I. Teil

1. Im Wonnefeld

Louis Wu stand unter Strom, als die beiden Männer in seine Privatsphäre eindrangen.

Er saß in tadelloser Lotus-Position auf dem üppigen gelben Innen-Gras-Teppich. Sein Lächeln war verträumt, wonnetrunken. Die Wohnung war klein, bestand nur aus einem großen Raum. Er konnte beide Ausgänge zugleich sehen. Aber in dem Wonnerausch, der nur dem Süchtigen vertraut ist, sah er sie nicht hereinkommen. Plötzlich standen sie vor ihm: zwei blasse junge Männer, beide fast zwei Meter zwanzig groß, die Louis mit verächtlichem Lächeln musterten. Der eine schnaubte und ließ einen wie eine Waffe geformten Gegenstand in die Tasche gleiten. Sie rückten noch einen Schritt vor, als Louis sich aus dem Gras erhob.

Es war nicht allein dieses glückselige Lächeln, das sie täuschte. Vielmehr verließen sie sich auf den faustgroßen Wonnestecker, der aus dem Scheitel von Louis Wus Kopf hervorschaute wie eine schwarze Plastikgeschwulst. Sie hatten mit einem Strom-Süchtigen zu tun und wußten, was sie von ihm zu erwarten hatten. Seit Jahren mußte dieser Mann sein Gehirn abgeschaltet und sein ganzes Bewußtsein von diesem Stromleiter abhängig gemacht haben, der das Wollust-Zentrum in seiner Gehirnrinde mit elektrischen Impulsen anregte. Die Süchtigen verwahrlosten und verfielen körperlich. Man konnte es ihm ansehen:

Er war schmächtig und fast einen halben Meter kleiner als die beiden. Er.

Als sie sich Louis greifen wollten, lehnte sich dieser weit zur Seite, um die richtige Hebelwirkung zu erreichen, und schlug einmal, zweimal, dreimal mit dem Bein zu. Der eine von den beiden Eindringlingen lag auf dem Boden, um sich selbst gewickelt, atemlos, ehe der andere seine Geistesgegenwart wiederfand und zurückwich.

Louis folgte ihm.

Was den jungen Mann fast lähmte, war diese fast wollüstige Andacht, mit der Louis ihn in den Tod schicken wollte. Zu spät griff er nach dem Lähmungsstrahler, den er wieder in die Tasche gesteckt hatte. Louis schlug ihm die Waffe mit dem Fuß aus der Hand. Mit einem wuchtigen Faustschlag traf er die Kniescheibe, noch einmal die Kniescheibe (der blasse Riese blieb mit betäubten Nerven stehen), die Leistengegend, das Herz (der Riese knickte mit einem pfeifenden Schrei nach vorne), die Kehle (der Schrei riß ab).

Der andere Eindringling kauerte auf Händen und Knien im Gras und holte gurgelnd Luft. Louis schlug ihm zweimal mit der gestreckten Hand ins Genick.

Beide Eindringlinge lagen jetzt regungslos im üppigen gelben Gras.

Louis Wu ging zur Wohnungstür, um sie wieder abzusperren. Nicht einen Moment hatte sich der wonnetrunkene Ausdruck seines Gesichts verändert, auch jetzt nicht, als er feststellen mußte, daß die Tür zweimal abgesperrt und der Alarm eingeschaltet war. Er überprüfte die Balkontür. Sie war ebenfalls verriegelt und alarmgesichert.

Wie in aller Welt waren sie in das Zimmer gekommen?

Verwirrt versank er an Ort und Stelle wieder in seine Lotus-Stellung und bewegte sich über eine Stunde lang nicht von der Stelle.


Dann schaltete eine Zeituhr den Wonnestecker ab.

Die Wonnestrom-Sucht gehört zu den jüngsten Lastern der Menschheit. Fast alle Kulturen des vom Menschen besiedelten Universums haben irgendwann in ihrer Geschichte dieses Laster zu einer gefährlichen Seuche erklärt. Die Süchtigen gingen dem Arbeitsmarkt verloren und fielen ihrer Verwahrlosung zum Opfer.

Aber die Zeiten ändern sich. Einige Generationen später betrachteten dieselben Kulturen dieses Laster als eine problematische Errungenschaft. Suchtgewohnheiten aus historisch älterer Zeit — Alkoholismus, Rauschgifte und Wettleidenschaften können nicht damit konkurrieren. Leute, die für Drogen anfällig sind, kommen mit dem Wonnestrom viel besser auf ihre Kosten. Die Lebensspanne eines Wonnesüchtigen war viel größer, und sie neigten zur Kinderlosigkeit.

Und die Droge kostete praktisch nichts. Ein Ekstase-Händler könnte natürlich den Preis seiner Ware erhöhen, aber wozu? Der Wonnesüchtige wird erst von dem Laster abhängig, wenn der Stromleiter in das Lustzentrum seines Hirnes eingepflanzt worden ist. Und dann hat der Händler keine Gewalt mehr über ihn, denn der Süchtige kann sich seinen Rausch aus der Steckdose zu Hause in seiner Wohnung holen.

Und das Wonneerlebnis ist absolut rein, ohne nachteilige Nebenwirkung und ohne Kater.

Und so kam es, daß zu Louis Wus Lebzeiten alle Vertreter der menschlichen Rasse, die sich von der Wonnestrom-Sucht oder anderen selbstmörderischen Lastern versklaven ließen, kraft Vererbungsgesetze bereits seit achthundert Jahren ausgestorben waren.

Heute gibt es sogar schon Geräte, mit denen man aus der Entfernung das Wollustzentrum eines Opfers erregen kann. Tasps oder Wonnegeißeln sind auf den meisten Welten gesetzwidrig. Zudem sind sie teuer herzustellen, aber es gibt sie. (Ein verbittert aussehender Fremder kommt an dir vorbei. Zorn oder Depression sind auf sein Gesicht geschrieben. Du stehst hinter einem Baum und drückst auf einen Knopf. Hing! Sein Gesicht verklärt sich und strahlt. Einen Moment lang vergißt er alle seine Sorgen.) Die Lustgeißel führt in der Regel nicht zu einer verheerenden Abhängigkeit. Die meisten Menschen sind widerstandsfähig genug, sie ertragen zu können.


Die Schaltuhr unterbrach den Stromkreis.

Louis schien in sich zusammen zu sinken. Er griff unter den langen schwarzen geflochtenen Zopf auf seinem kahlgeschorenen Schädel und zog den Wonnestecker aus der Fassung heraus. Er hielt ihn auf der Handfläche und betrachtete ihn. Und dann ließ er ihn wie gewöhnlich in eine Schublade fallen und versperrte sie. Die Schublade verschwand. Der Schreibtisch, anscheinend ein antikes Stück aus massivem Holz, bestand in Wahrheit aus papierdünnem Raumschiffmetall, in dem unendlich viele Geheimfächer Platz fanden.

Es war natürlich immer verlockend, die Schaltuhr neu aufzuziehen. Er hatte das in den ersten Jahren seiner Sucht routinemäßig getan, bis er zum Skelett abgemagert und in seinem eigenen Schmutz fast erstickt war. Schließlich hatte er die Reste seiner vormals sprichwörtlichen Zielstrebigkeit dazu verwendet, eine Schaltuhr zu bauen, die man nur mit einer zwanzigminütigen konzentrierten Fummelei einzustellen vermochte. Zur Zeit schaltete sie nach fünfzehn Stunden Wonnestrom für zwölf Stunden ab, damit er zwölf Stunden schlafen und sich, wie er es nannte, regenerieren konnte.

Die Leichen lagen immer noch im Zimmer. Louis hatte keine Ahnung, was er mit ihnen anstellen sollte. Hätte er die Polizei sofort verständigt, wäre es nicht ohne unerwünschtes Aufsehen abgegangen; aber was sollte er ihnen jetzt sagen, anderthalb Stunden nach der Tat? Daß er von den Eindringlingen bewußtlos geschlagen worden war? Dann würden sie mit Tiefenradar seinen Schädel nach Brüchen absuchen.

Jedenfalls konnte er in der abgrundtiefen Depression, die der Wonnephase folgte, keine Entscheidungen treffen. Er befolgte die Regenerationsanweisungen wie ein Roboter. Selbst sein Essen war vorprogrammiert.

Er trank ein ganzes Glas Wasser. Er stellte die Küche neu ein. Er ging in das Badezimmer. Er machte zehn Minuten Freiübungen und verausgabte sich dabei, bekämpfte die Depression mit Erschöpfung. Er vermied es, die Toten anzusehen, bei denen bereits die Leichenstarre eintrat.

Das Essen war fertig, als er seine Freiübungen beendete. Er aß, ohne Geschmack daran zu finden, und erinnerte sich an die Zeit, als er auch beim Essen und bei seinen Leibesübungen unter Wonnestrom gestanden hatte, allerdings nur mit einem Zehntel der normalen Stärke. Eine Zeitlang hatte er mit einer Frau zusammengelebt, die ebenfalls unter der Wonnestrom-Sucht litt. Sie hatten sich mit eingeschaltetem Stecker geliebt — und dabei Denk- und Freizeitsport getrieben. bis sie nur noch ihrer Sucht lebten und jedes andere Interesse verloren. Damals hatte er wenigstens noch so viel Geistesgegenwart besessen, sich rechtzeitig von der Erde abzusetzen.

Und auch jetzt würde es leichter sein, von dieser Welt zu flüchten, als sich dieser zwei großen ungeschlachten Leichen zu entledigen. Aber wenn seine Wohnung bereits beobachtet wurde?

Sie sahen nicht aus wie ARM-Agenten. Dafür waren sie zu groß, zu weich in den Muskeln, hatten unter einer Sonne gelebt, die mehr orange als gelb war. Vermutlich eine Rasse von einem Planeten mit niedriger Schwerkraft, vermutlich Canyoiten. Sie hatten nicht gekämpft wie ARM-Agenten, aber sie hatten seinen Alarm umgangen. Diese Männer konnten Söldner der ARM sein und Freunde haben, die draußen warteten.

Louis Wu schaltete den Alarm an seiner Balkontür ab und trat ins Freie hinaus.


Canyon paßt nicht ganz in das übliche Schema der Planetengesetze.

Der Planet ist nicht viel größer als Mars. Vor einigen hundert Jahren war die Atmosphäre gerade dicht genug, um photosynthetische Pflanzen am Leben zu erhalten. Die Luft enthielt zwar Sauerstoff, doch dessen Prozentsatz war zu gering für menschliche oder Kzinti-Wesen. Die heimische Flora war so primitiv und genügsam wie Flechten auf der Erde. Tiere hatten sich hier nie entwickeln können.

Aber es gab magnetische Kräfte in dem kometenartigen Ring, der die orangegelbe Sonne von Canyon umgab. Der Planet selbst verfügte über radioaktive Stoffe. Das Kzinti-Imperium hatte den Planeten besetzt und mit Hilfe von luftdichten Kuppelhäusern und Kompressoren besiedelt. Sie nannten ihn »Speerspitze«, da er an der Grenze des noch uneroberten Pierin-Planetensystems lag.

Tausend Jahre später traf das expandierende Kzinti-Imperium auf das menschliche Universum.

Die Kriege mit den Kzintis waren längst vorüber, als Louis Wu auf die Welt kam. Die Menschen gewannen sie alle. Die Kzinti hatten schon immer eine verhängnisvolle Neigung, ihre Gegner anzugreifen, ehe sie ausreichend für einen Krieg vorbereitet waren. Zivilisation auf Canyon ist das Vermächtnis des Dritten Kzin-Menschheit-Krieges, als der Planet Wunderland eine Vorliebe für esoterische Waffen entwickelte.

Wunderlands Wunderwaffe wurde nur ein einziges Mal eingesetzt. Es handelte sich um die ins riesenhaft vergrößerte Version eines ganz gewöhnlichen Bergwerkgerätes: ein sogenannter elektronischer Stampfer, der vermittels eines Energiestrahles die Ladung eines Elektrons unterdrückt. An der Stelle, wo der Strahl des Elektronenstampfers auftrifft, wird Materie plötzlich und gewaltsam positiv geladen. Sie löst sich dann in einen Nebel aus einatomigen Partikeln auf.

Die Welt Wunderland baute also einen gigantischen elektronischen Stampfer und transportierte ihn in das Planetensystem von »Speerspitze«. Der Riesenstampfer schoß seinen Energiestrahl parallel zu einem anderen Richtstrahl ab, der allerdings die Ladung des Protons unterdrückte.

Die beiden Strahlen trafen mit einem Abstand von dreißig Meilen gleichzeitig auf der Oberfläche von Canyon auf. Felsen, Fabriken und Häuser der Kzinti wirbelten als Staub davon, während sich ein Lichtbogen zwischen den beiden Einschlagstellen bildete. Die Waffe drang mit ihrem Energiestrahl zwölf Meilen tief in die Kruste des Planeten ein und legte auf einer Fläche von der Größe und Form wie der Kaliforniens das Magma auf diesem Planeten frei. In diesem Bereich befand sich die gesamte Industrie der Kzinti, die sich in Sekundenschnelle in Rauch auflöste. Die wenigen Kuppelbauten, die durch Stasisfelder geschützt waren, wurden von der Magma verschluckt, die in der Mitte des Grabens viel höher aufwallte als an den Rändern, ehe das Gestein sich wieder verhärtete.

Die Narbe, die davon zurückblieb, war ein langgestreckter See, der von steilen, mehreren Meilen hohen Klippen eingeschlossen wurde und in dessen Mitte sich eine langgestreckte, schmale Felsinsel erhob.

So manche irdischen Welten mochten ihre Zweifel hegen, daß dieses Monstrum den Krieg beendete. Die Kzinti-Patriarchie läßt sich normalerweise von bloßem Gigantismus nicht schrecken. Die Bewohner von Wunderland teilen diese Zweifel nicht. »Speerspitze« wurde nach dem Dritten Kzin-Menschheit-Krieg annektiert und in Canyon umgetauft. Die einheimischen Lebensformen litten natürlich unter den Kriegshandlungen, wurden unter Gigatonnen Staub begraben, die aus der Atmosphäre herunterkam, während das Grundwasser sich in den Canyon ergoß und dort einen gewaltigen Binnensee bildete. In der Schlucht baute sich ein ausreichender Luftdruck auf und schuf die nötigen Voraussetzungen, daß sich dort eine blühende Zivilisation entwickeln konnte.

Louis Wus Wohnung befand sich auf der zwölften Terrasse an der Norwand des Canyon. Die Nacht verhüllte bereits den Grund der Schlucht, als er auf den Balkon hinaustrat, aber die Südwand lag noch im hellen Tageslicht. Hängende Gärten aus einheimischen Gewächsen verdeckten den Rand der Klippe. Stillgelegte Aufzugstürme ragten meilenweit an den geglätteten Felswänden empor, als wäre der Stein von blanken Silberadern durchzogen. Transportkabinen hatten inzwischen die Aufzüge ersetzt, doch die Touristen bedienten sich immer noch dieses alten Verkehrsmittels, wenn sie einen Blick auf diese künstlich geschaffenen Naturwunder werfen wollten.

Der Balkon blickte auf die Parklandschaft hinaus, die den Kern der Inseln bedeckte. Die Vegetation erinnerte an den bizarren Wildwuchs eines Kzinti-Jagdreviers, wobei sich helles Rosa und Orange mit dem bedeckten Grün der importierten irdischen Biosphäre mischte. Kzinti-Lebensformen waren in diesem Canyon alltägliche Erscheinungen.

