Kzin gekämpft, als er ihn von der toten Frau wegriß. Der Kzin hatte ihn unter den Arm geklemmt, obwohl er immer noch wütend mit Armen und Beinen auf ihn eindrosch. Chmeee hatte ihn mit den Ellenbogen festgehalten, während er das Sanitätskästchen aus Louis' Weste holte und ihm das Pflaster auf den Hals drückte. Anschließend hatte er das Sanitätskästchen wieder im Raumanzug verstaut.

Dann hatte Chmeee sie getötet, alle diese hübschen silberhaarigen Männer und Frauen. Er hatte ihnen die gleißende Rubinnadel seines Handscheinwerfer-Lasers akkurat und sauber durch den Kopf gebohrt. Louis erinnerte sich wieder, wie er Chmeee daran hindern wollte und dann, von einem wuchtigen Schlag getroffen, über die geborstenen Gehsteigplatten rollte. Er hatte sich benommen wieder aufgerappelt und in seiner Nähe ein weibliches Wesen entdeckt, das sich ebenfalls noch bewegte. Er war auf sie zugegangen. Sie, eine dunkelhaarige Frau, war die einzige Überlebende der Verteidiger. Sie waren sich gegenseitig in die Arme gefallen.

Warum harte er das getan? Und Chmeee hatte versucht, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. oder etwa nicht? Louis erinnerte sich auch an ein fauchendes Heulen, das ihn an das Kriegsgeschrei von Tigern gemahnte.

»Pheromone«, sagte er, »und sie sahen so harmlos aus.« Er stand auf und blickte sich mit blankem Entsetzen um. Die Toten waren alle um ihn herum versammelt: die Dunkelhäutigen mit den zerbissenen Hälsen, die Blassen mit dem Blut auf den Lippen und dem Brandloch in den Silberhaaren.

Die Waffen hatten da nicht ausgereicht. Was die Vampire besaßen, war viel schlimmer als eine Lustgeißel. Sie schickten eine superstimulierende Wolke von Pheromonen aus, die menschlichen Geruchssignale der sexuellen Bereitschaft. Einer von den den Vampiren oder ein paar mußte den Wolkenkratzer-Turm erreicht haben. Und die Verteidiger waren nur zu gerne herausgekommen, waren ihnen entgegengerannt, hatten unterwegs ihre Waffen und ihre Kleider abgeworfen. Einer hatte es so eilig gehabt, daß er sogar über das Geländer sprang und in den Tod stürzte.

Aber warum hatten er und die dunkelhaarige Frau sich gepaart, obwohl die Vampire bereits tot waren?

Der Wind spielte mit Louis' Haaren. Ja. Die Vampire waren tot, aber er und die dunkelhaarige Frau waren noch von einer Wolke von Pheromonen umgeben gewesen. Sie hatten sich gepaart wie brünstige Tiere. »Wenn der Wind nicht aufgekommen wäre, klebten wir immer noch aneinander. Ja. Wo, zum Henker, habe ich denn meine Sachen gelassen?«

Er fand die Panzerweste und das Fluggeschirr. Unterhose und Unterhemd waren nur noch Fetzen. Wie stand es mit der Weste? Er sah, daß die Frau jetzt die Augen aufgeschlagen hatte. Sie setzte sich plötzlich auf, mit einem Horror in den Augen, den Louis nur zu gut verstehen konnte. Er sagte zu ihr: »Ich muß meine Weste wiederfinden, denn darin befindet sich mein Übersetzungsgerät. Ich hoffe nur, Chmeee vergrault Sie nicht, ehe ich.«

Chmeee! Was für einen Eindruck hatte dieses hemmungslose, ekstatische Verhalten auf ihn gemacht?

Chmeees große Hand schloß sich um Louis' Schädel und zwang ihn rückwärts. Louis klammerte sich mit seinem ganzen Körper und mit seiner ganzen Seele an diese Frau. Er stieß sie, er bumste; aber seine Augen waren ausgefüllt von diesem orangefarbenen Tiergesicht, und seine Ohren gellten von schrecklichen Flüchen. Es mußte für den Kzin niederschmetternd gewesen...

Chmeee war nicht in seiner Nähe. Er konnte ihn nirgends entdecken. Louis fand seine Weste ein gutes Stück von sich entfernt, umklammert von der Hand eines toten Vampirs. Aber seinen Betäubungsstrahler konnte er nicht wiederfinden. Inzwischen machte er sich ernsthafte Sorgen. Irgend etwas Häßliches regte sich in seiner Erinnerung. Er rannte nun zu der Stelle, wo das Landungsboot niedergangen war.

Er fand dort nur einen Felsblock, der so groß und so schwer war, daß ihn drei Männer nicht hätten von der Stelle rücken können. Er beschwerte ein großzügig bemessenes Stück schwarzen Superleiter-Tuches. Chmeees Abschiedsgeschenk. Das Landungsboot war weg.


Ich muß früher oder später darüber hinwegkommen, dachte Louis. Und warum nicht jetzt gleich? Ein Freund hatte ihm diesen Trick beigebracht, diese magische Suggestion, mit der man sich rasch von einem Schock oder Kummer erholte. Manchmal funktionierte es sogar.

Er setzte sich auf eine Stange, die früher einmal zu einem Verandageländer gehört haben mußte, nur daß diese Veranda jetzt wie ein gestrandetes Floß auf einem mit Sand bedeckten Gehsteig lag. Er hatte seinen Panzer wieder angelegt und die Weste mit den vielen Taschen. Er hatte diese Kleidung zwischen sich und eine riesige, ihn vergessende Welt gestellt. Er hatte sich nicht aus Schamgefühl bekleidet, sondern aus Furcht.

Damit war sein ganzer Ehrgeiz aufgezehrt. Nun saß er da, während die Gedanken ziellos durch sein Bewußtsein trieben. Er dachte an einen heilen Wonnestecker, der nun so weit von ihm entfernt war wie die Erde von ihrem Mond, und an einen zweiköpfigen Verbündeten, der niemals seine Haut riskieren würde, um auf der Ringwelt zu landen, nicht einmal, wenn er Louis Wu retten mußte. Er dachte an die Ringwelt-Ingenieure und ihre idealisierte Ökologie, die solche lästigen Wesen wie Moskitos oder Vampir-Fledermäuse nicht in ihre Fauna aufgenommen hatten. Seine Lippen zuckten, der geisterhafte Ansatz eines Lächelns. Dann ruhten sie wieder, als sein Gesicht den Ausdruck eines Toten annahm, der gar kein Ausdruck ist.

Er wußte sehr wohl, wohin Chmeee mit dem Landungsboot geflogen war. Er lächelte wieder bei dem Gedanken, wie wenig ihm das nützte. Hatte Chmeee ihm vorher noch gesagt, was er vorhatte? Es spielte keine Rolle mehr. Der Selbstbehauptungstrieb oder der Geschlechtstrieb oder der Rachetrieb — alle drei Impulse würden Chmeee in dieselbe Richtung weisen. Aber würde eines von diesen Motiven ihn zurückbringen, um Louis Wu zu retten?

Und er dachte daran, wie wenig doch der Tod eines Menschen bedeutete, wenn Billiarden Bewohner der Ringwelt dem Untergang geweiht waren, sobald ihr Kunstplanet mit der Sonne zusammenstieß.

Nun, vielleicht kam Chmeee zurück. Louis mußte sich jetzt schon selbst rühren und etwas unternehmen, um die fliegende Stadt zu erreichen. Schließlich waren sie dorthin unterwegs gewesen; Chmeee würde ihn wahrscheinlich dort vermuten, wenn irgendeine Laune den Kzin zu seinem Verbündeten zurückbrachte, der ihn so schmählich im Stich gelassen hatte. Oder Louis mochte in der Stadt etwas Wichtiges entdecken. Oder. irgendwo mußte er ja in dem einen oder den beiden Jahren überleben, die ihm noch vergönnt waren. Ich muß irgendwann darüber hinwegkommen. Warum nicht jetzt?

Jemand schrie.

Die schwarzhaarige Frau hatte sich inzwischen mit Shorts und einem Hemd bekleidet und einen Tornister umgeschnallt. Sie hielt eine Projektil-Waffe in der Hand, die auf Louis Wu zielte. Mit dem anderen Arm gestikulierte sie und schrie zum zweitenmal.

Der Urlaub war vorüber. Louis wurde sich jetzt überdeutlich bewußt, daß seine Schutzkappe locker um seinen Hals hing. Wenn sie ihm einen Kopfschuß verpassen wollte — nun, vielleicht ließ sie ihm noch soviel Zeit, daß er die Kapuze überstreifen konnte, und dann spielte es keine Rolle mehr, ob sie auf ihn schoß oder nicht. Der Schutzanzug würde die Kugeln auffangen, während er über die Straße rannte. Was er jetzt am nötigsten brauchte, war das Fluggeschirr. Oder vielleicht doch nicht?

»Okay«, sagte Louis, lächelte und hob die Hände bis zu den Schultern. Was er wirklich brauchte, war ein Verbündeter. Dann griff er langsam mit einer Hand in seine Weste, holte die Übersetzer-Box heraus und klemmte sie unter seinem Kinn fest. »Das wird für uns sprechen, sobald es deine Sprache beherrscht.«

Sie deutete mit der Waffe: Geh vor mir her.

Louis ging bis zu der Stelle, wo sein Fluggeschirr lag, bückte sich dann und hob es auf. Er vermied jede hastige Bewegung dabei. Es donnerte hinter ihm. Ein Stein, der zehn Zentimeter von Louis' rechtem Fuß entfernt war, hüpfte davon.

Er ließ das Geschirr wieder fallen und wich einen Schritt zurück.

Tanj, sie wollte gar nicht reden! Für sie stand fest, daß er ihre Sprache nicht beherrschte, und dabei beließ sie es. Wie sollte da der Übersetzer irgend etwas lernen?

Mit beiden Händen an der Schulter sah er zu, wie sie mit der freien Hand an dem Fluggeschirr herumfummelte, während sie mit ihrer Waffe mehr oder weniger direkt auf ihn zielte.

Wenn sie den falschen Knopf bediente, würde er das Geschirr verlieren und auch das Superleiter-Tuch. Aber sie legte das Fluggeschirr wieder auf den Boden zurück, ohne ein Unheil angerichtet zu haben, blickte Louis eine Weile lang prüfend an und trat zurück. Sie deutete.

Louis nahm das Geschirr auf. Als sie jetzt auf ihren Kastenwagen deutete, schüttelte er den Kopf. Er ging zu der Stelle, wo Chmeee das Superleiter-Tuch zurückgelassen hatte, das von einem unglaublich schweren Felsblock befrachtet war. Er schätzte die Menge des Tuches auf einen Morgen.

Die Mündung der Waffe verfolgte ihn überall hin, während er das Fluggeschirr an dem Felsblock befestigte und den Energieschalter betätigte. Er umfaßte auch den Block mit beiden Armen — und das Geschirr, aus Angst, es könnte von dem Stein abgleiten — und hob an. Der Felsblock bewegte sich. Louis drehte sich um hundertachtzig Grad und ließ den Block wieder los. Er setzte sanft auf der Erde auf.

Sah er Respekt in ihren Augen? Galt er seiner Technologie oder seiner Stärke? Er schaltete die Energiezufuhr wieder ab, nahm das Fluggeschirr unter den Arm, klemmte das Superleiter-Tuch unter den rechten Ellenbogen und bewegte sich vor ihr her auf den Kastenwagen zu. Sie öffnete die Doppeltüren an der Seiten wand. Er legte seine Last wieder ab und sah sich um.

Je eine Bank an den Seitenwänden und der Hinterwand; ein winziger Ofen in der Mitte. Im Dach eine Luke als Rauchabzug. Hinter dem Rücksitz Gepäckstapel. Noch eine Bank an der Vorderseite, die in Fahrtrichtung blickte.

Rückwärts gehend, verließ er das Fahrzeug wieder. Er machte einen Schritt auf den Wolkenkratzer-Turm zu und blickte sie fragend an. Sie begriff, was er wollte. Sie zögerte einen Moment und gab ihm dann mit einem Handzeichen ihre Erlaubnis.

Die Toten begannen bereits zu riechen. Er fragte sich, ob sie die Leichen verbrennen oder bestatten wollte. Aber sie ging durch die Reihen der Toten hindurch, ohne anzuhalten. Nur Louis blieb stehen, bückte sich und untersuchte mit den Fingern das Silberhaar einer toten Frau.

Da war zuviel Haar, zuwenig Schädel. Sie war schön, aber ihr Gehirn war kleiner als das eines Menschen. Er seufzte und ging weiter.

Die Frau begleitete ihn durch das erdverhaftete Gebäude, dann zu der Spiraltreppe des Wolkenkratzers, das von diesem Gebäude gestützt wurde. Er ging die Treppe hinunter in den Keller. Dort lag ein toter Mann ihrer Spezies, und neben ihm lag der Handscheinwerfer-Laser. Als er auf die Frau zurücksah, entdeckte er Tränen in ihren Augen.

Er hob den Handscheinwerfer-Laser auf, und sie schoß knapp daneben. Der Querschläger traf ihn an der Hüfte, und er zuckte heftig in seinem Schutzanzug zusammen, der plötzlich so steif war wie Eisen. Dann wich er bis zur Wand zurück, während sie den Laser aufhob.

Sie entdeckte den Schalter, und das Licht tanzte im breiten Kegel um sie her. Sie entdeckte, wie man den Brennpunkt einstellen mußte. Sie nickte und schob das Gerät in die Tasche ihrer Hose.


Auf dem Rückweg zum Kastenwagen ließ Louis wie beiläufig die Maske des Schutzanzuges über sein Gesicht fallen, als würde ihn sonst die Sonne blenden. Vielleicht hatte sie mehr als genug von Louis Wu und wollte nicht mit ihm zusammen verreisen.

Sie schoß nicht auf ihn. Sie kletterte in den Wagen und sperrte die Tür mit einem Schlüssel ab. Einen Moment lang sah Louis sich in dieser verfallenen Stadt gestrandet — ohne Wasser, ohne Werkzeuge. Aber sie winkte ihm zu, daß er an das Fenster des rechten Wagenschlages treten sollte, wo sich die Armaturen befanden. Sie zeigte ihm mit Gesten, wie er den Wagen in Gang setzen und lenken konnte.

Das war der Durchbruch, den Louis sich erhofft hatte. Er wiederholte die Worte, die sie ihm durch das Fenster zurief, und fügte die Übersetzung in seiner Sprache hinzu: »Steuerring. Wender. Anlasser. Schlüssel. Gashebel. Gashebel rückwärts.« Sie beherrschte die Zeichensprache ganz gut. Eine Hand, die durch die Luft fuhr, und ein Finger, der ein Nadelventil andeutete war ein »Luftdruck-Geschwindigkeitsmesser«.

Sie erschrak, als die Übersetzungsbox plötzlich zu reden begann. Dann setzte sie den Sprachunterricht eine Weile lang fort. Schließlich sperrte sie die Seitentür auf, rutschte auf der Bank zur Seite, zielte mit ihrer Waffe auf ihn und sagte: »Steig ein. Fahre.«

Der Motor war laut, und das Fahrgestell hatte noch nie etwas von Federn gehört. Es übertrug die kleinste Unebenheit direkt auf den Fahrersitz, bis Louis um jedes Schlagloch, jeden Stein und jede Sandverwehung herumkurvte. Die Frau beobachtete ihn schweigend. War sie denn gar nicht neugierig? Er dachte daran, daß sie mindestens ein Dutzend Freunde an die Vampire verloren hatte. Unter diesen Umständen bewahrte sie eine bewundernswerte Fassung.

Endlich sagte sie: »Ich bin Valavirgillin.«

»Ich bin Louis Wu.« »Du hast seltsame Werkzeuge. Den Sprecher, den Lift, das verstellbare Licht — was hast du noch?«

»Tanj, verdammt noch mal! Ich habe meine Schutzbrille vergessen!«

Sie zog die Brille mit den Binokularen aus ihrer Tasche. »Das habe ich gefunden.«

Vielleicht hatte sie auch den Betäubungsstrahler gefunden. Aber Louis fragte nicht danach. »Gut. Setz das Ding auf, und ich werde dir zeigen, wie es funktioniert.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Vermutlich befürchtete sie, er wollte sie nur ablenken, damit er sie überwältigen konnte. Sie fragte: »Was hattest du in der alten Stadt zu suchen? Wo hast du diese Werkzeuge gefunden?«

»Sie gehören mir. Ich brachte sie von einem weit entlegenen Stern hierher.«

»Mach dich nicht über mich lustig, Louis Wu.«

Louis blickte sie an. »Haben denn die Leute, die die Städte bauten, nicht solche Werkzeuge?«

»Sie hatten Geräte, die sprachen. Sie konnten ein Gebäude in die Luft heben. Vermutlich konnten sie das auch mit ihrem eigenen Körper.«

»Was sagst du zu meinem Begleiter? Hast du schon seinesgleichen auf der Ringwelt gefunden?«

»Er schien enorm groß zu sein.« Sie errötete. »Ich hatte keine Gelegenheit, ihn näher kennenzulernen.«

Nein, sie war abgelenkt worden. Verrückt. »Warum zielst du dauernd mit der Waffe auf mich? Die Wüste ist unser gemeinsamer Feind. Wir sollten uns gegenseitig unterstützen.« »Ich habe keinen Anlaß, dir zu vertrauen. Jetzt frage ich mich sogar, ob du verrückt bist. Nur die Städtebauer reisten zwischen den Sternen hin und her.«

»Das ist ein Irrtum.«

Sie bewegte die Schultern. »Mußt du unbedingt so langsam fahren?«

»Ich brauche erst Übung.«

Aber Louis wurde rasch mit der Maschine vertraut. Die Straße war schnurgerade, ihre Oberfläche nicht sehr uneben, und kein einziges Fahrzeug kam ihnen entgegen. Hin und wieder trafen sie auf Sandverwehungen. Aber Valavirgillin hatte ihm gesagt, daß er deswegen nicht mit dem Tempo heruntergehen mußte.

Und so kamen sie verhältnismäßig rasch seinem eigentlichen Ziel näher. Er fragte: »Was kannst du mir über die fliegende Stadt erzählen?«

»Ich bin nie dort gewesen. Die Kinder der Städtebauer wohnen dort. Aber heutzutage bauen sie nichts mehr. Sie herrschen auch nicht mehr über das Land. Aber es ist Tradition, daß sie die Stadt behalten. Sie haben viele Besucher.«

»Touristen? Leute, die die Stadt besichtigen wollen?«

Sie lächelte. »Das ist einer von mehreren Gründen. Aber man muß eingeladen sein. Warum willst du das alles wissen?«

»Ich muß in die fliegende Stadt. Wie weit kann ich in deinem Wagen mitfahren?«

Nun lachte sie. »Ich fürchte, daß man dich niemals in die Stadt einladen wird. Du bist weder berühmt, noch mächtig.«

»Mir wird schon etwas einfallen.«

»Ich fahre bis zur Schule beim Umkehr der Flüsse. Dort muß ich berichten, was geschehen ist.«

»Was ist geschehen? Was suchtest du denn hier in der Wüste?«

Sie sagte es ihm. Es war nicht einfach zu verstehen, weil das Vokabular des Übersetzers noch große Lücken aufwies. Sie überbrückten die Lücken mit anderen Worten und füllten sie so allmählich auf.


Die Maschinen-Leute herrschten über ein mächtiges Imperium.

Unter einem Imperium verstand man auf der Ringwelt einen Zusammenschluß von mehreren fast unabhängigen Königreichen. Diese Königreiche mußten Steuern bezahlen und waren an die Weisungen des Imperators gebunden, wenn es um Krieg und Frieden ging, um die Bekämpfung des Verbrecherunwesens, um Verkehr und Fermeldewesen und manchmal sogar um religiöse Bekenntnisse und Einrichtungen. In allen anderen Dingen hatten sie sich nach ihrer eigenen Tradition gerichtet.

Innerhalb des Maschinen-Imperiums war das gar nicht so einfach, wenn man zum Beispiel bedachte, daß der Lebensstil eines Hirten-Fleischessers in Konkurrenz stand zu dem Lebensstil der Grasesser; ersterer nützte wieder den Händlern, die von den Fleischessern Lederwaren einkauften; beide, Hirten wie Grassammler, hatten wiederum ein neutrales Verhältnins zu den Kobolden. In manchen Territorien gab es eine reibungslose Zusammenarbeit der verschiedenartigen Gattungen, und alle Territorien gewährten den Kobolden Bewegungsfreiheit. Die verschiedenen Spezies hielten sich deswegen an ihre eigenen Traditionen, weil sie biologisch dafür geschaffen waren.

Kobolde war der Begriff, den Louis Wu sebst geprägt hatte. Denn Valavirgillin gab diesen Riesen einen Namen, den man als Nacht-Volk übersetzen konnte. Sie waren Müllbeseitiger und Totengräber, weshalb auch Valavirgillin die Toten nicht bestattet hatte. Die Kobolde hatten eine eigene Sprache. Man konnte sie in den Bestattungsriten unterweisen, die von den verschiedenen Religionsbekenntnissen beachtet wurden. Sie bildeten eine vorzügliche Nachrichtenquelle für die Maschinen-Leute. Angeblich hatten sie früher den Städtebauern den gleichen Dienst geleistet, als dieses Volk noch über die Ringwelt herrschte, wenn man den Sagen glauben durfte.

Und wenn man Valavirgillin glauben durfte, war das Maschinen-Imperium im Prinzip nur eine Handelsmacht, die ausschließlich ihre eigenen Kaufleute besteuerte. Je mehr sie davon erzählte, um so fragwürdiger erschien Louis der Herrschaftsanspruch dieses Imperiums. Die Königreiche mußten die Straßen unterhalten, welche die Territorien des Imperiums miteinander verbanden, falls die Bewohner dieser Königreiche dazu in der Lage waren. Das galt (zum Beispiel) nicht für die Hängenden Leute, die auf Bäumen lebten. Zudem stellten die Straßen die Grenzen zwischen den Territorien dar, die von verschiedenartigen hominiden Spezies beherrscht wurden. Straßenüberschreitende Eroberungskriege waren verboten. Und daher verhinderten die Straßen (manchmal) durch ihre bloße Existenz den Ausbruch eines Krieges.

Das Imperium war ermächtigt, Armeen auszubilden, um Banditen oder Diebe zu bekämpfen. Ländereien von erheblichem Umfang, die das Imperium für sich beanspruchte, um dort Handelsposten zu errichten, wurden in der Regel zu eigenständigen Kolonien. Weil die verschiedenen Königreiche des Imperiums durch Straßen und Fahrzeuge miteinander verbunden waren, waren diese Königreiche auch verpflichtet, den für die Fahrzeuge nötigen chemischen Treibstoff herzustellen und für diese bereitzuhalten. Das Imperium kaufte Bergwerke (durch Zwangsverkäufe?), beutete die Bodenschätze selbst aus und vergab Lizenzen, die den Lizenznehmer ermächtigten, Maschinen nach den Spezifikationen des Imperiums herzustellen.

Für die Händler gab es eigene Schulen. Valavirgillin und ihre jetzt toten Freunde waren Studenten an der Hochschule am Umkehr der Flüsse. Auch ein Lehrer war unter den Toten gewesen, unter dessen Leitung sie einen Ausflug zu einem Handelszentrum gemacht hatten, das an der Grenze des Dschungellandes errichtet war, wo die Hängenden Leute — menschliche Kletterwesen, vermutete Louis, die gegen Nüsse und getrocknete Früchte andere Waren eintauschten — und die Hirten, die Fleischesser, wohnten, die Lederwaren und Handarbeiten verkauften. (Nein, sie waren nicht klein und rothäutig. Es handelte sich um eine andere Spezies.) Von dort aus hatten sie einen Abstecher in die uralte Wüstenstadt gemacht.

Auf Vampire waren sie nicht gefaßt gewesen. Wo wollten die Vampire in dieser Wüste Wasser finden? Wie kamen sie überhaupt dorthin? Vampire waren ausgestorben, bis auf.

»Bis auf was? Ich habe da, glaube ich, ein Wort überhört.«

Valavirgillin errötete. »Ältere Leute halten sich zuweilen zahnlose Vampire für. zum Zwecke des Rishathra. So können diese Vampire sich wieder vermehrt haben. Ein zahmes Paar ist irgendwo ausgebrochen. Oder ein schwangeres Weibchen.«

»Vala, das ist ja widerlich.«

»Das ist es«, stimmte sie ihm kalt zu. »Ich habe noch nie gehört, daß jemand offen zugegeben hätte, daß er sich Vampire wie Haustiere hielte. Aber gibt es dort, wo du herkommst, nicht auch ein paar Leute, die etwas tun, was andere vielleicht widerlich oder abscheulich finden?«

Dieser Schuß saß. »Ich werde dir einmal etwas von der Wonnestrom-Sucht erzählen. Aber nicht jetzt.«

Sie betrachtete ihn über die Metallschnauze ihrer Waffe hinweg. Trotz dieses Bartflaumes, der sich von einem Ohr zum anderen über den Kiefer hinzog, sah sie menschlich genug aus; nur etwas breit. Ihr Gesicht bildete fast ein perfektes Quadrat. Louis hatte Mühe, in ihrem Gesicht zu lesen. Das war kein Wunder; denn auf der Erde hatte sich das menschliche Antlitz zu einem Signalmittel entwickelt. Valas Spezies hatte diese Evolution nicht mitgemacht.

Er fragte: »Was wirst du jetzt unternehmen?«

»Ich muß die Toten melden. und die Artefakten aus der Wüstenstadt den Behörden übergeben. Dafür gibt es eine Belohnung. Aber das Imperium besteht darauf, daß ihr alle Artefakten der Städtebauer gehören.«

»Ich versichere noch einmal, daß sie mein Eigentum sind.«

»Fahr weiter!«

In der Wüste zeigten sich schon hin und wieder grüne Oasen, und die Sonnenblende schnitt bereits wieder ein Segment aus der Sonne, als Valavirgillin ihn zum Anhalten aufforderte. Er war froh darüber. Er war erschöpft von den Stößen, die die Straße ihm versetzt hatte, und der endlosen, ununterbrochenen Lenkarbeit, weil dieses Fahrzeug sich nicht selbst zu steuern vermochte.

Vala sagte: »Du wirst. essen.«

Sie waren inzwischen daran gewöhnt,daß der Übersetzer Worte ausließ. »Ich habe wieder etwas überhört, scheint mir.«

»Kannst du Nahrungsmittel erhitzen, bis man sie essen kann? Louis, kannst du — ?«

»Kochen.« Vermutlich hatte sie weder Pfannen dabei, in denen nichts anbrannte, noch einen Mikrowellenofen, oder etwa doch? Und wie stand es mit den Meßbechern, der Zuckerraffinade, der Butter, Gewürzen, die er kannte — »Nein.«

»Dann werde ich kochen. Du machst Feuer. Was ißt du?«

»Fleisch, gewisse Pflanzen, Früchte, Eier, Fisch. Früchte esse ich auch ungekocht.«

»Dann ißt du fast das gleiche wie mein Volk, von dem Fisch einmal abgesehen. Gut. Steig aus dem Wagen und warte.«

Sie sperrte die Türen ab, als er den Wagen verlassen hatte, und kroch hinter die Rückbank. Louis streckte sich. Seine Muskeln schmerzten. Die Sonne war jetzt nur noch ein gleißender Splitter, aber es war immer noch gefährlich, direkt in dieses Licht zu blicken. Die Wüste lag bereits im Schatten. Ein breites blaues Band mit reichgegliederter Landschaft glitzerte antispinnwärts über dem Horizont. Bräunliches, stacheliges Gras umgab ihn. In einiger Entfernung standen ein paar hohe, trockene Bäume beisammen. Einer der Bäume war kahlgrau. Er sah tot aus.

Sie kam jetzt ebenfalls ins Freie. Sie warf ihm etwas Schweres vor die Füße. »Fälle Holz und mach daraus ein Feuer.«

Louis hob den Gegenstand auf: ein längliches Holz mit einem Keil aus grobem Eisen am oberen Ende. »Vielleicht bin ich ein bißchen blöd — aber was ist das?«

Sie gab ihm die Bezeichnung dieses Gegenstandes. »Du schlägst mit dem scharfen Ende des Keils gegen den Baumstamm, bis er umfällt, kapiert?«

»Axt.« Louis erinnerte sich wieder an die Kriegsäxte, die er in dem Museum auf dem Kzin-Planeten gesehen hatte. Er betrachtete die Axt, dann den toten Baum. und plötzlich hatte er es satt. Er sagte: »Es wird rasch dunkel.«

»Siehst du nachts schlecht? Hier.« Sie warf ihm den Handscheinwerfer-Laser zu.