Auf der Insel tummelten sich genausoviele Kzinti wie menschliche Touristen. Die Kzinti-Männchen glichen fetten orangefarbenen Katzen, die auf ihren Hinterpfoten liefen. Doch ihre Ohren breiteten sich wie pinkfarbene chinesische Pergamentschirme aus, und ihre Schwänze waren nackt. Ihre breiten Hände und geraden Beine verrieten, daß sie zu einer Rasse von Werkzeugmachern gehörten. Ihre Größe war enorm, fast zwei Meter fünfzig, und obwohl sie es sorgfältig vermieden, mit den menschlichen Touristen zusammenzustoßen, fuhren sie doch ihre sorgfältig manikürten Klauen an den Fingerspitzen aus, sobald ihnen ein menschliches Wesen zu nahe kam. Vielleicht waren das nur Reflexe.

Zuweilen fragte sich Louis, welche Impulse die Kzinti veranlaßten, eine Welt zu besuchen, die sie vor Jahrhunderten hatten aufgeben müssen. Vielleicht hatten ihre Vorfahren auf dieser Welt gelebt, die nun in den Kuppelbauten unter dieser Lavainsel begraben waren. Eines Tages würde man sie wieder ausgraben müssen.

Es gab so viele Dinge, die er auf Canyon hinterlassen hatte, weil er sich nie weit von seinem Wonnestecker entfernen wollte. Menschen und Kzinti kletterten in der niedrigen Schwerkraft an den Klippen empor. Es war ein sportlicher Zeitvertreib.

Nun, jetzt hatte er eine letzte Chance, selbst dieses Vergnügen auszuprobieren. Es war eine von drei möglichen Fluchtrouten. Die zweite waren die Aufzüge; die dritte war die Transportkabine zu den hängenden Gärten. Er hatte sie kein einziges Mal besichtigt.

Dann würde er in einem Druckanzug Weiterreisen, der sich zusammengefaltet leicht in einer großen Aktentasche unterbringen ließ.

Bergwerke waren über die Oberfläche des Planeten verstreut, und es gab auch einen großen, etwas verwahrlosten Naturpark für die überlebenden Gattungen der Canyon-Flechten. Doch zum größten Teil bestand diese Welt aus einer öden Kraterlandschaft. Ein umsichtiger Mann konnte unbemerkt auf diesem Planeten mit einem Raumfahrzeug landen und es an einer Stelle verstecken, wo man es nur mit einem Tiefenradar entdecken vermochte. Ein umsichtiger Mann hatte das bereits getan. Seit neunzehn Jahren wartete jetzt ein Raumschiff schon auf Louis Wu. Er hatte es in einer Höhle in der Nordwand eines Berges versteckt, der aus minderwertigem Eisenerz bestand. Der Eingang der Höhle lag im ewigen Schatten der atmosphärelosen Oberfläche.

Die Transportkabinen, die Aufzüge oder eine Kletterpartie. Sobald er den Canyon verlassen hatte, würde ihn niemand mehr aufhalten können. Doch er mußte damit rechnen, daß die ARM alle drei Ausgänge überwachte.

Aber vielleicht machte er sich übertriebene Sorgen. Woher konnte die irdische Polizei wissen, daß er sich hier aufhielt? Er hatte sein Gesicht verändert, seinen Haarstil, seine Lebensweise. Er hatte seine Lieblingsgewohnheiten aufgegeben und verwendete jetzt ein Bett statt der Schlafplatten, aß keinen Käse mehr, als bestünde er aus verdorbener Milch, und seine Wohnung war mit Massenfabrikaten und Wegwerf-Schnickschnack ausgestattet. Seine Kleider bestanden aus teurer Naturfaser und Stoffen ohne optische Effekte.

Er hatte die Erde als abgemagerter und verträumt blickender Wonnestrom-Süchtiger verlassen. Seither hatte er sich einer rationalen Diät unterzogen. Er hatte sich mit Leibesübungen gemartert und einem wöchentlichen Kurs in der Kunst der Selbstverteidigung (eine von Staats wegen nicht gern gesehene Leibesertüchtigung, die, falls er dabei ertappt wurde, ihm bei der örtlichen Polizei einen Vermerk eintragen würde, allerdings nicht unter seinem richtigen Namen!), so daß er heute ein hinreichendes Erscheinungsbild von strotzender Gesundheit bot, mit harten, gut entwickelten Muskeln, die er als jüngerer Mann immer verschmäht hatte. Wie wollte die ARM ihn in dieser Maske erkennen?

Und wie waren sie in seine Wohnung gekommen? Kein gewöhnlicher Einbrecher hätte Louis' Alarmvorrichtungen umgehen können.

Sie lagen tot im Gras, und bald würde der Geruch der Verwesung stärker sein als die Klimaanlage. Ein bißchen verspätet empfand er die Reue eines Menschen-Killers. Aber sie waren in sein Territorium eingedrungen, und so lange man unter dem Wonnestrom-Einfluß stand, war man für seine Taten nicht verantwortlich. Wenn man unter Strom stand, ist sogar der Schmerz ein Gewürz, das das Wonngegefühl noch pikanter macht, und die Wollust — für den Menschen ist auch das Töten eines Diebes, den man in flagranti ertappt, eine Lustempfindung — noch erheblich steigert. Sie hatten gewußt, daß er süchtig war, und das hätte ihnen eine Warnung sein müssen. Zugleich war es ein schlimmer Affront für Louis Wu gewesen.

Die Touristen, Kzinti wie Menschen, und die Einheimischen, die unten durch die Straßen flanierten, sahen unschuldig genug aus und waren es vermutlich auch. Falls ihn die ARM beschattete, geschah das wahrscheinlich mit Hilfe von Ferngläser durch ein Fenster in einem dieser schwarzäugigen Häuser. Keiner von den Touristen sah zu ihm hoch. aber dann blieb Louis Wus Blick auf einem Kzin haften.

Er war acht Fuß hoch, drei Fuß breit, und das dichte orangefarbene Fell wurde an manchen Stellen schon grau. Oberflächlich betrachtet, unterschied er sich kaum von den anderen Kzinti, die unten dutzendweise an ihm vorbeimarschierten. Was Louis vor allem ins Auge sprang, war die Art, wie sein Fell wuchs. Es glich einem zusammengestoppelten Flickenteppich und hatte zu fünfzig Prozent seine Farbe verloren, als wäre die Haut darunter mit Narben bedeckt. Schwarze Ringe lagen um seine Augen, die nicht die Landschaft betrachteten, sondern die Gesichter der menschlichen Passanten musterten.

Louis gab sich große Mühe, diesen Kzinti nicht anzustarren, sondern er drehte sich um, als habe er nur frische Luft schnappen wollen, und ging langsam zur Balkontür zurück. Er versperrte sie hinter sich und schaltete wieder den Alarm ein. Er holte den Wonnestecker aus seinem Versteck im Schreibtisch hervor. Seine Hände zitterten.

Es war der Dolmetscher — Speaker-To-Animals —, den er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Speaker-To-Animals war damals als Botschafter seiner Rasse auf der Erde gewesen. Er hatte zusammen mit Louis Wu, einem Pierson-Puppetier und einer sehr ungewöhnlichen jungen Dame einen winzigen Sektor der Ringwelt erforscht, eines gigantischen Artefakten. Als Belohnung für den Schatz, den der Dolmetscher auf seinen Heimatplaneten zurückgebracht hatte, wurde er von den Patriarchen der Kzinti mit seinem vollen Namen geehrt. Man hätte ihn jetzt nicht mehr mit seiner Berufsbezeichnung anreden dürfen, wenn man nicht Selbstmord begehen wollte. Aber was war das für eine Name, den er sich damals verdient hatte? ER begann mit einem Aspiranten, der sich wie ein deutsches Ch anhörte, oder wie das warnende Fauchen eines Löwen: Chmeee! Ja, jetzt wußte er es wieder. Aber was suchte sein alter Bekannter hier auf Canyon? Wenn er sich einen echten Namen verdient, ein Lehen bekommen und sich einen Harem zugelegt hatte, der vermutlich mit trächtigen Weibchen vollgestopft war, mußte er sich doch auf seinem Heimatplaneten pudelwohl fühlen. Es entsprach nicht seinem Charakter, als Tourist einen Planeten zu besuchen, der früher den Kzinti gehört und dann von den Menschen annektiert, worden war.

Sollte er vielleicht erfahren haben, daß Louis Wu in Canyon lebte?

Er mußte hier raus. Er mußte die Klippe hinauf zu seinem Raumschiff.

Und so beschäftigte sich Louis Wu jetzt mit dem Mechanismus der Schaltuhr an seinem Wonnestecker, arbeitete mit winzigen Werkzeugen an winzigen Schaltkreisen, die er durch eine Lupe betrachtete. Seine Hände machten ihn nervös. Sie wollten nicht stillhalten. Aber die Schaltzeiten mußten auf jeden Fall verändert werden, da er beabsichtigte, Canyon und seinen Siebenundzwanzig-Stunden-Tag hinter sich zu lassen. Er wußte, wohin er fliegen würde. Es gab noch einen Planeten im menschlichen Universum, dessen Oberfläche zum größten Teil aus einer öden Kraterlandschaft bestand. Er konnte mit seinem Raumschiff unbemerkt in Vakuum auf der westlichen Hemisphäre von Jinx landen. und bereits jetzt seinen Wonnestecker auf die neuen Verhältnisse einstellen. und sich auch jetzt ein paar Stunden unter Strom setzen, um sich Mut zu holen für dieses Abenteuer. Es war alles ganz vernünftig überlegt. Er stellte den Wecker so ein, daß er nach zwei Stunden abschaltete.


Fast zwei Stunden vergingen, ehe der nächste Eindringling in seiner Wohnung auftauchte. Ganz vertieft in seiner Verzückung hätte sich Louis auf keinen Fall in seiner Trance stören lassen. Zudem war der Eindringling diesmal ein angenehmer Besuch.

Das Wesen stand fest auf einem Hinterbein und zwei weit auseinandergesetzten Vorderbeinen. Zwischen den Schultern erhob sich ein dicker Höcker: das Gehimgehäuse, bedeckt von einer dichten, goldfarbenen Mähne, die in Locken gedreht und mit Edelsteinen geschmückt war. Zwei lange, bewegliche Hälse wuchsen zu beiden Seiten aus diesem Höcker heraus, die in einem flachen Kopf endeten. Die gummiartigen Lippen der beiden Münder dienten den Puppetiers als Greifwerkzeuge. Im Augenblick hielt er in einem Mund einen Betäubungsstrahler irdischer Provenienz — eine lange, gegabelte Zunge hatte sich um den Abzug gewickelt.

Louis Wu hatte seit zweiundzwanzig Jahren keinen Pierson-Puppetier mehr gesehen. Er hielt diese Wesen für reizende Geschöpfe.

Und das Wesen schien aus dem Nichts gekommen zu sein. Louis hatte genau gesehen, wie es plötzlich mitten auf seinem gelben Grasteppich materialisierte. Er hatte sich grundlos Sorgen gemacht. Die ARM hatte nichts mit seinem Erscheinen zu tun. Das Rätsel der beiden ersten Eindringlinge war gelöst.

»Transportscheiben!« rief Louis wonnetrunken aus. Er warf sich auf den Eindringling. Diesmal würde es ein Kinderspiel sein. Puppetiers waren erklärte Feiglinge.

Der Betäubungsstrahler glühte orangefarben auf. Louis Wu stürzte auf den Teppich, und alle seine Muskeln waren weich wie Wachs. Sein Herz schlug mühsam. Schwarze Kreise bildeten sich vor seinen Augen.

Der Puppetier stieg vorsichtig über die beiden Leichen hinweg. Er blickte aus zwei verschiedenen Richtungen auf Louis hinunter. Dann griff das Wesen nach ihm. Vier Reihen von flachen Zähnen klammerten sich um seine Handgelenke, doch nicht so fest, daß es wehtat. Der Puppetier zog ihn über den Teppich und ließ ihn dann wieder fallen.

Die Wohnung verschwand.

Man konnte nicht sagen, daß sich Louis Wu vielleicht jetzt Sorgen gemacht hätte. Er hatte überhaupt keine unangenehmen Empfindungen. In absoluter Gemütsruhe (der von dem elektrischen Feld ausgelöste Wonnezustand verlieh zugleich ein Abstraktionsvermögen, das Sterblichen sonst verwehrt war) nahm er eine Korrektur an seinem Weltbild vor.

Er hatte das System der Transportscheiben auf der Heimatwelt der Puppetiers kennengelernt. Es war ein offenes Teleportationssystem, das dem Verkehrsmittel auf den irdischen Welten in geschlossenen Kabinen weit überlegen war.

Offenbar hatte ein Puppetier eine Transportscheibe in Louis' Wohnung eingebaut; und zuerst zwei Canyoniten vorausgeschickt, um ihn zu entführen. Als dieser Versuch fehlschlug, war er selbst gekommen. Die Puppetiers verlangten offenbar dringend nach ihm.

Das war doppelt beruhigend. Die ARM hatte offensichtlich nichts damit zu tun. Und die Puppetiers konnten auf eine Tradition des Friedens zurückblicken, die sich seit einer Million Jahre bewährt hatte. Sie lebten nach dem Grundsatz einer aufgeklärten Feigheit. Deshalb trachteten sie ihm bestimmt nicht nach dem Leben. Sie hätten ihn risikolos und billig töten können.

Er lag immer noch auf der gelben Grasmatte. Der Puppetier mußte ihn an der Stelle des Teppichs abgeladen haben, unter der die Transportscheibe versteckt gewesen war. Auf der anderen Seite des Raumes konnte er jetzt ein riesiges mit orangefarbenem Fell überzogenes Kissen erkennen. nein, es war ein Kzin, der mit offenen Augen auf dem Teppich lag, entweder gelähmt oder tot — auch ein alter Bekannter, der »Dolmetscher«. Louis freute sich über ihr Wiedersehen.

Sie befanden sich in einem Raumschiff, einer General-Product-Zelle. Hinter den durchsichtigen Wänden wurde das grelle, nicht durch eine Atmosphäre getrübte Sonnenlicht von einem scharfkantigen Felsen reflektiert. Eine grünviolette Verfärbung auf dem Stein, der mit Flechten bewachsen war, verriet ihm, daß er sich immer noch auf Canyon befand.

Immer noch kein Grund zur Sorge.

Der Puppetier gab seine Handgelenke wieder frei. Ornamente glitzerten in seiner Mähne: keine in der Natur vorkommenden Edelsteine, sondern etwas Künstliches, das ihn an schwarze Opale erinnerte. Ein flacher hirnloser Kopf beugte sich zu ihm hinunter und zog ihm den Wonnestecker aus dem Schädel. Dann trat der Puppetier auf eine rechtwinklige Platte und verschwand mit Louis' Wonnestecker.

2. Press Gang

Die Augen des Kzin hatten ihn schon eine Weile lang beobachtet. Nun räusperte sich die betäubte Riesenkatze und fauchte dann: »Looii Wuu.«

»Ja«, erwiderte Louis. In seinem deprimierten Zustand hatte er daran gedacht, sich selbst umzubringen, aber dazu fehlte ihm jedes Mittel. Er konnte ja kaum einen Finger bewegen.

»Louis, bist du wonnesüchtig?«

»Hmm, hmm«, erwiderte Louis, um Zeit zu gewinnen. Es half. Der Kzin bemühte sich nicht mehr um ihn. Und Louis, dessen ganze Sorge der Wonnestecker war, den man ihm weggenommen hatte — Louis folgte einem alten Reflex. Er blickte sich um, ob seine äußere Lage genauso schlimm war wie seine innere Verfassung.

Das Sechseck der Grasmatte unter ihm markierte den Transportscheiben-Empfänger. Ein schwarzer Kreis vor ihm mußte der Sender sein. Abgesehen von der Grasmatte war der Boden durchsichtig. Auch der Rumpf an Backbord und das Achterschott.

Unter dem Boden befand sich der Hyperdrive-Shunt-Motor, der sich fast über die ganze Länge des Rumpfes erstreckte. Louis mußte sich erst wieder klarmachen, wie das Ding funktionierte. Der Motor war keine iridsche Konstruktion; er hatte dieses verschwommene Aussehen, das so typisch war für die Puppetier-Erzeugnisse. Er glich einer halb geschmolzenen Riesenkerze. Jedenfalls war dieses Raumschiff schneller als das Licht. Offenbar sollte es eine weite Reise werden.

Hinter dem Achterschott sah Louis einen Gepäckraum mit einer gewundenen Luke an der linken Seite. Der Frachtraum war fast vollkommen von einem schiefen Kegel ausgefüllt, der ungefähr zehn Meter hoch und fast doppelt so lang war. Die Spitze des Kegels hatte Luken für Waffen und/oder Ortungsgeräte. Unter dem Turm befand sich ein Panoramafenster. Noch eine Etage tiefer eine Luke, die sich beim öffnen zu einer Rampe auseinanderfaltete.

Dieses kegelförmige Ding war ein Landefahrzeug, ein Raumaufklärer. Ein irdisches Produkt, dachte Louis, und ein handelsübliches Modell. Es hatte klare Linien, nicht die verschwommenen Konturen wie der Raumschiffantrieb. Hinter dem Landefahrzeug entdeckte er eine silberglänzende Wand, vermutlich ein Treibstofftank.

Bisher hatte er noch keine Tür in seiner Kabine entdecken können.

Mit einiger Mühe legte Louis seinen Kopf auf die andere Seite. Nun sah er das Vorschiff mit dem Kommandostand. Ein großer Teil der Schiffswand war dort grünlich eingefärbt, aber er vermochte doch dahinter die gewölbte Wand mit den Monitoren auszumachen, die Meßskalen mit den winzigen Zahlen darauf, und die Bedienungshebel, die mundgerecht für einen Puppetier geformt waren. Der Pilotensitz war eine gepolsterte Bank mit Sicherheitsnetzen und den Körperformen eines Puppetiers angepaßt. Im Querschott fehlte hier ebenfalls die Tür.

Auf der Steuerbordseite — nun, wenigstens war ihre Kabine so groß, daß man sich darin bewegen konnte. Er sah eine Dusche, Schlaf-Platten, einen Fellüberzug, der vermutlich zum Wasserbett des Kzin gehörte, und dazwischen ein recht sperriges Gerät, das Louis als Nahrungs-Aufbereiter identifizierte und das auf Wunderland hergestellt worden sein mußte. Hinter den Betten entdeckte er wieder die grünlich schillernde Zellenwand und keine Luftschleuse. Sie befanden sich also in einer Schachtel ohne Ausgänge.

Das Raumschiff selbst war ein Puppetier-Erzeugnis: ein General-Products-Rumpf, Mark 3 — ein unten etwas abgeflachter Zylinder, der rund auslief. Das Handelsimperium der Puppetiers hatte Millionen solcher Schiffszellen verkauft. Laut Werbung waren sie mit Ausnahme der Schwerkraft und des sichtbaren Lichtes vor allen im Weltall drohenden Gefahren sicher. Als Louis Wu auf die Welt kam, waren die Puppetiers auf der Flucht aus dem bekannten Universum und steuerten die Magellanschen Wolken an. Jetzt, mehr als zweihundert Jahre später, sah man die General-Products-Schiffsrümpfe immer noch auf allen Raumflughäfen. Manche hatten schon ein Dutzend Generationen von Besitzern überlebt.

Vor zweiunddreißig Jahren war das von den Puppetiers gebaute Raumschiff Liar auf der Oberfläche der Ringwelt notgelandet und hatte mit einer Geschwindigkeit von siebenhundertsiebzig Meilen pro Sekunde aufgesetzt. Ein Stasisfeld hatte Louis und die anderen Passagiere bei diesem enormen Aufprall geschützt — und die Außenhaut des Raumschiffes hatte nicht einmal einen Kratzer davongetragen.

»Du bist ein Kzin-Krieger«, sagte Louis. Seine Lippen waren geschwollen und pelzig. »Kannst du ein Loch in die Wand einer General-Products-Schiffszelle schlagen?«

»Nein«, sagte der Dolmetscher. (Nicht Dolmetscher. Chmeee!)

Es lohnte sich trotzdem, diese Frage zu stellen. »Chmeee, was suchst du überhaupt auf Canyon?«

»Ich erhielt eine Botschaft. Louis Wu lebt als Wonnestrom-Süchtiger im Canyon von ›Speerspitze‹. Hologramme waren als Beweisstücke dem Schreiben beigelegt. Weißt du, wie du aussiehst, wenn du unter Strom stehst? Wie eine Meerespflanze, die sich willenlos in der Strömung bewegt.«

Louis spürte, wie die Tränen über seinen Nasenrücken liefen. »Tanj! Dieser Zustand ist grausam. Warum bist du hierhergekommen?«

»Ich wollte dir sagen, was für ein nutzloses Wesen du geworden bist.«

»Wer schickte dir die Botschaft?«

»Keine Ahnung. Es muß der Puppetier gewesen sein. Er wollte uns alle beide. Louis, ist dein Verstand schon so gestört, daß dir nicht aufgefallen ist.«

».daß dieser Puppetier nicht Nessus ist? Durchaus. Aber hast du bemerkt, war für eine gepflegte Mähne er hat? Er braucht mindestens eine Stunde pro Tag, um sich die Locken aufzudrehen. Wenn ich einem so prächtig aufgeputztem Geschöpf auf der Welt der Puppetiers begegnete, würde ich meinen, er nimmt einen hohen Rang ein.«

»Und?«

»Kein vernünftiger Puppetier würde sein Leben in einem Raumschiff riskieren. Deswegen sind die Puppetiers ja auch mit ihrem Heimatplaneten und ihren vier landwirtschaftlichen Satelliten geflüchtet; ihre Reise wird mindestens ein paar hunderttausend Jahre dauern, da sie sich langsamer als das Licht durch den Weltraum bewegen. Sie kriechen durch das Universum, weil sie ihr Leben keinem Raumschiff anvertrauen wollen. Also muß dieser Puppetier verrückt sein wie alle seine Artgenossen, die sich mit menschlichen Wesen einlassen. Folglich ist es ein unberechenbares Individuum«, sagte Louis Wu. »Immerhin ist er ins Raumschiff zurückgekehrt.«

Der Puppetier stand auf einer sechseckigen Transportscheibe auf dem Kommandodeck und beobachtete sie durch das durchsichtige Querschott. Er sprach mit einer Frauenstimme, einem wohlklingendem Alt: »Können Sie mich hören?«

Chmeee rollte von der Wand weg, wölbte den Rücken und sprang auf den Puppetier los. Er rollte mit einem ekelhaften Geräusch vom Querschott ab. Jeder andere Puppetier hätte vor Schreck die Köpfe eingezogen, aber dieser nicht. Er sagte mit seiner melodischen Altstimme: »Unsere Mannschaft ist fast vollständig. Es fehlt nur noch ein Besatzungsmitglied.«

Louis nahm seine ganze Kraft zusammen und rollte sich auf den Bauch. »Vielleicht könnten Sie etwas weiter ausholen. Wir sind in einer Schachtel eingesperrt. Sie haben es also nicht nötig, uns etwas zu verheimlichen. Wer sind Sie?«

»Sie können mir jeden beliebigen Namen geben.«

»Was sind Sie? Wofür benötigen Sie uns?«

Der Puppetier zögerte. Dann sagte er: »Ich war der Hinterste auf meiner Heimatwelt und der Geschlechtspartner eines Puppetiers, den Sie unter dem Namen Nessus kennen. Inzwischen bin ich beider Funktionen beraubt worden. Ich brauche Sie als Raumschiffbesatzung für eine zweite Expedition zur Ringwelt, um meinen früheren Status zurückzuerobern.«

Chmeee sagte: »Dazu geben wir uns nicht her.«

Louis fragte: »Geht es Nessus gut?«

»Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Nachfrage. Nessus ist gesund an Geist und Körper. Der Schock, den er auf der Ringwelt erlitten hat, war das richtige Heilmittel. Er hat ihn wieder zur Vernunft gebracht. Er ist zu Hause und hütet unsere beiden Kinder.«

Jeder andere hätte an Nessus' Stelle ebenfalls einen Schock davongetragen, dachte Louis. Die Bewohner der Ringwelt hatten ihm einen seiner beiden Köpfe abgeschnitten. Wenn Louis und Teela nicht sofort den Hals des Puppetiers mit einer Aderpresse abgebunden hätten, wäre Nessus verblutet. »Vermutlich haben Sie ihm einen neuen Kopf aufgepflanzt.«

»Selbstverständlich.«

Chmeee sagte: »Ihre Gegenwart beweist, daß Sie verrückt sein müssen. Wie kommt es, daß Billiarden von wahlberechtigten Puppetiers einen Verrückten zu ihrem Herrscher bestimmen?«

»Ich betrachte mich nicht als einen Verrückten.« Das Hinterbein des Puppetiers bewegte sich nervös. (Seine beiden Gesichter waren vollkommen ausdruckslos. Seinen Schwachsinn hätte man höchstens an seinen beweglichen Lippen ablesen können.) »Bitte unterlassen Sie in Zukunft solche Bemerkungen. Ich habe meiner Rasse nach besten Kräften gedient, und das gleiche gilt für meine vier Vorgänger. Doch dann kam die Konservative Partei an die Macht und setzte uns ab. Ihre Politik ist falsch. Ich werde es beweisen. Wir reisen zur Ringwelt und entdecken dort Schätze, die diese Kleinkrämer sich nicht einmal vorstellen können.«

»Aber Sie haben einen Fehler dabei gemacht«, fauchte Chmeee. »Sie haben einen Kzin gekidnappt.« Er fuhr seine langen Krallen aus.

Der Puppetier betrachtete sie hinter dem durchsichtigen Querschott. »Sie wären nicht freiwillig gekommen. Louis ebenfalls nicht. Sie haben beide einen Status und einen Namen. Louis hatte dazu noch seinen Wonnestecker. Unser viertes Besatzungsmitglied war eine Gefangene. Meine Agenten meldeten, daß sie jetzt wieder frei ist und auf dem Weg hierher.«

Louis lachte bitter. Jeder Humor war bitter ohne seinen Wonnestecker. »Sie haben wohl nicht sehr viel Phantasie, nicht wahr? Es wird keine neue Expedition, sondern die Kopie der ersten. Ich, Chmeee, ein Puppetier und eine Frau. Wer ist diese Frau? Etwa Teela Brown?«

»Nein! Nessus hatte entsetzliche Angst vor Teela Brown — begründete Angst meiner Meinung nach. Ich habe Halrloprillalar aus den Fängen der ARM befreit. Nun steht also eine Eingeborenen der Ringwelt als Führer zur Verfügung. Und was den Charakter unserer Expedition angeht —warum sollte ich eine erfolgreiche Strategie aufgeben? Sie beide sind heil und gesund aus der Ringwelt entronnen.«

»Aber Teela nicht.«

»Teela blieb freiwillig zurück.«

Der Kzin sagte: »Damals wurden wir für unsere Dienste bezahlt. Wir brachten ein Raumschiff nach Hause, das die Entfernung eines Lichtjahres in eins komma fünfundzwanzig Minuten überbrücken kann. Dieses Schiff brachte mir meinen Namen und meinen Status ein. Was können Sie uns jetzt für einen vergleichbaren Lohn bieten?«

»Eine Reihe von Dingen. Können Sie sich jetzt bewegen, Chmeee?«

Der Kzin stand auf. Er schien die lähmende Wirkung des Betäubungsstrahles vollkommen überwunden zu haben. Louis hatte immer noch Sehstörungen, und seine Glieder waren ohne Gefühl.

»Sind Sie gesund? Spüren Sie einen Schwindel, Kopfweh oder einen Brechreiz?«

»Was sollen diese Fragen, Wurzelfresser? Sie haben mich doch über eine Stunde lang im Autodoc behandelt. Die Koordination meiner Reflexe läßt noch zu wünschen übrig. Außerdem habe ich Hunger. Sonst ist alles in Ordnung mit mir.«

»Sehr gut. Die Substanz zeigt also Wirkung. Damit haben Sie bereits Ihren Lohn als Vorauszahlung erhalten, Chmeee. Boosterspice hat Louis Wu zweihundertdreiundzwanzig Jahre lang jung und stark erhalten. Mein Volk hat eine analoge Verjüngungsdroge für die Kzinti entwickelt. Sie bekommen die chemische Formel der Droge als Geschenk für das Patriarchat der Kzinti, wenn unsere Mission beendet ist.«

Chmeee war wie von den Socken. »Ich werde wieder jung?« Dieses Zeug steckt schon in meinem Körper?«

»Ja.«

»Wir hätten selbst so eine Droge entwickeln können. Aber wir wollten sie nicht haben.«

»Aber ich brauche einen jungen und starken Kzin, Chmeee. Obwohl unsere Mission nicht besonders gefährlich sein wird. Ich beabsichtige auf dem Raumhafen-Gürtel zu landen, nicht auf dem inneren Ring des Kunstplaneten. Wir werden alle Entdeckungen gemeinsam ausbeuten, gemeinsam verwerten. Auch für Sie habe ich jetzt schon eine Belohnung, Louis.«

Und dann wie durch Zauberhand, erschien Louis Wus Wonnestecker auf der Transportscheibe in der Kabine. Das Gehäuse war geöffnet und wieder versiegelt worden. Louis' Herz machte einen Satz.

»Laß das Ding noch liegen«, fauchte Chmeee.

»Okay. Hinterster, wie lange haben Sie mich beobachten lassen?«

»Vor fünfzehn Jahren entdeckten wir Sie in Canyon. Meine Agenten waren bereits auf der Erde und versuchten Halrloprillalar aus dem Gefängnis zu befreien. Sie hatten allerdings wenig Erfolg damit. Ich ließ Transportscheiben in Ihrer Wohnung einbauen und wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Ich werde jetzt unseren einheimischen Führer in das Raumschiff holen.« Der Puppetier bewegte die Lippen über der Instrumentenkonsole, machte einen Schritt vorwärts und war verschwunden.

»Verwende ja nicht den Wonnestecker«, sagte Chmeee.

»Jawohl, Eure Hoheit.« Louis drehte ihm den Rücken zu. Er wußte, daß er vollkommen den Verstand verloren hatte, falls er wegen dieses Wonnesteckers einen Kzin angreifen würde. Jedenfalls würde die Expedition auch ihre angenehmen Seiten haben. Er klammerte sich an diesen Gedanken.

Aber für Halrloprillalar würde er nichts tun können.