»Genügt dieser eine tote Baum dort drüben?«

Sie drehte sich um, zeigte ihm ein hübsches Profil, und ihre Handfeuerwaffe drehte sich mit ihr. Louis stellte rasch das Licht auf einen gebündelten Strahl mit hoher Intensität ein. Dann drückte er auf den Auslöser. Ein greller Lichtfaden schnitt über ihre Waffe. Die Waffe stieß eine Stichflamme aus und zerfiel in ihre Einzelteile.

Sie stand mit offenem Mund da und starrte auf den Kolben, der ihr noch in der Hand geblieben war.

»Ich bin gerne bereit, Anregungen von einem Freund oder Bundesgenossen entgegenzunehmen«, belehrte er sie, »aber ich habe es satt, mich herumkommandieren zu lassen. Mein pelzbewehrter Begleiter hatte das auch ständig mit mir versucht. Also laß uns Freunde sein.«

Sie ließ den Kolben der Waffe fallen und hob die Hände über den Kopf.

»Du hast noch mehr Kugeln und Waffen im Laderaum deines Fahrzeuges. Also bewaffne dich damit.« Louis drehte ihr gelassen den Rücken zu. Er ließ den Strahl im Zickzack über den toten Baumstamm gleiten. Ein paar Dutzend Scheite fielen brennend zu Boden. Louis ging zu dem zerlegten Baum und schob mit dem Fuß die brennenden Scheite zu einem Kreis um den Baumstumpf zusammen. Er setzte das Ganze mit einem Laserstrahl in Brand und sah zu, wie die Flammen sich über dem Baumstumpf schlossen.

Irgend etwas traf ihn zwischen die Schulterblätter. Eine Sekunde lang wurde sein Schutzanzug steif wie ein Brett.

Er hörte einen Knall hinter seinem Rücken.

Louis wartete einen Moment, aber es fiel kein zweiter Schuß. Er drehte sich um und ging zurück zu dem Kastenwagen. Er sagte zu Vala: »Tu das nie, nie, nie mehr wieder.«

Sie blickte ihn bleich und furchtsam an. »Nein, ich werde es nie wieder tun.«

»Soll ich dir helfen, die Kochutensilien zum Feuer zu tragen?«

»Nein, ich kann das. habe ich dich verfehlt?«

»Nein.«

»Wie kommt es dann, daß du.?«

»Eines meiner Werkzeuge rettete mich. Ich brachte es über eine Strecke, die tausendmal größer ist als die Entfernung, die das Licht in einem Falan reist, und dieses Werkzeug gehört mir.

Sie bewegte die Arme wie Flügel und wandte sich ab.

16. Die Strategie des Handels

Da war eine Pflanze, die über den Boden kroch und aussah wie eine endlose Kette von grüngelbgestreiften Würsten mit kleinen Luftwurzeln an den Gelenken. Valavirgillin schnitt ein paar von diesen Würsten ab und warf sie in einen Topf. Sie goß Wasser dazu, fügte ein paar Samenkapseln hinzu, die sie einem Sack aus ihrem Kastenwagen entnahm. Sie stellte den Topf auf die brennenden Scheite.

Tanj, das hätte Louis auch fertiggebracht. Das Essen würde bestimmt nicht in einem Rezeptbuch für Feinschmecker aufgenommen werden.

Die Sonne war inzwischen vollkommen hinter der Schattenblende verschwunden. Eine dichte Gruppe von Sternen backbords mußten die Lichter der fliegenden Stadt sein. Der Ringwelt-Bogen stieg, blauweiß gestreift, senkrecht in den schwarzen Himmel hinauf. Louis hatte das Gefühl, als befinde er sich auf einem unglaublich großen Spielzeugreifen.

»Ich wünsche nur, ich hätte auch ein Stück Fleisch«, sagte Vala.

Louis sagte: »Gib mir meine Schutzbrille.«

Er drehte sich vom Feuer fort, ehe er die Brille aufsetzte. Er schraubte den Lichtverstärker höher. Das Augenpaar, das ihn von einer Stelle jenseits des Lichtkreises beobachtet hatte, löste sich auf. Louis war froh, daß er nicht blindlings darauf geschossen hatte. Zwei größere Gestalten und eine kleinere entpuppten sich als eine Familie von Kobolden.

Aber ein helläugiger Schatten war klein und trug ein Fell. Louis köpfte sie mit einem langen hellen Faden seines Lasers. Die Kobolde zuckten zusammen. Sie flüsterten miteinander. Der weibliche Kobold bewegte sich auf das tote Tier zu, blieb aber dann stehen, um Louis den Vortritt zu lassen. Louis hob das tote Tier auf und beobachtete dann wieder den weiblichen Kobold.

Die Kobolde schienen keine Furcht zu haben. Das lag wohl daran, daß ihr Platz in der Ökologie respektiert wurde. Vala hatte ihm gesagt, was geschah, wenn ein Volk sich der beträchtlichen Mühe unterzog, seine Toten zu begraben oder zu verbrennen. Die Kobolde griffen dann die lebendigen Vertreter dieses Volkes an. Ihnen gehörte die Nacht. Aus zahllosen örtlichen Religionen hatte sich der allgemein verbreitete Aberglaube herauskristallisiert, daß Kobolde sich unsichtbar machen könnten. Selbst Vala glaubte an ihre magischen Kräfte.

Aber warum hinderten sie jetzt nicht Louis daran, den Kadaver zu bergen? Warum sollten sie? Louis würde dieses Tier essen, und eines Tages würde auch Louis sterben, und die Kobolde würden dann ihren Tribut fordern.

Während sie ihn seinerseits beobachteten, untersuchte er seine Beute: ein kaninchenähnliches Wesen mit langem abgeflachten Schwanz und ohne Vorderpfoten. Kein Hominide. Gut.

Als er aufsah, entdeckte er eine schwach fluoreszierende violette Flamme weit drüben auf Backbord.

Er hielt den Atem an und wagte kaum den Kopf zu bewegen, während er sowohl die Vergrößerung wie auch die Lichtverstärkung höher schraubte. Selbst der Pulsschlag in seinen Schläfen verzerrte nun das Bild, das er mit seinen Okularen einfing, doch er wußte, was er sah. Die vergrößerte Flamme wurde zu einem tränendrüsenreizenden Violett, und es breitete sich aus wie ein Raketen-Feuerschweif im Vakuum. Das Ende dieses Schweifes wurde von einer geraden schwarzen Linie durchschnitten: Die Mauerkrone der Ringwand an Backbord.

Er nahm die Brille ab. Nachdem sich seine Augen wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten, war die violette Flamme gerade noch sichtbar. Doch sie hielt sich hartnäckig. und riesenhaft.

Louis kehrte zum Lagerfeuer zurück und warf Vala die Beute vor die Füße. Er ging hinüber nach Steuerbord und setzte wieder die Brille auf.

Die Flamme an Steuerbord schien in der Vergrößerung viel gewaltiger zu sein; aber das war selbstverständlich. Dort war die Ringmauer viel näher.

Vala häutete das kleine Pelzwesen und warf es in den Topf, ohne die Eingeweide zu entfernen. Als sie sich wieder am Feuer aufrichtete, faßte Louis sie am Arm und führte sie aus dem Kreis des Feuers hinaus. »Warte ein wenig, und dann sag mir, ob du dort drüben am Horizont eine blaue Flamme erkennen kannst.«

»Ja, ich sehe sie.«

»Weißt du, was das ist?«

»Nein, aber ich glaube, mein Vater weiß es. Es gibt Dinge, über die er nicht gerne spricht. Das letztemal, als er aus der Stadt zurückkam, schien er sehr bedrückt zu sein. Dort drüben sind noch mehr Flammen. Du mußt nur nach spinnwärts sehen, wo der Bogen sich über dem Horizont erhebt.«

Ein greller blauweißer waagerechter Streifen über dem Horizont blendete seine Augen. Louis deckte ihn mit der ausgestreckten Hand ab. und jetzt, während er die Schutzbrille zu Hilfe nahm, konnte er noch zwei kleine Kerzenflammen am Rand des Himmelspfeilers ausmachen. Darüber sah er noch zwei, winzig wie Stecknadeln.

Valavirgillin sagte: »Die erste Flamme bemerkten wir schon vor sieben Falans. Sie befand sich knapp über der Basis des Himmelspfeilers spinnwärts. Dann kamen noch ein paar Flammen dazu, diese großen dort drüben an Backbord und Steuerbord. Dann noch welche auf dem Bogen antispinnwärts. Inzwischen sind es einundzwanzig Fackeln. Man sieht sie nur zwei Tage lang, wenn die Sonne am heißesten ist.«

Louis seufzte hörbar. Es war ein Seufzer der Erleichterung.

»Louis, ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, wenn du solche Geräusche machst. Bist du dann böse, erschrocken oder erleichtert?«

»Ich weiß es selbst nicht genau. Sagen wir, ich sei erleichtert. Wir haben doch mehr Zeit, als ich glaubte.«

»Zeit, wofür?«

Louis lachte. »Hast du denn nicht schon genug von meiner Verrücktheit?«

Sie ging nicht auf den Scherz ein. Sie entrüstete sich: »Schließlich bleibt es mir überlassen, ob ich dir glaube oder nicht!«

Das nahm ihr nun Louis wiederum übel. Er haßte diese Frau nicht, aber sie besaß einen dornigen Charakter und hatte schon einmal versucht, ihn umzubringen. »Schön. Wenn dieses ringförmige Gebilde, auf dem du lebst, sich selbst überlassen bleibt, wird es gegen die Schattenblenden stoßen — diese rechteckigen Gebilde, die die Sonne verdecken, wenn es Nacht wird. In fünf oder sechs Falans wird es soweit sein. Dann wird alles auf dieser Welt sterben. Nichts Lebendiges wird sich noch auf dieser Welt bewegen, wenn sie mit der Sonne selbst zusammenstößt.«

Sie schrie: »Und du seufzt erleichtert?«

»Gemach, gemach. Die Ringwelt ist sich nicht selbst überlassen. Diese Flammen stammen von Motoren, die die Ringwelt bewegen. Wir befinden uns jetzt fast am sonnennächsten Punkt, und sie benützen Bremsdüsen —, die ihren Schub nach innen richten, gegen die Sonne. Das wirkt sich folgendermaßen aus.« Er zeichnete ihr mit einem Stock eine schematische Skizze in den Sand. »Verstehst du jetzt? Sie versuchen, die Ringwelt von der Sonne wegzubringen.«

»Bedeutet das jetzt, daß wir nicht sterben werden?«

»Die Motoren werden nicht ausreichen. Aber sie werden die Katastrophe hinauszögern. Wir können noch mit zehn oder fünfzehn Falans rechnen.«

»Ich hoffe jetzt inbrünstig, daß du verrückt bist, Louis. Du weißt zuviel. Du weißt, daß diese Welt ein Ring ist, und das ist ein streng gehütetes Geheimnis.« Sie bewegte die Schultern, als wollte sie ein Gewicht verlagern. »Ja, ich habe genug davon.«

Kannst du mir sagen, warum du mir nicht das Rishathra angeboten hast?«

Das überraschte ihn. »Ich hätte gedacht, du hättest bis zum Ende deines Lebens genug vom Rishathra

»Das ist kein Spaß. Rishathra ist die feierliche Besiegelung eines Waffenstillstandes!«

»Oh. Also gut. Zurück zum Feuer?«

»Natürlich. Wir brauchen Licht dafür.«

Sie hob den Topf aus der Flamme und stellte ihn an den Rand des Feuers, damit das Essen nur noch langsam weiterkochte. »Wir müssen uns über die Bedingungen unterhalten. Bist du bereit, mir zu versichern, daß du mir nichts antun wirst?« Sie setzte sich ihm gegenüber auf den Boden.

»Ich bin bereit, dir nichts anzutun, solange du mich nicht angreifst.«

»Ich mache die gleiche Konzession. Was verlangst du noch von mir?«

Sie war jetzt sachlich und nüchtern, und Louis paßte sich ihrem Ton an. »Du wirst mich mit deinem Wagen so weit mitnehmen, wie sich das mit deinen eigenen Pflichten vereinbaren läßt. Ich würde sagen, du nimmst mich mindestens bis — ja — bis zum Umkehr der Flüsse mit. Du wirst die Artefakten als mein Eigentum betrachten. Du wirst weder sie noch mich den Behörden übergeben. Du wirst mir nach bestem Wissen und Gewissen helfen, daß ich die fliegende Stadt betreten kann.«

»Und was bietest du mir als Gegenleistung?«

Moment mal — war diese Frau ihm nicht vollkommen ausgeliefert? Nun, wenn schon. »Ich werde herauszufinden versuchen, ob ich die Ringwelt retten kann«, sagte er, und dabei stellte er mit leichter Verwunderung fest, daß das sein innigster Wunsch war. »Wenn ich es kann, werde ich es tun, ganz gleich, was es kostet. Wenn ich überzeugt bin daß die Ringwelt nicht gerettet werden kann, werde ich versuchen, mich zu retten und dich, falls das möglich ist.«

Sie stand auf. »Das ist ein Versprechen, das überhaupt keine Bedeutung hat. Du bietest mir deine Verrücktheit an, als hätte sie einen Wert!«

»Vala, hast du noch nie mit Verrückten zu tun gehabt?« erwiderte Louis belustigt.

»Ich habe bisher nicht einmal mit vernünftigen fremden Wesen verhandelt! Schließlich bin ich immer noch Studentin an der Handelsschule!«

»Beruhige dich. Was kann ich dir noch anbieten? Wissen? Meine Kenntnisse teile ich freiwillig mit dir. Ich weiß, weshalb die Maschinen der Städtebauer versagten und wüßte auch ein Heilmittel dagegen.« Er durfte wohl von der gesicherten Erkenntnis ausgehen, daß die Städtebauer zu Halrloprillalars Gattung gehörten.

»Noch mehr Verrücktheiten?«

»Darüber mußt du dir schon dein eigenes Urteil bilden. Und. ich kann dir mein Fluggeschirr und meine Brille überlassen, wenn ich meinen Auftrag erfüllt habe.«

»Und wann sollte das sein?«

»Ich könnte sie entbehren, wenn und sobald mein Begleiter zu mir zurückkehrt.« Das Landungsboot war noch mit einem Fluggeschirr und einer Schutzbrille ausgerüstet, die eigentlich für Halrloprillalar gedacht waren. »Oder du kannst beides haben, falls ich sterbe. Ich könnte dir sofort die Hälfte meines Tuchvorrates geben. Mit Streifen von diesem Tuch könntest du die Maschinen der Städtebauer reparieren, die vor langer Zeit ihren Geist aufgegeben haben.«

Vala dachte über seine Worte nach. »Ich wünschte nur, ich hätte ein größeres mechanisches Geschick. Nun, dann erkläre ich mich mit allen deinen Forderungen einverstanden.«

»Und ich mit deinen.«

Sie begann, ihre Kleider und ihren Schmuck abzulegen. Langsam, offensichtlich kokett. bis Louis sah, was sie wirklich tat: sie legte alles ab, was man als Waffe benützen konnte. Er wartete, bis sie ganz nackt vor ihm stand, und imitierte sie dann, legte zuerst den Laser beiseite, die Schutzbrille und den Schutzpanzer. Selbst seine Uhr entfernte er vom linken Handgelenk.

Dann liebten sie sich. Aber es war nicht das Wahre. Die brünstige Tollheit der vergangenen Nacht war mit den Vampiren gestorben. Sie fragte ihn nach seiner bevorzugten Technik, beharrte sogar darauf, und er wählte die Missionars-Stellung. Es war zu sehr eine Formsache. Vielleicht war es auch so gemeint. Danach, als sie wieder im Kochtopf rührte, achtete er darauf, daß sie nicht zwischen ihn und seine Waffen geriet. Die Situation war alles andere als entspannt.

Sie kam wieder zu ihm zurück, und er erklärte, daß seine Rasse den Liebesakt öfter vollziehen konnte als einmal.

Er saß mit gegrätschten Beinen auf der Erde, Vala auf dem Schoß. Ihre Beine waren um seine Hüften geschlungen. Sie streichelten sich gegenseitig, erregten sich, lernten wieder den anderen kennen. Sie liebte es, wenn er ihr den Rücken kratzte. Ihr Rücken war sehr muskulös, ihr Oberkörper breiter als seiner. Ein Haarstreifen lief über das Rückgrat bis zum Popo. Sie hatte eine vorzügliche Kontrolle über ihre Scheidenmuskeln. Der Flaumkranz auf ihrem Kinn war sehr weich, dünn wie Seide.

Louis Wu hatte eine Plastikscheibe unter dem Haar auf der Scheitelkrone.

Dann lagen sie sich in den Armen, und sie wartete.

»Selbst wenn ihr nicht über Elektrizität verfügt, mußt du darüber Bescheid wissen«, sagte Louis. »Die Städtebauer benützten Elektrizität, um damit ihre Maschinen anzutreiben.«

»Ja. Wir können mit der Strömung eines Flusses Elektrizität erzeugen. In unseren Sagen heißt es, daß ein unbegrenzter Strom von Elektrizität aus dem Himmel herunterkam, ehe die Städtebauer die Macht über diese Welt verloren.«

Das entsprach Wohl ziemlich genau den Tatsachen. Es gab solare Elektrizitätswerke auf den Sonnenblenden, und diese strahlten die Energie hinunter auf die Kollektoren auf der Ringwelt. Selbstverständlich benützten diese Kollektoren Superleiter-Kabel, und selbstverständlich waren sie deswegen längst außer Betrieb.

»Nun denn. Wenn du einen ganz dünnen Draht an der richtigen Stelle in mein Gehirn steckst — was ich getan habe — dann kann ein winziger elektrischer Strom die Nerven der Lustempfindungen erregen.«

»Wie fühlt man sich dann?«

»Als wäre man betrunken, aber ohne Kater oder unangenehme Nebenerscheinungen der Trunkenheit. Wie Rishathra oder eine echte Liebespaarung, ohne daß man jemand anderen lieben muß außer sich selbst. Und ohne, daß man aufhören muß. Aber ich hörte auf.« »Warum?«

»Ein fremdes Wesen nahm meine elektrische Kraftquelle in Besitz. Er wollte mir Befehle erteilen. Aber schon vor diesem Eingriff in meine Privatsphäre schämte ich mich meiner Wollustgefühle.«

»Die Städtebauer hatten nie elektrische Drähte in ihren Köpfen. Wir härten sie gefunden, als wir die verfallenen Städte durchsuchten. Welches Volk praktiziert so etwas?« fragte sie. Dann rollte sie sich von ihm weg und starrte ihn entsetzt an.

Es war die Sünde, die er am meisten bereute: daß er nie den Mund halten konnte. »Es tut mir leid.«

»Du sagtest, Streifen von diesem Tuch würden — was ist das für ein Tuch?«

»Es leitet elektrische Ströme und magnetische Felder ohne Energieverlust. Wir nennen es Superleiter.«

»Ja, das war es, was den Städtebauern verlorenging. Ihr. der Superleiter verfaulte. Und auch dein Tuch wird verfaulen, nicht wahr? Wie lange wird es sich halten können?«

»Nein. Es ist von anderer Art.«

Sie schrie ihn wieder an: »Woher weißt du denn das, Louis Wu?«

»Der Hinterste sagte es mir. Der Hinterste ist ein fremdes Wesen, das uns gegen unseren Willen hierherbrachte. Er ließ uns hier zurück ohne ein Mittel, wieder nach Hause zurückkehren zu können.«

»Dieser Hinterste — er nahm dich zum Sklaven?«

»Er versuchte es. Aber die Menschen und die Kzinti eignen sich nicht für die Sklaverei.«

»Kann man sich auf sein Wort verlassen?«

Louis schnitt eine Grimasse. »Nein. Aber er brachte den Superleiter-Stoff und den Superleiter-Draht mit seinem Raumschiff hierher, als er von seiner Welt flüchtete. Er hatte keine Zeit, es selbst herzustellen. Er mußte gewußt haben, wo es aufbewahrt wurde. Vermutlich in einer Lagerhalle. Wie auch die anderen Dinge, die er hierher brachte — zum Beispiel die Transportscheiben. All diese Gegenstände mußten längst für ihn bereitliegen.« Und sofort wußte er, daß irgend etwas nicht in Ordnung war; aber es dauerte einen Moment, bis er begriff, was es war.

Der Übersetzer hatte zu früh mit dem Reden aufgehört.

Dann sprach er mit einer anderen Stimme: »Louis, ist es klug, alle diese Dinge zu erzählen?«

»Zum Teil hat sie sie bereits erraten«, entgegnete Louis. »Sie wollte schon mich für den Fall der Städte verantwortlich machen. Gib mir meinen Übersetzer zurück.«

»Wie könnte ich so einen häßlichen Verdacht schweigend übergehen? Warum sollte mein Volk etwas so Boshaftes tun?«

»Verdacht? Du Hundesohn.« Vala kniete vor ihm und betrachtete ihn mit großen Augen, während er offenbar sinnloses Zeug mit sich selbst redete. Sie konnte die Stimme des Hintersten nicht in ihren Ohrstöpseln hören. Louis sagte: »Sie haben dich als Hintersten abgesetzt, und du bist von deiner Welt geflüchtet. Du rafftest zusammen, was du konntest, und flüchtetest damit ins Weltall. Mit Transportscheiben, Superleitern und einem Raumschiff. Die Transportscheiben konntest du dir leicht beschaffen. Diese Dinger stellt ihr vermutlich auf eurer Welt zu Millionen her. Aber wo lag das Superleiter-Tuch, daß du nur zugreifen mußtest? Und woher wußtest du, daß es nicht auf der Ringwelt verrotten würde?«

»Louis, warum sollten wir so etwas Boshaftes tun?«

»Um euch Vorteile beim Handel zu verschaffen. Gib mir meinen Übersetzer zurück!«

Valavirgillin stand auf. Sie zog den Kochtopf vom Feuer, rührte darin um, kostete. Sie ging zum Kastenwagen und kam mit zwei Schalen aus Holz zurück, die sie mit einer hölzernen Schöpfkelle füllte.

Louis wartete bang auf eine Reaktion. Der Hinterste konnte ihm jetzt auch den Computer, mit dem sein Übersetzer arbeitete, abschalten. Louis tat sich schwer mit Fremdsprachen.

»Also gut, Louis. Es war nicht so geplant, und es passierte auch vor meiner Zeit. Wir suchten nach einer Möglichkeit, unser Territorium bei minimalem Risiko auszuweiten. Die Außenseiter verkauften uns die Lage der Ringwelt.«

Die Außenseiter waren kalte, zerbrechliche Wesen, die auf Schiffen, die langsamer waren als das Licht, durch den Weltraum vagabundierten. Die Außenseiter verkauften wertvolle Informationen. Sie konnten sehr wohl die Ringwelt gekannt und ihren galaktischen Standort an die Puppetiers verkauft haben. Aber. »Moment mal — die Puppetiers fürchten sich vor der Raumfahrt.«

»Ich überwand diese Furcht. Wenn die Ringwelt sich als geeignet erwiesen hätte, dann wäre ein Raumflug im Leben eines Puppetiers kein sehr großes Risiko. Wir wären natürlich in Stasis geflogen. Nach allem, was wir von den Außenseitern hörten und selbst durch unsere Teleskope und automatischen Sonden erfuhren, schien die Ringwelt ein idealer Platz für uns zu sein. Wir mußten sie näher untersuchen.«

»Ein Beschluß der Experimentalisten-Partei?«

»Selbstverständlich. Trotzdem schreckten wir noch davor zurück, mit so einer mächtigen Zivilisation in Berührung zu kommen. Aber wir hatten durch Laser-Spektroskope die Ringwelt-Superleiter analysiert. Wir stellten ein Bakterium her, das sich von diesem Material ernährte. Sonden säten dann diese Superleiter-Bakterien auf der Ringwelt aus. Das hatten sie bereits erraten, nicht wahr?«

»Das ja.«

»Wir wollten den Sonden dann mit unseren Handelsschiffen folgen. Unsere Händler wären dann gerade zur rechten Zeit als Retter gekommen. Sie hätten auf der Ringwelt alles erfahren, was wir wissen mußten, und sogar Bundesgenossen für uns geworben.« Die klare, musikalische Stimme des Puppetiers enthielt kein Spurenelement Schuldbewußtsein, nicht einmal Verlegenheit.

Vala stellte die Schüssel auf die Erde und kniete sich vor ihm nieder. Ihr Gesicht lag im Schatten. Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, hätte der Übersetzer in keinem schlimmeren Moment ausfallen können.

Louis sagte: »Und dann gewannen vermutlich die Konservativen die Wahl.«

»Unvermeidlicherweise. Eine Sonde entdeckte die Steuerdüsen. Wir wußten natürlich von den instabilen Verhältnissen der Ringwelt; aber wir hofften, es gäbe auch ein etwas technologisch fortgeschritteneres Mittel, um die Instabilität in den Griff zu bekommen. Als die Bilder der Ringwelt veröffentlicht wurden, stürzte die Regierung. Wir hatten keine Chance, zur Ringwelt zurückzukehren, bis.«

»Wann? Wann vernichteten die Bakterien die Superleiter der, Ringwelt?«

»Vor elfhundertvierzig Jahren, nach irdischen Zeitbegriffen gerechnet. Die Konservativen herrschten sechshundert Jahre lang. Dann brachte die Bedrohung der Kzinti die Experimentalisten wieder ans Ruder. Als die Zeit günstig erschien, schickte ich Nessus und seine Raumschiffbesatzung zur Ringwelt. Wenn der Artefakt elfhundert Jahre nach dem Fall der Kultur, die für seine Instandhaltung sorgte, immer noch existierte, lohnte es sich immer noch, diese Welt zu untersuchen. Ich hätte immer noch eine Handels- oder Hilfsmission entsenden können. Unglücklicherweise.«

Valavirgillin hielt jetzt den Scheinwerfer-Laser in ihrem Schoß.

Er zielte auf Louis Wu.

»- unglücklicherweise war der Artefakt beschädigt. Sie fanden Meteorlöcher im Ring und breite Landstriche, die bis auf das Bodenmaterial abgetragen waren. Es schien nun.«

»Das ist ein Notfall. Das ist ein Notfall«, sagte Louis mit ruhiger, sachlicher Stimme. Wie hatte sie sich nur diese Waffe aneignen können? Eben noch hatte sie auf dem Boden gekniet, eine Schüssel mit dampfendem Essen in jeder Hand. Hatte sie das Ding vielleicht mit einem Klebeband auf ihrem Rücken befestigt? Müßig, darüber jetzt nachzudenken. Wenigstens hatte sie noch nicht auf den Auslöser gedrückt.

»Ich höre Sie«, erwiderte der Hinterste.

»Können Sie die Handscheinwerfer-Laser durch Fernsteuerung abschalten?« »Ich kann noch mehr als das. Ich kann ihn zur Explosion bringen, so daß derjenige, der ihn gerade in der Hand hält, getötet wird.«

»Können Sie ihn nicht einfach abschalten?«

»Nein.«

»Dann geben Sie mir meinen Übersetzer zurück, Tanj, rasch!«

Die Box redete jetzt wieder in der Sprache des Maschinen-Volkes. Vala antwortete sofort: »Mit wem oder was hast du eben geredet?«

»Mit dem Hintersten, dem Wesen, das mich hierherbrachte. Darf ich annehmen, daß du mich noch nicht angegriffen hast?«

Sie zögerte, ehe sie antwortete: »Ja.«

»Dann ist unsere Vereinbarung also immer noch in Kraft, und ich sammle auch noch Daten für meine Mission, diese Welt zu retten. Hast du irgend einen Grund, daran zu zweifeln?«

Die Nacht war warm, aber Louis kam sich schrecklich nackt vor.

Das tote Auge des Scheinwerfer-Lasers blieb tot. Vala fragte: »Hat die Rasse des Hintersten den Fall der Städte verursacht?«

»Ja.«

»Dann brich die Verhandlung ab«, befahl Vala.

»Aber er besitzt fast alle Maschinen, mit denen ich die notwendigen Daten sammle.«

Vala dachte darüber nach, und Louis blieb ganz still sitzen. Zwei Augenpaare glühten dicht hinter ihrem Rücken im Dunkeln. Louis fragte sich, wieviel die Kobolde mit ihren großen Koboldohren mitgehört hatten und wieviel sie davon verstanden.