Halrloprillalar was schon ein paar tausend Jahre alt gewesen, als sie sich Louis, Nessus und dem Kzin-Dolmetscher anschloß auf ihrer Suche nach einer Möglichkeit, die Ringwelt wieder zu verlassen. Die Eingeborenen, die unter ihrer schwebenden Polizeistation wohnten, hatten sie verehrt wie eine Göttin, die den Himmel bewohnte. Die ganze Raumschiffbesatzung hatte dieses Spiel mitgemacht. Sie hatten sich mit Halrloprillalars Hilfe als Götter vor den Eingeborenen ausgegeben. Auf diese Weise gelang es ihnen, unbehelligt zu ihrem beschädigten Raumschiff, der Liar zurückzukehren. Und unterwegs hatte sie sich in Louis verliebt.

Die Eingeborenen der Ringwelt — jedenfalls die drei arttypischen Familien, denen die Raumschiffbesatzung begegnet war — waren mit der Menschheit verwandt, wenn auch nicht identisch. Halrloprillalar war fast vollkommen kahl gewesen und ihren Lippen so flach wie bei einem Affen. Manchmal suchen die hundertjährigen nur Abwechslung in ihren Liebesaffären. Louis hatte sich gefragt, ob das auch für ihn zutraf. Er hatte sich in Prill verliebt, obwohl ihm ihre Charakterfehler bewußt gewesen waren. aber, tanj, er sollte lieber vor seiner eigenen Tür kehren!

Und Halrloprillalar war ihm hörig gewesen. Sie hatten ihre Hilfe gebraucht, und Nessus hatte einen für Puppetiers typischen Zwang auf sie ausgeübt. Nessus hatte sie mit einer Lustgeisel gezähmt — mit dem Tasp. Louis hatte ihn gewähren lassen.

Sie war mit Louis in das irdische Universum zurückgekehrt. Sie hatte mit ihm das UN-Gebäude in Berlin besucht und es nie mehr verlassen. Wenn der Hinterste sie jetzt aus ihrem Gefängnis befreien und auf ihren Heimatplaneten zurückbringen konnte, hatte er mehr für sie getan als Louis Wu für sie hätte tun können.

Chmeee sagte: »Meiner Meinung nach belügt uns der Puppetier. Er leidet an Größenwahn. Eine so intelligente Rasse wie die Puppetiers würde sich nie von einem Verrückten regieren lassen.«

»Weshalb nicht? Als Feiglinge scheuen sie das Risiko. Das Regieren ist ein sehr hohes Risiko. Hat nicht früher der Kopf der gekrönten Häupter sehr locker auf ihrem Hals gesessen? Es wäre nur logisch, wenn die Puppetiers sich den Intelligentesten aus einer kleinen Gruppe von Größenwahnsinnigen als Herrscher erwählen. Oder betrachte es einmal von der anderen Seite: Eine lange Reihe von Hintersten unterwies die übrige Bevölkerung in der Kunst, seine Köpfe bedeckt zu halten — nicht nach zuviel Macht zu streben, weil das gefährlich ist. Beide Möglichkeiten sind denkbar.«

»Du glaubst, er sagt uns die Wahrheit, Louis?«

»Bisher wissen wir noch nicht genug. Und wenn er uns belügt? Er hat uns in seiner Gewalt.«

»Er hat dich in seiner Gewalt«, sagte der Kzin. »Er hat dich am Wonnestrom. Warum schämst du dich eigentlich nicht?«

Louis schämte sich. Er kämpfte gegen sein Schamgefühl, damit es nicht seinen Verstand blockierte und ihn vollends in tiefste Verzweiflung trieb. Er war in dieser Zelle eingeschlossen: die Wände, der Boden und die Decke waren Bestandteil eines General-Products-Rumpfes. Aber es gab Elemente.

»Wenn du immer noch daran denkst, aus diesem Gefängnis auszubrechen«, sagte Louis, »dann überlege dir folgendes. Du wirst doch jetzt jünger. In diesem Punkt wird er dich kaum belogen haben. Das hätte keinen Sinn. Was passiert, wenn du jünger wirst?«

»Mein Appetit wird größer. Mehr Ausdauer. Eine größere Streitlust, weswegen du dich eigentlich eher in acht nehmen müßtest, Louis.«

Chmeee hatte mit den Jahren auch an Gewicht zugelegt. Die schwarzen »Brillenränder« um seine Augen waren fast grau geworden, auch sonst entdeckte man überall in seinem Fell die Silberfäden. Harte Muskeln zeichneten sich unter dem Fell ab, wenn er sich bewegte. Kein vernünftiger junger Kzin würde sich mit ihm anlegen. Aber die vielen Narben verrieten sein Alter. Der Pelz und mehr als die Hälfte von Chmeees Haut waren bei ihrer ersten Expedition zur Ringwelt verbrannt worden. Dreiundzwanzig Jahre später war das Fell wieder gewachsen, noch dürftig, unregelmäßig und mit kahlen Stellen dazwischen.

»Mit der Verjüngungsdroge heilen auch deine Narben ab«, sagte Louis. »Dein Pelz wird wieder glatt und dicht werden. Auch die weißen Stellen werden verschwinden.«

»Nun, dann wird ja mein Aussehen besser.« Der Schwanz peitschte die Luft. »Ich muß diesen Laubfresser töten. Narben sind wie Erinnerungen. Narben sind für uns Ehrenabzeichen.«

»Wie wirst du beweisen können, daß du Chmeee bist, wenn du wieder nach Hause kommst?«

Der Schwarze hielt wieder still.

Chmeee sah ihn an.

»Er hat mich mit dem Wonnestromstecker an die Kette gelegt«, sagte Louis. Er sprach es zögernd aus. Schließlich konnten sie von einem Mikrofon überwacht werden. Ein Puppetier hatte selbstverständlich Angst vor einer Meuterei. »Und dich hat er ebenfalls unter der Fuchtel. Mit deinem Harem, deinen Ländereien, deinen Privilegien und dem Namen, der Chmeee, dem alternden Helden, gehört. Der Patriarch wird dich wahrscheinlich für einen Lügner halten — für eine ganz andere Person —, wenn du ihm nicht die Formel der Verjüngungsdroge vorweisen kannst, die der Hinterste dir einflößte.«

»Sei still!«

Plötzlich war es Louis Wu zuviel. Er griff nach dem Wonnestecker, und der Kzin sprang los. Chmeee drehte das schwarze Plastikgehäuse in einer schwarzorangefarbenen Pfote.

»Kann mir auch recht sein«, sagte Louis und warf sich auf den Rücken. Nach seinem alten Schaltuhr-Plan hätte jetzt sowieso seine Ruhezeit begonnen.

»Wie bist du süchtig geworden? Wie?«

»Ich? Das kannst du nur verstehen, wenn du dich an unser letztes Zusammensein erinnerst.«

»Nichts leichter als das. Wenige Menschen sind bisher auf unseren Heimatplaneten eingeladen worden. Und damals verdientest du diese Ehrung.«

»Vielleicht, vielleicht. Erinnerst du dich, wie du mir das Haus der Patriarchen gezeigt hast?«

»Ja. Du versuchtest mir deine Vorstellungen zu verkaufen, wie man die Beziehungen zwischen unseren beiden Rassen verbessern könnte. Du sagtest, wir brauchten nur einem menschlichen Reporterteam die Genehmigung zu erteilen, in unserem Museum mit Holokameras Aufnahmen zu machen.«

Louis lächelte, als er daran zurückdachte. »Das stimmt.«

»Ich hatte meine Zweifel.«

Das Haus der Patriarchen war großartig und weitläufig: ein riesiger Gebäudekomplex, aus dicken Quadern vulkanischen Gesteins, die an den Kanten verschweißt waren. Alles in diesem Gebäude war eckig und kantig, und die vier hohen Ecktürme des Palastes waren mit Laserkanonen bestückt. Die Räume reihten sich endlos aneinander. Chmeee hatte zwei Tage gebraucht, um Louis alles zeigen zu können.

Die offizielle Abstammung des Patriarchen ging bis in die graue Vorzeit zurück. Louis hatte uralte Sthondat-Schenkelknochen gesehen, griffig zurechtgeschnitzt, damit sie von den Steinzeit-Kzinti als Keulen verwendet werden konnten. Er hatte Waffen gesehen, die man als Handkanonen bezeichnen konnte; sie waren so schwer, daß ein Mensch sie wohl kaum vom Boden zu lüpfen vermochte. Er hatte eine mit Silber ausgelegte Rüstung besichtigt, die so dick war wie die Tür eines Geldschrankes. Und ein Zweihänder-Schwert, mit dem man eine kalifornische Riesenföhre mit einem Streich hätte fällen können. Da war ihm die Idee gekommen, daß man ein menschliches Kamerateam hierher schicken sollte, als er auf den ausgestopften Harvey Mossbauer stieß.

Harvey Mossbauers Familie war im Vierten Menschheits-Kzin-Krieg getötet und aufgefressen worden. Viele Jahre nach dem Waffenstillstand und nach umfangreichen Vorbereitungen war Mossbauer schwer bewaffnet alleine auf dem Heimatplaneten der Kzin gelandet. Er hatte vier erwachsene Kzinti umgebracht und eine Bombe im Harem des Patriarchenpalastes gezündet, ehe die Wachen ihn überwältigen und töten konnten.

Sie hatten seine Haut unbeschädigt haben wollen, erklärte ihm damals Chmeee, und das hatte ihren Kampfeswillen beeinträchtigt.

»Das nennst du eine unbeschädigte Haut?«

»Aber er kämpfte wie ein Löwe! Wir haben Tonbandaufzeichnungen davon im Archiv. Wir wissen, wie man einen tapferen und mächtigen Feind ehren muß, Louis.«

Die ausgestopfte Haut war aus so vielen Einzelstücken zusammengesetzt, daß man das Museumstück zweimal genau ansehen mußte, ehe man es als menschliches Wesen wiedererkannte. Doch es hatte einen hohen Denkmalsockel bekommen mit einer Widmungstafel aus Metall und den ganzen Raum für sich allein. Möglicherweise hätte ein gewöhnlicher menschlicher Reporter die Ausstellung dieses zusammengestückelten ausgestopften Mossbauer nicht verstanden, aber Louis erfaßte sofort den tieferen Sinn. Jetzt, zwanzig Jahre später, sagte er als entführter Süchtiger nachdenklich: »Ja, für mich war es damals ein erhebendes Gefühl, daß dieser ausgestopfte Mossbauer ein Mensch gewesen ist.«

»Es ist gut, sich zu erinnern, aber wir reden jetzt von der Gegenwart. Von deiner Sucht.«

»Glückliche und zufriedene Leute werden nicht zu Wonnestrom-Süchtigen. Man muß sich einer Operation unterziehen, ehe man den Stecker in seinem Kopf befestigen kann. Ich fühlte mich wohl damals in dem Museum. Ich kam mir wie ein Held vor. Weißt du, wo Halrloprillalar sich damals aufhielt?«

»Wo?«

»Die Regierung hatte sie kassiert. Die ARM. Sie hatten endlose Listen von Fragen für sie vorbereitet. Verdammt, ich konnte es nicht verhindern, daß man sie in Gewahrsam nahm. Ich hatte für sie gebürgt, sie auf die Erde gebracht.«

»Sie hatte Gewalt über deine Drüsen, Louis. Es ist von großem Vorteil, daß die Weibchen der Kzinti einer primitiveren Entwicklungsstufe angehören. Du hättest alles getan, was sie von dir verlangte, und du warst ihr hörig. Sie wollte das menschliche Universum besichtigen.«

»Natürlich. Und ich sollte ihr eingeborener Führer sein. Aber dazu kam es nicht. Chmeee, wir brachten die Long Shot und Halrloprillalar nach Hause. Wir übergaben unsere Mitbringsel unseren miteinander verbündeten Regierungen, und seither haben wir sie nicht mehr gesehen. Wir durften nicht einmal mehr davon reden.«

»Der Quantum-II-Hyperantrieb wurde zum Staatsgeheimnis der Patriarchie erklärt.«

»Es ist auch ein Staatsgeheimnis der Vereinten Nationen. Ich bezweifle sogar, daß die anderen Regierungen des menschlichen Universums in dieses Geheimnis eingeweiht wurden. Und sie schärften mir ein, daß ich nicht darüber sprechen dürfte. Selbstverständlich gehörte auch die Ringwelt zu diesem Staatsgeheimnis, denn wie hätten wir ohne dieses geheime Raumfahrzeug, ohne die Long Shot, überhaupt dort hinkommen können? Und deshalb wundere ich mich«, fuhr Louis fort, »wie sich der Hinterste die Reise zur Ringwelt vorstellt. Zweihundert Lichtjahre von der Erde entfernt — noch weiter von Canyon — und mit diesem Schiff schaffen wir ein Lichtjahr in drei Tagen. Glaubst du, er hat noch eine Long Shot irgendwo versteckt?«

»Du wirst mich nicht vom Thema ablenken können. Warum hast du dir ein Wonnestromnetz einpflanzen lassen?« Der Chmeee duckte sich und fuhr die Klauen aus. Vielleicht war es ein Reflex, eine Reaktion motorischer Nerven — vielleicht.

»Ich verabschiedete mich von dir und flog wieder nach Hause«, sagte Louis. »Trotz aller Bitten ließ die ARM mich nicht zu Prill. Ja, wenn ich eine Expedition zur Ringwelt hätte organisieren können, hätte man sie mir als Dolmetscherin und Fremdenführerin mitgegeben. Aber, tanj, darüber durfte ich doch nur mit der Regierung sprechen. und mit dir. Aber du hattest kein Interesse an der Expedition.«

»Wie hätte ich mitkommen sollen? Ich hatte eben erst mein Lehen, einen Namen und einen Harem voll schwangerer Frauen bekommen. Die weiblichen Kzinti sind sehr schutzbedürftig. Man muß sie pflegen und darf sie während der Schwangerschaft nicht allein lassen.«

»Und was geschieht jetzt mit ihnen?«

»Mein ältester Sohn wird sich um meine Liegenschaften und meinen Besitz kümmern. Wenn ich ihn zu lange alleine lasse, wird er mit mir kämpfen, um das, was er nur verwaltet, behalten zu können. Falls ich... Louis! Warum bist du ein Wonnestromsüchtiger geworden?«

»Irgendein Clown schlug mich mit der Lustgeißel!«

»Wie bitte?«

»Ich besichtigte ein Museum in Rio, als jemand, der sich, hinter einer Säule versteckt hielt, mir den Tasp zu schmecken gab.«

»Aber Nessus hatte doch auch eine Lustgeißel bei sich, als wir zur Ringwelt flogen, um seine Besatzung unter Kontrolle behalten zu können. Er wendete sie gegen uns beide an.«

»Richtig. Und der Hinterste verwendet nun das gleiche Druckmittel. Er hat den Wonnestecker so manipuliert, daß er ihn mit einer Fernbedienung ein- und abschalten kann. Und dir hat er das Geschenk der ewigen Jugend gegeben. Zu welchem Zweck? Damit wir alles tun, was er uns anschafft.«

»Nessus verwendete auch die Lustgeißel gegen mich; trotzdem bin ich nicht süchtig geworden.«

»Auch ich war das damals nicht. Aber ich konnte mein Gedächtnis nicht abschalten. Ich kam mir vor wie eine Laus, wie ein Verräter, wenn ich an Prill dachte — ich dachte an Urlaub, an eine Flucht ins Weltall. Das war meine Methode, eine Krise zu meistern; alleine mit einem Raumschiff bis zum Rand des bekannten Universums zu fliegen, bis ich den Anblick meiner Mitmenschen wieder zu ertragen vermochte. Bis ich mich selbst wieder ertragen konnte. Aber damit hätte ich nur Prill noch mehr verraten. Und da stand dieser Clown hinter einer Säule und schaltete die Lustgeißel ein. Ich spürte sie nur eine Sekunde lang, aber dieser Luststrom erinnerte mich an die Geißel, mit der Nessus uns zur Vernunft brachte, und die war zehnmal stärker als dieses Ding. Ich. sträubte mich fast ein Jahr gegen die Versuchung, und dann ließ ich mir den Stromleiter implantieren.«

»Ich sollte dir den Draht wieder aus dem Kopf reißen.«

»Das hätte unangenehme Nachwirkungen zur Folge.«

»Und wie bist du in den Canyon von ›Speerspitze‹ gekommen?«

»Nun, vielleicht war ich verrückt, aber ein Körnchen Vernunft steckt trotzdem darin: Halrloprillalar verschwand für immer im Gebäude der ARM. Und Louis Wu wurde süchtig und wußte nicht mehr, ob er seine Beherrschung verlor und irgendeinem strohköpfigen Flachlandbewohner das Geheimnis der Ringwelt ausplauderte. Deshalb dachte ich, ich sollte lieber von der Erde flüchten. Canyon ist ein Planet, auf dem man problemlos unentdeckt landen kann.«

»Vermutlich hatte der Hinterste das ebenfalls entdeckt.« »Chmeee, gib mir jetzt den Wonnestecker oder laß mich schlafen. Oder du bringst mich um.«

»Gut, dann schlafe lieber.«

3. Der Geist unter der Besatzung

Es war gut, wieder zwischen den Schlafplatten aufzuwachen, im freien Fall schwebend, bis Louis sich wieder erinnerte.

Chmeee nagte an einem rohen Knochen. Wunderland baute seine Küchen so, daß sie verschiedenartige Rassen mit Nahrungsmitteln versorgen konnten. Der Kzin unterbrach einen Moment seine Mahlzeit, um Louis mitzuteilen: »Alle Geräte an Bord wurden von Menschen hergestellt. Oder sie hätten wenigstens von Menschen hergestellt sein können. Sogar der Rumpf scheint mit auf einer irdischen Welt in Lizenz gebaut zu sein.«

Louis schwebte zwischen den Schlafplatten wie ein Embryo im Mutterleib — mit geschlossenen Augen und angezogenen Knien. Aber seine Erinnerungen stürmten jetzt wieder auf ihn ein. »Das Landefahrzeug scheint mir in stilistischer Hinsicht eher ein Erzeugnis der Jirodaner zu sein. In Lizenz gebaut, aber trotzdem auf Jinx. Und wie steht es mit deinem Bett? Ein Kzin-Bett?«

»Ein künstliches Bett. Es sieht nur so aus, als wäre es die echte Haut eines Kzin. Zweifellos wurde dieses Machwerk heimlich in die irdischen Welten transportiert, als ein Zeichen von schwarzem Humor. Ich hätte den Herstellern mit Vergnügen selbst die Haut abgezogen.«

Louis schaltete das Kondensatoren-Feld ab. Das beendete seinen Schwebezustand: Er wurde so sanft wie in einem Fahrstuhl hinuntergetragen.

Draußen war es Nacht: Die scharfen Kontoren weißer Sterne waren über ihm, und um ihn herum breitete sich eine Landschaft aus schwarzem Samt aus. Auch wenn er sich einen Raumanzug beschaffen konnte, hätte er vielleicht den halben Planeten durchqueren müssen, ehe er wieder auf den Canyon stieß. Oder befand er sich gleich hinter diesem schwarzen Riff, das wie ein Messer in das Sternenlicht hinaufragte? Er wußte es nicht.

Der Nahrungsaufbereiter hatte zwei Tasten, die eine mit einer Interworld-Inschrift, die andere mit den Symbolen der Heldensprache. Es gab auch getrennte Toiletten, die seitlich an den Wänden der Kabine angeordnet waren. Louis hätte eine nicht so deutliche Trennung zwischen ihren verschiedenen Rassen bevorzugt. Er wählte auf der Scheibe des Küchengerätes ein Frühstück. Hoffentlich war wenigstens der Speisenzettel reichhaltig.

Der Kzin fauchte: »Hast du außer deinem leiblichen Wohl auch noch andere Interessen?«

»Sicher. Du brauchst nur auf den Boden der Kabine zu blicken.«

Der Kzin ließ sich auf die Knie fallen. »Hmmm. ja. Die Puppetiers haben diesen Hyperdrive-Shunt-Motor gebaut. Das muß das Schiff sein, in dem der Hinterste von der Planetenflotte der Puppetiers flüchtete.«

»Du hast die Transportscheiben vergessen. Die Puppetiers verwenden dieses Transportmittel nur auf ihrem eigenen Planeten. Bisher wenigstens. Doch dann tauchen plötzlich zwei menschliche Agenten auf dieser Scheibe in meinem alarmgesicherten Appartement auf.«

»Dann muß der Hinterste sie gestohlen haben. Vermutlich auch das Schiff und die übrigen Geräte. Vielleicht waren ihm die General-Products-Hersteller verpflichtet und halfen ihm aus der Patsche. Louis, ich glaube nicht, daß der Hinterste die Unterstützung einer politischen Partei hinter sich hat. Wir sollten lieber versuchen, die Flotte der Puppetiers zu erreichen.«

»Chmeee, wir müssen damit rechnen, daß hier Wanzen eingebaut sind.«

»Sollte ich wegen einem Pflanzenfresser meine Gedanken verleugnen?«

»Also gut. Betrachten wir die Sache nüchtern.« Die Depression, die ihn wieder überkommen hatte, äußerte sich als bitterer Sarkasmus. Und weshalb auch nicht? Chmeee hatte jetzt seinen Wonnestecker. »Ein Puppetier hatte sich erlaubt, Kzinti und Menschen zu kidnappen. Selbstverständlich werden die ehrenwerten Puppetiers seines Heimatplaneten darüber entsetzt sein. Würden sie uns dann gestatten, wieder auf die Erde oder in das Patriarchat zurückzukehren, damit wir unseren Artgenossen von dieser verbrecherischen Tat berichten? Zweifellos hat inzwischen das Patriarchat nicht geschlafen und sich mächtig angestrengt, noch mehr Raumschiffe von der Long-Shot-Serie zu bauen. Die Flotte dieser Schiffe könnte die Puppetier-Planeten in etwa vier Stunden wieder einholen. Selbstverständlich kostet es seine Zeit, bis man die Geschwindigkeit der beiden Flotten wieder angeglichen hat. Das bedeutet, man muß drei Monate hinzurechnen bei einer Schwerkraft von drei g.«

»Es reicht, Louis!«

»Tanj, wenn du einen Krieg vom Zaun brechen willst, hättest du hier eine Chance! Hast du vergessen, was Nessus uns berichtete? Die Puppetiers manipulierten den Ersten Menschheits-Kzin-Krieg. Zu unseren Gunsten. Nun sag bloß, du hättest dieses Geheimnis für dich behalten.«

»Sprich nicht weiter davon!«

»Sicher. Nur ist mir gerade eingefallen.« Louis sprach besonders deutlich, weil er überzeugt war, daß ihr Gespräch aufgezeichnet wurde — »,daß du, der Hinterste und ich die einzigen Personen im bekannten Universum sind, die von dieser Schandtat der Puppetiers wissen. Dazu kommen noch die Leute, denen wir das im Vertrauen mitgeteilt haben.«

»Das bedeutet, der Hinterste wäre nicht todunglücklich, falls wir auf der Ringwelt verlorengingen. Jetzt verstehe ich deinen Einwand. Aber der Hinterste weiß vielleicht gar nichts von der Indiskretion seines Geschlechtspartners.«

Er wird es spätestens erfahren, wenn er das Band zurückspult, dachte Louis. Er fiel mit vorgetäuschtem Heißhunger über sein Frühstück her. Er hatte es nach Gesichtspunkten der Einfachheit, aber auch Reichhaltigkeit zusammengestellt: eine halbe Grapefruit, ein Schokoladen-Souffle, gekochte Moa-Brüstchen, Jamaika-Kaffee (aus blauen Bergbohnen) mit einem Schuß Schlagsahne obenauf. Das meiste davon war recht gut gelungen. Nur die Schlagsahne war nicht zufriedenstellend. Aber was sollte er zu den Moa-Brüstchen sagen? Ein Genetiker des vierundzwanzigsten Jahrhunderts hatte den Moa rückgezüchtet, wie er behauptete, und der Nahrungsspender hatte eine Imitation des rückgezüchteten Moas geliefert. Das Fleisch sah gut aus. Es schmeckte wie ein saftiger Fasan.

Aber das Frühstück war nichts im Vergleich zu seinen Wonnestrom-Sitzungen.

Er hatte sich inzwischen daran gewöhnt, den halben Tag mit Depressionen zu verbringen. Vermutlich war die Depression nur ein Kontrast zu den Wonneperioden. Louis vermutete, daß die Depression der Normalzustand der Menschheit war. Daß er zudem noch von einem verrückten Fremdwesen gefangen gehalten wurde, machte seine Depression nicht viel schlimmer.

Als er mit seinem Frühstück fertig war, warf er das schmutzige Geschirr in die Toilette. »Was verlangst du von mir, damit du mir den Wonnestecker wieder zurückgibst?« fragte er.

Chmeee fauchte: »Was hast du denn anzubieten?«

»Versprechen, die ich mit einem Ehrenwort abgebe. Und ein paar Pyjamas.«

Chmeees Schwanz schnitt durch die Luft. »Früher warst du mal ein recht zuverlässiger Kamerad. Und was wirst du jetzt sein, wenn ich dir den Wonnestecker zurückgebe? Eine vertrottelte Bestie. Ich behalte den Stecker.«

Louis begann mit seinen Freiübungen.

Einhändige Liegestütze waren bei einer halben Schwerkraft kein Problem. Aber einhundert Liegestütze auf jeder Hand waren bereits eine Leistung. Die Kajüte eignete sich nicht für gewisse Übungen. Zum Beispiel konnte er keine Weitsprünge machen, wobei er die Zehen mit den Fingerspitzen berühren mußte.

Chmeee beobachtete ihn neugierig. »Wie kann es dazu gekommen sein, daß der Hinterste seine Bürgerrechte verlor?«

Louis antwortete ihm nicht. Er hatte die Zehen unter die untere Schlafplatte geklemmt und ein Brett unter seine Waden. Er übt das Aufsitzen in Zeitlupe.

»Und was hofft er eigentlich auf der Raumschiffseite der Ringwelt zu finden? Was fanden wir bei der ersten Expedition? Die Verzögerungsringe sind viel zu schwer. Wir können sie weder abmontieren, noch mit dem Raumschiff fortbringen. Hat er vielleicht irgendein Instrument in den Raumschiffen der Ringwelt im Auge?«

Louis wählte zwei Moa-Schenkel. Er wischte das Fett ab und begann dann, mit ihnen zu jonglieren. Sie waren so groß wie Holzkeulen. Der Schweiß lief ihm über Gesicht und die Arme.

Chmeees Schwanz zuckte über den Boden. Er legte seine großen rosenfarbenen Ohren zurück. Chmeee ärgerte sich. Aber das war sein Problem.

Im gleichen Moment materialisierte der Puppetier hinter einer undurchdringlichen, durchsichtigen Wand. Er hatte inzwischen seine Mähnentracht verändert, die Opale gegen Glitzersteine ausgetauscht. Er betrachtete einen Moment seine beiden Gefangenen und sagte dann: »Sie werden jetzt Ihren Stecker brauchen. Louis.«

»Leider steht er mir nicht zur Verfügung«, erwiderte Louis und hörte auf, Gewichte zu stemmen. »Wo ist Prill?«

Der Puppetier sagte: »Chmeee, geben Sie Louis seinen Stecker zurück.«

»Wo ist Halrloprillalar?«

Ein mächtiger, muskelbewehrter Arm in orangefarbenem Pelz legte sich quer vor Louis Hals. Louis schlug mit dem Bein aus, legte seine ganze Kraft hinein. Der Kzin grunzte nur. Mit ungewohnter Sanftheit drückte er den Wonnestecker in den Kontakt auf Louis' Schädel.

»Okay«, sagte Louis. Der Kzin ließ ihn wieder los und setzte sich auf seine Couch. Louis hatte bereits begriffen, was mit Prill geschehen sein mußte. Erst jetzt kam ihm zu Bewußtsein, wie sehr er sich nach ihr gesehnt hatte. sich gewünscht hätte, daß sie aus den Klauen der ARM befreit wurde. sie bei sich zu haben.

»Halrloprillalar ist tot. Meine Agenten haben mich absichtlich getäuscht«, sagte der Puppetier. »Sie wußten, daß die Eingeborene der Ringwelt schon seit achtzehn Standardjahren tot ist. Ich könnte jetzt hierbleiben, um die beiden in ihrem Versteck aufzustöbern; aber das könnte vielleicht noch einmal achtzehn Jahre dauern. Oder achtzehnhundert Jahre! Das Universum der Menschen ist zu groß. Sie sollen das Geld behalten, das sie sich erschwindelt haben.«

Louis nickte lächelnd. Er wußte, daß ihn die Nachricht schmerzlich treffen würde, sobald er den Wonnestecker wieder entfernte. Er hörte Chmeee fragen: »Woran, starb sie?«

»Sie hat die Verjüngungsdroge nicht vertragen. Die Vereinten Nationen sind inzwischen der Meinung, daß sie doch, physiologisch betrachtet, kein Mensch sein konnte. Sie alterte sehr rasch. Ein Jahr und fünf Monate lebte sie noch auf der Erde. Dann starb sie.«

»Schon tot«, dachte Louis laut. »Sie starb, als ich auf dem Planeten Kzin war.« Aber ganz zufrieden war er nicht mit der Auskunft des Puppetiers. »Sie hatte ihr eigenes Lebenselexier bei sich. Es war viel besser als unsere Verjüngungsdroge. Wir hatten eine Flasche davon an Bord, als wir sie zur Erde brachten.«

»Es wurde gestohlen. Mehr weiß ich auch nicht.«

Gestohlen? Aber Prill hätte doch niemals den Fuß auf eine Straße des Planeten Erde gesetzt, wo sie mit gewöhnlichen Dieben hätte zusammenkommen können. Vielleicht hatten die Wissenschaftler der Vereinten Nationen den Flakon geöffnet, um das Elixier zu analysieren. Doch dazu hätten sie nicht mehr benötigt als ein Mikrogramm. Vermutlich würde er die Wahrheit nie erfahren. Sie hatten jedenfalls alles Wissenswerte aus ihr herausgequetscht, bevor sie starb.

Es würde weht tun. Ganz sicher. Aber noch stand er unter dem Einfluß des Wonnesteckers.

»Wir werden sofort aufbrechen.« Der Puppetier setzte sich auf die gepolsterte Pilotenbank. »Sie werden in einem Stasisfeld reisen, damit Ihre Kräfte geschont werden. Ich habe noch einen Reservetreibstoff-Tank, den ich abwerfe, ehe wir in den Hyperraum überwechseln. Wir werden mit vollen Tanks bei der Ringwelt eintreffen. Chmeee, wie würden Sie unser Schiff taufen?«

Chmeee fragte: »Haben Sie noch keine feste Vorstellung von unserem Reiseziel?«

»Doch. Wir erforschen die Raumhafenseite der Ringwelt. Weiter werden wir nicht vordringen. Haben Sie die Güte, unser Schiff zu taufen?«

»Ich nenne es ›Heiße Nadel‹

Louis lächelte wieder. Er fragte sich, ob der Puppetier den Doppelsinn des Namens erkannte. Die Kzinti verwendeten weißglühende Nadeln beim Verhör von Gefangenen. Der Puppetier ergriff mit den Lippen zwei Schaltknöpfe und brachte sie zusammen.