»Dann mußt du diese Maschinen auch weiter verwenden. Aber ich möchte hören, was er sagt«, gab Vala zurück. »Ich habe noch nicht einmal seine Stimme gehört. Vielleicht existiert sie nur in deiner Einbildung.«

»Hinterster, haben Sie mitgehört?«

»Ja.« Louis Ohrstöpsel sprachen Interworld, aber die Box an seinem Hals redete in Valavirgillins Sprache. So weit, so gut.

»Ich hörte, was du der Frau versprachst. Wenn du eine Möglichkeit finden kannst, diesen Artefakten zu stabilisieren, dann tue es.«

»Sicher, aber dein Volk könnte diesen Raum sehr gut gebrauchen.«

»Wenn es dir gelänge, mit Hilfe meiner Ausrüstung die Ringwelt zu stabilisieren, möchte ich dafür belohnt, werden.«

Valavirgillin fauchte und unterdrückte dann, was sie sagen wollte. Louis rief rasch: »Du wirst bekommen, was dir zusteht.«

»Es war meine Regierung, geschah unter meiner Führerschaft, daß wir elfhundert Jahre nach der Superleiter-Seuche der Ringwelt zu Hilfe kommen wollten. Du wirst dafür Bürge sein.«

»Das werde ich, wenn auch mit Einschränkungen«, erwiderte Louis. Dann sagte er, was nur für Vala bestimmt war: »Laut unserer Abmachung gehört das, was du jetzt auf deinem Schoß hältst, zu meinem Eigentum.«

Sie warf ihm den Scheinwerfer-Laser zu. Er legte ihn neben sich auf den Sand und fühlte sich wie zerschlagen vor Erleichterung, Erschöpfung oder Hunger. Aber für keines davon hatte er jetzt Zeit. »Hinterster, berichte uns von den Steuerdüsen.«

»Bussard-Rammdüsen waren in den Halterungen am Rand der Ringmauer montiert. Sie hingen dort in regelmäßigen Abständen, drei Millionen Meilen voneinander getrennt. Wir sollten deshalb zweihundert Halteringen auf jedem Halbkreis der Ringmauer finden. Sobald sie in Betrieb sind, sammeln sie den Sonnenwind im Umkreis von vier- bis fünftausend Meilen ein, komprimieren ihn elektromagnetisch, bis eine Kernverschmelzung eintritt, und stoßen ihn dann nach dem Raketenprinzip wieder aus, so daß eine Bremswirkung entsteht.«

»Wir haben beobachtet, daß einige von ihnen in Betrieb sind. Vala sagte mir, sie habe insgesamt einundzwanzig Raketenflammen gezählt.« Vala nickte zustimmend. »Das bedeutet, daß 95 Prozent der Bussard-Rammdüsen demontiert wurden. Scheiße.«

»Diese Zahl ist vermutlich zutreffend. Ich habe Hologramme von vierzig Düsenhalterungen empfangen, seit wir zuletzt miteinander sprachen. Alle diese Halteningen sind leer. Soll ich den Schub ausrechnen lassen, der entsteht, wenn alle Düsen gezündet haben?«

»Ja.«

»Ich vermute, daß nicht genügend Düsen montiert sind, daß dieser Artefakt gerettet werden kann.«

»Richtig.«

»Würden die Ringwelt-Ingenieure noch ein zweites, davon unabhängiges System eingebaut haben, das den Artefakten stabilisiert?«

Pak-Protektoren dachten nicht in Sicherheitskategorien, oder? Sie neigten dazu, sich auf ihre Improvisationsfähigkeit zu verlassen. »Unwahrscheinlich. Aber wir werden trotzdem danach suchen. Hinterster, ich bin hungrig und schläfrig.«

»Gibt es noch etwas, das gesagt werden muß?«

»Behalte die Steuerdüsen im Auge. Stelle fest, wieviel davon funktionieren und errechne ihre Schubkraft.«

»Das werde ich tun.«

»Versuche, mit der fliegenden Stadt Kontakt aufzunehmen. Sage.«

»Louis, ich kann keine Botschaft über die Ringmauer schicken.«

Natürlich nicht. Sie bestand aus reinem Scrith. »Dann bewege das Raumschiff.«

»Das wäre nicht sicher.«

»Und wie steht es mit der Sonde?«

»Die Sonde im Orbit ist zu weit entfernt, um auf einer beliebigen Frequenz senden zu können.« Mit großer Reserve fügte der Hinterste hinzu: »Ich kann Botschaften über die andere Sonde vermitteln. Ich muß sie ja in jedem Fall über die Ringmauer schicken, damit sie die Brennstoffvorräte ergänzt.«

»Ja. Schicke sie zuerst auf die Ringmauer als Relaisstation. Versuche, Kontakt mit der fliegenden Stadt aufzunehmen.«

»Louis, ich hatte schon Schwierigkeiten, deinen Übersetzer anzupeilen. Ich entdeckte das Landungsboot fast fünfundzwanzig Grad anrispinnwärts von deiner Position. Wie kommt das?« »Chmeee und ich setzen unsere Bemühungen getrennt fort.

Ich bin unterwegs zur schwebenden Stadt. Er ist unterwegs zum Großen Ozean.« Soviel durfte er wohl sagen. Das schadete nichts.

»Chmeee beantwortet aber meine Signale nicht.«

»Kzinti sind miserable Sklaven. Hinterster, ich bin müde. Ruf in zwölf Stunden wieder an.«

Louis nahm seine Holzschüssel hoch und aß. Valavirgillin hatte nicht ein einziges Gewürz für dieses Gericht verwendet. Das gekochte Fleisch und die gebruzzelten Wurzeln kitzelten nicht einen seiner Geschmacksnerven. Ihm war es egal. Er leckte sogar noch die Schüssel aus und hatte noch genügend Geistesgegenwart, eine Allergie-Pille einzunehmen. Dann gingen sie beide zum Fahrzeug und legten sich im Kastenwagen zum Schlafen nieder.

17. Die Sonne regt sich

Die gepolsterte Bank war ein schlechter Ersatz für Schlafplatten, und sie hüpfte unter ihm. Louis war immer noch müde. Er schlief und wurde wachgerüttelt, schlief und wurde wieder wachgerüttelt.

Doch diesmal war es Valavirgillin, die ihn an der Schulter rüttelte. Ihre Stimme hatte einen seidenweichen, sarkastischen Klang: »Dein Diener wagt es, deine wohlverdiente Ruhe zu unterbrechen, Louis.«

»Äh. Okay. Warum?«

»Wir haben schon ein gutes Stück Weges zurückgelegt; aber hier in der Nähe gibt es Banditen von der Läufer-Rasse. Einer von uns muß jetzt die Transportsicherung übernehmen.«

»Essen die Maschinen-Leute eigentlich etwas nach dem Aufwachen?«

Sie kam etwas aus der Fassung. »Wir haben nichts mehr zu essen. Es tut mir leid. Wir essen einmal am Tage, und dann schlafen wir.«

Louis zog seinen Schutzpanzer an und die Weste darüber. Dann schob er mit Valas Hilfe eine Metallplatte über den Herd. Louis stellte sich darauf, und als er sich streckte, befand er sich mit dem Kopf und den Schultern im Rauchabzug über dem Wagendach. Er rief zu Vala hinunter: »Wie sehen diese Läufer-Banditen aus?«

»Längere Beine als ich, breitere Brust, lange Finger. Sie sind oft mit Gewehren bewaffnet, die sie uns gestohlen haben.«

Das Kastenfahrzeug setzte sich wieder in Bewegung.

Sie fuhren jetzt durch gebirgiges Land. Die Hügel waren an den Flanken mit trockenen Büschen bewachsen. Das Zeug sah wie Chaparral aus. Der Ringweltbogen war auch bei Tageslicht sichtbar, wenn man sich erinnerte, wo man ihn suchen mußte. Sonst ging er nahtlos in das Blau des Himmels über. Am dunstigen Horizont konnte Louis bereits die schwebende Stadt ausmachen. Man hätte glauben können, sie wäre eine Fata Morgana.

Aber sie war echt. Noch war sie es. Aber in zwei oder drei Jahren mochte man sie wieder zum Tagtraum eines Verrückten erklären.

Er holte den Übersetzer aus seiner Weste. »Ich rufe den Hintersten. Ich rufe den Hintersten.«

»Hier, Louis. Deine Stimme ist seltsamen Schwankungen unterworfen.«

»Wir haben eine sehr unruhige Fahrt. Hast du Neuigkeiten für mich?«

»Chmeee antwortet immer noch nicht auf meine Signale. Das gleiche gilt für die Bürger der fliegenden Stadt. Ich habe die zweite Sonde ohne Zwischenfälle in einem Binnensee landen lassen können. Ich bezweifle, daß jemand die Sonde auf dem Meeresgrund entdecken wird. In ein paar Tagen wird die Heiße Nadel wieder volle Treibstofftanks haben.«

Louis verspürte keine Neigung, dem Hintersten etwas von der Existenz der See-Leute zu verraten. Je sicherer sich der Puppetier fühlte, um so geringer war die Wahrscheinlichkeit, daß er sein Projekt aufgab, die Ringwelt und seine Besatzungsmitglieder. »Ich wollte dich etwas fragen. Du hast doch auch die Transportscheiben in den Sonden. Wenn du mir eine Sonde schicken würdest, könnte ich mit ihrer Hilfe sofort auf die Heiße Nadel umsteigen. Habe ich recht?«

»Nein, Louis. Diese Transportscheiben sind nur mit dem Treibstofftank der Heißen Nadel verbunden, und zwar durch einen Filter, der nur für Schwere Wasserstoffatome durchlässig ist.«

»Wenn du den Filter entfernen würdest, könnte dann ein Mensch diese Transportscheiben benützen?«

»Du würdest dann immer noch im Treibstoff tank landen. Warum fragst du mich danach? Du könntest damit doch höchstens Chmeee eine Reise von einer Woche ersparen.«

»Auch das wäre schon etwas. Aber es könnten ja jederzeit unvorhergesehene Umstände eintreten.« Weswegen verbarg er eigentlich den Abfall des Kzin vor dem Hintersten? Zugegeben, Louis Wu war von dem Verrat des Kzin außerordentlich enttäuscht. Er wollte tatsächlich nicht darüber reden. zudem konnte er damit einen Puppetier nur nervös machen. »Sorge für ein Notrettungsverfahren, falls wir vielleicht doch in eine Notlage kommen sollten.«

»Das werde ich tun. Louis, ich habe das Landungsboot geortet. Es ist nur noch eine Tagreise vom Großen Ozean entfernt. Was erwartet Chmeee dort zu finden?«

»Zeichen und Wunder. Neuartige und verschiedene Dinge. Tanj, er hätte schließlich nicht dorthin reisen zu brauchen, wenn wir wüßten, was sich dort befindet.«

»Aber natürlich«, erwiderte der Puppetier mit skeptischer Stimme. Er schaltete ab, und Louis steckte den Übersetzer wieder in die Westentasche. Er grinste. Was erwartete Chmeee im Großen Ozean zu finden? Kzin-Weibchen für die Liebe und Kzin-Männchen für eine Armee! Wenn die Landkarte von Jinx mit Bandersnatchi bestückt war, dann galt das gleiche wohl auch für die Landkarte von Kzin!

Selbstbehauptungstrieb, Sexualtrieb oder Rache — jeder dieser drei Gründe würde Chmeee veranlaßt haben, die Landkarte von Kzin zu besuchen. Für Chmeee waren Sicherheit und Rache ein Paar Stiefel. Wenn Chmeee nicht die Oberhand über den Hintersten gewinnen konnte, wie wollte er dann in das bekannte Universum zurückkehren?

Aber selbst wenn Chmeee über eine Armee von Tigerwesen verfügte — was erwartete er damit gegen den Hintersten auszurichten? Glaubte er etwa, die Tigerwesen auf der Ringwelt verfügten über Raumschiffe? Da würde er wohl eine Enttäuschung erleben, dachte Louis.

Aber ganz gewiß würde er auf der Landkarte im Großen Ozean weibliche Tigerwesen finden.

Doch es gab etwas, mit dem Chmeee den Hintersten in die Knie zwingen konnte. Chmeee würde jedoch vermutlich nie auf diese Idee kommen, und Louis konnte sie ihm zur Zeit auch nicht mitteilen. Er war sich auch nicht sicher, ob er das wollte. Noch nicht. Es war ein zu drastisches Mittel.

Louis runzelte die Stirn. Der skeptische Ton des Puppetiers störte ihn. Wieviel hatte er bereits erraten? Dieses fremde Wesen war ein überragender Linguist; aber da er eben ein fremdes Wesen war, konnten sich solche Nuancen niemals in seine Stimme einschleichen. Er hatte also absichtlich mit skeptischen Untertönen gesprochen.

Die Zeit würde Klärung bringen. Inzwischen war dieser Zwergbuschwald so dicht geworden, daß sich darin gebückte Menschen zu verstecken vermochten. Louis hielt die Augen ständig in Bewegung, suchte die Hügelflanken und die Arroyos nach einer Bewegung ab. Sein Panzer schützte ihn vor den Kugeln von Heckenschützen, aber wenn ein Bandit nun auf den Fahrzeuglenker schoß? Louis konnte dann in einem verbogenen Metallgehäuse eingeklemmt werden, während der Treibstoff Feuer fing.

Deshalb war es nicht ratsam, auch nur einen Moment seine Aufmerksamkeit von der Landschaft abzulenken.

Und dann bemerkte er plötzlich, daß es eine sehr schöne Landschaft war. Kerzengerade Bäume trugen in einer Höhe von anderthalb Metern wundervolle Blüten. Louis beobachtete einen gewaltigen Vogel, der sich in einer Blüte niederließ. Der Vogel erinnerte ihn an einen großen Adler, nur daß dieser Vogel statt eines gebogenen Schnabels einen spitzen langen Saugrüssel hatte. Er sah die Ellenbogenwurzeln, eine viel größere Abart dieser Pflanze, die ihm schon bei seinem ersten Besuch auf der Ringwelt, ungefähr neunzig Meilen entfernt von hier, aufgefallen war. Und sie bildeten ein dichtes Gestrüpp willkürlich angeordneter Zäune. Hier wuchs auch die Leberwurstpflanze, von der sie gestern nacht gegessen hatten. Und dann stieg plötzlich eine Wolke von Schmetterlingen auf, die auf diese Entfernung große Ähnlichkeit mit den Schmetterlingen der Erde hatten.

Es sah alles so wirklich aus. Die Pak-Protektoren hatten keinen Sinn für grazile, schmächtige Gebilde, nicht wahr? Aber die Pak hatten auch ein enormes Vertrauen zu ihren Werken und zu ihrer Fähigkeit, alles zu reparieren, sogar aus dem Nichts neue Werkzeuge zu erfinden.

Und all seine Spekulationen ergründeten sich auf die Aussage eines einzigen Mannes, der bereits siebenhundert Jahre tot war: auf das Zeugnis von Jack Brennan, dem Goldsucher auf dem Asteroidengürtel, der auch die Pak nur in einem einzigen Vertreter zu Gesicht bekommen hatte. Ehe Lebensbaumpflanze hatte Brennan selbst in menschliche Protektoren-Gestalt versetzt — mit Schuppenhaut, einem zweiten Herzen, vergrößertem Gehirnkasten und ähnliches. Vielleicht war er durch diese Metamorphose wahnsinnig geworden. Oder Phssthpok war ein atypischer Vertreter seiner Rasse gewesen. Und Louis Wu, der sich auf Jack Brennans Urteil über Phssthpok, den Pak, stützte, versuchte jetzt wie ein Wesen zu denken, das zugegebenermaßen intelligenter war als er.

Aber es mußte ja ein Mittel geben, um das alles zu retten.

Der Chaparral wurde jetzt spinnwärts von den Leberwurstpflanzen abgelöst, während antispinnwärts sich ein kahles weitflächiges Hügelland ausbreitete. Plötzlich sah Louis die Tankstelle vor sich auftauchen. Es war ein ziemlich großer Betrieb, eine chemische Fabrik mit einer Siedlung, die sich an manchen Stellen schon zu einer kleinen Stadt auswuchs.

Vala rief vom Fahrersitz zu ihm hinauf: »Schließe den Rauchabzug. Bleibe im Wagen und laß dich nicht sehen.«

»Bin ich illegal?«

»Du bist ungewöhnlich. Es gibt Ausnahmen, aber ich muß zuerst eine Erklärung liefern, warum du mein Fahrgast bist. Meine Erklärung wird nicht sehr glaubwürdig klingen.«

Sie hielten neben der fensterlosen Wand der Fabrik. Durch das Wagenfenster beobachtete Louis, wie Vala mit langbeinigen, breitbrüstigen Leuten verhandelte. Die Frauen waren sehr eindrucksvoll mit ihren großen Titten auf ihren großen Brüsten; aber Louis hätte ihnen keinen Schönheitspreis gegeben. Alle Frauen hatten lange dunkle Haare, die ihre Stirnen und Wangen bedeckten, und ein winziges, T-förmiges Gesicht einrahmten.

Louis duckte sich hinter der Rückenlehne des Fahrersitzes, während Vala Päckchen durch die Ladetür schob. Bald waren sie wieder unterwegs.

Eine Stunde später, weit weg von jeder menschenähnlichen Behausung, lenkte Vala den Wagen über die Straßenböschung. Louis kletterte von seinem Ausguck herunter. Er war heißhungrig. Vala hatte Lebensmittel eingekauft, einen großen, geräucherten Vogel und Nektar von den Riesenblüten. Louis schlug die Zähne in das Fleisch des Vogels. Dann fragte er: »Ißt du nichts?«

Vala lächelte. »Nicht bis heute abend. Aber ich werde etwas mir dir zusammen trinken.« Sie trug eine Flasche aus buntem Glas zum Heck des Fahrzeuges und schüttete daraus eine klare Flüssigkeit in den Nektar. Sie trank und gab das Trinkgefäß anschließend an ihn weiter. Louis trank ebenfalls.

Es war natürlich Alkohol. Auf der Ringwelt konnte es unmöglich Ölquellen geben; aber eine Alkoholbrennerei konnte man überall bauen, wo es Pflanzen gab, die sich fermentieren ließen. »Vala, haben die — ah — die Untertanen deines Imperiums manchmal einen zu großen Durst auf dieses Zeug?«

»Manchmal.«

»Und was tut ihr dagegen?«

Diese Frage überraschte sie. »Sie lernen. Manchmal werden sie vom Trinken wertlos. Sie überwachen sich gegenseitig, falls das nötig ist.«

Das war das Wonnestrom-Problem en miniature, mit der gleichen Lösung: die Zeit und die natürliche Auslese sorgten für Heilung. Es schien kein Problem für Vala zu sein. Louis konnte es sich nicht leisten, sich mit diesem Problem zu beschäftigen. Er fragte: »Wie weit ist es noch bis zur Stadt?«

»Drei oder vier Stunden bis zur Luftstraße. Aber dort würden wir angehalten. Louis, ich habe mir deinetwegen Gedanken gemacht. Warum kannst du nicht einfach in die Stadt hinauffliegen?«

»Du sagst es. Ich bin ganz dafür, wenn niemand auf mich schießt. Was glaubst du — würde jemand auf einen fliegenden Mann schießen? Oder würden sie mich erst anhören, ehe sie schießen?«

Sie nippte von dem mit Alkohol vermischten Nektar. »Die Regeln sind ziemlich streng, und niemand, der nicht zu den Städtebauern gehört, darf die Stadt betreten, wenn er nicht eingeladen ist. Aber bisher ist auch noch niemand in die Stadt geflogen!«

Sie reichte ihm wieder die Flasche. Der Nektar war süß, vergleichbar mit einem in Wasser aufgelösten Grenadin-Sirup, mit einem kräftigen Rachenputzer, der mindestens achtzig Prozent Alkohol enthalten mußte.

Er sah senkrechte Türme, die wie eine Lilienblüten-Rosette beisammenstanden, sich aber im Stil miteinander überhaupt nicht vertrugen: blockartige Gebäude, nadelförmige Strukturen, die sich unten und oben verjüngten.

Durchsichtige, plattenartige Gebilde, polyedrische Zylinder, eine schlanker Kegel, der mit der Spitze nach unten zeigte. Manche Türme schienen nur aus Glas zu bestehen; andere wieder nur aus Balkonen. Anmutig geschwungene Brücken oder breite schnurgerade Rampen verbanden die Gebäude im unmöglichsten Winkel. Wenn man auch einräumte, daß die Baumeister dieser architektonischen Gebilde nicht hundertprozentige Menschen waren, mußte Louis sich trotzdem noch wundern, wie überhaupt jemand sich so etwas als sinnvolle Architektur vorstellte. Es war grotesk.

»Sie müssen sich hier aus einem Umkreis von mehreren tausend Meilen versammelt haben«, sagte er. »Als die Energieversorgung zusammenbrach, gab es immer noch Gebäude mit unabhängigen Kraftstationen. Sie sammelten sich dann hier zu einem letzten Aufgebot und wurden von Prills Leuten zu einer Kommune vereinigt. So muß diese Stadt entstanden sein, nicht wahr?«

»Niemand weiß es. Aber Louis, du redest, als wärest du ein Augenzeuge gewesen!«

»Du bist von Geburt an an diese Stadt gewöhnt. Du siehst sie nicht so wie ich.« Er wandte nicht einen Moment den Blick von der Stadt.

Da war eine Brücke, die von einem niedrigen, fensterlosen Gebäude auf der Kuppe eines Hügels ausging und sich in einer anmutigen Kurve hinaufschwang zu dem Fundament einer riesigen kannelierten Säule. Eine gegossene Steinstraße lief von dort zurück und mündete wieder vor dem Gebäude auf der Kuppe.

»Ich vermute, daß die geladenen Gäste sich zuerst in dem Gebäude auf der Hügelkuppe melden müssen, ehe sie die Brücke betreten dürfen.«

»Selbstverständlich.«

»Was passiert in diesem Gebäude?«

»Man durchsucht sie nach verbotenen Gegenständen. Dann werden sie verhört. Wenn die Städtebauer sich das Recht herausnehmen, nur ausgewählte Leute in die Stadt zu lassen, nun, so gilt das Recht auch für uns. Zuweilen versuchen terroristische Elemente, Bomben in die Stadt zu schmuggeln. Söldner, die von den Städtebauern gemietet wurden, hatten heimlich versucht, Ersatzteile für die magischen Wasserzisternen in die Stadt zu schmuggeln.«

»Wie bitte?«

Vala lächelte.

»Einige dieser Zisternen funktionieren sogar noch. Sie sammeln Wasser aus der Luft. Aber nicht genügend Wasser. Wir pumpen Wasser aus dem Fluß in die Stadt hinauf. Wenn wir uns über politische Grundsätze streiten, müssen sie in der Stadt dursten; und wir müssen ohne die Informationen auskommen, die sie in der Stadt zusammenstellen, bis wir uns auf einen Kompromiß geeinigt haben.«

»Informationen? Wie beschaffen sich die Stadtbewohner diese Informationen? Mit Teleskopen?«

»Mein Vater hat mir mal etwas davon erzählt. Sie haben einen Saal, in dem sie alles beobachten können, was auf dieser Welt geschieht. Viel besser als du mit deiner Schutzbrille. Schließlich haben sie ja aus ihren Gebäuden eine viel größere Weitsicht als wir.« »Ich sollte mich mit deinem Vater darüber unterhalten. Wie.«

»Das wäre keine sehr gute Idee. Er ist sehr. er gibt sich nicht.«

»Ich habe nicht die richtige Gestalt und Hautfarbe, wie?«

»Ja, er würde dir nicht glauben, daß du die Dinge herstellen kannst, die sich in deinem Besitz befinden. Er würde sie dir wegnehmen.«

Tanj! »Was geschieht, wenn die Touristen das Gebäude auf dem Hügel passieren dürfen und die Stadt betreten?«

»Mein Vater kommt von diesen Besuchen mit einer Tätowierung auf dem linken Arm nach Hause. Sie ist in einer Sprache verfaßt, die nur die Städtebauer verstehen. Diese Tätowierung glitzert wie Silberdraht. Sie läßt sich nicht abwaschen, aber sie verblaßt in ein oder zwei Falans

Das hörte sich nicht nach einer Tätowierung an, sondern nach einer gedruckten Schaltung. Die Städtebauer hatten vielleicht eine viel größere Macht über ihre Gäste, als diese glaubten. »Okay. Was machen die Gäste in der Stadt?«

»Sie diskutieren über Politik. Sie machen sich Geschenke: große Mengen Nahrungsmittel und zuweilen auch Werkzeuge. Die Städtebauer zeigen ihren Besuchern die Wunder der Stadt und praktizieren Rishathra mit ihnen.« Vala stand abrupt auf. »Es ist besser, wenn wir jetzt wieder weiterfahren.«

Sie hatten die Gefahrenzone, die von Banditen beherrscht wurde, längst hinter sich gelassen. Louis saß jetzt auf dem Beifahrersitz neben Vala. Das Motorengeräusch war genauso lästig wie die schlechte Federung; sie mußten sehr laut sprechen, um sich verständlich zu machen. Louis rief: »Rishathra

»Nicht jetzt. Nicht jetzt, wenn ich am Steuer sitze.« Vala entblößte breite, kräftige Zähne. »Die Städtebauer sind sehr gut, was Rishathra anbetrifft. Sie können es mit fast jeder Rasse treiben. Das half ihnen früher, ihr Imperium zusammenzuhalten. Wir benützen Rishathra nur, um Handelsverträge abzuschließen und um eine Schwangerschaft zu vermeiden bis wir uns ernsthaft paaren und eine Familie gründen wollen. Aber die Städtebauer üben Rishathra bei jeder Gelegenheit aus.«

»Kennst du jemand, der mir eine Einladung als Gast beschaffen kann? Vielleicht unter dem Vorwand, weil ich wertvolle Maschinen besitze?«

»Das könnte nur mein Vater erreichen. Und er würde es nicht tun.«

»Dann muß ich in die Stadt hinauf fliegen. Okay, was befindet sich unter der Stadt? Kann ich nicht einfach unter die Stadt gehen und dann zu einem Haus hinaufschweben?«

»Unter der Stadt befindet sich die Schatten-Farm. Du könntest als Farmer gelten, wenn du deine Werkzeuge zurückläßt. Farmer werden aus allen Rassen rekrutiert. Es ist eine schmutzige Arbeit. Über der Farm befinden sich die Abflußröhren der Stadt, und die Abwässer werden als Dünger für die Pflanzen verwendet. Die Pflanzen sind ausschließlich Höhlenbewohner, also Gewächse, die im Dunkeln gedeihen.«

»Aber. Oh, sicher, ich verstehe jetzt. Die Sonne bewegt sich ja nie, also ist es immer dunkel unter der Stadt. Höhlenbewohner, wie? Pilze?«

Sie starrte ihn an.