4. Aus dem Gleichgewicht

Louis sackte in sich zusammen, als sich sein Gewicht plötzlich verdoppelte. Die schwarze Canyon-Bergsilhouette war verschwunden. Auch die Stemenkulisse hatte sich verändert. Da war nur noch ein ganz heller Stern direkt unter dem Rumpf. Der Hinterste löste sich aus dem Sicherheitsnetz und stieg von seiner Pilotenbank herunter. Auch der Puppetier schien wie ausgewechselt. Er bewegte sich wie ein müder alter Mann, und seine Mähne — inzwischen anders gekämmt — schien seit geraumer Zeit nicht mehr mit Lockenwicklern in Berührung gekommen zu sein.

Der Wonnestrom trübte nicht das Denkvermögen. Louis erkannte sogleich das Augenscheinliche: Er und Chmeee mußten zwei Jahre in der Stasis-Starre verbracht haben, während der Puppetier mit »Heißer Nadel« allein durch den Hyperraum geflogen war. Das bekannte Universum, eine Blase erforschter Sternensysteme, deren Radius ungefähr vierzig Lichtjahre betrug, mußte weit hinter ihnen liegen. Heiße Nadel mußte also so gebaut sein, daß nur ein Puppetier die Kontrollen bedienen konnte, während alle Passagiere im Betäubungsschlaf lagen und damit auch der Willkür eines Puppetiers ausgeliefert, der in dieser Zeit Herr über Leben und Tod war. Halrloprillalar war tot, weil er, Louis Wu, seine Aufsichtspflicht verletzt hatte. Er würde sich schrecklich einsam, fühlen, wenn man den Stecker wieder aus seinem Kopf entfernte. Das würde jetzt bald geschehen. Aber solange sein Gehirn noch unter Wonnestrom stand, berührte ihn das alles nicht.

Er sah keine Rückstoßflamme. Heiße Nadel bewegte sich jetzt nur noch mit einem reaktionslosen Antrieb.

Die Architekten der Liar hatten die Schiffsmotoren in einem großen Deltaflügel angebracht. Als sie über die Ringwelt hinwegflogen, waren sie vermutlich von einer großkalibrigen Laserkanone beschossen worden, die ihnen die Motoren verbrannte. Wahrscheinlich hatte der Hinterste dafür gesorgt, daß sich dieser Fehler nicht wiederholen konnte. Die Schubmotoren waren jetzt im Rumpf untergebracht, geschützt vor solchen Geschossen.

Chmeee fragte: »Wie lange dauert es noch, bis wir landen können?«

»Wir können in fünf Tagen andocken. Ich konnte leider nicht das modernste Antriebssystem einbauen lassen, das wir bei unserer Planetenflotte verwenden. Unsere Schubmotoren sind irdische Fabrikate. Damit können wir nur mit zwanzig g verzögern. Ist de künstliche Schwerkraft Ihrer Kabine ausreichend?«

»Ein bißchen leicht, wvürde ich sagen. Eine irdische Schwerkraft?«

»Eine Ringwelt-Schwerkraft. Das entspricht null komma neun neun zwei einer irdischen Schwerkraft.«

»Behalten Sie diesen Wert ein. Sie haben uns keine Instrumente gegeben, Hinterster. Ich würde mir gern die Ringwelt aus der Entfernung betrachten.«

Der Puppetier dachte über das Gesuch nach. »Ihr Landefahrzeug hat ein Teleskop an Bord, aber damit kann man nicht senkrecht nach unten sehen. Warten Sie einen Moment.« Der Puppetier wandte sich seiner Instrumentenkonsole zu. Der eine Kopf drehte sich nach hinten und sprach mit den nasalen Zischlauten der Heldensprache.

Chmeee sagte: »Verwenden Sie bitte Interworld. Louis sollte wenigstens zuhören können.«

Der Puppetier befolgte den Rat des Kzin: »Ich war einsam. Es tut mir wohl, wieder sprechen zu können, egal, in welcher Sprache. Ich gebe Ihnen jetzt eine Projektion der Ringwelt, wie ich sie durch das Teleskop der Heißen Nadel sehe.«

Ein Bild erschien auf dem Boden zwischen Louis Wus Füßen: ein Rechteck, in dem die Sonne der Ringwelt und die Sterne in ihrer Nachbarschaft plötzlich viel größer aussahen. Louis deckte die Sonne mit einer Hand zu und suchte in ihrer Nähe. Da war die Ringwelt: ein babyblaues Band, das einen Halbkreis bildete.

Man stelle sich ein hellblaues Seidenband vor, das ungefähr zweieinhalb Zentimeter breit ist und siebzehn Meter lang. Man lege es hochkant auf den Boden, bilde daraus einen Kreis und stelle eine Kerze in die Mitte des Kreises. Nun muß man nur noch den Maßstab vergrößern:

Die Ringwelt war so ein Band, nur aus einem unvorstellbar widerstandsfähigem Material hergestellt, dessen Breite tausend Meilen und dessen Länge sechshundert Millionen Meilen betrug. Dieses Band war zu einem Kreis auseinandergezogen, dessen Radius fünfundneunzig Millionen Meilen betrug und sich um eine Sonne in seinem Mittelpunkt drehte. Die Rotationsgeschwindigkeit betrug siebenhundertsiebzig Meilen pro Sekunde. Diese Geschwindigkeit reichte aus, um die Zentrifugalkraft eines g zu erzeugen. Die Ringwelt-Ingenieure, über deren Abkunft man nichts wußte, hatten Innenseite des Rings mit Erde, Ozeanen und Atmosphäre ausgestattet. Sie hatten die Außenränder dieses gigantischen Bandes tausend Meilen hoch gezogen, damit die Atmosphäre nicht verlorenging. Trotzdem schäumte vermutlich die Luft über den Rand des konkaven Bandes hinweg; nicht in großen Mengen und auch nur sehr langsam. Ein innerer Ring aus zwanzig rechteckigen Sonnenblenden bewegte sich auf einer Bahn, die ungefähr dem Orbit des Merkurs im Sonnensystem entsprach. Mit Hilfe dieser Sonnenblenden hatten die Ringwelt-Ingenieure einen Tag- und Nacht-Zyklus von dreißig Stunden erzeugt.

Die Ringwelt verfügte über eine bewohnbare Fläche von sechshundert Millionen Quadratmeilen. Ihre bewohnbare Fläche war also drei Millionen mal größer als die der Erde.

Louis, der Dolmetscher, Nessus und Teela Brown hatten die Ringwelt fast ein Jahr lang bereist. Dabei hatten sie zweihunderttausend Meilen quer zur Längsachse der Ringwelt zurückgelegt und waren dann zu der Stelle zurückgekehrt, wo sie mit der Liar notgelandet waren. Das war nur ein Fünftel der Breite dieses Kunstplaneten gewesen. Dieser winzige Ausschnitt, den sie kennengelernt hatten, qualifizierte sie wohl kaum zu Experten. Konnte überhaupt ein denkendes Wesen jemals behaupten, daß es die Ringwelt kennengelernt hätte?

Dabei hatten sie auch den Raumflughafen am oberen Rand der Außenhaut besichtigt. Angeblich wollte der Hinterste mit ihnen nur auf der Außenhaut im Raumhafenbereich landen, dort etwas an Bord nehmen und dann wieder verschwinden. Rasch verschwinden. Denn.

Denn es war ganz deutlich zu sehen auf dem Bild, das durch das Teleskop des Raumschiffes auf den Boden projeziert wurde: das babyblaue Band der Ringwelt — die Farbe von drei Millionen erdähnlichen Welten, die noch zu weit entfernt waren, als daß man Einzelheiten hätte unterscheiden können, obwohl die Schatten der Sonnenblenden sich von den hellen Flecken deutlich abgrenzten — bewegte sich mehr konzentrisch um ihre Sonne. Sie war aus ihrem Gleichgewicht geraten.


»Das haben wir nicht gewußt«, sagte Chmeee. »Wir verbrachten fast ein Kzin-Jahr auf dieser Kunstwelt und merkten es nicht. Wie konnte uns das nur entgangen sein?«

Der Puppetier sagte: »Die Ringwelt konnte sich noch nicht exzentrisch bewegt haben, als Sie zum erstenmal hiergewesen sind. Das liegt immerhin schon zweiundzwanzig Jahre zurück.

Louis nickte. Nur der Wonnestrom, der sein Gehirn noch beherrschte, hielt das Entsetzen nieder; wenn er an das Schicksal der Bewohner der Ringwelt dachte. Der Hinterste fuhr fort: »Die Ringwelt-Struktur ist in der Ebene ihres Orbits instabil. Das wußten Sie doch, oder?«

»Nein!«

Louis sagte: »Ich wußte es nicht, bis ich wieder auf der Erde war und gewisse Überlegungen anstellte. Ich habe mich mit dem Problem eingehend befaßt.«

Die beiden fremden Wesen sahen ihn jetzt an. Er hatte wirklich nicht so viel Aufmerksamkeit erregen wollen.

Nun, auch gut. »Es ist recht einfach nachzuweisen, daß die Ringwelt sich auf einer instabilen Kreisbahn bewegt. Zwar stabil um ihre Längsachse, aber instabil in ihrer Neigungsebene. Früher muß irgend etwas die Sonne auf der Achse festgehalten haben.«

»Aber jetzt ist sie nicht mehr im Mittelpunkt des Kreises!«

»Was sie dort auch festgehalten haben mag — es funktioniert nicht mehr.«

Chmeee scharrte mit seinen Klauen auf dem unsichtbaren Boden der Raumschiffzelle. »Aber dann müssen sie alle sterben! Milliarden von Wesen, zehn Milliarden — oder gar Billionen?« Er wandte sich Louis zu. »Ich kann dein sattes Lächeln nicht mehr sehen. Könntest du nicht ohne deinen Wonnestecker mit mir reden?«

»Ich rede klar und deutlich.«

»Okay, dann rede. Warum ist die Ringwelt instabil? Es liegt nicht an ihrem Orbit?«

»Nein, die Umlaufbewegung muß konstant sein. Dieser unglaubliche Drall hält das Band straff. Aber wenn du die Ringwelt aus ihrer Bewegungsebene heraushebst, wird sie sich immer mehr von ihrem ursprünglichen Mittelpunkt entfernen. Doch die Gleichungen, um das nachzuweisen, sind ziemlich kompliziert. Ich habe sie mit einem Computer erarbeitet, doch die Zahlen, die ich bekam, erschienen mir nicht ganz glaubhaft.«

Der Hinterste sagte: »Wir trugen uns einmal mit dem Gedanken, unsere eigene Ringwelt zu bauen. Aber die Instabilität ist zu groß. Schon eine starke solare Fackel würde soviel Druck auf den Artefakten ausüben, daß er aus dem Gleichgewicht gerät. Nur noch fünf Jahre kann es dauern, bis der Kreis mit seiner Sonne in Berührung kommt.«

»Fünf Jahre. Das ist das Ergebnis meiner Berechnung gewesen«, sagte Louis.

Chmeee scharrte wieder auf dem Boden. »Ausgleichsdüsen! Die Ringweltingenieure haben den Artefakten doch ganz bestimmt mit Ausgleichsdüsen ausgerüstet!«

»Vielleicht. Wir wissen, daß sie die Bussard-Rammdüsen entwickelten. Sie benützten sie zum Antrieb ihrer Sternenschiffe. Okay, wenn die Außenseite des Ringplaneten mit einer ausreichenden Anzahl von Rammdüsen bestückt war, konnte man die Ringwelt stabil halten. Die Motoren würden den Wasserstoff den Solarwinden entnehmen. Es würde ihnen also nie der Treibstoff ausgehen.«

»Aber wir sahen nichts dergleichen. Überleg doch nur, wie groß diese Motoren sein müßten!«

Louis kicherte: »Was nennst du hier groß? Im Vergleich mit der Ringwelt? Wir haben sie einfach übersehen. Das ist alles.« Aber er mochte es nicht, wenn Chmeee sich vor ihm aufrichtete und die Krallen ausfuhr.

»Du nimmst das einfach so hin? Auf diesem Artefakten leben vielleicht so viele Wesen, daß man damit die Planeten des bekannten Universums tausendmal bevölkern könnte. Und zudem sind sie mit deiner Rasse viel näher verwandt als mit meiner.«

»Du bist ein rücksichtsloser, erbarmungsloser Fleischfresser. Ich würde das nicht vergessen«, entgegnete Louis. »Erstens: es wird mir weh tun. Es wird mir sogar ziemlich weh tun, sobald der Hinterste meinen Wonnestecker vom Netz trennt. Aber es wird mich nicht umbringen, weil ich mich inzwischen ein wenig mit dem Gedanken an diese Katastrophe vertraut gemacht haben werde. Und weißt du vielleicht ein Heilmittel dagegen? Hast du eine Idee, wie wir ihnen helfen können? Irgend eine Idee?«

Der Kzin wandte sich ab. »Hinterster, wieviel Zeit bleibt ihnen noch?«

»Ich werde versuchen, das herauszufinden.«


Die Sonne hatte sich schon ein erhebliches Stück vom Zentrum der Ringwelt entfernt. Louis schätzte, daß sie vielleicht siebzig Millionen Meilen von einem Halbkreis und hundertzwanzig Millionen Meilen vom anderen entfernt war. Der eine Halbkreis bekam ungefähr dreimal soviel Sonnenenergie als der entferntere Halbkreis, und der Artefakt rotierte in einem Zyklus von siebeneinhalb Dreißig-Stunden-Tagen. Die Wetterveränderung mußte enorm sein. Pflanzen, die sich den veränderten klimatischen Bedingungen nicht anpassen konnten, würden aussterben. Desgleichen die Tiere und die Menschen.

Der Hinterste hatte seine Besichtigung durch das Teleskop beendet. Nun arbeitete er am Computer, versteckt hinter den dicken grünen Schottwänden. Louis fragte sich, was er sonst noch in diesem, seinen Blicken verborgenen Teil des Schiffes versteckt hielt.

Der Puppetier trottete wieder in sein Blickfeld. »In einem Jahr und fünf Monaten wird die Ringwelt mit ihrer Sonne in Berührung kommen. Vermutlich wird sie dann zerschellen. Wenn man die Rotationsgeschwindigkeit berücksichtigt, werden die Bruchstücke in den interstellaren Raum hinausfliegen.«

»Die Sonnenblenden«, murmelte Louis.

»Wie bitte? Ja, die Sonnenblenden kollidieren noch vor der Sonne mit der Ringwelt. Trotzdem können wir ihr noch eine Frist von mindestens einem Jahr geben. Diese Zeit reicht für uns aus«, fuhr der Hinterste energisch fort. »Wir werden nicht mit der Innenseite der Ringwelt in Berührung kommen. Unser Expeditionsziel ist, die Außenhaut zu untersuchen, den Raumhafen auf ihrem Rand. Bei der ersten Expedition haben Sie die Außenhaut aus einer Entfernung von mehreren zehntausend Meilen beobachtet, ohne von der Meteor-Verteidigungsanlage der Ringwelt beschossen worden zu sein. Ich glaube deshalb, daß der Raumhafen aufgegeben worden ist. Wir können sicher dort landen.«

»Und was erwarten Sie sich von der Landung? Was suchen Sie auf dem Raumhafen?«

»Ich bin überrascht, daß Ihr Gedächtnis in diesem Punkt versagt.« Der Hinterste wendete sich wieder seiner Instrumentenkonsole zu. »Louis, Sie haben sich lange genug in Wonne gebadet.«

»Noch nicht.«

Das Wonnefeld in seinem Gehirn brach zusammen.

5. Entzugserscheinungen

Louis beobachtete durch das Querschott, wie der Puppetier an seinem Wonnestecker arbeitete. Er dachte an den Tod solcher Massen, daß ihm der Kopf schwindelte, an den Tod als eine sehr eigene persönliche Erfahrung, an den Tod, den er fremden Wesen zudachte, die den Strom für die Lustzentren seines Gehirnes kontrollierten.

Zwei flache Köpfe drehten und schraubten an einem kleinen schwarzen Gehäuse herum, als wäre es ein Happen von zweifelhaftem Geschmack. Lange bewegliche Zungen und tastempfindliche Lippen arbeiteten in dem Gehäuse. In ein paar Minuten hatte der Puppetier die Schaltuhr neu eingestellt, sie auf einen Tageszyklus von dreißig Stunden eingerichtet und die Stromstärke um fünfzig Prozent reduziert.

Der nächste Tag war eitel Wonne. Kein menschliches Trübsal war ihr beigemischt. Nichts konnte ihn jetzt mehr stören, aber. Louis vermochte seine Gefühle nicht mehr richtig zu definieren. Als an diesem Abend der Strom zu früh abgeschaltet wurde, überfiel ihn die Depression wie eine Wolke von Senfgas.

Alsdann fiel der Schatten Chmeees über ihn, der den Stecker aus seinem Schädel entfernte und ihn auf die Transportscheibe stellte, damit er hinüberglitt auf das Flugdeck. Für eine Neueinstellung. Schon wieder.

Louis schrie und sprang das Tigerwesen an. Er zog sich an dem Fell an seinem Rücken hinauf und versuchte ihm die Ohren abzureißen. Der Kzin wirbelte herum. Louis hielt sich an einem fellbedeckten Arm fest, doch der Arm schleuderte ihn herum, und er fand sich an einer Wand wieder. Halb betäubt und mit tiefen Kratzwunden auf der Haut ging Louis erneut zum Angriff über.

Diesmal wich Chmeee zurück und sprang auf die Transportscheibe, während der Hinterste in der Kommandozentrale die Schalter mit dem Mund bediente.

Chmeee kauerte sich auf der schwarzen Scheibe zusammen. Er sah gefährlich und lächerlich zugleich aus.

Der Hinterste sagte: »Eine so schwere Masse kann von diesen Scheiben nicht bewegt werden. Halten Sie mich für einen Idioten, daß Sie von mir erwarten, ich würde mir einen Kzin in den Leitstand holen?«

Chmeee fauchte: »Wie intelligent kann ein Wesen sein, das die Blätter von den Bäumen frißt?« Er warf Louis den Wonnestecker wieder zu und trottete zu seinem Wasserbett.

Ein Scheinmanöver. Chmeee hatte den Wonnestecker aus Louis' Schädel herausgerissen, als der Wonnestrom gerade abgeschaltet wurde. Er hatte Louis Wus Jähzorn herausgefordert, um die Aufmerksamkeit des Puppetiers abzulenken. Und dann hatte er sich auf die Transportscheibe gestellt. Der Hinterste sagte: »Das nächstemal ändere ich die Schaltzeit, ehe Sie den Stecker bekommen. Ist Ihnen das lieber?«

»Sie wissen ganz genau, daß mir das lieber ist!« Louis hielt den Stecker mit beiden Händen fest umklammert. Aber der Stecker war tot — erst wenn die Schaltuhr ihn wieder aktivierte, erwachte er zum Leben.

»Ihre Lebenserwartung ist doch fast so groß wie unsere. Wie vergänglich ist der Genuß dieser Droge«, fuhr der Hinterste fort. »Und bald werden Sie so reich sein, als würde ein Märchen Wirklichkeit. Die Ringwelt-Raumschiffe verfügten über Werkzeuge, mit denen sie Materie in großen Mengen billig umwandeln konnten. Nach dem gleichen Verfahren müssen sie die Ringwelt gebaut haben!«

Louis blickte überrascht auf.

»Ich wünschte mir nur, wir würden die Masse und den Umfang dieser Maschinen kennen«, fuhr der Puppetier fort. »Die Raumfahrzeuge der Ringwelt waren riesige Flugapparate. Aber wir müssen diese Maschinen nicht transportieren. Es genügt, wenn wir ein Hologramm mit Hilfe von Tiefenradar anfertigen und Hologramme von der Arbeitsweise dieser Maschinen. Das würde genügen, meine Untertanen zu überzeugen. Dann brauchen wir nur noch einen Mark 4 General-Products-Raumer, um so eine Maschine auf der Ringwelt zu bergen.«

Der Fremdling konnte nicht erwarten, daß ein Mann, der sich in Wonnestrom-Verzückung befand, auf jede kleine Bemerkung reagierte. Louis beobachtete lediglich den Kzin, wie er sich zu dem Vortrag des Puppetiers stellte.

Der Kzin verhielt sich bewundernswert. Einen Moment war er wie erstarrt. Dann sagte er: »Sie sprachen eben von Ihren Untertanen. Aber ich dachte, Sie haben Ihre Vorrechte verloren?«

»Das stimmt.«

»Wie konnte das geschehen?«

»Wir haben eine Strecke von elf Milliarden Meilen im freien Fall zurückzulegen und müssen unterwegs eine Geschwindigkeit von zweiundfünfzigtausend Meilen pro Sekunde kontinuierlich verzögern. Bisher ist nur ein Tag im freien Fall vergangen. Wir haben also sehr viel Zeit.«

»Das ist richtig. Wir können die Zeit auch nicht mit nützlicher Arbeit ausfüllen. Also gut. Man muß wissen, daß das Zweiparteiensystem der Konservativen und Experimentalisten eine sehr lange Tradition besitzt. Meistens waren die Konservativen die regierende Partei. Doch als unsere Welt sich zu sehr als Folge ausgedehnter Industrialisierung erhitzte, schoben die Experimentalisten unsere Welt weiter nach außen in den Kometenring hinein. Ein Regime der Experimentalisten beendete und kolonisierte zwei Ackerbau-Planeten. Eine spätere Regierung bewegte zwei weitere Welten von einer äußeren Umlaufbahn, wo sie sich als Monde eines weit entfernten Eisgiganten entwickelt hatten, in unser Planetensystem hinein.«

Inzwischen hatte Chmeee genügend Zeit gehabt, seine Erregung zu unterdrücken und sich seine nächste Frage zu überlegen. Sehr gut. Vielleicht hatte der Kzin sogar die Position verdient, die er einst ausfüllte: Vermittler zu sein zwischen den Kzin und den Menschen, »Dolmetscher« seiner Rasse, Gesandter auf der Erde.

».wir tun, was nötig ist, und dann werden wir wieder entmachtet. Das war ein historisches Gesetz. Die Experimentalisten kamen an die Macht, als unsere Sonden das Imperium der Kzinti entdeckten. Ich glaube, Nessus hat Ihnen bereits berichtet, wie wir das Problem gelöst haben.«

»Sie unterstützten die Menschheit.« Chmeee verhielt sich seltsam ruhig. Louis hätte eigentlich erwartet, daß er jetzt die Wände hochging. »Die vier Kriege mit der Menschheit vernichteten vier Generationen unserer besten Krieger, damit die friedfertig Veranlagten unserer Rasse sich um so besser vermehren konnten.«

»Wir hofften, Sie damit in die Lage zu versetzen, mit anderen intelligenten Lebewesen besser zurechtzukommen. Meine Partei errichtete auch ein Handelsimperium in dieser Region. Trotz unserer Erfolge verloren wir stetig an Autorität. Dann entdeckten unsere Sonden, daß der Kern unserer Galaxis explodiert war. Die Schockwelle würde in zwanzigtausend Jahren unser Planetensystem erreichen. So blieb unsere Partei an der Macht, um den Exodus unserer Planeten zu organisieren.«

»Wir vorteilhaft für Sie! Doch trotzdem hat man Sie abgesetzt?«

»Ja.«

»Warum?«

Der Puppetier blieb eine Weile die Antwort schuldig. Dann: »Eine Vielzahl meiner Entscheidungen waren nicht populär. Ich manipulierte das Schicksal zweier Rassen — das der Kzinti und der Menschen. Irgendwie sickerte unser Geheimnis durch, wie wir die Geburtenregelung auf der Erde sabotiert hatten, um mehr glückliche Menschen heranzuzüchten. Wie wir den Verlauf des Ersten Menschheits-Kzin-Krieges manipulierten, um mehr vernünftige Kzinti heranzuzüchten. Meine Vorfahren gründeten General Products, das interstellare Handelsimperium. Dadurch geriet meine Partei in den Verruf, daß sie aus dem Wahnsinn eine Tugend machte, denn nur die Wahnsinnigen unter meinen Artgenossen riskieren ihr Leben mit der Raumfahrt. Als ich Ihre Expedition zur Ringwelt organisierte, wurde ich selbst für verrückt erklärt, daß ich eine Kontaktaufnahme mit so einer fortgeschrittenen Technologie riskierte. Aber man darf nie die Augen vor einer Gefahr verschließen!«

»Deshalb hat man Sie also entmachtet.«

»Das mag ein. ein willkommener Vorwand gewesen sein.« Der Hinterste schritt ruhelos im Leitstand hin und her: clopclopclop, clopclopclop. »Sie wissen bereits, daß ich mich bereit erklärte, Nessus als Geschlechtspartner anzunehmen, wenn er von der Ringwelt zurückkehren würde. Er verlangte, daß ich mein Versprechen einlöste. Als er zurückkehrte, wurden wir kopuliert. Dann vereinigten wir uns noch einmal, diesmal aus Liebe. Es war verrückt, und viele Puppetiers, die den Rang des Hintersten einnahmen, waren verrückt gewesen. Und. so verfügten sie meine Absetzung.«

Louis fragte plötzlich: »Wer von euch beiden ist das Männchen?«

»Ich wundere mich, warum Sie diese Frage nicht schon Nessus stellten. Aber er würde es euch nicht gesagt haben, nicht wahr? Nessus ist sehr schüchtern, wenn man mit ihm ein heikles Thema besprechen will. Wir haben zwei Arten von Männchen, Louis. Meine Art legt sein Sperma in das Fleisch des Weibchens, und die Gattung von Männchen, zu der Nessus gehört, implantiert ihr Ei in das Weibchen mit einem sehr ähnlich geformten Organ.«

Chmeee fragte: »Sie haben drei verschiedene Gen-Paare?«

»Nein, nur zwei. Das Weibchen steuert kein Gen bei. Tatsächlich kopulieren die Weibchen miteinander, um neue Weibchen zu erzeugen. Sie gehören nicht eigentlich zu unserer Spezies, obgleich sie schon seit geraumer Vorzeit mit uns symbiotisch zusammenleben.«

Louis zuckte zusammen. Die Puppetiers vermehrten sich wie die Schlupfwespen: ihre Nachkommenschaft fraß das Fleisch eines hilflosen Wirtes. Nessus hatte sich geweigert, über sein Geschlecht zu reden. Nessus hatte recht gehabt. Es war eine scheußliche Art, sich fortzupflanzen.

»Aber ich hatte recht«, sagte der Hinterste. »Ich tat recht daran, eine Mission zur Ringwelt zu schicken, und wir werden das jetzt beweisen. Noch fünf Tage im freien Fall und dann höchstens zehn Tage, bis wir auf dem Raumhafen der Ringwelt landen. Dann rechne ich noch fünf Tage hinzu, bis wir mit Hyperantrieb wieder in das Weltall entweichen können. Die Innenseite des Ringes, die kultivierte und bewohnte Fläche des Kunstplaneten, brauchen wir überhapt nicht zu betreten. Halrloprillalar erzählte Nessus, daß die Raumschiffe der Ringwelt mit Blei ausgekleidet wurden, um sie kompakter zu machen. Dieses Metall wurde dann während des Raumfluges in Luft, Wasser und Treibstoff umgewandelt. Eine konservative Regierung würde niemals mit den komplexen Problemen, die mit einer solchen Technologie verbunden sind, fertig werden. Deshalb werden sie mich wieder in mein früheres Amt berufen.«

Die Depression, die dem Entzug des Wonnestroms folgte, tötete Louis' Lachreiz ab. Trotzdem war diese Geschichte ziemlich lustig. Besonders deswegen, weil er an dieser Geschichte schuld war.


Am nächsten Morgen reduzierten die beiden fremden Wesen den Wonnestrom noch einmal um fünfzig Prozent. Aber das machte nicht sehr viel Unterschied. Solange er überhaupt noch Strom bekam, war er zufrieden. Aber jahrelang hatte er sich nun durch die Depressionen gequält, wenn die Schaltuhr den Wonnestrom abstellte. Doch er wußte, daß die depressiven Phasen ein Ende fanden, sobald das Kraftfeld in seinem Gehirn wieder aufgebaut wurde. Seine Depressionen waren nun viel schlimmer, denn es gab keine Sicherheit mehr für ihn. Die fremden Wesen konnten den Strom jederzeit abschalten. und wenn sie das auch nicht taten, blieb er von ihnen abhängig.

Was die beiden fremden Wesen in den vier Tagen des freien Falles besprachen? Er wußte es nicht. Er versuchte sich auf die Ekstase seines Wonnefeldes zu konzentrieren. Verschwommen erinnerte er sich daran, daß sie aus dem Computerspeicher Hologramme abriefen. Dazu gehörten die Gesichter der Ringwelt-Eingeborenen: gedrungen, fast zierlich, vollkommen bedeckt mit goldfarbenen Haaren (nur einer, ein Priester, war rasiert); und die gigantischen Drahtskulpturen in den schwebenden Palais (eine kurze Stubsnase, ein kahler Schädel und messerdünne Lippen); und Halrloprillalar (die vermutlich der gleichen Rasse angehörte); und Sucher, der wandernde Held, der Teela unter seinen Schutz gestellt hatte (fast menschlich, doch muskelbewehrt wie ein Jinxianer und ohne Bartwuchs). Da waren die Städte, die der Zahn der Zeit in Ruinen verwandelt hatte, und die fliegenden Wolkenkratzer, die auf die Erde gestürzt waren, als die Energiezufuhr versagte. Da waren die Hologramme von der Liar, die sich den Sonnenblenden näherte, und eine Stadt, die unter einer rauchgrauen Smogschicht zu liegen schien, obwohl dieser Smog nur aus hauchdünnen Sonnenblendendraht bestand.

Die Sonne wuchs von einem Punkt zu einem schwarzen Fleck mit einem hellen Rand darum herum. Seine gleißende Helle wurde von der Innenbeschichtung der Rumpfzelle absorbiert. Die blaue Aura um die Sonne dehnte sich kontinuierlich aus.

In seinen Träumen kehrte Louis auf die Ringwelt zurück. In einem großen schwebenden Gefängnis hing er mit dem Kopf nach unten in seinem ausgebrannten Flugrad, dreißig Meter über dem betonharten Boden, auf dem die Gebeine der früheren Häftlinge verstreut lagen. Nessus' Stimme dröhnte in seinen Ohren und versprach ihm die Rettung aus dieser prekären Lage. Doch er wartete vergeblich darauf.