»Louis, wie kannst du nur erwarten, daß sich die Sonne bewegt?«

»Ich vergaß, wo ich bin.« Er schnitt eine Grimasse. »Entschuldigung.«

»Wie kann sich die Sonne bewegen?«

»Selbstverständlich ist es nicht die Sonne, die sich bewegt, sondern der Planet. Unsere Welten sind rotierende Bälle, verstehst du? Wenn ich auf einem Punkt einer Kugel lebe, die sich bewegt, dann scheint die Sonne an einer Seite in den Himmel aufzusteigen und auf der anderen Seite wieder hinunter. Dann ist es Nacht, bis die Sonne wieder aufgeht. Weshalb, glaubst du wohl, haben die Ringwelt-Ingenieure die Sonnenblenden erfunden?«

Der Wagen begann zu schlingern. Valas Gesicht war blaß, und sie zitterte am ganzen Körper. Louis fragte mit sanfter Stimme: »Habe ich dir wieder zuviel zugemutet?«

»Das nicht.« Sie gab einen seltsam bellenden Laut von sich. War das ein verlegenes Lachen? »Die Sonnenblenden. Selbst die dümmsten Leute begreifen das. Die Sonnenblenden sollen auf künstliche Weise einen Nacht- und-Tag-Zyklus erschaffen, an den die Bewohner der sphärischen Welten gewohnt sind. Louis, ich wollte wirklich, du wärst verrückt. Louis, was können wir tun

Er mußte ihr irgendeine Antwort darauf geben. Er sagte: »Ich dachte daran, ein Loch in den Boden eines der Großen Ozeane zu bohren, ehe er den sonnennächsten Punkt erreicht. Dann könnte eine Wassermasse von der Größe mehrerer Planeten in das Vakuum entweichen. Die dabei freiwerdenden Kräfte würden die Ringwelt wieder von der Sonne wegdrücken und sie in ihre ursprüngliche Umlaufbahn zurückbringen. Hinterster, hörst du mir zu?«

Die zu perfekte Altstimme erwiderte: »Das scheint mir nicht machbar zu sein.«

»Natürlich ist es nicht machbar. Wie sollten wir nämlich dann, wenn die Ringwelt wieder auf Kurs liegt, das Loch im Meeresboden verstopfen? Außerdem käme die Ringwelt bei dieser Operation furchtbar ins Schlingern. Das Schlingern würde so kräftig sein, daß wahrscheinlich alle Lebewesen auf der Ringwelt dabei getötet würden und der Kunstplanet noch dazu seine Atmosphäre verliert. Aber ich muß mir etwas einfallen lassen. Vala, ich werde nicht locker lassen.«

Sie wiederholte diesen seltsamen, bellenden Laut und schüttelte dazu heftig den Kopf. »Eines muß man dir lassen. Kleinkariert bist du nicht bei deinen Überlegungen!«

»Was hätten die Ringwelt-Ingenieure an meiner Stelle getan? Was wäre geschehen, wenn feindliche Invasoren die Steuerdüsen von der Ringwand heruntergeschossen hätten? Sie können doch unmöglich die Ringwelt gebaut haben, ohne an solche Eventualitäten zu denken. Ich muß mehr über die Ringwelt-Ingenieure wissen. Verschaffe mir Zutritt zur schwebenden Stadt, Vala!«

18. Die Schatten-Farm

Sie passierten jetzt andere Fahrzeuge: große oder kleine Kastenwagen, die alle noch einen kleineren Kasten am Heck mit sich führten. Die Straße wurde breiter und der Belag besser. Auch die Tankstationen waren jetzt dichter gesät und zeigten alle die gleiche kantige, solide Architektur der Maschinenleute. Als der Verkehr auf der Straße zunahm, mußte Vala mit der Geschwindigkeit heruntergehen. Louis hatte das Gefühl, daß er unangenehm auffiel.

Die Straße führte über einen Hügel, hinter dem sich die Stadt öffnete. Vala betätigte sich als Fremdenführer, als sie wieder hügelwärts fuhren und der Straßenverkehr zu einem Gewühl wurde.

Umkehr der Flüsse führte seine Entstehung auf ein paar Docks zurück, die am spinnwärtigen Ufer des breiten braunen Schlangenflusses errichtet wurden. Die Geburtsstätte der Stadt sah jetzt verwahrlost aus. Die Stadt hatte sich mit dem Bau zahlreicher Brücken auf das andere Ufer vorgeschoben und sich dort kreisförmig ausgebreitet. Nur im Zentrum des Kreises war ein Stück ausgespart worden. Dieses Stück war der Schatten, den die fliegenden Gebäude der Städtebauer warfen.

Sie schwammen jetzt in einem Strom von Kastenwagen. Die Luft war verpestet mit Alkohol. Vala kroch im ersten Gang dahin. Louis kroch fast unter das Armaturenbrett. Die anderen Fahrer hatten jetzt großzügigen Einblick in das Führerhaus und konnten sich den sonderbaren Mann von den Sternen genau betrachten.

Aber sie taten es nicht. Sie sahen weder Louis noch die anderen Wagenlenker. Sie schienen nur Augen für die anderen Fahrzeuge zu haben. Und Vala fuhr weiter bis zum Mittelpunkt der Stadt.

Hier standen die Häuser dicht gedrängt, drei oder vier Stockwerke hoch, schmale Kragen, zwischen denen kein Millimeter Platz blieb. Oben ragten sie über die Straße vor und blockierten das Tageslicht. Einen scharfen Kontrast zu diesen Wohngebäuden bildeten die öffentlichen Gebäude, klotzige, langgestreckte Kästen, die sich auf großzügigen Grundstücken breitmachen konnten. Hier wurde immer nur um den Boden gerangelt, nicht der Höhe nach gewetteifert. Das überließen sie der fliegenden Stadt, die über diesem Gemeinwesen schwebte.

Vala deutete auf die Handelsschule, ein weiter Komplex aufwendiger Steingebäude. Einen Block weiter deutete sie auf eine Nebenstraße. »Meine Wohnung befindet sich dort in der Häuserzeile, die aus pinkfarbenen gegossenen Steinen. Siehst du es?«

»Hat es Sinn, dort hinzufahren?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe gründlich darüber nachgedacht. Nein. Mein Vater würde dir niemals glauben. Er findet, daß selbst die Behauptungen der Städtebauer größtenteils nur Angeberei und Lügen sind. Auch ich war dieser Meinung, aber was du mir von dieser. Dieser Halrloprillalar erzählt hast.«

Louis lachte.

»Sie war eine Lügnerin. Aber ihre Artgenossen regierten tatsächlich einmal über die Ringwelt.«

Sie verließen die Umkehr der Flüsse und fuhren in Richtung Backbord weiter, Vala ließ die Häuser ein paar Meilen hinter sich, ehe sie die letzte der Brücken überquerte. An der Backbordseite des großen Schattens bog sie in eine fast unsichtbare Seitenstraße ein und parkte an deren Ende.

Sie traten in das viel zu grelle Sonnenlicht hinaus und gingen schweigend an die Arbeit. Louis hob mit Hilfe seines Fluggeschirres einen tonnenschweren Felsblock an. Valavirgillin hob an der Stelle, wo er gelegen hatte, eine flache Grube aus, in die sie fast den ganzen Vorrat von Louis Superleiter-Tuch hineinlegte. Dann schüttete sie wieder die Grube mit Erde zu, und Louis verschloß schließlich das Versteck mit dem Felsblock, den er an die alte Stelle rückte.

Er verstaute das Fluggeschirr in Valas Tornister und schnallte ihn über die Schulter. Der Tornister enthielt bereits seine Panzerweste, seine Schutzbrille mit den Okularen, den Handscheinwerfer-Laser und die Flasche voller Nektar. Der Tornister war schwer und sperrig. Louis setzte ihn zurück auf die Erde und stellte das Fluggeschirr so ein, daß es ihm beim Tragen half. Den Übersetzer legte er ganz obenauf, ehe er den Reißverschluß zuzog und schwang das Gepäckstück dann wieder auf den Rücken.

Er trug eine paar von Valas Shorts, die er mit einem Strick um die Hüften befestigt hatte. Sie waren viel zu groß für ihn. Sein haarloses Gesicht würde nicht auffallen. Man würde es für ein natürliches Merkmal seiner Rasse halten. Nichts an ihm deutete auf den Weltraum-Reisenden hin, wenn man einmal von dem Ohrstöpsel seines Übersetzers absah. Das wollte er riskieren.

Er vermochte fast nichts in seiner Umgebung zu erkennen. Das Tageslicht war viel zu grell, und als sie in den Schatten hineingingen, war es dort wiederum zu dunkel. Sie schritten förmlich vom Tag in die Nacht hinein.

Vala schien mühelos ihren Weg zu finden. Louis folgte dichtauf. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er sah, daß sie auf einem schmalen Pfad zwischen Beeten voller Gewächsen gingen.

Die Pilze reichten von Knopfgröße bis zu asymetrischen Gebilden, die Louis über den Kopf reichten. Deren Stengel waren so dick wie seine Hüften. Manche ähnelten den irdischen Pilzen, andere wieder hatten überhaupt keine Form. Ein Geruch von Verwesung hing in der Luft. Manchmal schossen die Sonnenstrahlen senkrecht durch die Lücken zwischen den schwebenden Gebäuden nach unten. Diese Strahlenbündel waren so grell, daß sie aussahen wie Säulen aus solidem, spiegelndem Metall.

Gekräuselte gelbe Pike mit scharlachroten Rändern wucherten auf einem Block aus grauem Schiefer. Mittelalterliche Lanzen standen kerzengerade, weiße Schäfte mit blutroten Spitzen.

Ein Fell mit orangefarbenen und gelben Mustern überzog einen morschen Baumstamm.

Die Leute, die hier arbeiteten, waren fast so bunt gemischt wie die Pilze. Da waren Angehörige des Läufer-Volkes, die mit einer Zwei-Hand-Säge einen großen elliptisch geformten Pilz mit orangefarbener Halskrause fällten. Wesen mit breiten Gesichtern und mächtigen Händen füllten weiße Knopfpilze in einen Korb. Gras-Riesen trugen die gefüllten Körbe zu einem Sammelbehälter. Vala gab flüsternd Erläuterungen: »Die meisten Arten ziehen es vor, sich in Gruppen zu vermieten, um sich gegen den Kulturschock abzuschirmen. Sie wohnen auch in getrennten Unterkünften.«

Da war ein halbes Hundert Leute bei der Arbeit und harkten Kompost und Mist auf die Beete; Louis konnte den Dünger schon aus großer Entfernung riechen. Waren das Arbeiter von Valas Spezies? Ja, es waren Maschinen-Leute, aber zwei von ihnen standen abseits, sahen zu und waren mit Gewehren bewaffnet. »Was sind denn das für Leute? Gefangene?«

»Gefangene, die wegen kleiner Delikte verurteilt wurden. Zwanzig oder fünfzig Falans lang dienen sie der Gemeinschaft in diesem.« Sie unterbrach sich. Einer der Wächter kam auf sie zu.

Er begrüßte Vala. »Lady, Sie sollten sich hier nicht aufhalten. Diese Misthändler finden vielleicht Gefallen an Ihnen und nehmen Sie zur Geisel.«

Vala klang erschöpft: »Mein Wagen streikte. Ich muß zur Akademie und Bescheid sagen, was passiert ist. Bitte, darf ich durch die Schatten-Farm gehen? Wir wurden alle umgebracht. Alle wurden von Vampiren getötet. Sie müssen das erfahren. Bitte!«

Der Wächter zögerte. »Also gut. Sie dürfen passieren. Aber nicht ohne eine Eskorte.« Er pfiff ein paar Töne. Es hörte sich an wie ein Leitmotiv. Dann wandte er sich Louis zu: »Und was ist mit dir?«

Vala antwortete an Louis Stelle: »Ich mietete ihn, damit er mein Gepäck tragen soll.«

Der Wächter sprach langsam und deutlich: »Du gehst mit der Lady so lange mit, wie sie dich braucht. Aber du bleibst in den Grenzen der Schatten-Farm. Dann kehrst du wieder zu deinem Arbeitsplatz zurück. Was hast du zuletzt gearbeitet?«

Louis war ohne seinen Übersetzer zur Stummheit verurteilt. Er dachte an den Handscheinwerfer-Laser, den er in seinem Tornister vergraben hatte. Er legte die Hand auf einen Felsblock, der mit lavendelfarbenen Pilzen bewachsen war. Dann deutete er auf einen Schiefer, auf dem ähnliche Pilze wucherten.

»Okay.« Der Wächter blickte über Louis Schulter. »Ah.«

Der Geruch sagte Louis schon alles, ehe er sich umdrehte. Er wartete mit stoischer Ruhe, während der Wächter zwei Kobolde instruierte: »Bringt die Lady und ihren Gepäckträger zum anderen Ende der Schatten-Farm. Paßt auf, daß ihnen nichts zustößt.«

Sie gingen in einer Reihe den Pfad hinunter, der zum Zentrum der Schattenfarm führte. Der männliche Kobold ging an der Spitze, der weibliche bildete den Schluß. Der Geruch der Verwesung wurde strenger. Schlitten, die mit Düngemittel beladen waren, glitten auf anderen Wegen an ihnen vorüber.

Tanj! Wie sollte er jetzt die Kobolde wieder loswerden?

Louis bückte zurück. Das Koboldweibchen grinste ihn an. Ihr machte dieser strenge Geruch bestimmt nichts aus. Ihre Zähne waren mächtige Dreiecke, ausgezeichnet dafür geeignet, rohes Fleisch zu zerreißen. Ihre Koboldohren standen aufrecht. Wie ihr Geschlechtspartner trug sie eine große Tasche an einem Tragriemen über der Schulter. Sonst war sie nackt. Fast alle Partien ihres Körpers waren mit einem dichten Haarkleid bedeckt.

Sie erreichten einen großen, kreisförmigen Bezirk, wo alle Pilze abgeerntet waren. Dahinter war eine Grube.

Dünger häufte sich hinter der Grube, so daß man das Gelände dahinter nicht mehr zu überschauen vermochte. Aus einem Rohr ergoß sich Jauche in die Grube. Louis blickte an dem Rohr entlang nach oben. Es verlor sich am schwarzen, von hellen Flecken durchbrochenen Himmel.

Das Koboldweibchen beugte sich zu ihm und sprach so laut in sein Ohr, daß Louis zusammenzuckte. Sie verwendete die Sprache der Maschinen-Leute: »Was würde der König der Riesen wohl dazu sagen, wenn er wüßte, daß Louis und Wu eine Person sind?«

Louis starrte das Koboldweibchen an.

»Bist du stumm ohne dein kleines Kästchen? Keine Angst. Wir stehen dir zu Diensten.«

Das Koboldmännchen sprach inzwischen mit Valavirgillin. Sie nickte. Sie gingen weiter den Pfad hinunter. Louis und das Weibchen folgten ihnen um ein breites Beet mit weißen Pilzen herum, das auf einer schrägen Platte aus Schiefer angelegt war.

Vala schien sehr nervös. Vielleicht irritierte sie der Gestank. Louis wurde er allmählich unerträglich. »Kyeref sagte mir, das wäre ganz frischer Dünger. Erst in einem Falan ist er reif genug, und dann wird das Rohr über eine andere Grube geschoben und der Mist auf die Beete verteilt. Bis dahin kommt niemand hierher zu der Jauchegrube.«

Sie nahm den Tornister von Louis' Schulter und kippte ihn aus. Louis bückte sich nach dem Übersetzer (die Ohren des Kobolds richteten sich sofort auf, als sich seine Hand dem Scheinwerfer-Laser näherte). Er schaltete auf größere Lautstärke und fragte: »Wieviel weiß das Volk der Nacht?«

»Mehr, als wir ahnten.« Vala sah so aus, als wollte sie ihm noch mehr verraten; aber sie tat es nicht.

Das Koboldmännchen antwortete an ihrer Stelle: »Die Welt ist zum Flammentod verurteilt. Der Untergang wird in nicht zu weiter Ferne stattfinden. Nur Louis Wu kann uns noch vor der Vernichtung retten.« Der Kobold lächelte und zeigte eine breite Fülle weißer dolchartiger Zähne. Sein Atem erinnerte an einen Basilisken.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du das ironisch gemeint hast«, sagte Louis. »Glaubst du auch an deine Worte?«

»Seltsame Ereignisse vermögen in dem geistig Verwirrten die Gabe der Prophezeiung zu erkennen. Wir wissen, daß du Werkzeuge bei dir trägst, die nirgends sonst bekannt sind. Auch deine Rasse ist hier unbekannt. Aber diese Welt ist groß, und wir kennen nicht alle Rassen, die auf ihr leben. Dein behaarter Freund ist noch viel seltsamer als du.«

»Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Rette uns! Wir werden es nicht wagen, dein Handeln zu stören.« Der Kobold sah jetzt viel ernster aus, obwohl seine Lippen beim Sprechen immer noch nicht zusammenkamen. (Dazu gehörte wohl eine bewußte Anstrengung. Diese großen spitzen Zähne.) »Und weshalb sollte es uns stören, wenn du ein Verrückter bist? Die Tätigkeiten anderer Rassen stören nur sehr selten unsere Kreise. Und am Ende gehören sie uns alle.«

»Ich frage mich, ob ihr nicht die wirklichen Herrscher dieser Welt seid.« Louis sagte das aus diplomatischer Höflichkeit und überlegte dann voll Unbehagen, ob er damit nicht die Wahrheit gesagt hatte.

Das Weibchen antwortete: »Viele Rassen mögen den Anspruch erheben, diese Welt zu beherrschen oder wenigstens einen Teil von ihr. Wollten wir etwa die Baumwipfel der Hängenden Leute beanspruchen? Oder die luftlosen Höhen der Schüttberg-Leute? Und welche Rasse möchte wohl unser Territorium beanspruchen?« Sie lachte ihn jetzt aus. Das war sicher.

Louis sagte: »Irgenwo auf dieser Welt muß es ein Reparaturzentrum geben. Wißt ihr etwas darüber?«

»Du hast zweifellos recht«, erwiderte das Männchen. »Aber wir wissen nicht, wo es sich befinden könnte.«

»Was wißt ihr von der Ringmauer? Und den Großen Ozeanen?«

»Hier gibt es zu viele Meere. Ich weiß nicht, von welchem du sprichst. Aber auf der Ringmauer herrschte große Unruhe, ehe sich die großen Flammen zum erstenmal zeigten.«

»Tatsächlich? Was für eine Art von Unruhe?«

»Viele Geräte, die man zum Heben benötigt, wurden noch über dem Reich der Schüttberg-Leute aufgebaut. Städtebauer und Leute von den Schüttbergen waren in großer Anzahl an dieser Bautätigkeit beteiligt. Auch viele andere Rassen, jedoch in geringerer Zahl. Sie kletterten bis zum obersten Rand der Welt hinauf. Vielleicht vermagst du uns die Bedeutung dieser Tätigkeit zu verraten.«

Louis war tief beeindruckt: »Tanj, das müssen die Leute gewesen sein.« die die Steuerdüsen wieder in die Halterungen einhängten, fuhr er in Gedanken fort. Er sollte es nicht laut sagen. So viel Macht und Ehrgeiz in der nächsten Umgebung konnten vermutlich die Nerven eines Puppetiers überstrapazieren. »Das ist aber ein langer Weg für aasessende Meldegänger.«

»Das Licht wandert weiter als wir. Hat diese Neuigkeit vielleicht Einfluß auf deine Prophezeiung vom Untergang der Welt?«

»Ich fürchte leider nein.« Es mochte wahr sein, daß ein Reparaturtrupp jetzt irgendwo an der Arbeit war; aber sie würden bald keine Bussard-Rammdüsen mehr haben, die sie in die Halterungen am Rande der Ringwelt einhängen konnten. »Aber so lange diese großen Flammen am Himmel stehen, zögern sie den Untergang der Welt hinaus. Ich hatte mit einer Galgenfrist von sieben oder acht Falans gerechnet. Ich glaube, wir haben noch etwas mehr Zeit.«

»Eine gute Nachricht. Was wirst du jetzt unternehmen?«

Einen Moment lang war Louis versucht, die fliegende Stadt aufzugeben und sich nur noch mit den Kobolden zu befassen. Aber er hatte viele Mühen auf sich genommen, um hierher zu kommen, und Kobolde gab es überall. »Ich warte die Nacht ab und fliege dann in die Stadt hinauf. Vala, dein Anteil an dem Superleiter-Tuch befindet sich im Kastenwagen. Ich wäre dir dankbar, wenn du eine Weile lang niemandem etwas von diesem Tuch verrätst oder von mir., bis sich diese Welt ein paarmal um die Sonne gedreht hat. Meinen Anteil an dem Tuch kannst du in einem Falan wieder ausgraben, wenn niemand es beansprucht. Und ich habe auch etwas von dem Tuch bei mir.« Er schlug mit der Hand auf eine Westentasche, wo er einen Quadratmeter von dem Superleiter-Tuch zu der Größe eines Taschentuchs zusammengefaltet hatte.

»Ich wollte, du würdest das Tuch nicht mit in die Stadt nehmen«, sagte Vala.

»Sie werden es nur für einfaches Tuch halten, bis ich sie aufkläre«, erwiderte Louis. Das war fast eine Lüge. Louis hatte vor, das Tuch als Superleiter zu verwenden.

Die Kobolde starrten ihn an, als er die Shorts auszog — prägten sich vermutlich Einzelheiten ein, die ihnen helfen konnten, die Heimat seiner Rasse auf der Ringwelt zu finden. Er zog die Panzerweste an.

Das Koboldweibchen fragte plötzlich: »Wie hast du die Frau von den Maschinen-Leuten davon überzeugt, daß du ein vernünftiges Wesen bist?«

Vala erläuterte es ihnen, während Louis auch noch die Schutzbrille aufsetzte und den Handscheinwerfer-Laser in die Tasche steckte. Die Kobolde behielten ihr Lächeln nur noch mühsam bei. Das Weibchen fragte: »Kannst du diese Welt wirklich retten?«

»Verlaßt euch nicht auf mich. Versucht lieber, das Reparaturzentrum wiederzufinden. Streut meine Bitte über die ganze Welt aus. Versucht auch die Bandersnatchi danach zu fragen — die großen weißen Bestien, die in den Sümpfen spinnwärts leben.«

»Wir kennen sie.«

»Gut. Vala.«

»Ich gehe jetzt, um zu berichten, wie meine Freunde starben. Vielleicht treffen wir uns nie wieder, Louis.« Valavirgillin nahm den leeren Tornister auf und entfernte sich rasch.

»Wir wollen ihr Schutzgeleit geben«, sagte der weibliche Kobold. Auch die beiden Angehörigen des Nachtvolkes verließen ihn jetzt.

Sie hatten ihm kein Glück zu seinem Unternehmen gewünscht. Warum nicht? Vielleicht lag das an ihrer Lebensweise. Möglicherweise waren sie alle Fatalisten. Glück bedeutete ihnen nichts.

Louis betrachtete den dunklen, von weißen Flecken unterbrochenen Himmel. Er war versucht, schon jetzt hinaufzufliegen. Aber er wollte doch lieber die Nacht abwarten. Er sprach in den Übersetzer: »Hinterster, hörst du mir zu?«

Offenbar tat das der Puppetier nicht.

Louis streckte sich unter der mächtigen Schieferplatte mit den Pilzen aus. Dicht über der Erde schien die Luft sauberer zu sein. Er nippte nachdenklich an der Nektarflasche, die Vala ihm überlassen hatte.

Was für Wesen waren diese Kobolde? Ihre Stellung in dieser Ökologie schien unangreifbar zu sein. Wie war es ihnen gelungen, ihre Intelligenz zu bewahren? Warum brauchten sie überhaupt Intelligenz? Vielleicht mußten sie zuweilen um ihre Privilegien kämpfen. Oder um Anerkennung. Und vermutlich stellten die tausenderlei lokalen Religionen auch einen hohen Anspruch an ihr Sprachvermögen.

Doch jetzt wieder zur Sache: Wie konnten sie ihm helfen? Gab es irgendwo eine Enklave der Kobolde, wo man sich an die Quelle des Unsterblichkeits-Elexiers erinnerte? Das nach seiner Hypothese aus der Wurzel des Pak-Lebensbaumes hergestellt wurde.

Immer eines nach dem anderen. Zuerst kam die Stadt an die Reihe.

Die Lichtsäulen wurden dünner und verblaßten schließlich vollends. Andere Lichter erschienen am verbauten Himmel: Hunderte von beleuchteten Fenstern. Keines zeigte sich direkt über ihm. Wer wollte auch in einem Keller über einer Mistgrube wohnen? (Vielleicht jemand, der sich eine Beleuchtung nicht leisten konnte?)

Die Schatten-Farm schien verlassen. Louis hörte nur noch die Geräusche des Windes. Als er sich auf die Schieferplatte zwischen die Pilze stellte, sah er entfernte Fenster aufflackern, als würden Herdflammen dahinter brennen: das waren vermutlich die Behausungen der Farmer am Rand des Schattens.

Louis schaltete die Steigflug-Automatik an seinem Fluggeschirr ein und schwebte in die Höhe.

19. Die fliegende Stadt

Über dreihundert Meter über dem Boden wurde die Luft erst wieder richtig frisch. Die fliegende Stadt umgab ihn. Er umringte die stumpfe Spitze eines umgedrehten Turms: vier Etagen mit dunklen Fenstern, darunter eine Garage. Das große Garagentor war verschlossen und verriegelt. Louis suchte nach einer zerbrochenen Fensterscheibe. Er fand keine.

Diese Fenster mußten schon elfhundert Jahre überdauert haben. Vermutlich konnte er eine Scheibe einschlagen, wenn er es versuchte. Aber er wollte nicht gern die Stadt als Einbrecher betreten.

Statt dessen schwebte er dicht neben einem Abwasserrohr nach oben. Er hoffte, daß er im Schatten des Rohres unentdeckt blieb. Er sah jetzt Rampen in seiner Nähe; doch nirgends eine Straßenbeleuchtung. Er steuerte auf einen Bürgersteig zu und ließ sich darauf nieder. Jetzt kam er sich weniger auffällig vor.

Niemand war in seiner Nähe. Das breite Band aus gegossenem Stein schlängelte sich durch viele Gebäude links und rechts, hinauf und hinunter, schickte offenbar beliebig Seitenstränge aus, die nirgends zu enden schienen. Kein Geländer schützte die Gehsteige, obwohl ein leerer Raum von dreihundert Metern darunter lag. Halrloprillalars Rasse mußte sich von ihren Stammvätern, den Armfüßlern, viel weniger entfernt haben als die Menschen auf der Erde. Louis schlenderte auf ein paar Lichter zu und hielt sich dabei vorsichtig in der Mitte des Gehsteiges.

Wo blieben die Leute nur? Die Stadt machte einen insularen Eindruck, überlegte Louis. Es gab zwar Häuser in rauhen Mengen und Rampen, die ganze Häuserblocks miteinander verbanden; aber wo waren die Einkaufszentren, die Bars, die Theater, die Straßen zum Flanieren, die Parks, die Bürgersteig-Cafes? Nichts davon zeigte sich in seiner Nähe, nicht einmal durch Reklame. Alles schien sich hier hinter vier Wänden abzuspielen.

Entweder fand er jemanden auf der Straße, dem er sich vorstellen konnte, oder er mußte sich verstecken. Wie war das mit diesem Glasgebilde mit den dunklen Fenstern? Wenn er von oben her eindrang, konnte er ziemlich sicher sein, daß es sich um ein verlassenes Gebäude handelte.

Jemand kam auf der abschüssigen Rampe auf ihn zu. Louis rief: »Können Sie mich verstehen?« und hörte seine Worte in die Sprache der Maschinen-Leute übersetzt.

Der Fremde antwortete ihm in der gleichen Sprache: »Sie sollten nicht im Dunklen durch die Stadt gehen. Sie könnten abstürzen.« Er war jetzt viel dichter heran. Seine Augen waren riesig; er gehörte nicht zur Rasse der Städtebauer. Er trug einen schlanken Stab mit sich. Das er das Licht im Rücken hatte, konnte Louis nicht mehr von ihm erkennen. »Zeigen Sie mir Ihren Arm«, sagte der Fremde.

Louis entblößte den linken Arm. Selbstverständlich trug er keine Tätowierungen. Er sagte, was er sich von Anfang an zurechtgelegt hatte: »Ich kann eure Wasserkondensierer reparieren.«

Der Stab schlug nach ihm. Der Stock traf Louis wuchtig auf den Kopf und warf ihn nach hinten. Er überschlug sich und stand geduckt wieder auf den Beinen. Seine trainierten Reflexe arbeiteten ausgezeichnet. Doch seine Arme kamen eine Idee zu spät nach oben, um den Stock abzuwehren. Diesmal traf er ihn an der Schläfe. Lichter sprühten hinter seinen Augen auf und erloschen.


Er befand sich in freiem Fall. Der Wind brüllte an ihm vorbei. Selbst für einen Mann, der fast bewußtlos war, war der Zusammenhang deutlich. Louis schlug, von Panik ergriffen, im Dunklen um sich. Kurzschluß in einem Raumfahrzeug! Wo bin ich? Wo sind die Meteor-Dichtungen? Wo ist mein Druckanzug? Der Alarmschalter?

Schalter — jetzt erinnerte er sich zum Teil wieder. Seine Hände flogen an seine Brust, fanden die Kontrolleinrichtungen des Fluggeschirrs, drehten den Hebeknopf hart nach links. Das Fluggeschirr reagierte ebenfalls mit voller Kraft, schwang ihn herum, daß die Füße wieder nach unten zeigten. Louis versuchte, den Nebel aus seinem Kopf zu verdrängen. Er sah nach oben. Durch eine Lücke in der Dunkelheit entdeckte er die Korona der Sonne hinter einer Schattenblende; er sah harte Dunkelheit rasch auf ihn zukommen, um ihn zu vernichten. Er drehte wieder den Hebeknopf, um seinen rasenden Aufstieg zu verzögern.

Alles wieder in Ordnung.

Sein Magen rebellierte, und in seinem Kopf drehte sich ein Karussell. Er brauchte Zeit, um nachzudenken. Offensichtlich hatte er den falschen Einstieg in der Stadt gewählt. Aber wenn der Wächter ihn vom Bürgersteig gerollt hatte. Louis klopfte seine Taschen ab. Alles war noch da. Warum hatte der Wächter, ihn nicht zuerst beraubt?

Louis erinnerte sich auch vage an die Antwort auf seine Frage: er hatte ihn angesprungen, den Wächter verfehlt und sich dann überschlagen. Dann war er mitten im Sturz ohnmächtig geworden. Das ließ die Angelegenheit in einem anderen Licht erscheinen. Vielleicht wäre es besser gewesen, noch zu warten. Doch dafür war es jetzt zu spät.

Er mußte einen anderen Zugang zur Stadt wählen.

Er schwamm unter der Stadt hindurch zur Gemeindegrenze. Sie war nicht zu weit entfernt. Aber am Rande der Stadt waren viel zu viele Lichter. Im Mittelpunkt entdeckte er einen Doppelkegel, in dem überhaupt keine Lichter brannten. Die untere Spitze war grob: eine Tiefgarage mit einer Rampe aus gegossenem Stein. Louis schwebte die Rampe hinauf.

Er stellte den Restlichtverstärker in seiner Schutzbrille ein. Zu peinlich, daß er das nicht schon früher getan hatte. Hatte der Schlag gegen den Kopf sein Denkvermögen beeinträchtigt?

Prills Artgenossen, die Städtebauer, hatten Flugräder besessen, erinnerte er sich. Aber hier vermochte er keinen Wagen oder Krad zu entdecken. Er sah nur ein paar verrostete Metallschienen auf dem Boden und einen primitiven Stuhl ohne Armlehnen am anderen Ende. Und eine Art von Chorgestühl: drei Reihen von übereinander angeordneten Bänken zu beiden Seiten der Schienen. Das Holz war grau verwittert, das Metall zerbröckelte zu Rost.

Er mußte den Sessel näher untersuchen, ehe er begriff. Er war so gebaut, daß er die Schienen hinunterrollen und am Ende nach vorn kippen konnte. Louis hatte eine Hinrichtungskammer entdeckt — für eine Hinrichtung, zu der Zuschauer gehörten.

Würde er darüber einen Gerichtssaal finden? Und ein Gefängnis? Louis hatte bereits beschlossen, sein Glück woanders zu versuchen, als eine frostige Stimme ihn aus dem Dunklen ansprach — in einer Sprache, die er seit dreiundzwanzig Jahren nicht mehr gehört hatte: »Eindringling, zeige deinen Arm. Bewege dich ganz langsam.«

Wieder sagte Louis: »Ich kann eure Wasserkondensierer reparieren«, und diesmal hörte er seinen Übersetzer in der Sprache von Halrloprillalar reden. Er mußte bereits diesen Satz im Computerspeicher vorbereitet haben.

Der andere stand unter einer Tür am Kopfende einer Treppe. Er hatte ungefähr die Größe von Louis, und seine Augen glühten im Dunklen. Er trug eine Waffe, wie sie Valavirgillin getragen hatte. »Dein Arm ist ohne Markierung. Wie bist du hierhergekommen? Du mußt geflogen sein.«

»Ja.«

»Beeindruckend. Ist das eine Waffe?« Er mußte den Handscheinwerfer-Laser meinen.

»Ja. Du siehst sehr gut im Dunklen. Was bist du?«

»Ich bin Mär Korssil, eine Frau von den Nachtjägern. Lege deine Waffe auf den Boden.«

»Nein.«

»Ich töte dich nur ungern. Deine Behauptung mag wahr sein.«

»Das ist sie.«

»Ich möchte auch nicht gerne meinen Meister wecken, und ich werde dich nicht durch diese Tür gehen lassen. Lege deine Waffe auf den Boden.«

»Nein. Ich bin schon einmal heute nacht angegriffen worden. Kannst du nicht diese Tür versperren so daß keiner von uns sie öffnen kann?«

Mär Korssil warf etwas durch die Tür; es klirrte, als es auf den Boden prallte. Sie schloß die Tür hinter sich. »Fliege für mich«, sagte sie. Ihre Stimme war immer noch ein barscher Baß.

Louis erhob sich zwei Meter über den Boden und ließ sich dann wieder auf den gegossenen Stein nieder.

»Eindrucksvoll.« Mär Korssil kam die Treppe herunter, die Waffe schußbereit an der Schulter. »Wir haben viel Zeit, können uns unterhalten bis zum Morgengrauen, wenn man uns hier entdeckt. Was bietest du mir, und was verlangst du?«

»War meine Vermutung richtig, daß euer Wasserkondensierer nicht mehr arbeitet? Versagte er nicht mit dem Fall der Städte?«

»Meines Wissens nach hat er nie funktioniert. Wer bist du?«

»Ich bin Louis Wu. Männlich. Nenne meine Rasse ›das Volk der Sterne‹. Ich komme von dem Universum außerhalb dieser Welt, von einem Stern, der viel zu klein ist, als das du ihn sehen könntest. Ich habe etwas bei mir, mit dem ich wenigstens einen Teil der Wasserkondensierer in dieser Stadt reparieren kann. Und ich habe noch mehr von diesem Material versteckt. Vielleicht kann ich euch auch ein besseres Licht verschaffen.«

Mär Korssil betrachtete ihn mit blauen Augen, die so groß waren wie seine Schutzbrille. Sie hatte schrecklich lange Krallen an ihren Fingern und Eckzähne wie eine Axtschneide. Was war sie? Ein Nagerjagender Fleischfresser? Sie sagte: »Wenn du unsere Maschinen reparieren kannst, ist das gut. Was das Reparieren der Maschinen anderer Gebäude betrifft, so muß das erst mein Meister entscheiden. Was verlangst du von uns?«

»Wissen. Sehr viel Wissen. Zutritt zu allen Einrichtungen aufgestauten Wissens in dieser Stadt — zu Karten, Büchern, Geschichten, Gerüchten.«

»Erwarte nicht von uns, daß wir dich zur Bibliothek schicken. Wenn deine Behauptung der Wahrheit entspricht, bist du dafür zu kostbar. Unser Gebäude ist nicht sehr reich, aber wir können Wissen von der Bibliothek kaufen, wenn du ganz spezielle Wünsche an sie richtest.«

Louis wurde es klar: Die fliegende Stadt war genausowenig eine Gemeinde wie das Griechenland zur Zeit von Perikles eine Nation gewesen war. Jedes Gebäude war eine unabhängige Einheit, und er befand sich im falschen Gebäude. »In welchem Haus ist die Bibliothek untergebracht?« fragte er.

»An der Grenze zwischen Backbord und spinnwärts — ein Kegel, der mit der Spitze nach unten zeigt. Warum fragst du mich danach?«

Louis berührte den Schalter an seiner Brust, stieg in die Höhe und bewegte sich auf die Nacht vor der Rampe zu.

Mär Korssil schoß. Louis stürzte zu Boden. Flammen züngelten über seiner Brust. Er schrie und riß sich das Fluggeschirr vom Leib. Die Kontrolleinrichtung des Fluggeschirrs brannte — eine rauchende gelbe Flamme mit blauweißen Blitzen in der Mitte.

Louis zog den Laser und zielte damit auf Mär Korssil. Der Nachtjäger schien nicht auf seinen Laser zu achten. »Fordere mich nicht zum zweitenmal heraus«, sagte sie. »Bist du verwundet?«

Diese Worte retteten ihr das Leben; aber Louis mußte etwas töten, um sie einzuschüchtern. »Laß die Waffe fallen, oder ich zerschneide dich in zwei Hälften«, sagte er, »so zum Beispiel.« Er fuhr mit dem Laserstrahl durch den Hinrichtungsstuhl; er flammte auf und zerfiel in zwei Teile.

Mär Korssil bewegte sich nicht.

»Ich wollte nur dieses Gebäude verlassen«, sagte Louis. »Jetzt bin ich hier gestrandet. Du mußt mich aus dem Gebäude lassen, oder ich werde es auf der ersten Rampe verlassen, auf die ich stoße. Laiß deine Waffe fallen, oder stirb!«

Eine Frauenstimme sprach von der Treppe her: »Laß deine Waffe fallen, Mär Korssil.«

Der Nachtjäger gehorchte.

Die Frau kam jetzt die Treppe herunter. Sie war größer als Louis und so schlank wie er. Ihre Nase war winzig, ihre Lippen fast unsichtbar dünn. Ihr Kopf war kahl, aber üppiges weißes Haar fiel auf ihre Schulter hinunter und reichte bis zu einer Linie hinauf, die hinter ihren Ohren begann und über den Nacken verlief. Louis vermutete, daß das weiße Haar ein Zeichen fortgeschrittenen Alters war. Sie schien keine Angst vor ihm zu haben. Er fragte sie: »Herrschen Sie hier?«

»Ich und mein registrierter Partner beherrschen dieses Gebäude. Ich bin Laliskareerlyar. Und du nennst dich Luweewu?«

»So ähnlich.«

Sie lächelte. »Da ist ein Guckloch. Mär Korssil gab mir aus der Garage ein Signal: ein ungewöhnlicher Vorgang. Ich kam, die Treppe herunter, um zu lauschen und zu beobachten. Es tut mir leid um dein Fluggerät. Es gibt in der ganzen Stadt kein solches Gerät mehr.«

»Wenn ich Ihren Wasserkondensierer repariere, werden Sie mich dann wieder freilassen? Und ich brauche auch einen Rat.«

»Betrachten wir mal deine Verhandlungsposition. Kannst du meinen Wachen widerstehen, die draußen warten?«

Louis hatte sich schon damit abgefunden, daß er sich den Weg freischießen mußte. Er machte noch einen Versuch, auch diese Dame zur Vernunft zu bringen. Der Boden schien aus dem üblichen gegossenen Steinmaterial zu bestehen. Er bewegte den Laser in einem langsamen Kreis, und ein wagenradgroßes Stück des Bodens mit ungefähr einem Meter Durchmesser löste sich und stürzte in die Tiefe. Das Lächeln auf Laliskareerlyars Gesicht erlosch. »Vermutlich kannst du das. Es soll geschehen, was du von mir verlangst Mär Korssil, begleite uns. Halte jeden zurück, der versucht, den Fremden am Betreten des Gebäudes zu hindern. Und laß deine Waffe dort liegen, wo du sie auf den Boden geworfen hast.«


Sie kletterten eine spiralförmige Rolltreppe hinauf, die nicht mehr funktionierte. Louis zählte vierzehn Schleifen, vierzehn Stockwerke. Er fragte sich, ob er sich in Laliskareerlyars Alter nicht getäuscht hatte. Die Städtebauer-Frau kletterte so rasch, daß ihm kein Atem mehr für ein Gespräch übrig blieb. Aber ihre Hände und ihr Gesicht waren so voller Falten, als hätte sie ihre Haut zu lange getragen.

Ein beunruhigender Anblick. Louis war nicht mehr daran gewöhnt. Mit seiner Vernunft wußte er, was das bedeutete: das Zeichen des Alters, das Indiz ihrer Ahnherrn, des Pak-Protektors.

Sie erklommen die Treppe mit dem Licht aus Louis Handscheinwerfer-Laser. Leute erschienen unter den Türen; Mär Korssil warnte sie, sich nicht einzumischen. Die meisten dieser Leute schienen Städtebauer zu sein; aber Louis sah auch noch andere Rassen, die ebenfalls in diesem schwebenden Wolkenkratzer wohnten.

Diese Leute hatten der Familie schon seit vielen Generationen gedient, erklärte ihm Laliskareerlyar. Die Mär-Familie der Nachtwächter waren Polizisten gewesen, als ihre Familien noch als Richter in dem Gebäude fungierten. Die Köche, die von den Maschinen-Leuten abstammten, hatten ihrer Familie fast ebenso lange gedient. Die Dienerschaft und Herren aus dem Geschlecht der Städtebauer betrachteten sich als eine einzige Familie, die durch uralte Treueschwüre und durch periodischen Rishathra miteinander verbunden war. Insgesamt wohnten in dem Gebäude der Lyar-Familie rund tausend Leute, die Hälfte von ihnen verwandte Artgenossen der Städtebauer.

Louis hielt an, um durch ein Fenster in halber Höhe des Treppenhauses zu blicken. Ein Fenster, das durch die Mitte eines Gebäudes verlief? Es war ein Hologramm, den Blick über eine riesige Ausdehnung der Ringwelt-Landschaft, wie man ihn nur von der Ringmauer aus genießen konnte. Einer der letzten Schätze, die dieses Gebäude noch beherbergte, erklärte ihm Laliskareerlyar voller Stolz und Bedauern zugleich. Alle anderen Hologramme und Schätze waren seit Hunderten von Falans verkauft worden, damit sie die Wassergebühren bezahlen konnten.

Louis ertappte sich dabei, daß er ebenfalls redete wie ein Wasserfall. Er war vorsichtig, wütend über den Verlust seines Fluggeschirrs und erschöpft; aber da war etwas an dieser alten Dame, das ihn zum Reden verleitete. Sie wußte über die Planeten Bescheid. Sie zweifelte nicht an seiner Glaubwürdigkeit. Sie hörte ihm aufmerksam zu. Sie sah Halrloprillalar so sehr ähnlich, daß Louis sogar von dieser alten Liebe zu ihr sprach; von dieser uralten, unsterblichen Schiffshure, die als eine halbverrückte Göttin in ihrem schwebenden Gebäude gelebt hatte, bis Louis Wu und seine seltsame Raumschiffbesatzung in ihre Wohnung eindrang. Wie Halrloprillalar ihnen geholfen, ihre entmachtete Zivilisation ihretwegen aufgegeben und mit ihnen zusammen die Ringwelt verlassen hatte. Und wie sie gestorben war.

Laliskareerlyar fragte: »Ist das der Grund gewesen, warum du Mär Korssil nicht tötetest?«

Die Frau der Nachtjäger blickte ihn mit ihren großen blauen Augen an.

Louis lachte: »Vielleicht.« Er erzählte von seinem Kampf und Sieg über die Sonnenblumen. Aber er sparte das gefährlichste Thema aus, denn er sah keinen Vorteil darin, wenn er Laliskareerlyar berichtete, daß ihre Welt in nicht sehr ferner Zeit mit ihrer Sonne zusammenstoßen würde. »Ich möchte diese Welt in dem Bewußtsein verlassen, daß ich keinen Schaden angerichtet habe. Ich habe auch noch ein Tuch, das dieser Stadt von großem Nutzen sein wird, unweit der Stadt vergraben. Tanj! Jetzt habe ich keine Möglichkeit mehr, dieses Versteck zu erreichen!«

Sie hatten endlich den Gipfel der Spiraltreppe erreicht, Louis war ganz außer Atem von der langen Kletterei. Mär Korssil sperrte eine Tür auf; dahinter lag eine zweite Treppe. Laliskareerlyar fragte: »Gehörst du zu den Lebewesen, die nachts aktiv sind?«

»Wie bitte? Nein.«

»Dann warten wir am besten den Tag ab. Mär Korssil, besorge uns ein Frühstück. Und schicke Whil mit Werkzeugen herauf. Dann leg dich zum Schlafen nieder.«

Als Mär Korssil gehorsam wieder die Treppe hinuntertrottete, ließ sich die alte Frau mit gekreuzten Beinen auf einem uralten Teppich nieder. »Ich vermute, daß wir im Freien arbeiten müssen«, sagte sie. »Aber ich begreife nicht, warum du dich einer so großen Gefahr unterzogst. Du sagtest vorhin, um dein Wissen zu bereichern. Was willst du hier in der Stadt erfahren?«

Es war nicht einfach, diese Frau zu belügen; aber vielleicht, hörte der Hinterste ihrem Gespräch zu. »Wissen Sie etwas von einer Maschine, mit der man einen Stoff in einen anderen verwandeln kann, zum Beispiel Luft in Lehm oder Blei in Gold?«

Sie hörte interessiert zu. »Zauberer aus grauer Vorzeit sollen Glas in Diamanten verwandelt haben. Aber das sind natürlich Geschichten aus dem Märchenbuch für Kinder.«

Soviel zu dem Thema Materieumwandler. »Und wie steht es mit dem Reparaturzentrum für diese Welt? Gibt es auch Märchen, die davon berichten? Die vielleicht sogar ihren Ort angeben?«

Sie starrte ihn an. »Als ob diese Welt nichts anderes wäre als ein künstliches Gebilde, eine etwas größere Version dieser Stadt?«

Louis lachte.

»Eine viel größere Version als diese Stadt. Viel, viel größer. Gibt es so ein Reparaturzentrum?«

»Nein.«

»Und wie steht es mit dem Unsterblichkeits-Elixier? Ich weiß, daß es dieses Elixier gibt. Halrloprillalar hatte eine Flasche davon.«

»Natürlich gibt es so ein Elixier. Leider ist davon nichts mehr in dieser Stadt vorhanden. Ich wüßte auch nicht, wo man sonst danach suchen könnte. Diese Geschichte ist das Lieblingsthema von« .der Übersetzer benützte einen Begriff aus dem Interworld-Vokabular. »von Schwindlern und Betrügern.«

»Weiß die Sage von dem Lebenselixier auch zu berichten, wo es ursprünglich herkam?«

Eine junge Frau von der Rasse der Städtebauer kam keuchend die Treppe herauf und stellte zwischen ihnen ein flache Schale auf den Boden. Louis' Angst vor vergifteten Speisen verflüchtigte sich sofort. Das Zeug war lauwarm und erinnerte ihn an Haferbrei. Sie aßen zu zweit mit den Händen aus dieser einen Schüssel.

»Das Lebenselixier kam von spinnwärts hierher in diese Stadt«, berichtete die alte Dame. »Aber ich weiß nicht, wie weit der Ursprung dieses Elixiers von hier entfernt ist. Ist das eines der Geheimnisse, weswegen du hierher in die Stadt gekommen bist?«

»Eines von mehreren Geheimnissen. Die Aufklärung dieses Rätsels wäre für mich ein wertvoller Schatz.« Ganz bestimmt gab es noch Lebensbaum-Pflanzen im Reparaturzentrum, überlegte Louis. Ich frage mich nur, was sie mit dem Lebensbaum anfangen. Selbstverständlich würde kein menschliches Wesen sich gerne in einen Protektor verwandeln, nicht wahr? Aber es konnten menschenähnliche Wesen sein, — denen danach verlangte . — Nun, es war nicht das wichtigste Rätsel, das er aufzuklären versuchte.

Whil war ein stämmiger Hominider mit einem Affengesicht, in ein Laken gewickelt, das seine ursprüngliche Farbe längst verloren hatte. Es sah jetzt aus wie ein aus den Fugen gegangener Regenbogen. Whil redete nicht viel. Seine Arme waren kurz und dick und sahen sehr kräftig aus. Er führte sie, die Werkzeugkiste unter dem Arm, die letzten paar Stufen zur Turmplattform hinauf. Draußen brach die Morgendämmerung herein.

Sie befanden sich auf dem Rand eines Trichters, auf dem Dach des Kegels, der die obere Hälfte des Gebäudes bildete. Der Rand des abgestumpften Kegels war nur dreißig Zentimeter breit. Louis stockte der Atem in der Kehle. Ohne sein Fluggeschirr litt er an Höhenangst. Der Wind bauschte Whils Laken zu einer vielfarbigen Flagge auf.

Laliskareerlyar fragte: »Nun? Kannst du den Wasserkondensator reparieren?«

»Nicht von hier aus. Dort unten hinter der Trichterwand muß sich noch eine Maschine befinden.«

Das war der Fall; aber die Maschine konnte man nicht so leicht erreichen. Da war ein Schneckengang, der nicht viel breiter war als Louis Wu. Whil kroch vor ihm her und öffnete Klappen und Schieber, auf die Louis Wu deutete.

Der Kriechgang war so angelegt wie die Windungen eines Schneckengehäuses. Zweifellos führte er um die Maschine herum, die den Trichter umgab. Vermutlich sollte sich das Wasser auf der Oberfläche des Trichters niederschlagen. Aber wie funktionierte das Ding? Durch eine Kühlvorrichtung? Oder hatten sie etwas Raffinierteres für das Kondensieren für Wasser erfunden?

Die Anlage, die sich unter den Gehäuseplatten versteckte, war außerordentlich kompakt, aber für Louis Wu ein vollkommenes Rätsel. Nichts, was er an Maschinen kannte, ließ sich damit vergleichen. Die Anlage war blitzsauber. Bis auf. ja. Er hielt den Atem an und beugte sich tief über die Anlage. Eine drahtdünne Wurmspur aus Staub war auf dem blanken Metall zu erkennen. Louis versuchte herauszufinden, wo dieser zersetzte Draht ursprünglich befestigt gewesen sein mußte. Er ging von der Annahme aus, daß der Rest der Anlage immer noch betriebsfähig war.

Er kroch wieder aus der Inspektionsluke. Er hatte sich von Whil dicke Handschuhe und eine Rundzange mit nadelfeinen Spitzen geben lassen. Er schnitt ein Stück vom Rand des schwarzen Tuches ab, das er in seiner Westentasche bei sich führte, und drehte es zusammen. Er spannte es zwischen zwei Kontakten aus und befestigte es dort.

Aber nichts Auffälliges geschah. Er setzte den Weg durch den Schneckengang fort, kroch dicht hinter Whil her. Alles in allem fand er sechs wurmförmige Staubspuren. Er befestigte sechs zusammengedrehte Streifen von seinem Superleiter-Tuch an Stellen, wo sie seiner Ansicht nach hingehörten.

Endlich kam er wieder aus dem Schneckengang heraus. »Es könnte natürlich sein, daß die Energiezufuhr vor vielen Jahren ausgefallen ist«, sagte er.

»Wir werden es erleben«, erwiderte die alte Dame. Sie stieg die Treppe bis zum Dach und dem Trichterrand hinauf. Louis und Whil folgten ihr.

Die glatte Oberfläche des Trichters schien sich mit einem leichten Niederschlag überzogen zu haben. Louis kniete sich auf den Trichterrand und berührte die Metallwand. Sie war naß. Das Wasser war warm. Schon bildeten sich große Tropfen, die abperlten und an dem Trichter hinunterrollten bis zu einem Sieb über einer Rohranlage. Louis nickte nachdenklich. Er hatte wieder eine gute Tat vollbracht, die in fünfzehn Falans bedeutungslos sein würde.

20. Der Clan der Familien

Knapp unterhalb der breiten Hüfte des Doppelkegels befand sich ein Raum in dem Lyar-Gebäude, der eine Kombination aus Empfangshalle und Schlafzimmer darstellte. Ein riesiges kreisrundes Bett mit einem Betthimmel, Sofas und Sessel waren um große kreisrunde Tische gruppiert. Eine Fensterwand schaute auf die Schattenfarm hinunter; eine Bar zog sich an einer anderen Wand hin, groß genug, um den Gästen eine riesige Auswahl von Getränken zu bieten. Aber die Auswahl gehörte der Vergangenheit an. Laliskareerlyar goß aus einer Kristallkaraffe etwas in ein Trinkgefäß mit zwei Henkeln, nippte an dem Gefäß und reichte es dann Louis weiter.

Er fragte: »Werden hier Audienzen abgehalten?«

Sie lächelte. »So könnte man es nennen. Familientreffen.«

Orgien? Sehr wahrscheinlich, falls Rishathra die wichtigste Einrichtung war, um die Lyar-Familie zusammenzuhalten. Eine Familie, über die eine schwere Zeit gekommen war. Louis nippte an dem Trinkgefäß. Es war der gleiche Nektar, den er von Vala erhalten hatte. Die Sitte, aus einem Gefäß zu trinken und zu essen — stand die Furcht vor einem Gift dahinter? Aber sie benahm sich so natürlich und ungezwungen, als sie ihm das Gefäß reichte. Und schließlich gab es ja keine Krankheiten auf der Ringwelt.

»Was du für uns getan hast, wird unser Prestige und unser Vermögen mehren«, sagte Laliskareerlyar. »Nun sage, was du dafür haben möchtest.«

»Ich muß die Bibliothek erreichen, sie betreten und die Leute, die die Bibliothek beherrschen, dazu überreden, daß ich frei darüber verfügen kann.«

»Das wird sehr teuer für uns werden.«

»Aber es ist nicht unmöglich, nicht wahr? Das ist gut.«

Sie lächelte. »Viel zu teuer für uns. Die Beziehungen zwischen den verschiedenen Gebäuden sind sehr verwickelt. Der Zehner-Klub beherrscht den Tourismus.«

»Zehner-Klub?«

»Zehn große Gebäude, Louis Wu, die mächtigsten der Stadt. Neun von ihnen haben immer noch Beleuchtungsanlagen und Wasserkondensatoren. Sie haben die Brücke auf den Himmelshügel erbaut. Deshalb beherrschen sie auch das Touristik-Gewerbe, bezahlen Gebühren an die geringeren Gebäude, um sie für die Unterbringung von fremden Gästen zu entschädigen, die Gebühren zu bezahlen, wenn die Gäste öffentliche Gebäude besuchen und die Kosten zu bestreiten, wenn in privaten Gebäuden Sonderveranstaltungen für fremde Gäste abgehalten werden. Dafür haben sie das Recht, alle Verträge mit anderen Rassen abzuschließen; zum Beispiel mit den Maschinen-Leuten, die uns mit Wasser versorgen. Wir müsen dem Zehner-Klub dafür Wassergebühren bezahlen und Abgaben für Sonderkonzessionen. Deine Bitte fällt unter diese Sonderkonzession. obwohl wir bereits Gebühren an die Bibliothek abführen — eine Ausbildungssteuer.«

»Die Bibliothek gehört zum Zehner-Klub?« »Ja, Luweewu, wir haben nicht soviel Geld, um diese Sonderkonzession bezahlen zu können. Gibt es eine Möglichkeit, daß du der Bibliothek einen Dienst erweisen kannst? Vielleicht sind die Nachforschungen, die du in der Bibliothek anstellst, für den Zehner-Klub wertvoll.«

»Das wäre möglich.«

»Sie würden uns einen Teil der Konzessionsgebühren zurückerstatten, wenn du ihnen einen Dienst leistest. Vielleicht können sie dir mehr geben als wir. Aber wir haben das Geld nicht, um dir eine Sonderkonzession zu erwirken. Könntest du ihnen deine Licht-Waffe verkaufen oder die Maschine, die für dich redet?«

»Ich glaube, beides sollte ich lieber behalten.«

»Oder kannst du noch andere Wasserkondensierer reparieren?«

»Vielleicht. Sagten Sie nicht eben, daß ein Gebäude vom Zehner-Klub einen defekten Wasserkondensierer besitze? Warum gehört es dann noch dem Zehner-Klub an?«

»Das Orlry-Gebäude gehört seit dem Fall der Städte zu diesem Klub. Kraft Traditionsrecht gehört es immer noch dazu.«

»Was für eine Funktion erfüllte das Gebäude, als die Städte zerfielen?«

»Es war eine militärische Anlage, ein Lagerhaus für Waffen.« Sie ignorierte Louis' Lachen. »Sie haben eine Schwäche für Waffen. Dein Licht-Werfer.«

»Den möchte ich ihnen lieber nicht anvertrauen. Aber vielleicht sind sie schon damit zufrieden, wenn ich ihnen den Wasserkondensierer instandsetze.«

»Ich werde mich erkundigen, welche Gebühren sie verlangen, damit du das Orlry-Gebäude betreten kannst.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Nein. Wächter müssen dich begleiten, damit du keine Waffen aus dem Gebäude stiehlst. Du mußt eine Eintrittsgebühr bezahlen, damit du die alten Waffen überhaupt sehen darfst, und diese Gebühr verdoppelt sich, falls die Warfen vorgeführt werden sollen. Wenn du Zutritt zu den technischen Anlagen erhältst, könntest du vielleicht ihre Schwächen auskundschaften. Ich muß mich erst erkundigen, was es kostet.«

Sie erhob sich aus einem Sessel. »Sollen wir jetzt das Rishathra vollziehen?«

Louis hatte diese Frage eigentlich schon früher erwartet, und es lag nicht an Laliskareerlyars seltsamer Erscheinung, daß er zögerte, sondern an der Angst, seinen Panzeranzug und seine Werkzeuge abzulegen. Er erinnerte sich an ein altes Bild von einem König, der auf seinem Thron saß und vor sich hinbrütete. Ich bin paranoid. Aber bin ich auch paranoid genug?

Aber reif für das Bett war er schon lange. Er mußte den Lyars blindlings vertrauen. »Gut«, sagte er und begann sich seines Schutzanzuges zu entledigen.

Das Alter hatte eine seltsame Verwandlung mit Laliskareerlyar vorgenommen. Louis kannte noch Bilder und Schilderungen aus der Literatur und Theaterstücken, die vor der Erfindung der Verjüngungsdroge verfaßt worden waren. Das Alter war eine die Menschen verkrüppelnde Krankheit. aber die Frau war nicht verkrüppelt. Zwar hing die Haut nur lose an ihrem Körper, und ihre Glieder waren nicht so biegsam wie bei Louis. Aber sie besaß eine schier endlose Neugierde, was die Liebe betraf und die ihr ungewohnten Reaktionen von Louis Körper.

Es dauerte sehr lange, ehe er einschlafen durfte. Er hatte ihre Neugierde nicht befriedigt, als sie ihn fragte, was die Plastikscheibe unter seinem Zopf bedeutete. Er wünschte, sie hätte ihn nicht daran erinnert. Der Hinterste hatte noch einen funktionierenden Wonnestecker. und er verdammte sich dafür, daß er sich danach sehnte.


Erst gegen Abend wachte er wieder auf. Das Bett bewegte sich zweimal unter ihm, und er blinzelte und rollte sich auf den Rücken. Er sah Laliskareerlyar und einen Mann von der Städtebauer-Rasse neben sich stehen, der ebenfalls schon vom Alter gezeichnet war.

Laliskareerlyar stellte ihn als Fortaralisplyar vor, ihren rechtmäßigen Ehepartner und Louis' Gastgeber. Er bedankte sich bei Louis für die Reparaturarbeit an der alten Maschine auf dem Dach. Das Abendessen stand bereits auf dem Tisch, und Louis wurde eingeladen, es mit dem Ehepaar zu teilen: eine große Schüssel voller Eintopf, eine zu simple Kost für Louis' Gaumen. Er aß ohne viel Appetit.

»Orlrys Gebäude verlangt mehr, als wir besitzen«, sagte Fortaralisplyar zu Louis, »aber wir haben für dich das Recht erkauft, drei unserer Nachbargebäude zu betreten. Wenn es dir gelingt, auch nur einen von ihren Wasserkondensatoren zu reparieren, können wir dir den Zutritt zum Orlry-Gebäude verschaffen. Bist du damit zufrieden?«

»Ausgezeichnet. Ich brauche Maschinen, die seit elfhundert Jahren nicht mehr arbeiten und an denen in der Zwischenzeit nicht herumgepfuscht wurde.« »So sagte es mir meine Partnerin.«

Louis überließ sie mit hereinbrechender Dunkelheit ihrem Schlaf. Sie hatten ihn eingeladen, sich gemeinsam mit ihnen in das Ehebett zu legen. Das Bett war groß genug dafür; aber Louis war ausgeschlafen und voller Tatendrang.

Der Wolkenkratzer war so still wie ein Grabmal. Von den oberen Stockwerken blickte Louis auf ein verwirrendes Labyrinth von Brücken herunter. Sie waren wie ausgestorben. Nur hin und wieder bemerkte er einen Nachtjäger mit seinen Riesenaugen. Nun ja. Wenn die Städtebauer daran gewohnt waren, zehn Stunden ihres Dreißig-Stunden-Tages zu verschlafen, konnten sie das ebensogut während der Dunkelheit erledigen. Fragte sich, ob in den beleuchteten Wolkenkratzern auch alle Bewohner schliefen.

»Ich rufe den Hintersten«, sagte er.

»Ja, Louis. Müssen wir übersetzen?«

»Nicht nötig. Wir sind allein. Ich befinde mich in der fliegenden Stadt. Es wird einen oder zwei Tage dauern, bis ich in die Bibliothek vordringen kann. Ich glaube, ich sitze hier fest. Mein Fluggeschirr ist kaputt.«


»Chmeee will immer noch nicht auf meine Rufe antworten.«

Louis seufzte. »Was gitbt es sonst noch Neues?«

»In zwei Tagen hat meine erste Sonde einmal die Ringmauer umrundet. Ich kann sie anschließend zur fliegenden Stadt dirigieren. Möchtest du, daß ich direkt mit den Einwohnern verhandle? Wir sind erfahrene Vermittler. Wenigstens könnte ich dafür sorgen, daß man deinen Erzählungen Glauben schenkt.«

»Ich werde es dich wissen lassen. Wie steht es mit den Steuerdüsen der Ringwelt? Sind inzwischen noch mehr von diesen Apparaten auf der Ringmauer montiert worden?«

»Nein. Zu den einundzwanzig sind nicht mehr dazugekommen. Doch diese arbeiten einwandfrei. Kannst du sie von deinem Standort aus sehen?«

»Nein, nicht von hier aus. Hinterster? Könntest du etwas über die physikalischen Eigenschaften des Scrith, des Ringweltboden-Materials, erfahren? Seine Starke, seine Elastizität und seine magnetischen Eigenschaften?«

»Ich bin gerade dabei, die Daten zu erarbeiten. Die Ringmauer liegt im Bereich meiner Instrumente. Scrith ist viel dichter als Blei. Der Scrith-Boden der Ringwelt ist wahrscheinlich nicht einmal dreißig Meter dick. Ich werde dir meine Daten zeigen, wenn du zurückkommst.«

»Gut.«

»Louis, ich kann dir ein Transportmittel zur Verfügung stellen, wenn du dich in einer Notlage befindest. Es wäre einfacher für mich, wenn ich dir Chmeee schicken könnte.«

»Großartig! Was für eine Art von Transportmittel?«

»Du wirst auf meine Sonde warten müssen. Ich werde dir dann weitere Instruktionen übermitteln.«

Er beobachtete die verwaiste Stadt noch eine Weile lang, nachdem der Hinterste wieder abgeschaltet hatte. Er fühlte sich niedergeschlagen. Alleine in einem heruntergekommenen Wolkenkratzer in einer heruntergekommenen Stadt. Jetzt hätte er doch gerne den Ersatz-Wonnestecker.

Eine Stimme hinter seiner Schulter sagte: »Du sagtest zu meiner Herrin, daß du nicht zu den Nachtwesen gehörst.«

»Hallo, Mär Korssil. Wir benützen bei uns elektrisches Licht. Viele von uns machen dann die Nacht zum Tag. Abgesehen davon bin ich an kürzere Tage gewöhnt.« Louis drehte sich um.

Das großäugige menschenähnliche Wesen zielte wieder mit ihrer Waffe auf Louis. Sie sagte: »In den letzten Falans hat der Tag seinen Rhythmus verändert. Das bedrückt uns.«

»Ja.«

»Mit wem hast du soeben gesprochen?«

»Mit einem zweiköpfigen Monster.«

Mär Korssil ließ ihn am Fenster stehen. Vielleicht hatte er sie beleidigt. Louis Wu ging in Gedanken ein langes und ereignisreiches Leben durch. Er hatte die Hoffnung aufgegeben, in das bekannte Universum zurückzukehren. Er hatte den Wonnestecker aufgegeben. Vielleicht war auch der Zeitpunkt gegeben, noch mehr aufzugeben.


Das Chkar-Gebäude war ein aus Stein gegossener Vierkant, der mit Balkonen behängt war. Auf einer Seite war das Gebäude mit Schußnarben bedeckt, die an mehreren Stellen das Metallskelett freigelegt harten. Der Wasserkondensator auf dem Dach war ein leicht verkanteter Trog.

Ein uralter Explosionsgeschoß-Einschlag hatte kleine Metalltropfen im Getriebe der Maschinen-Anlage hinterlassen. Louis war sehr skeptisch, daß seine Reparaturarbeiten diese Anlage wieder in Betrieb setzen würden. Seine Ahnungen trogen nicht.

»Es ist allein meine Schuld«, versicherte ihm Laliskareerlyar.

Ich hatte vollkommen vergessen, daß vor zweitausend Falans das Chkar-Gebäude einen Krieg mit dem Orlry-Wolkenkratzer austrug.«

Das Panth-Gebäude glich einer Zwiebel, die auf ihrer Spitze stand. Louis vermutete, daß dieses Haus ursprünglich ein riesiger Sauna-Klub gewesen sein mußte. Er sah Schwitzkabinen, Schwimmbecken, Massagetische, eine Trimmdich-Halle und ein Solarium. Das Gebäude schien über reiche Wasservorräte zu verfügen. Und ein schwacher, ihm halb vertrauter Duft rief Erinnerungen an jüngste Ereignisse wach.

Das Panth-Gebäude hatte ebenfalls einen Krieg mit Orlry ausgefochten. Alte Krater legten Zeugnis davon ab. Ein kahlköpfiger junger Mann namens Arrivercompanth schwor, daß der Wasserkondensator unter den Kriegsereignissen nicht gelitten hatte. Louis entdeckte die Staubspuren in der Maschinenanlage und darüber die Kontakte. Als er seine Reparaturarbeiten erledigt hatte, bildeten sich Wassertropfen auf der Dachmulde, vereinigten sich zu einem Rinnsal und verschwanden in einem Ablauf.

Aber dann, als es ans Bezahlen ging, gab es Schwierigkeiten. Arrivercompanth und seine Leute hatten nur Versprechungen und Rishathra als Gegenleistung bieten wollen. (Und da erkannte Louis diesen Geruch wieder, der ihn in der Nase und im Kleingehirn kitzelte. Er befand sich in einem Hause des Lasters, und irgendwo waren in diesem Wolkenkratzer Vampire versteckt.) Laliskareelyar wollte den ausgehandelten Preis sofort in bar ausbezahlt haben. Louis versuchte, dem erregten Wortwechsel zu folgen. Er verstand soviel, daß der Zehner-Klub sehr unglücklich sein würde, wenn Panth aufhörte, Wasser von ihm zu beziehen. Und dann wäre er nur zu bereit, die Panth-Familie wegen Betruges mit einer Geldbuße zu belegen. Arrivercompanth war danach bereit, die ausgehandelte Summe zu bezahlen.

Gisk war so etwas wie ein Kondominium gewesen, als die Herrschaft der Städte zu Ende ging. Das Gisk-Gebäude war ein Würfel mit einem Lichthof in der Mitte. Der Wolkenkratzer wurde nur noch zur Hälfte bewohnt. Nach dem Geruch zu urteilen, den das Gebäude verströmte, hatte die Familie ihren Wasserverbrauch zu sehr eingeschränkt. Inzwischen war Louis schon recht vertraut mit der Anlage des Wasserkondensators. In wenigen Minuten hatte er seine Reparaturarbeiten erledigt, und der Kondensator arbeitete wieder. Die Gisk-Familie bezahlte prompt. Sie fielen vor Laliskareerlyar auf die Knie, um sich überschwenglich bei ihr zu bedanken. Aber ihren Diener, der die Reparatur durchgeführt hatte, würdigten sie keines Blickes. Auch gut.

Fortaralisplyar war entzückt. Er stopfte zwei Hände voll Metallmünzen in Louis' Westentaschen und erklärte ihm die verwickelte Etikette der Bestechung. Die Ausdrucksweise, mit der man dabei sein Gesicht wahren mußte, überstieg fast die Möglichkeit des Übersetzers. »Wenn du im Zweifel bist, tu es nicht«, erklärte ihm Fortaralisplyar.

»Ich werde dich morgen zum Orlry-Gebäude begleiten. Oberlasse das Feilschen mir.«


Das Orlry-Gebäude lag auf der Backbordseite der Stadt. Louis und Fortaralisplyar ließen sich viel Zeit, betrachteten erst einmal das Gebäude von außen und benützten die höchste Rampe, um sich einen besseren Oberblick verschaffen zu können. Fortaralisplyar war sehr stolz auf seine Stadt. »Selbst nach dem Fall der Städte erhielt sich ein Rest ihrer Zivilisation«, erklärte er. Er deutete auf ein Gebäude, das früher einmal das Schloß eines Kaisers gewesen war. Es war in einem schönen Stil erbaut, wenn auch von vielen Narben entstellt. Der Kaiser hatte versucht, sich zum Herrscher der Stadt aufzuschwingen, als sich das Orlry-Gebäude dem Stadtverband anschloß. Eine kannelierte Säule, die an den dorischen Stil des antiken Griechenlands erinnerte, trug nichts als sich selbst. Das war der Chank-Wolkenkratzer, der einmal ein Kaufhaus gewesen war. Wenn Chank nicht mit so vielen Vorräten beladen gewesen wäre, als der Wolkenkratzer in die Stadt kam — Vorräte an Nahrungsmitteln, an Delikatessen, an Kleidungsstücken, an Decken und Teppichen, ja sogar an Spielzeugen —, die man zum Tauschhandel mit den Maschinen-Leuten benützen konnte, wäre diese Stadt schon längst zu Grunde gerichtet gewesen. Von dem Keller des Chank-Gebäudes aus verlief die Himmelsstraße in Spiralen hinunter zum Himmels-Hügel.

Orlrys Wolkenkratzer war eine Scheibe, die eine Dicke von ungefähr fünfzehn Metern besaß und mindestens zehnmal so breit war. Der Wolkenkratzer erinnerte an eine Torte. Der massive Turm an der Peripherie, der mit Schießscharten und Waffenständen, mit brüstungsbewehrten Glacis und einem Kran versehen war, erinnerte Louis an die Brücke eines großen Schiffes — eines Schlachtschiffes. Der Gehsteig, der zu Orlrys Gebäude führte, war breit, aber es gab nur diesen einen Gehsteig und einen einzigen Zugang. Ab oberen Rand des Portales bemerkte Louis Hunderte von kleinen Vorsprüngen. Louis vermutete, daß sich früher darin Kameras oder andere Sensoren befunden hatten, die inzwischen längst ihren Geist aufgegeben hatten. Fenster waren statt dessen in die Seitenwände geschlagen worden, nachdem das Gebäude sich der schwebenden Stadt angeschlossen hatte. Louis sah, daß die Glasfenster sehr schlecht eingepaßt waren.

Fortaralisplyar war in gelbe und scharlachrote Roben gekleidet, die offensichtlich aus Pflanzenfasern bestanden: ein recht grobes Gewebe nach den Qualitätsansprüchen, die Louis an Kleider stellte, aber recht pompös, wenn man sie aus der Ferne betrachtete. Louis folgte ihm in das Orlry-Gebäude hinein, in einen großen Empfangssaal, wo Licht brannte, wenn auch mit schwankender Stärke. Alkohollampen brannten dutzendweise dicht unter der Decke.

Elf Städtebauer beiderlei Geschlechtes erwarteten sie dort. Sie waren fast identisch gekleidet — trugen weite Pumphosen und leuchtend bunt gefärbte Capes mit engen Manschetten. Die Säume der Capes waren asymmetrisch und kunstreich gekerbt. Waren das Rangabzeichen? Der weißhaarige Mann, der lächelnd auf sie zukam, um sie zu begrüßen, trug das am Rand am meisten gezackte Cape und eine Handwaffe unter der Achsel.

Er richtete das Wort an Fortaralisplyar: »Ich mußte ihn mit meinen eigenen Augen sehen — dieses Wesen, das uns Wasser aus Maschinen zaubern kann, die schon seit fünftausend Falans tot sind.«

Die Waffe an seinem abgewetzten Plastik-Schulterholster war klein, aber ohne Schnörkel, ganz auf Zweckmäßigkeit und Leistung getrimmt. Doch selbst mit einer Kanone hätte Filistranorlry nicht wie ein Krieger ausgesehen. Sein kleines Gesicht zeigte vergnügte Neugierde, als er Louis Wu von Kopf bis Fuß betrachtete. »Er scheint ein recht ausgefallenes Wesen zu sein, aber. Gut. Sie haben für ihn bezahlt. Wir werden sehen.« Er machte eine Handbewegung zu seinen Soldaten hin.

Sie durchsuchten Fortaralisplyar und anschließend Louis. Sie fanden seinen Handscheinwerfer, probierten ihn aus und gaben ihn an Louis zurück. Sie studierten stirnrunzelnd seinen Übersetzer, bis Louis sagte: »Dieses Gerät spricht für mich.«

Filistranorlry zuckte zusammen. »In der Tat! Wirst du mir dieses Gerät verkaufen?« Er richtete das Wort an Fortaralisplyar, der erwiderte: »Es gehört mir nicht.«

Louis sagte: »Ohne dieses Gerät würde ich stumm sein.« Orlrys Meister schien diese Antwort zu akzeptieren.


Der Wasserkondensator war eine kleine Versenkung im Zentrum von Orlrys kreisrundem Dach. Die Wartungsgänge unter dieser kleinen Kuhle waren viel zu klein für Louis. Selbst wenn er seinen Panzeranzug auszöge, hätte er diesen Gang nicht betreten können, und er hatte nicht vor, seinen Anzug abzulegen. »Was verwenden Sie zur Reparatur Ihrer Maschinen? Mäuse?«

»Hängende Leute«, erwiderte Filistranorlry. »Wir müssen sie für Repararurarbeiten mieten. Das Gebäude von Chilb hätte sie schon längst hierher schicken sollen. Siehst du noch andere Probleme?«

»Ja.« Inzwischen war er schon sehr vertraut mit dem Typ dieser Anlage. Louis hatte bisher drei Gebäude repariert und bei dem vierten eine Niete gezogen, weil bereits an der Anlage herumgepfuscht worden war. Er konnte zwar zwei Einzelteile unterscheiden, die Kontakte darstellen mußten. Aber als er den Staub darunter suchte, war er nicht da. »Hat man schon früher versucht, die Maschine zu reparieren?«

»Ich vermute, ja. Aber woher soll ich das wissen, nach fünftausend Falans

»Wir werden auf die Reparaturmänner warten. Ich hoffe, sie können meine Befehle befolgen.« Tanj! Irgendein Vertreter der Familie, der bereits lange beerdigt war, hatte die Dinge dadurch kompliziert, daß er die verräterischen Staubspuren entfernte. Aber Louis war überzeugt, daß er wußte, wo die Superleitern befestigt werden mußten.

»Hättest du Lust dazu, unser Museum zu besichtigen?« unterbrach Filistranorlry seinen Gedankengang. »Schließlich hast du für dieses Recht bezahlt.«

Louis war nie ein Waffennarr gewesen. Er erkannte jedoch die Prinzipien oder die formalen Zusammenhänge der Mordinstrumente, die hinter dicken Glaswänden ausgestellt waren. Die meisten dieser Waffen benützten chemisch angetriebene Projektile oder Sprengstoffe oder beides. Einige von ihnen verstreuten winzige Kugeln, die wie kleine Knallfrösche im Fleisch des Gegners explodierten. Die wenigen Laser, die er in der Ausstellung sah, waren sehr massiv gebaut und sperrig. Sie mußten früher einmal auf Traktoren oder Fluggeräten montiert gewesen sein; aber die hatte man wohl längst ausgeschlachtet und anderwärtig verwendet.

Ein Städtebauer traf inzwischen mit einem halben Dutzend Arbeiter im Gebäude ein. Die Angehörigen des Hänge-Volkes reichten mit ihrem Scheitel gerade an die unterste Rippe von Louis Brustkasten. Ihre Köpfe schienen für ihre Körper viel zu groß zu sein; ihre Zehen waren lang und sehr beweglich, und mit ihren Fingern schabten sie fast über den Boden hin. »Alles nur vergeudete Zeit«, sagte einer von ihnen.

»Arbeiten Sie ordentlich, und Sie werden dafür bezahlt«, wies ihn Louis zurecht. Der kleine Mann grinste nur höhnisch.

Sie trugen ärmellose Gewänder, die mit Taschen förmlich überladen waren, und die wiederum mit Werkzeugen. Als die Soldaten sie filzen wollten, legten sie schnell ihre Gewänder ab und ließen die Soldaten diese durchsuchen. Wahrscheinlich mochten sie es nicht, wenn man sie anfaßte.

So zierliche Leute. Louis flüsterte Fortaralisplyar zu: »Treibt ihr auch Rishathra mit diesen Wichten?«

Der Städtebauer gab mit einem gluckernden Lachen zurück: »Ja, aber sehr vorsichtig.«

Die Hängenden Leute drängten sich hinter Louis Wu Rücken zusammen und schielten ihm über die Schulter, als er die Inspektionsplatte von dem Maschinengehäuse abnahm. Er trug die isolierten Handschuhe, die er sich von Mär Korssil ausgeborgt hatte. »Diese Dinger da — so sehen die Kontakte aus. Ihr müßt nur noch einen Streifen von diesem Tuch hier und dort befestigen. Insgesamt werdet ihr sechs Kontaktpaare in der Anlage finden. Vielleicht sind sie auch noch durch wurmförmige Staubspuren kenntlich gemacht.«

Nachdem die Hängenden Leute mit ihren Werkzeugen im Schneckengang verschwunden waren, sagte Louis zu den Meistern von Orlry und Lyar: »Ich habe natürlich keine Ahnung, ob sie sich an meine Anweisungen halten. Ich wünschte mir, ich könnte ihre Arbeit selbst überprüfen.« Aber er erwähnte nichts von seinen anderen Besorgnissen.

In wenigen Minuten tauchten die Hängenden Leute wieder aus dem Schneckengang auf. Dann marschierten sie alle gemeinsam auf das Dach: die Arbeiter, die Soldaten, die Meister und Louis Wu. Dort schauten sie zu, wie sich Nebel bildete, kondensierte und schließlich Wasser in den Gulli der Zisterne rann.

Und sechs Hängende Leute wußten jetzt, wie man einen Wasserkondensator mit einem Stück schwarzen Tuches reparieren konnte.

»Ich möchte dieses schwarze Tuch kaufen«, sagte Filistranorlry.

Die Hänge-Leute und ihr Meister, der zu den Städtebauern gehörte, verschwanden schon wieder im Treppenhaus. Filistranorlry und zehn Soldaten hinderten Louis und Fortaralisplyar daran, die gleiche Rückzugsroute zu benutzen.

»Ich habe nicht vor, zu verkaufen«, sagte Louis.

Der silberhaarige Soldat sagte: »Ich hoffe, Sie hierzubehalten, bis ich Sie zum Verkauf überreden kann. Falls nötig, werde ich auch darauf bestehen, daß Sie mir Ihre sprechende Schachtel als Bonus dazulegen.«

Louis war auf so etwas gefaßt gewesen. »Fortaralisplyar —würde der Orlry-Clan Sie mit Gewalt hierbehalten?«

Lyars Meister blickte dem Meister des Orlry-Clans in die Augen, als er erwiderte: »Nein, Louis. Die Folgen wären für Orlry unangenehm. Die geringeren Clans würden sich zusammenschließen, um mich zu befreien. Der Zehner-Klub würde lieber zu einem Neuner-Klub werden, als den Boykott der Touristen hinzunehmen.«

Filistranorlry lachte: »Die geringeren Clans würden durstig werden.« und sein Lächeln erlosch, während Fortaralisplyars Grinsen zunahm. Der Lyar-Clan hatte jetzt soviel Wasser, daß er es sogar verschenken konnte.

»Du könntest mich nicht festhalten. Die Touristen würden von den Rampen gestoßen werden. Die Dramen im Chkar-Gebäude und die Wonnen des Panth-Clans wären dir verschlossen.«

»Dann geh!«

»Ich nehme Louis mit.«

»Das tust du nicht.«

Louis sagte: »Nehmen Sie das Geld und gehen Sie. Das Vereinfacht die Angelegenheit für alle Beteiligten.« Seine Hand steckte in seiner Tasche und fingerte mit dem Handscheinwerfer-Laser.

Filistranorlry hielt Fortaralisplyar einen Beutel hin. Dieser nahm ihn entgegen und zählte die Münzen. Dann ging er durch das Spalier der Soldaten und stieg die Treppe hinunter. Als er außer Sichtweite war, zog Louis die Kapuze seines Schutzanzuges über den Kopf.

»Ich biete einen hohen Preis. Zwölf.« Es folgte etwas Unübersetzbares. »Wir würden dich nicht betrügen«, fuhr Filistranorlry fort. Inzwischen ging Louis rückwärts auf den Rand des Daches zu. Er sah, wie Filistranorlry seinen Soldaten ein Zeichen gab, schwang herum und rannte los.

Die Brüstung des Daches war ein brusthoher Zaun: Eisenstangen, im Zickzackmuster, so geschmiedet, daß sie Ellenbogen-Wurzeln glichen. Die Schatten-Farm lag tief unter ihm. Louis rannte am Zaun entlang auf den Gehsteig zu. Die Soldaten folgten dichtauf, aber Filistranorlry blieb zurück und feuerte seine Pistole ab. Der Donner der Detonation war schrecklich, sogar furchterregend. Eine Kugel schlug in Louis Fußknöchel ein. Der Anzug wurde sofort hart, und er rollte wie eine gestürzte Statue über das Dach, rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Als sich zwei Soldaten auf ihn warfen, schwang er sich über den Zaun und ließ sich fallen.

Fortaralisplyar ging gerade den Gehsteig hinunter. Er drehte sich erschrocken um.

Louis landete flach auf dem Gesicht. Der Schutzanzug war beim Aufprall so hart wie Stahl geworden. Der seiner Gestalt angepaßte Sarg hielt ihn aufrecht, aber Louis war von der harten Landung wie betäubt. Hände halfen ihm wieder auf die Füße, eher er eigentlich aufstehen wollte. Fortaralisplyar stemmte seine Schulter unter Louis' Achsel und unterstützte ihn beim Gehen.

»Lassen Sie mich lieber los. Vielleicht schießen sie auf Sie«, sagte Louis keuchend.

»Das würden sie nicht wagen. Sind Sie verletzt? Ihre Nase blutet ja!«

»Das war es wert.«

21. Die Bibliothek

Sie betraten die Bibliothek durch eine kleine Vorhalle in der stumpfen Spitze des Kegels, also von unten.

Hinter einem breiten, massiven Schreibtisch arbeiteten zwei Bibliothekarinnen an den Leseschirmen: sperrige Dinger, die aussahen wie Kisten verschiedener Größe, die man zusammengeleimt hatte. Sie benützten Bücher-Mikrobänder, die durch ein Lesegerät geschoben wurden. Die Bibliothekarinnen sahen wie Hohepriesterinnen aus in ihren blauen Roben mit gezackten steifen Kragen. Es dauerte ein paar Minuten, ehe eine der beiden Bibliothekarinnen aufsah.

Ihre Haare waren pures frisches Weiß. Vielleicht war sie schon mit weißen Haaren auf die Welt gekommen, dachte Louis, denn sie sah nicht alt aus. Eine Frau auf der Erde würde an ihrer Stelle jetzt vielleicht an die erste Dosis ihrer Verjüngungsdroge gedacht haben. Sie war groß und schlank, sogar hübsch, dachte Louis. Selbstverständlich flachbrüstig, aber sonst appetitlich gerundet. Halrloprillalar hatte Louis dazu erzogen, einen Kahlkopf und einen gutgeformten Schädel für sexy zu halten. Wenn sie nur lächeln würde; aber selbst Fortaralisplyar gegenüber war sie grob und anmaßend: »Ja?«

»Ich bin Fortaralisplyar. Haben sie meinen Vertrag erhalten?«

Sie drückte auf die Tabulatur der Lesemaschine. »Ja. Ist es dieser da?«

»Er ist es.«

Erst jetzt betrachtete sie Louis. »Luweewu, können Sie mich verstehen?«

»Das kann ich, mit Hilfe dieses Gerätes.«

Als der Übersetzer zu sprechen anfing, bekam ihre ruhige Anmaßung Sprünge, aber nur einen Moment lang. Dann sagte sie: »Ich bin Harkabeeparolyn. Ihr Meister hat sich das Recht erkauft, daß Sie drei Tage lang unbegrenzt Nachforschungen anstellen können. Mit einer Option, Ihnen noch drei weitere Tage dieses Privileg zu erkaufen. Sie können sich ungehindert in der Bibliothek bewegen, wobei allerdings die Privaträume der Bibliothek von diesem Privileg ausgenommen sind. Die Privaträume sind mit Goldschrift markiert. Sie dürfen auch alle Maschinen benutzen, bis auf jene, die folgendermaßen gekennzeichnet sind.« Sie zeigte ihm, was sie meinte. Ein Muster aus orangefarbenen Krähenfüßen. »Wenn Sie so eine Maschine benützen wollen, brauchen Sie Hilfe. Dann kommen Sie zu mir oder zu einem anderen Beamten, dessen Kragen so geschnitten ist wie meiner. Sie dürfen auch den Speisesaal benützen. Wenn Sie schlafen oder baden wollen, müssen Sie in das Lyar-Gebäude zurückkehren.«

»Gut.«

Die Bibliothekarin sah ihn verwirrt an. Louis war selbst ein wenig erschrocken. Warum hatte er dieses Wort mit solcher Vehemenz ausgesprochen? Es kam ihm jetzt, daß das Gebäude des Lyar-Clans ihm vertrauter erschien als jede Wohnung, die er sich in Canyon genommen hatte.

Fortaralisplyar legte eine Reihe von Silbermünzen auf den Schreibtisch, verbeugte sich vor Louis und verschwand. Die Bibliothekarin wandte sich wieder ihrem Leseschirm zu. (Harkabeeparolyn. Er war es nämlich satt, sich sechssilbige Namen zu merken, aber diesen sollte er doch einmal auswendig lernen.) Harkabeeparolyn blickte sich um, als Louis sagte: »Es gibt einen bestimmten Ort, den ich gerne aufsuchen möchte.«

»Hier in der Bibliothek?«

»Hoffentlich. Vor einigen Jahren sah ich so einen Raum, den ich Ihnen jetzt beschreibe: Ich stand im Mittelpunkt eines Kreises, und der Kreis war diese Welt. Der Schirm im Mittelpunkt drehte sich, und man konnte jeden Teil dieser Welt in der Vergrößerung betrachten.«

»Wir haben einen Kartenraum. Gehen Sie die Treppe ganz nach oben.« Sie wandte sich wieder ab.


Eine enge Wendeltreppe aus Metall wand sich um die Mittelachse der Bibliothek. Da die Treppe nur am unteren und oberen Ende befestigt war, bog sie sich kräftig unter seinem Gewicht durch, als er sie erkletterte. Er kam an Türen vorbei, die mit Goldbuchstaben versehen waren. Sie waren alle verschlossen. In den oberen Stockwerken führten Torbogen zu langen Reihen von Leseschirmen, vor denen Stühle standen. Louis zählte sechsundvierzig Städtebauer, die vor den Lesegeräten saßen, und zwei ältliche Vertreter des Maschinen-Volkes, dazu noch ein untersetztes, sehr haariges Männchen unbestimmter Rasse und eine Koboldfrau, die ganz alleine in einem Leseraum saß.

Das oberste Stockwerk wurde von dem Kartenzimmer eingenommen. Er wußte sofort Bescheid, als er das Zimmer betrat.


Sie hatten das erste Kartenzimmer in einem verlassenen fliegenden Palast entdeckt. Die Wand des Kartenzimmers war ein Ring aus blauer Farbe, der mit weißen Punkten gesprenkelt war. Da waren auch Globen gewesen von zehn Welten mit Sauerstoffatmosphäre und ein Schirm, der vergrößerte Ausschnitte der Ringwelt zeigte. Aber die Szenen, die dort abgebildet wurden, waren schon mehrere tausend Jahre alt. Sie hatten ihm eine vitale Ringwelt-Zivilisation vorgegaukelt: Städte mit hellerleuchteten Gebäuden; Magnetfahrzeuge, die durch Ringschlaufen auf der Mauerkrone rasten; Flugzeuge von der Größe dieser Bibliothek; Raumschiffe, die mindestens zehnmal so groß waren.

Damals hatten sie nicht nach einem Reparaturzentrum gesucht. Sie hatten nur nach einem Fluchtweg von der Ringwelt Ausschau gehalten. Dazu hatten sich diese uralten Bänder natürlich nicht geeignet.

Zudem hatten sie es viel zu eilig gehabt. Also: dreiundzwanzig Jahre später versuchen wir es noch einmal in einer anderen Notlage.

Louis Wu trat aus dem Treppenhaus in den Mittelpunkt der Ringwelt hinein, die an der kreisrunden Wand schimmerte. Wo normalerweise die Sonne ihren Platz hatte, war jetzt Louis Wus Kopf. Die Karte der Ringwelt war sechzig Zentimeter groß und besaß einen Durchmesser von ungefähr hundertzwanzig Metern. Die Sonnenblenden hatten dieselbe Höhe, waren aber dem Zentrum viel näher, schwebten als Rechtecke von der Fläche von mehr als tausend Quadratfuß über einem pechschwarzen Fußboden, der mit Tausenden von Sternen gesprenkelt war. Auch die Decke war pechschwarz und zeigte Abertausende von Sternen.

Louis ging auf eine der Sonnenblenden zu und dann durch dieses Quadrat hindurch. Selbstverständlich waren das Hologramme. Auch die Sonnenblenden in dem Kartenraum, den er vor dreiundzwanzig Jahren betreten hatte, waren Hologramme gewesen. Aber in diesem Raum gab es keine Globen von erdähnlichen Welten.

Er drehte sich um, um sich den Rücken der Schattenblenden anzusehen. Er konnte keine Einzelheiten unterscheiden. Da war nichts als ein leicht nach innen gewölbtes pechschwarzes Rechteck.

Der Vergrößerungsschirm war besetzt.

Das war ein rechteckiger Schirm, der neunzig mal sechzig Zentimeter maß, mit Schaltern unter dem Rahmen und einem Laufgestell, das sich auf einer kreisrunden Schiene bewegen ließ, die zwischen den Sonnenblenden und der Ringwelt angeordnet war. Ein Junge stand vor dem Schirm, auf dem die vergrößerte Ansicht einer Bussard-Rammdüse abgebildet war. Die Bussard-Steuerdüse war in Betrieb, erglühte am Heck in einem gleißenden bläulichen Licht. Der Junge versuchte offenbar zu erkennen, was sich hinter dieser Steuerdüse befand.

Er mußte gerade erst mannbar geworden sein. Sehr dünnes, flaumiges braunes Haar bedeckte seinen Kopf, verdichtete sich erst über dem Nacken zu einer Mähne. Er trug die blaue Robe eines Bibliothekars. Sein Kragen war sehr breit, rechteckig geschnitten und wies eine einzige Kerbe auf. Louis fragte:

»Darf ich Ihnen über die Schulter sehen?«

Der junge Mann drehte sich um. Seine Gesichtszüge waren sehr schwach ausgeprägt, fast unlesbar, ein Rassemerkmal fast aller Städtebauer. Aber diese schwachgeprägten Züge ließen ihn älter erscheinen. »Steht Ihnen ein solches Wissen zu?«

»Der Lyar-CIan hat mir alle Privilegien dieser Bücherei erkauft.«

»Oh.« Der Junge drehte sich wieder dem Schirm zu. »Auch Sie werden auf dem Schirm nichts erkennen können. Und in zwei Tagen schalten sie die Rammen wieder ab.«

»Was wollen Sie denn beobachten?«

»Die Reparaturmannschaft.«

Louis blinzelte in das grelle Licht der Steuerdüsen. Ein blauweißer Lichtsturm wehte über den Schirm hin, der in seinem Mittelpunkt ein schwarzes Loch aufwies. Die Steuerdüse selbst war ein schwacher rosiger Punkt im Mittelpunkt des schwarzen Loches.

Elektromagnetische Kraftlinien fingen den heißen Wasserstoff der Sonnenwinde ein, leiteten ihn in eine bestimmte Richtung und komprimierten ihn bis zur Fusionstemperatur. Und dann stießen sie die durch die Kernverschmelzung entstandene Energie wieder in Richtung der Sonne aus. Maschinen bemühten sich in starrsinniger Sisyphusarbeit, die Ringwelt im unwiderstehlichen Sog der Schwerkraft ihrer Sonne festzuhalten, aber auf dem Schirm sah man nur ein blauweißes Licht und einen rosafarbenen Punkt auf der schwarzen Linie der Ring-Welt-Mauer.

»Sie sind fast fertig damit«, sagte der Junge. »Wir dachten, sie würden uns zu Hilfe rufen, aber sie ließen sich nicht bei uns sehen.« Die Stimme des Jungen klang nachdenklich.

»Vielleicht verfügt ihr hier nicht über die Werkzeuge, um ihre Stimmen zu empfangen.« Louis versuchte, seine Stimme ruhig zu halten. Eine Reparaturmannschaft! »Zudem gibt es dort nichts mehr zu tun. Sie haben keine Motoren mehr.«

»Nein. Sehen Sie.« Der Junge setzte den Beobachtungsschirm in Bewegung. Das Okular raste an der Mauerkrone entlang und hielt plötzlich an der Stelle an, die ein gutes Stück von den blauen Flammen entfernt war. Louis sah Metallstücke, die von der Mauerkrone herunterfielen.

Er betrachtete den Vorgang, bis er sich sicher war. Diese Metallstücke, ein großer, wie eine Spindel geformter Zylinder — das waren die zerlegten Bestandteile, die er bereits durch das Teleskop der Heißen Nadel betrachtet hatte. Das war das Gerüst, mit dessen Hilfe die Steuerdüsen wieder in die Halterungen am Rand der Ringwelt-Mauer eingehängt wurden.

Die Reparaturmannschaft mußte diese Ausrüstung verzögert haben, bis es die solare Umlaufgeschwindigkeit erreicht hatte. Dazu hatten sie einen Teil des Magnetring-Transportsystems benützt. Aber wie wollten sie diesen Prozeß umkehren? Die Maschine mußte am Ziel wieder auf die Rotationsgeschwindigkeit der Ringwelt beschleunigt werden.

Erreichten sie das durch Reibung mit der Atmosphäre? Diese Materialien konnten vielleicht genau so widerstandsfähig sein wie Scrith. Falls ja, würde ihnen die Reibungshitze nichts anhaben.

»Und hier.« Der Schirm bewegte sich wieder, diesmal spinnwärts auf die Raumhafen-Rampe auf der Ringmauer zu. Auf dem Schirm tauchten die vier großen Raumschiffe der Städtebauer auf. Heiße Nadel war ein kleiner heller Fleck daneben. Louis hätte ihn selbst in der Vergrößerung übersehen, wenn er nicht gewußt hätte, wo er das Raumschiff suchen mußte: eine Meile von dem Raumschiff entfernt, das immer noch eine Bussard-Rammdüse auf seiner Außenhaut trug.

»Sehen Sie das?« Der Junge deutete auf die kupferfarbenen Windungen der Toroide. »Das ist der letzte Motor, den sie noch ausbauen können. Wenn die Reparaturmannschaft ihn an der Ringmauer aufgehängt hat, wird sie arbeitslos.«

Inzwischen fielen Megatonnen von Baumaterial durch die Magnetschleifen der Ringwelt auf die Stelle zu, wo Heiße Nadel auf der Raumhafen-Rampe parkte. Zweifellos waren diese gewaltigen Mengen von Baumaterial auch von einem Heer von Monteuren begleitet. Das alles kam, auf einem magnetischen Kraftfeld schwimmend, auf den Hintersten zu.

Der Puppetier war ganz bestimmt nicht erfreut über diesen Besuch.

»Sie werden ihre Arbeit getan haben. Das ist richtig«, erwiderte Louis. »Aber es wird nicht reichen.«

»Wozu wird es nicht reichen?« »Darüber möchte ich nicht reden. Wie lange arbeitet diese Reparaturmannschaft schon auf der Ringmauer? Und wo kommt sie her?«

»Keiner will mir etwas sagen«, erwiderte der junge Mann schmollend. »Flup. Stinkender Flup. Warum sind sie alle so nervös? Warum frage ich Sie überhaupt? Sie wissen ja auch nichts.«

Louis ging nicht darauf ein. »Wer sind diese Leute? Woher wußten sie von der Gefahr?«

»Niemand weiß das. Wir hatten keine Ahnung von diesen Reparaturen, bis sie anfingen, die Maschinen in die Halterungen zu hängen.«

»Wie lange ist das her?«

»Acht Falans

Rasche Arbeit, dachte Louis. Vor anderthalb Jahren fingen sie also mit der eigentlichen Arbeit an, und man mußte noch ein paar Monate Vorbereitungszeit hinzurechnen. Wer waren diese Leute? Jedenfalls intelligent, entschlußfreudig, rasch zur Stelle, nicht zaghaft, große Projekte mit entsprechendem Aufwand anzupacken. Man konnte fast glauben, es handelte sich hier um. aber die Protektoren waren schon lange ausgestorben. Sie mußten ausgestorben sein.

»Haben sie auch noch andere Reparaturarbeiten durchgeführt?«

»Lehrer Wilp glaubt, daß sie die Lenzpumpen wieder in Gang gesetzt haben. Wir haben Nebelerscheinungen bei einigen Schüttbergen entdeckt. Ist das nicht eine große Sache, so eine Lenzpumpe wieder in Gang zu setzen?«

Louis dachte darüber nach. »Eine große Sache ganz bestimmt. Wenn man die Bagger auf dem Meeresboden wieder in Jetrieb setzen konnte. muß man immer noch die Röhren anheizen. Sie verlaufen unter dieser Welt. Der Schlamm vom Meeresboden würde in einem verstopften Rohr einfrieren, wenn man dieses nicht aufheizt.«

»Flup«, sagte der Junge.

»Wie bitte?«

»Das braune Zeug, das aus der Lenzpumpe herausfließt, wird Flup genannt.«

»Aha.«

»Wo kommen Sie her?»

Louis grinste: »Ich kam von den Sternen, darin.« Er langte über die Schulter des Jungen, um auf den winzigen, glitzernden Fleck zu zeigen, der auf dem Schirm die Heiße Nadel darstellte. Die Augen des Jungen wurden ganz groß.

Viel ungeschickter als der Junge lenkte Louis jetzt den Schirm auf die Route, die das Landungsboot von der Mauerkrone der Ringwelt aus genommen hatte. Er entdeckte eine weiße Wolke von der Größe eines Kontinents. Darunter mußte das Feld der Sonnenblumen liegen. Weiter drüben auf Backbord war ein großer grüner Sumpf, dann ein Fluß, der sich ein neues Bett gegraben hatte, während das alte sich als eine gewundene braune Ader im gelben Sand der Wüste abzeichnete. Er folgte dem ausgetrockneten Flußbett. Dann zeigte er dem Jungen die Stadt der Vampire. Der Junge nickte.

Der Junge verlangte danach, zu glauben. Menschen von den Sternen sind gekommen, um uns zu helfen! Aber er fürchtete sich davor, einen vertrauensseligen Eindruck zu machen. Louis grinste ihn an und fuhr fort, seinen Weg auf dem Schirm zu zeigen.

Das Land wurde wieder grün. Der Straße der Maschinen-Leute vermochte er mühelos zu folgen. Die Landschaft links und rechts der Straße, hatte einen ganz anderen Charakter. Dann kurvte der Fluß nach Backbord, um wieder in sein altes Bett zu münden. Er stellte die Vergrößerung höher und blickte jetzt auf die fliegende Stadt hinunter. »Wir«, sagte er.

»Dieser Anblick ist mit vertraut. Erzählen Sie mir lieber von den Vampiren.«

Louis zögerte. Aber schließlich waren die Artgenossen des Jungen die Experten der Ringwelt im Geschlechtsverkehr mit anderen Gattungen. »Sie können dich dazu zwingen, Rishathra mit ihnen zu treiben. Wenn du das tust, beißen sie dich in den Hals.« Er zeigte dem Jungen die bereits verheilte Bißwunde im Nacken. »Chmeee töteten den Vampir, der. mich angriff.«

»Warum haben die Vampire ihn nicht betört?«

»Chmeee läßt sich mit nichts auf dieser Welt vergleichen. Er läßt sich eher von einer Leberwurst-Pflanze verführen.«

»Wir stellen Parfüm aus dem Vampirsekret her«, sagte der Junge.

»Wie bitte?« War etwas mit dem Übersetzer nicht in Ordnung?

Der Junge lächelte ein bißchen altklug. »Eines Tages werden Sie das selbst erleben. Ich muß jetzt gehen. Werden Sie sich noch eine Weile hier aufhalten?«

Louis nickte.

»Wie heißen Sie eigentlich? Mich nennt man Kawaresksenjaok.«

»Luweewu.«

Der Junge ging in das Treppenhaus hinaus. Louis blickte stirnrunzelnd auf den Schirm hinunter.

Parfüm? Der Geruch nach Vampiren im Panth-Gebäude. und nun entsann sich Louis wieder der Nacht, als Halrloprillalar in sein Bett gekommen war, vor dreiundzwanzig Jahren. Sie hatte versucht, ihm ihren Willen aufzuzwingen. Sie hatte es wenigstens gesagt. Hatte sie auch den Duft der Vampire bei ihm verwendet?

Das spielte nun keine Rolle mehr. »Ich rufe den Hintersten«, sagte er. »Ich rufe den Hintersten.«

Nichts.

Der Schirm ließ sich nicht so bewegen wie ein Kreiselkompaß. Er zeigte immer nach außen, weg von den Sonnenblenden. Etwas enttäuschend, aber auch informativ: es konnte bedeuten, daß die Schirmbilder direkt von den Schattenblenden ausgestrahlt wurden.

Er verringerte den Maßstab auf dem Schirm. Er schickte den Fokus mit unglaublicher Geschwindigkeit spinnwärts, bis er auf eine Wasserwelt hinunterblickte. Er stürzte hinein wie ein Engel, der einen Kopfsprung vom Himmel herunter macht. Das machte Spaß. Die optischen Einrichtungen der Bibliothek waren erheblich besser als das Teleskop der Heißen Nadel.

Die Landkarte der Erde war uralt. Eine halbe Million Jahre hatte die Anordnungen der Kontinente verändert. Oder war die Karte noch viel älter? Eine Million Jahre? Zwei Millionen Jahre? Ein Geologe würde das gewußt haben.

Louis bewegte sich von antispinnwärts nach Steuerbord, bis die Landkarte von Kzin den Schirm ausfüllte: Inseln drängten sich um eine Platte aus schimmerndem Eis. Und wie alt war die Topographie dieser Landkarte? Das konnte wiederum nur Chmeee wissen.

Louis dehnte den Blickwinkel aus. Er summte leise vor sich hin, während er über einen gelborangefarbenen Dschungel hinhuschte. Sein Blickpunkt kreuzte ein breites Silberband. Es folgte dem Fluß bis zum Meer. Wo die Flüsse sich vereinigten, mußten sich Städte befinden.

Fast wäre er darüber hinweggehuscht. Ein Delta, wo zwei Flüsse sich vereinigten; ein blasses Gittermuster, das sich über die Dschungelfarben legte. Manche menschlichen Städte hatten »Grüngürtel«, aber in dieser Stadt der Kzinti mußten diese Grünflächen viel größer sein als die Gebäude. Als Louis die höchste Vergrößerung einstellte, konnte er gerade noch das Muster der Straßen ausmachen.

Die Kzinti hatten nie eine Vorliebe für große Städte entwickelt. Dafür war ihr Geruchssinn zu fein entwickelt. Diese Stadt war fast so groß wie der Regierungssitz des Patriarchats auf der echten Welt von Kzin.

Sie hatten Städte. Was hatten sie noch? Falls sie eine Industrie entwickelt hatten, brauchten sie. Seehäfen? Bergwerksstädte? Er mußte weiter suchen.

Hier war der Dschungel nur noch ein gelichteter Buschwald. Das Gelb-Braun der nackten Erde schimmerte zwischen den Bäumen in einem Muster, das keinesfalls eine Stadt sein konnte. Es glich einer Armbrust-Zielscheibe, die sich bei zu großer Hitze etwas verworfen hatte. Möglicherweise handelte es sich dabei um eine sehr alte und sehr große Tagebau-Mine.

Vor einer halben Million Jahren oder zu einer noch weiter zurückliegenden Zeit hatte man hier ein paar Kzinti als Muster ausgesetzt. Louis rechnete nicht damit, eine Bergwerksstadt zu finden. Sie konnten froh sein, wenn es dort überhaupt noch etwas abzubauen gab. Eine halbe Million Jahre waren sie auf eine einzige Welt beschränkt gewesen — eine Welt, deren Oberfläche schon nach dreißig oder vierzig Metern zu Ende war. Aber offenbar hatten die Kzinti auf dieser Welt ihre Zivilisation bewahren können.

Diese Katzenwesen waren keine Dummköpfe. Sie hatten eine eindrucksvolle interstellare Zivilisation beherrscht. Tanj, es waren die Kzinti gewesen, die den Menschen den Gebrauch von Schwerkraft-Generatoren lehrten. Und Chmeee mußte schon vor Stunden die Landkarte der Kzin erreicht haben auf der Suche nach Bundesgenossen gegen den Hintersten.

Louis war dem Fluß bis zum Meer gefolgt. Nun huschte er mit seinem »Gottesauge« nach »Süden«, an der Küste des größten Kontinents der Kzin-Karte entlang. Er erwartete, dort Häfen zu entdecken, obgleich die Kzinti sich nicht gerne Schiffen anvertrauten. Sie mochten das Meer nicht. Ihre Seehäfen waren eher Industriezentren. Keiner von den Kzinti wohnte zu seinem Vergnügen an der Küste.

Aber das galt auch für das echte Imperium der Kzinti, wo man Schwerkraftgeneratoren schon seit Jahrtausenden verwendete. Louis blickte jetzt durch sein »Gottesauge« auf einen Hafen hinunter, der durchaus mit New York konkurrieren konnte. Da schlugen die Wellen an die Molen, von Schiffen erzeugt, die mann gerade noch zu erkennen vermochte. Das Hafenbecken war so rund wie ein Meteorkrater.

Louis ging mit der Vergrößerung wieder hinunter, rückte den Blickpunkt höher in den Himmel hinauf, um eine bessere Übersicht zu erhalten.

Seine Augenlider zuckten. Hatte sein Unvermögen, Entfernungen zu schätzen, ihm wieder einen Streich gespielt? Oder hatte er die Hebel falsch bedient?

Da war ein Schiff, das quer im Hafenbecken vertäut lag. Im Vergleich zur Größe des Schiffes sah das Hafenbecken aus wie eine Badewanne.

Aber die Bugwellen der kleineren Schiffe waren immer noch zu erkennen. Das Schiff war also echt. Er sah auf einen Ozeandampfer hinunter, der so groß war wie eine Stadt. Mit diesem Schiff konnte man die Mündung dieses Naturhafens vollkommen versperren.

Sie würden diesen Dampfer nicht oft bewegen, dachte Louis. Die Schiffsschrauben mußten den Schlamm vom Meeresboden aufwirbeln. Wenn das Schiff den Hafen verließ, mußte sich auch das Wellenmuster im Hafenbecken verändern. Und wie wollten die Kzinti so ein riesiges Seefahrzeug mit Treibstoff versorgen? Hatten sie überhaupt den Treibstoff für so ein gewaltiges Schiff? Und woher hatten sie das Metall für diesen Giganten genommen?

Weshalb hatten sie das Ding überhaupt gebaut?

Louis hatte sich bisher keine ernsthaften Gedanken darüber gemacht, ob Chmeee auf der Landkarte von Kzin finden würde, was er suchte. Doch jetzt glaubte er fast daran.

Er drehte wieder an den Bedienungseinrichtungen der Optik. Sein Blickpunkt wich hinter die Atmosphäre bis ins All zurück, daß die Landkarte von Kzin nur noch ein Muster kleiner Punkte auf einer riesigen blauen Fläche war. Andere Weltkarten tauchten am Rande des Schirmes auf.

Die Weltkarte, die der Topographie von Kzin am nächsten lag, stellte sich als runder rosiger Punkt dar. Das war die Weltkarte des Mars. und sie war von der Weltkarte der Kzin genauso weit entfernt wie der Mond von der Erde.

Wie konnte man solche Entfernungen überhaupt bewältigen? Selbst mit einem Teleskop konnte man höchstens zweihunderrtausend Meilen Atmosphäre optisch bewältigen. Wenn man sich vorstellte, daß man diese Entfernung mit einem Schiff zurücklegen wollte — selbst mit einem Schiff von der Größe einer Kleinstadt — tanj!

»Ich rufe den Hintersten. Louis Wu ruft den Hintersten.« Die Zeit brannte Louis Wu auf den Nägeln, während ein Heer von Monteuren sich auf die Heiße Nadel zubewegte und Chmeee die Weltkarte von Kzin nach Kriegern absuchte. Louis hatte nicht vor, den Hintersten über diese Vorgänge zu unterrichten. Damit würde er den Puppetier nur aufregen.

Aber was lenkte den Hintersten so sehr ab, daß er nicht einmal einen Funkruf beantworten konnte?

Doch was wußte ein Mensch schon davon, was ein Puppetier trieb, wenn er sich unbeobachtet fühlte.

Also setze deine Beobachtungen fort.

Louis schraubte den Maßstab so weit herunter, bis er beide Ringmauern zugleich sehen konnte. Er suchte nach der »Faust Gottes« in der Nähe der Mittellinie der Ringwelt, die sich auf der Backbordseite des großen Ozeans befand. Er vermochte den Berg nicht zu entdecken. Er vergrößerte den Maßstab. Eine Wüste, deren Fläche größer war als die Erde, gehörte auf diesem Planeten immer noch zu den kleinen topografischen Erscheinungen. Aber da war sie — rötlich und kahl. Und der Fleck in der Mitte war. die »Faust Gottes«, tausend Meilen hoch, der Gipfel ein Krater, von nacktem Scrith umgeben.

Er suchte die Backbordseite des riesigen Berges ab, entdeckte die Schleifspur, die bei der Notlandung der Liar entstanden war. Und dann erreichte er wieder die Küste, ein weit vorgeschobener Seitenarm des Großen Ozeans. Damals hatten sie an der Küste der Bucht gestanden. Louis suchte nun nach dem Orkanauge unter der »Faust Gottes«.

Aber die Wolke, die zu diesem Wirbelsturm gehörte, war verschwunden.

»Ich rufe den Hintersten! Im Namen von Kdapt und Finagle und Allah rufe ich den Hintersten! Tanj, ich rufe.«

»Ich bin hier, Louis.«

»Okay! Ich befinde mich in einer Bibliothek in der fliegenden Stadt. Sie haben hier ein Kartenzimmer. Ich verweise auf die Aufzeichnungen von Nessus, die sich auf das Kartenzimmer beziehen, welches wir.«

»Ich kenne die Aufzeichnungen«, unterbrach ihn der Puppetier kalt.

»Okay. Das Kartenzimmer, das wir damals besuchten, hatte nur alte Videobänder. Aber dieses hier zeigt die Welt der Gegenwart!«

»Bist du dort sicher?«

»Sicher? Oh, verhältnismäßig. Ich benützte das Superleitertuch, um mir Freunde und einen gewissen Einfluß zu verschaffen. Aber ich bin jetzt in der fliegenden Stadt gefangen. Selbst wenn ich mir durch Bestechungsgeschenke den Weg aus der Stadt freikaufe, muß ich noch an der Station der Maschinen-Leute auf dem Himmelshügel vorbei. Ich möchte mir nicht gerne den Fluchtweg freischießen.«

»Sehr klug.«

»Was gibt es Neues bei dir?«

»Zweierlei. Erstens habe ich Hologramme von den beiden anderen Raumhäfen erhalten. Alle elf Schiffe sind ausgeschlachtet.«

»Das bedeutet, alle Bussard-Rammdüsen wurden entfernt, nicht wahr?«

»Ja, alle.«

»Und zweitens?«

»Du kannst keine Hilfe von Chmeee erwarten. Das Landungsboot ist auf der Weltkarte von Kzin im Großen Ozean niedergegangen«, berichtete der Puppetier. »Ich hätte das sofort wissen müssen. Der Kzin ist desertiert und hat das Landungsboot mitgenommen.«

Louis fluchte leise. Er hätte diesen kühlen, leidenschaftslosen Ton sofort durchschauen müssen. Der Puppetier war schrecklich aufgeregt. Er hatte keine Kontrolle mehr über die feinen Nuancen der menschlichen Sprache. »Wo befindet er sich jetzt? Was tut er im Augenblich?«

»Ich beobachtete ihn durch die Kameras des Landungsbootes, als er die Weltkarte von Kzin umkreiste. Er fand dort ein geräumiges, seetüchtiges Schiff.«

»Ich fand das ebenfalls.«

»Und deine Schlüsse?«

»Sie versuchten, die anderen Weltkarten zu erforschen oder zu kolonisieren.«

»Ja. Im bekannten Weltall haben die Kzinti schließlich auch andere stellare Systeme erobert. Auf der Weltkarte von Kzin müssen sie neugierig geworden sein, was am anderen Ende des Ozeans liegt. Natürlich halte ich es nicht für wahrscheinlich, daß sie auch hier die Raumfahrt entwickelten.«

»Nein.« Der erste Schritt auf dem Weg zur Raumfahrt ist der Versuch, ein Objekt in eine Umlaufbahn zu bringen. Auf der Welt von Kzin betrug die niedrigste Umlaufgeschwindigkeit ungefähr sechs Meilen pro Sekunde. Auf der Weltkarte des Kzin hätte man für eine Umlaufgeschwindigkeit den Gegenstand auf siebenhundertsiebzig Meilen pro Sekunde beschleunigen müssen. »Sie können auch nicht sehr viele von diesen Riesenschiffen gebaut haben. Woher wollten sie die Metalle für diese Wasserfahrzeuge hernehmen? Und eine Seereise mit so einem Schiff dauerte im besten Fall Jahrzehnte. Ich frage mich sogar woher sie wissen konnten, daß es noch andere Weltkarten auf diesem Ozean gibt.«

»Vielleicht schossen sie teleskopische Kameras mit Raketen in den Weltraum. Die Kameras mußten aber sehr rasch arbeiten. Eine ballistische Rakete erreicht keinen Orbit. Sie steigt in die Stratosphäre und fällt dann wieder herunter.«

»Ich frage mich, ob sie sogar bis zur Weltkarte der Erde vorgestoßen sind? Immerhin liegt sie noch hunderttausend Meilen jenseits des Mars. und Mars eignet sich nur sehr schlecht als Aufmarschgebiet für eine große Invasion.« Was würden die Kzinti auf der Weltkarte der Erde gefunden haben? Nur einen Homo habilis oder etwa auch Pak-Protektoren? »Ich entdeckte auch eine Weltkarte von Down auf Steuerbord, aber ich kenne die Welt nicht, die antispinnwärts liegt.«

»Wir kennen sie. Die Eingeborenen sind kommunale Intelligenzen. Wir erwarten, daß sie niemals die Entwicklungsstufe der Raumfahrt erreichen. Ihre Schiffe müßten einen ganzen Bienenstaat transportieren.«

»Gastfreundlich?«

»Nein. Sie würden sich heftig gegen die Kzinti gewehrt haben. Und die Kzinti haben eindeutig den Versuch aufgegeben, den Großen Ozean zu erobern. Sie scheinen dieses Riesenschiff nur noch zur Blockade ihres Hafens zu benutzen!«

»Ja. Ich vermute, dort befindet sich auch der Regierungssitz. Du hattest aber anfangs von Chmeee gesprochen.«

»Zunächst kreiste er über der Weltkarte von Kzin, um die Lage zu erkunden. Dann schwebte er über dem großen Schiff. Flugzeuge stiegen auf und griffen ihn mit Explosiv-Raketen an. Chmeee ließ das zu, und die Raketen konnten ihm auch nichts anhaben. Dann zerstörte Chmeee vier Flugzeuge. Die übrigen setzten ihre Angriffe fort, bis ihr Waffen- und Treibstoffvorrat erschöpft war. Als sie zu dem großen Schiff zurückkehrten, folgte Chmeee ihnen zum Landedeck. Das Landungsboot befindet sich im Augenblick auf dem Landedeck des Riesenschiffes. Dort werden die Angriffe gegen Chmeees Landungsboot fortgesetzt. Louis, sucht er Verbündete gegen mich?«

»Falls es dich beruhigen kann — er wird auf der Weltkarte von Kzin nichts finden, das einer General-Product-Zelle etwas anhaben könnte. Diese Burschen können ja nicht einmal das Landungsboot knacken.«

Es folgte eine lange Pause. Dann: »Vermutlich hast du recht. Die Flugzeuge verwendeten mit Wasserstoff angetriebene Düsen und Raketen, die von chemischen Exposivstoffen angetrieben werden. Jedenfalls muß ich dich jetzt selbst retten. Du mußt dich darauf vorbereiten, daß die Sonde mit Einbruch der Abenddämmerung dich abholt.«

»Und was dann? Da liegt immer noch die Ringmauer dazwischen. Du sagtest mir; die Transportscheiben könnten das Scrith-Material nicht durchdringen.«

»Ich habe die zweite Sonde mit Transportscheiben ausgerüstet. Sie wartet auf der Ringmauer als Relaisstation.«

»Wenn du es sagst, wird es so sein. Ich befinde mich in einem Gebäude an der Backbord-Spinnwärts-Peripherie der Stadt. Das Dach ist geformt wie ein stumpfer Kegel. Stelle die Sonde so ein, daß sie über dem Gebäude schwebt, bis wir uns einig sind, was mir ihr geschehen soll. Ich bin nicht sicher, daß ich bereits heute abend wieder abreisen möchte.«

»Das mußt du aber.«

»Aber alle Antworten, die wir brauchen, könnten sich direkt vor meiner Nase hier in der Bibliothek befinden!«

»Und hast du bereits etwas gefunden?«

»Bisher nur Bruchstücke. Aber alles, was Halrloprillalars Artgenossen erforscht und erfunden haben, ist irgendwo in diesem Gebäude versteckt. Ich möchte auch die Kobolde ausfragen. Sie sind die Müll- und Aasbeseitiger, und sie scheinen überall auf dieser Welt zu sein.«

»Bisher hast du nur gelernt, noch mehr Fragen zu stellen. Also gut, Louis. Du hast mehrere Stunden Zeit für deine Nachforschungen. Und mit dem Einbruch der Abenddämmerung kommt die Sonde zu dir.«

22. Der Diebstahl

Die Kantine befand sich in der Mitte des Gebäudes. Louis bedankte sich für eine kleine Glückssträhne: die Städtebauer waren Allesesser. Das Eintopfgericht, das aus Fleisch und Pilzen bestand, hätte etwas mehr Salz vertragen; doch es füllte wenigstens das Vakuum in seinem Magen.

Niemand hatte hier wohl Bedürfnis nach Salz. Und alle Meere auf dieser Welt bestanden aus Süßwasser, wenn man von den beiden Großen Ozeanen einmal absah.

Vielleicht war er der einzige Hominide auf der Ringwelt, der Salz benötigte, und ohne dieses Mineral konnte er auf die Dauer nicht auskommen.

Er aß rasch. Die Zeit saß ihm im Nacken. Der Puppetier war schon ganz hippelig. Es war fast schon ein Wunder, daß er noch nicht geflohen und Louis, den abtrünnigen Chmeee und die Ringwelt ihrem Schicksal überlassen hatte. Louis empfand sogar einen gewissen Respekt vor dem Puppetier, daß er seine artspezifische Angst unterdrückte, um sein gekidnapptes Besatzungsmitglied zu retten.

Doch der Puppetier konnte rasch seinen Mut verlieren, wenn er die Reparaturmannschaft auf sich zukommen sah. Louis beabsichtigte, auf die Heiße Nadel zurückzukehren, ehe der Hinterste sein Teleskop in diese Richtung drehte.

Er kehrte in die oberen Räume der Bibliothek zurück.

Die Leseschirme, die er ausprobierte, zeigten ihm nur unverständliche Texte ohne Bilder und Stimme. Schließlich entdeckte er vor einer Schirmbildwand eine ihm vertraute Robe mit einem gekerbten Kragen.

»Harkabeeparolyn?«

Die Bibliothekarin drehte sich um. Kleine flache Nase; Lippen, so dünn wie Messerrücken; kahler Scheitel und ein hübsch geformter Schädel; lange wellige weiße Haare. appetitlich gerundete Hüften und schöne Beine. Nach menschlichen Begriffen mußte sie ungefähr vierzig Jahre alt sein. Die Städtebauer alterten vielleicht langsamer als Menschen, vielleicht auch schneller; Louis wußte das nicht.

»Ja?«

Ihre Stimme klang ungehalten. Louis zuckte zusammen. Er sagte: »Ich brauche einen Schirm mit einem Stimmencomputer und ein Leseband, das mir die Eigenschaften des Scrith beschreibt.«

Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, was Sie meinen. Einen Stimmen-Computer?«

»Ich möchte, daß das Leseband seinen Text laut vorliest.«

Harkabeeparolyn starrte ihn an, dann lachte sie. Sie versuchte, das Lachen noch zu ersticken, aber es gelang ihr nicht mehr. Dafür war es auch zu spät. Sie waren bereits im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit. »So etwas haben wir nicht. So etwas hat es nie gegeben«, versuchte sie zu flüstern, aber das Kichern gewann wieder die Oberhand und formulierte den nächsten Satz mit unerwünschter Lautstärke: »Wieso, können Sie nicht lesen?«

Blutiger Tanj! Louis spürte, wie ihm das Blut in die Ohren und den Nacken stieg. Die Kenntnisse des Lesens und des Schreibens waren selbstverständlich für ein gebildetes Wesen, und früher oder später lernte jeder das Lesen, wenigstens Texte, die in Interworld abgefaßt waren. Aber diese Kenntnisse waren nicht lebenswichtig. Jede Welt hatte ihre Stimmen-Computer! Und ohne Stimmen-Computer hatte sein Übersetzer keine Möglichkeit, ihm den Text in seine Sprache umzuwandeln.

»Ich brauche mehr Hilfe, als ich gedacht hatte. Ich brauche jemanden, der mir die Lesebänder vorliest.«

»Sie brauchen mehr, als Ihnen zusteht. Sie haben dafür nicht bezahlt. Ihr Meister muß neu verhandeln.«

Louis wollte es nicht riskieren, diese aufgebrachte, ja feindselige Frau zu bestechen. »Können Sie mir wenigstens helfen, die Lesebänder zu finden, die ich brauche?«

»Dafür haben Sie bezahlt. Sie haben sogar das Recht eingekauft, mich von meinen eigenen Nachforschungen abzulenken. Sagen Sie nur, was Sie wünschen«, sagte sie energisch. Sie drückte auf ihre Tasten, und sonderbare Schriftzeichen erschienen auf ihrem Schirm. »Die charakteristischen Merkmale des Scrith? Hier ist ein physikalischer Text. Darin sind ein paar Kapitel enthalten über die Struktur und Dynamik der Welt mit einigen Passagen über Scrith. Vielleicht ist dieser Text zu hoch für Sie.«

»Ich möchte dieses Leseband und einen Text über die Grundbegriffe der Physik.«

Sie blickte ihn zweifelnd an. »Also gut.« Sie drückte noch ein paar Tasten nieder. »Hier ist ein altes Band für Ingenieur-Studenten über die Konstruktion des Ringtransportsystems auf der Ringwelt-Mauer. Heute ist es aber nur noch von historischem Interesse; aber vielleicht können Sie noch etwas daraus lernen.«

»Das Band möchte ich haben. Sind Ihre Leute auch schon mal unter dieser Welt gewesen?«

Harkabeeparolyn reckte sich. »Ich bin überzeugt, daß wir dort gewesen sind. Wir beherrschten diese Welt und die Sterne, und zwar mit Maschinen, vor denen die Maschinen-Leute in Ehrfurcht erstarren würden, wenn wir sie noch besäßen.« Sie drückte erneut auf die Tasten. »Aber leider gibt es keine schriftlichen Zeugnisse über den von Ihnen eben erwähnten Vorgang. Was wollen Sie mit allen diesen Bändern anfangen?«

»Das weiß ich jetzt noch nicht. Können Sie mir auch helfen, den Ursprung der alten Unsterblichkeits-Droge aufzuspüren?«

Diesmal lachte Harkabeeparolyn leise, fast angenehm. »Ich bezweifle, daß Sie so viele Buchspulen auf einmal tragen können. Die Erfinder des Lebenselixiers bewahrten ihr Geheimnis bis zum Tod. Alle, die darüber schrieben, haben das Elixier nie gefunden. Aber ich kann Ihnen religiöse Texte geben, Polizeiberichte, Erzählungen von Hochstaplern und Betrügern, die behaupteten, das Rezept des Lebenselixiers zu besitzen, und Berichte von Expeditionen, die die Welt nach dieser Droge absuchten. Hier ist zum Beispiel eine Geschichte von einem unsterblichen Vampir, der die grasessenden Riesen tausend Falans lang heimsuchte, mit den Jahren immer gerissener wurde, bis.«

»Nein.«

»Man fand nie seinen Schatz mit dem Lebenselixier. Also nicht. Dann wollen wir mal weitersehen. das Ktistek-Gebäude schloß sich dem Zehner-Klub an, weil den anderen Clans das Lebenselixier noch vor dem Ktistek-Clan ausging. Eine faszinierende Studie politischer Machenschaften.«

»Nein, lassen wir das Thema. Wissen Sie etwas von dem Großen Ozean!«

»Es gibt zwei Große Ozeane«, wies sie ihn zurecht. »Nachts kann man sie sehr leicht am Himmelsbogen erkennen. In ein paar alten Märchen wird behauptet, daß die Unsterblichkeitsdroge aus dem Ozean antispinnwärts käme.«

»Aha.«

Harkabeeparolyn lächelte ironisch. Der kleine Mund konnte sogar recht kokett aussehen. »Sie sind naiv. Man kann nur zwei topografische Details auf dem Himmelsbogen mit dem nackten Auge erkennen. Nun gab es einmal etwas Wertvolles, das aus weiter Ferne herantransportiert werden mußte und seit Jahrhunderten nicht mehr erhältlich ist — wen nimmt es Wunder, daß jemand das Märchen aufbringt, die Unsterblichkeitsdroge kam aus einem der Großen Ozeane? Wer kann das leugnen oder einen anderen Ursprung angeben?«

Louis seufzte. »Sie haben vermutlich recht.«

»Luweewu, wie können diese Fragen logischerweise miteinander verbunden sein?«

»Vielleicht sind sie es nicht.«

Sie brachte ihm die Lesespulen, die er verlangt hatte, und noch eine dazu: Ein Märchenbuch vom Großen Ozean für Kinder. »Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie mit diesen Lesespulen anfangen wollen. Sie werden sie nicht stehlen können. Sie werden durchsucht, ehe Sie die Bibliothek wieder verlassen, und Sie können auch keine Lesemaschine mitnehmen.«

»Ich bedanke mir für Ihre Hilfe.«


Er brauchte einen Vorleser für die Bänder.

Er besaß nicht den Mut, irgendeinen Fremden anzusprechen. Vielleicht traf er einen Fremden, der ihm ein wenig vertraut war? In einem der Leseräume hatte ein Kobold gesessen. Wenn die Kobolde in der Schatten-Farm schon über Louis Wu Bescheid wußten, dann traf das vielleicht auch für diesen Kobold im Lesesaal zu.

Doch der Kobold war verschwunden und hatte nur seinen Duft zurückgelassen.

Louis ließ sich in einen Sessel vor dem Leseschirm fallen und schloß die Augen. Die für ihn wertlosen Spulen steckten in seinen Westentaschen. Noch gebe ich mich nicht geschlagen, dachte er. Vielleicht finde ich den Jungen aus dem Kartenzimmer wieder. Vielleicht kann ich Fortaralisplyar doch noch überreden, mir die Texte laut vorzulesen. Oder mir wenigstens einen Gehilfen für diesen Zweck zu schicken. Das wird natürlich einiges kosten. Alles kostet hier etwas, und sobald es etwas kostet, dauert es auch länger.

Die Lesemaschine war ein schwerer, unförmiger Kasten, der noch dazu mit einem Kabel an der Wand befestigt war. Die Hersteller dieser Maschine hatten den Superleiter-Draht nicht mehr gekannt. Louis fädelte eine Spule in den Apparat und starrte die für ihn sinnlosen Schriftzeichen an. Der Schirm zeigte nur den nackten Text. Er besaß weder einen Lautsprecher noch ein Mikrophon. Harkabeeparolyn hatte ihm die Wahrheit gesagt.

Ich darf meine Zeit nicht sinnlos verschwenden.

Louis stand auf. Ich blieb keine andere Wahl mehr.


Das Dach der Bibliothek war ein weitläufiger Garten. Die Gartenwege strahlten spiralförmig vom Mittelpunkt aus, wo die Wendeltreppe in den Dachgarten mündete. Riesige nektarerzeugende Blumen wuchsen in der fetten schwarzen Erde zwischen den Gehsteigen. Da gab es auch kleine dunkelgrüne Füllhörner mit winzigen blauen Blumen im Kelch, und ein Kissen von Zwergpflanzen, in dem die meisten »Leberwürste«-Knospen aufgebrochen waren und jetzt goldene Blütenblätter zeigten. Darüber Bäume, von denen grüngelbe Girlanden herabhingen, die aussahen wie riesige Spaghetti.

Auf den weit verstreuten Bänken saßen Paare, die Louis sich selbst überließen. Bei den Besuchern überwogen die Bibliothekare und Bibliothekarinnen in ihren blauen Roben. Ein großgewachsener Bibliothekar begleitete eine lärmende Gruppe von Touristen, die der Rasse der Hängenden Leute angehörten. Keiner sah aus wie ein Wächter. Keine Rampen führten von dem Dach der Bibliothek nach unten. Hier gab es nichts zu bewachen, es sei denn, ein Dieb konnte fliegen.

Louis hatte vor, die Gastfreundschaft, die er genoß, mit Undank zu vergelten. Zugegeben, er hatte für diese Gastfreundschaft bezahlt. trotzdem peinigte ihn der Gedanke an sein Vorhaben.

Der Wasser-Kondensator erhob sich vom Dachrand wie eine Skulptur eines dreieckigen Segels. Von dort lief das Wasser in einen wie eine Mondsichel geformten Teich. In diesem Teich plantschten Kinder der Städtebauer. Louis hörte seinen Namen: »Luweewu!« und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um einen Ball auffangen zu können.

Der braunhaarige Junge, mit dem er im Kartenzimmer gesprochen hatte, schlug in die Hände und bat, daß er ihm den Ball zurückwerfen sollte.

Louis schwankte. Sollte er den Jungen mahnen, das Dach zu verlassen? Es würde bald zu einem heißen Pflaster werden. Aber der Junge war intelligent. Vielleicht intelligent genug, um die Konsequenz seiner Warnung zu begreifen und nach den Wächtern zu rufen.

Louis warf ihm den nassen Ball wieder zurück, winkte und entfernte sich.

Wenn ihm nur etwas eingefallen wäre, wie er das Dach von Hominiden räumen konnte!

Am Dachrand befanden sich keine Geländer. Louis bewegte sich sehr vorsichtig. Er umrundete eine kleine Baumgruppe, deren Stämme so verdreht aussahen wie ausgewrungene Wäschestücke.

Hier schien er ganz für sich zu sein. Hier konnte er auch seinen Übersetzer verwenden.

»Hinterster?«

»Zur Stelle. Chmeee wird immer noch angegriffen. Er hat einmal hart zurückgeschlagen und einen Raketenwerfer auf dem großen Schiff weggeschmolzen. Für mich sind seine Motive rätselhaft.« »Vermutlich wollte er seinen Gegnern beweisen, wie mächtig seine eigenen Waffen sind. Dann wird er verhandeln.«

»Worüber wird er verhandeln?«

»Vielleicht weiß er das selbst noch nicht. Ich bezweifle, daß sie viel für ihn tun können. Vielleicht werden sie ihm ein paar Weibchen vorstellen. Hinterster, leider habe ich hier keine Möglichkeit, Nachforschungen anzustellen, weil ich die Lesebänder nicht entziffern kann. Zudem habe ich mir viel zuviel Lesestoff besorgt. Es würde eine Woche dauern, bis ich das alles durchgeackert habe.«

»Was könnte Chmeee alles in einer Woche anstellen? Ich möchte nicht so lange bleiben, um das herauszufinden.«

»Ja. Ich habe ein paar Lesespulen in der Tasche. Sie werden uns fast alles verraten, was wir wissen wollen, wenn wir sie nur lesen könnten. Und wie schaffen wir das? Hast du eine Idee?«

»Dazu brauchten wir eine von ihren Lesemaschinen. Kannst du mir so einen Apparat besorgen? Dann könnte ich die Bänder durchlaufen lassen und sie vom Schirm abfotografieren für den Computer der Heißen Nadel

»Sie sind sehr schwer. Zudem hängen sie an einem dicken Kabel fest.«

»Schneide die Kabel durch.«

Louis seufzte. »Okay. Und was dann?«

»Ich sehe die schwebende Stadt bereits durch die Kamera der Sonde. Ich werde die Sonde zu dir fernsteuern. Du mußt den Deuterium-Filter entfernen, um die Transportscheibe freilegen zu können. Hast du ein Werkzeug bei dir?«

»Nicht einen Schraubenschlüssel. Das einzige Werkzeug, das ich besitze, ist der Handscheinwerfer-Laser. Du sagst mir, wo ich den Schneidbrenner ansetzen muß.«

»Hoffentlich lohnt es sich, daß ich die Hälfte meiner Kraftstoffreserve verliere. Also gut. Wenn du dir eine Lesemaschine verschaffen kannst und sie durch das Schoot geht und auf die Transportscheibe, okay. Und vergiß nicht die Tapes mitzubringen, wenn die Maschine auch nicht durch die Luke paßt. Vielleicht kann ich doch ein Mittel finden, sie zu entziffern.«


Louis stand am Rand des Bibliotheksdaches und blickte an seinen Zehen vorbei senkrecht nach unten, in das dunkle Webmuster der Schatten-Farm. Am Rand der Farm herrschte Mittagslicht. Rechteckig gemustertes Ackerland dehnte sich hinter der Stadt aus. Der Schlangenfluß führte sein Wasser nach Backbord und verschwand zwischen niedrigen Hügeln. Hinter den Hügeln lagen Seen, Ebenen, ein kleiner Gebirgszug, noch kleinere Seen, alles mit wachsender Entfernung verblauend. und schließlich der Himmelsbogen, der schwindelerregend am Horizont in die Höhe stieg. Halb hypnotisiert wartete Louis unter dem hellen Himmel. Es gab nichts, was er hier noch tun konnte. Er war sich kaum der dahinfließenden Zeit bewußt.

Die Sonde kam auf einem blauen Flammenschweif vom Himmel herunter. Wo die kaum noch sichtbare Flamme das Dach berührte, verwandelten sich Pflanzen und Humus in ein orangefarbenes Inferno. Schmächtige Hänge- Leute und blau gekleidete Bibliothekare flüchteten zur Treppe. Nasse Kinder rannten schreiend hinter ihnen her.

Die Sonde setzte sich in ihr Flammenbett und kippte zur Seite, von Steuerdüsen abgebremst. Ein Kranz von winzigen Düsen war an ihrem oberen Rand befestigt, und dazu kam noch die Schubdüse am Heck. Die Sonde war sechs Meter lang und drei Meter dick, vollgestopft mit Kameras und anderen Instrumenten.

Louis wartete, bis das Feuer auf dem Dach fast ausgegangen war. Dann watete er durch Kohlen und Asche zur Sonde. Soweit er das übersehen konnte, war das Dach leer — zum Glück keine Toten.

Die Stimme des Übersetzers leitete ihn an, als er das dicke Molekularsieb in der Spitze der Sonde mit dem Laser beseitigte. Endlich hatte er eine Transportscheibe freigelegt. Er fragte: »Und was jetzt?«

»Ich habe die Transportscheibe in der anderen Sonde rückwärts geschaltet und den Filter entfernt. Kannst du dir eine Lesemaschine besorgen?«

»Ich werde es versuchen. Aber die Sache gefällt mir nicht.« »In zwei Jahren spielt das alles keine Rolle mehr. Ich gebe dir dreißig Minuten Zeit. Dann mußt du mit allem, was du mitnehmenkannst, zur Sonde zurückkehren.«


Eine ganze Schar von blaugewandeten Bibliothekaren hatte sich fast so weit erholt, daß sie ihn mit Gewalt vom Dach holen wollten, als Louis auf der Treppe erschien. Er hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen. Die Kugeln aus schwerem Metall, mit denen sie auf ihn schossen, prallten von seinen Schutzanzug ab. Auf jeder zweiten Stufe hielten ihn die Geschosse auf.

Dann fielen nur noch vereinzelt Schüsse und hörten anschließend ganz auf. Sie wichen vor ihm zurück.

Als Louis weit genug in das Gebäude vorgedrungen war, schnitt er die Wendeltreppe unter sich durch. Die Spiralwindungen der Treppe waren nur im Erdgeschoß und unter dem Dach befestigt. Nun schob sie sich zusammen wie eine Feder und riß ein paar Rampen von den Türschwellen ab. Die Bibliothekare klammerten sich um das Geländer, um nicht abzustürzen. Louis hatte jetzt die oberen zwei Stockwerke für sich.

Als er sich in das ihm zunächst liegende Lesezimmer begeben wollte, versperrte ihm Harkabeeparolyn den Weg mit einer Axt.

»Ich brauche noch einmal Ihre Hilfe«, sagte Louis.

Sie holte mit der Axt aus. Louis fing sie ab, als sie von dem Anzug zwischen Hals und Schulter abprallte. Sie versuchte ihm ihre primitive Waffe wieder zu entreißen.

»Schauen Sie lieber dorthin«, sagte er und richtete den Laserstrahl auf das Kabel einer Lesemaschine. Das Kabel ging in Flammen auf und zerfiel funkensprühend in zwei Teile.

»Der Lyar-Clan wird dafür Ersatz leisten müssen!« schrie Harkabeeparolyn.

»Das kann ich nicht ändern. Ich möchte, daß Sie mir helfen, eine Lesemaschine auf das Dach zu tragen. Ich dachte, ich müßte erst eine ganze Wand niederbrennen. Das ist eine bessere Lösung.« »Ich werde Ihnen nicht helfen!«

Louis schnitt mit dem Laser durch eine Lesemaschine. Sie fiel auseinander und verbrannte. Der Gestank war entsetzlich. »Packen Sie mit an!«

»Vampir-Bumser!«

Die Maschine war verdammt schwer, und Louis wollte den Laser nicht loslassen. Er ging rückwärts die Treppe hinauf. Die Hauptlast ruhte auf Harkabeeparolyns Armen. Er sagte zu ihr: »Wenn Sie loslassen, müssen wir noch einmal umkehren und eine andere holen.«

»Idiot!. Sie haben bereits. das Kabel ruiniert!«

Er antwortete nicht.

»Was soll das ganze?«

»Ich versuche, diese Welt davor zu bewahren, daß sie mit ihrer Sonne zusammenstößt.«

Jetzt hätte sie die Maschine um ein Haar fallen lassen. »Aber — aber die Motoren! Sie hängen doch wieder alle an der Ringwelt-Mauer!«

»Also wußten Sie doch mehr, als Sie mir verraten wollten! Doch was auf der Ringmauer geschieht, ist zuwenig und zu spät. Die meisten Ihrer Raumschiffe kamen nicht mehr aus dem All zurück. Es sind nicht genügend Motoren vorhanden. Gehen Sie weiter!«

Als sie das Dach erreichten, erhob sich die Sonde ein Stück über dem Boden und ließ sich dann neben ihnen auf ihren Steuerdüsen nieder. — Sie setzten die Maschine ab. Sie paßte nicht durch die Luke. Louis knirschte mit den Zähnen und schnitt den Schirm von der Maschine ab. Jetzt paßte sie.

Harkabeeparolyn schaute ihn nur an. Sie war zu erschöpft für weitere Kommentare.

Der Schirm berührte die leere Fläche, wo vorher der Molekularfilter gestanden hatte, und verschwand. Die zurückgebliebenen Eingeweide der Maschine waren viel schwerer. Louis schaffte es, wenigstens die eine Seite auf die leere Fläche zu heben, legte sich dann auf den Rücken und schob mit den Beinen nach, bis auch der Rest der Maschine verschwunden war.

»Der Lyar-Clan hat nichts damit zu tun«, klärte er die Bibliothekarin auf. »Sie wußten nicht, was ich vorhatte. Hier.« Er ließ ein Stück stumpfes schwarzes Tuch neben ihr zurück. »Der Lyar-Clan wird Ihnen sagen, wie Sie damit Wasserkondensatoren und andere alte Maschinen reparieren können. Damit können Sie die ganze Stadt von den Maschinen-Leuten unabhängig machen.«

Sie sah ihn mit entsetzten Augen an. Schwer zu sagen, ob sie ihm überhaupt zugehört hatte.

Mit den Füßen voran schob er sich in die Sonde.

Und mit dem Kopf voran tauchte er in der Ladebucht der Heißen Nadel auf.

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