Als er wieder erwachte, nahm er zur Routine Zuflucht. bis er am Abend des vierten Tages sein Abendmenü betrachtete, es in die Toilette warf und Brot und verschiedene Käsesorten verlangte. Vier Tage hatte es gedauert, bis ihm bewußt wurde, daß die ARM ihm nichts mehr anhaben konnte. Er durfte wieder Käse essen!

Und welche Genüsse standen ihm neben dem Wonnestecker noch zur Verfügung? fragte sich Louis. Käse. Die Schlafplatten, Liebe (nicht praktizierbar). Körperfarben-Orgien. Freiheit, Sicherheit, Selbstachtung. Erfolgsgefühle. Tanj, ich habe fast vergessen, in solchen Kategorien zu denken. Ich habe das alles verloren. Freiheit, Sicherheit, Selbstachtung. Ein bißchen Geduld, und ich kann den ersten Schritt in diese Richtung machen. Was gibt es noch Gutes? Brandy, mit Kaffee vermischt. Filme.


Vor dreiundzwanzig Jahren hatte der Kzin-Dolmetscher das Raumschiff Lying Bastard an den Außenrand der Ringwelt heranmanövriert. Nun beobachteten Chmeee und der Hinterste die Aufzeichnungen dieses Ereignisses.

Aus der Nähe betrachtet, zu einem Gebilde mit parallelen Linien, die sich in einem Fluchtpunkt vereinigten. Und dann, als das Raumschiff lotrecht über der Innenkante der Ringwelt zu schweben schien, so daß die bemusterte Innenfläche des Artefakten im toten Blickwinkel lag, schienen die Ringe des Raumschiff-Verzögerungssystems direkt in die Kamera hineinzufliegen, wiederholten sich endlos, in Infrarot, im sichtbaren Spektrum und im ultravioletten Licht. Auch auf den Bildern des Tiefenradars flogen sie in die Kamera hinein oder sie krochen in Zeitlupe vorüber — riesige Elektromagnete, sich aufs Haar gleichend, sich endlos wiederholend.

Aber Louis Wu betrachtete mit zunehmender Trunkenheit die acht Stunden dauernde Vorführung wie ein Fantasie-Epos über die Verwandlung einer Welt. Zuerst trank er Kaffee mit Branntwein, dann Branntwein mit Soda und schließlich Brandy pur. Es war ein Film, den er sich ansah, nicht eine Reportage: Von den Darstellern waren nur zwei mit menschlichen Empfindungen ausgestattet. Die anderen zwei entsprachen nicht der Wirklichkeit.

Einmal versuchte er Chmeee in eine Diskussion über Saberhagens Verwendung von optischen Täuschungen zu verwickeln. Aber er war noch genügsam genug, sich im letzten Moment jede Bemerkung zu verkneifen. Er wagte nicht, sich in betrunkenem Zustand mit Chmeee zu unterhalten. Die Puppetiers haben versteckte Ohren, versteckte Ohren.

Die Ringwelt wurde immer größer.

Zwei Tage lang war sie nur ein feingestrichelter blauer Reifen gewesen, schmal, zerbrechlich aussehend, um eine exzentrische Sonne gelegt. Der Reifen wuchs in dem Maße, wie der schwarze Kreis seiner Sonne sich ausdehnte. Allmählich ließen sich größere Einzelheiten unterscheiden. Ein innerer Ring von schwarzen Rechtecken, von Sonnenblenden. Eine Ringmauer, nur tausend Meilen hoch, aber stetig anwachsend, so daß sie den Blick auf die terraformierte Innenseite der Ringwelt versperrte.

Am Abend des fünften Tages war die Eigengeschwindigkeit der Heißen Nadel fast auf Null reduziert worden, und die Ringmauer war eine große schwarze Wand vor den Sternen.

Louis stand nicht unter Strom. Heute hatte er sich dazu gezwungen, auf den Wonnestecker zu verzichten; und dann hatte ihm der Hinterste mitgeteilt, daß der Wonnestrom abgeschaltet blieb, bis sie sicher gelandet waren. Louis hatte nur mit den Achseln gezuckt. Das würde nicht mehr lange dauern.

»Die Sonne fackelt«, sagte der Hinterste.

Louis blickte hoch. Das Meteorenschutzschild blockierte den Blick auf die Sonne. Er sah nur die Sonnenkorona, ein flammender Kreis um eine schwarze Scheibe. »Geben Sie uns ein Bild davon«, sagte er.

Er sah sie jetzt in dem rechtwinkeligen »Bullauge« durch einen Dunkelfilter als riesige, gemusterte Scheibe. Diese Sonne war etwas kleiner und kälter als Sol, die irdische Sonne. Es gab keine Sonnenflecken, keine Schlieren, nur einen helleren Streifen in der Nähe ihres Mittelpunktes. »Der Blickwinkel ist nicht günstig«, sagte der Hinterste. »Wir sehen die Sonnenfackel direkt von oben.«

»Vielleicht ist die Sonne seit einigen Jahren instabil«, sagte Chmeee. »Das könnte eine Erklärung sein, warum sie nicht mehr die Mittelachse der Ringwelt bildet.«

»Möglich. Die Aufzeichnungen der Lying Bastard registrierten ebenfalls eine Sonnenfackel bei ihrem ersten Anflug auf die Ringwelt; aber dann blieb sie fast das ganze Jahr über, das sie auf dem Artefakten verbrachten, ruhig und stabil.« Die Köpfe des Hintersten schwebten über der Schaltkonsole. »Seltsam. Die magnetischen Ströme.«

Die schwarze Scheibe versank hinter dem schwarzen Rand der Ringmauer.

»Die Magnetmuster dieses Sternes sind sehr ungewöhnlich«, sagte der Hinterste.

Louis sagte: »Dann ändern Sie den Kurs, damit wir noch eine Messung vornehmen können.«

»Das gehört nicht zu unserem Expeditionsauftrag. Wir sammeln keine Meßdaten.«

»Sind Sie nicht neugierig?«

»Nein.«


Der Abstand betrug keine zehntausend Meilen mehr. Aus dieser Entfernung schien die schwarze Wand so gerade, als wäre sie mit einem Lineal gezogen. Die Dunkelheit und die Geschwindigkeit löschte alle Details. Der Hinterste hatte den Teleskopschirm auf den Empfang von infrarotem Licht eingeschaltet, aber das half nicht viel. oder etwa doch? Da waren Schatten, die sich am Fuß der Ringmauer abzeichneten — kühle Dreiecke, die zwischen dreißig und vierzig Meilen hoch waren, als ob irgend etwas auf der inneren Seite der tausend Meilen hohen Ringwand das Sonnenlicht reflektieren würde. Und da war noch eine dunklere, kühlere Linie, die sich am Fuß der Ringmauer entlangzog und sich von links nach rechts bewegte.

Chmeee fragte höflich: »Docken wir an oder schweben wir nur?«

»Wir schweben, um die Lage zu erkunden.«

»Der Schatz gehört Ihnen. Sie können ihn lassen, wo er ist, wenn Ihnen die Sache nicht geheuer ist.«

Der Hinterste war ruhelos. Mit seinen Beinen klammerte er sich an die Pilotenbank. Muskeln zuckten auf seinem Rücken. Chmeee war ganz entspannt; er schien sich in seiner Haut wohl zu fühlen. »Nessus hatte einen Kzin als Piloten. Es gab Zeiten, wo er sich vollkommen auflöste in seiner Angst. Sie dürfen sich das nicht erlauben. Oder haben Sie eine automatische Landevorrichtung, während Sie sich im Stasisfeld verstecken?«

»Aber wenn unvorhersehbare Ereignisse eintreten sollten? Nein. Ich kann mich nicht auf die Automatik verlassen.«

»Dann müssen Sie das Schiff schon selbst steuern. Also landen Sie, Hinterster!«

Heiße Nadel drehte die Nase nach unten und beschleunigte.

Es dauerte fast zwei Stunden, ehe das Schiff die Umdrehungsgeschwindigkeit der Ringwelt von siebenhundertsiebzig Meilen pro Sekunde erreicht hatte. Inzwischen waren mehrere hunderttausend Meilen der dunklen Wand an ihnen vorbeigerast. Der Hinterste näherte sich vorsichtig dieser Wand, so vorsichtig, daß Louis schon zweifelte, ob er die Landung überhaupt wagen würde. Er verfolgte das Manöver mit großer Gelassenheit. Er stand nicht unter Wonnestrom, hatte diesmal freiwillig darauf verzichtet. Trotzdem gab es für ihn immer noch nichts Wichtigeres auf der Welt als den Wonnestecker.

Aber woher nahm Chmeee seine Geduld? Spürte er seine zurückkehrende Jugend? Ein menschliches Wesen, das noch keine hundert Jahre alt war, hatte das Gefühl, als könnte er sich für alles unglaublich viel Zeit lassen. Reagiert ein Kzin genauso wie ein jugendlicher Mensch? Oder. Chmeee war Berufsdiplomat. Vielleicht konnte er seine Gefühle meisterhaft verbergen.

Die Heiße Nadel balancierte nun auf ihren Schubdüsen unter dem Rumpf. Der Schub von Null komma 992 g paßte ihren Kurs der Kurve der Ringwelt an; wenn man das Schiff sich selbst überließ, würde es jetzt auf einer Tangente in den interstellaren Raum hinausgeschleudert werden. Louis beobachtete, wie die Köpfe des Puppetiers über der Konsole hin- und herzuckten, wie sie Meßanzeigen und Monitoren überprüften, die Louis nicht zu entziffern vermochte.

Die schwarze Linie war jetzt zu einer Reihe von Ringen geworden, die in gleichen, großen Abständen voneinander entfernt lagen. Jeder Ring, der an ihnen vorbeihuschte, hatte einen Durchmesser von hundert Meilen. Bei ihrer ersten Expedition hatten sie sich eine Aufzeichnung ansehen können, wie diese Landehilfe funktionierte. Da hatten sich die Raumschiffe fünfzig Meilen von der Ringmauer entfernt in Warteposition begeben, bis die Ringe sie aus dem freien Fall herausfischten und sie so lange beschleunigten, bis sie die Rotationsgeschwindigkeit der Ringwelt erreicht hatten. Dann hatten die Ringe sie am anderen Ende auf der Rampe des Raumflughafens abgesetzt.

Links und rechts dehnte sich die Mauer bis zu ihren Fluchtpunkten aus. Sie waren jetzt ganz nahe, nur noch ein paar tausend Meilen entfernt. Der Hinterste drückte die Nase der Heißen Nadel noch weiter nach unten, bis sie sich auf gleicher Höhe mit dem Ring-Beschleunigungssystem befand. Hunderttausende von Meilen nichts als Ringe. aber die Bewohner der Ringwelt kannten keine Schwerkraftgeneratoren. Ihre Schiffe und Mannschaften konnten also keine hohen Beschleunigungskräfte aushalten.

»Die Anlage ist stillgelegt. Die Ringe sind ohne Energie. Ich kann auch keine Sensoren für anfliegende Schiffe entdecken«, sagte der Puppetier, einen Kopf in ihre Richtung gedreht. Dann beugte er sich rasch wieder über seine Instrumente.

Und jetzt kam auch die Rampe des Raumhafens in Sicht.

Sie hatte eine Breite von siebzig Meilen. Riesige Kräne wölbten sich anmutig in den Himmel hinauf. Kuppelförmige Gebäude standen am Rand der Landefläche und breite, langestreckte Tieflader. Auch Schiffe waren zu erkennen: vier flachnasige Zylinder, von denen drei beschädigt waren. Ihre Zellen waren aufgebrochen.

»Ich hoffe, Sie haben auch Lichter und Scheinwerfer mitgebracht«, sagte Chmeee.

»Ich möchte noch nicht bemerkt werden.«

»Entdecken Sie Anzeichen dafür, daß unser Schiff beobachtet wird? Wollen Sie ohne Lichter landen?«

»Nein und nein«, erwiderte der Hinterste. Das Buglicht an der Nase der Heißen Nadel flammte auf. Es war ein scharfgebündelter kräftiger Strahl: natürlich auch als Waffe zu verwenden.

Die Raumschiffe auf dem Flugfeld waren riesig. Eine offene Luftschleuse war nur ein schwarzer Punkt auf dem Rumpf. Tausende von Fenstern glitzerten auf den Zylindern wie kandierter Zucker auf einem Honigkuchen. Ein Schiff schien noch unversehrt zu sein. Die anderen hatte man aufgeschnitten und ausgeschlachtet. Ihre Eingeweide waren dem Vakuum und dem Blick fremder Spione hilflos ausgeliefert.

»Nichts warnt uns, nichts greift uns an«, sagte der Puppetier. »Die Temperatur der Gebäude und Maschinen ist genau so hoch wie die der Rampe und der Schiffe — 174° absolut. Der Raumhafen ist schon seit vielen Jahren nicht mehr benützt worden.«

Ein paar massive, kupferfarbene Spiralen waren über die Außenhaut des unverletzten Raumschiffes geschoben. Sie mußten mindestens ein Drittel der Masse des Schiffes besitzen oder sogar noch mehr. Louis deutete auf diese Kupferspiralen: »Das könnten Ramscoop-Generatoren sein. Ich habe einmal die Geschichte der Raumfahrt studiert. Eine Bussard-Rammdüse erzeugt ein elektromagnetisches Feld, mit dem interstellarer Wasserstoff aufgefangen und in eine Verdichtungszone geleitet wird, wo die Kernverschmelzung stattfindet. Ein Ramscoop-Generator sorgt für eine unterbrochene Kraftstoffzufuhr. Aber wenn die Geschwindigkeit für diesen Generator zu gering ist, braucht man einen zusätzlichen Tank für den Raketenhilfsmotor. Dort!« Er deutete auf die Treibstofftanks unter der geborstenen Außenhaut eines ausgeschlachteten Raumschiffes.

Er konnte an diesen ausgeschlachteten Raumschiffen auch keine massiven Ramscoop-Toroide erkennen. Das war seltsam, dachte Louis. Aber Bussard-Rammdüsen verwendeten in der Regel magnetische Monopole, und Monopole waren auch für andere Zwecke unentbehrlich.

Den Hintersten plagten andere Sorgen.

»Sie verwendeten Tanks, um das Blei zu transportieren? Warum legten sie nicht einfach eine Bleihaut um die Schiffszelle, wo sie als Schutzschild dienen konnte, bevor das Metall in Treibstoff verwandelt wurde?«

Louis blieb still. Die Schiffe hatten gar kein Blei mitgeführt.

»Vielleicht wurden diese Raumschiffe in Gefechte verwickelt«, sagte Chmeee. »Das Blei konnte man von dem Rumpf abkochen, und dann wäre das Schiff ohne Treibstoff gewesen. Landen Sie, Hinterster, und wir werden in dem unbeschädigten Schiff die Antworten auf Ihre Fragen finden;«

Die Heiße Nadel schwebte noch über dem Raumhafen.

»Wir könnten auch wieder wegfliegen«, drängte Chmeee, »richten Sie die Nase nach oben und schalten Sie die Schubdüsen ab. Dann fliegen wir in den Raum hinaus und können den Hyperantrieb zünden.«

Die Heiße Nadel ließ sich auf das Landefeld hinunter. Der Hinterste sagte: »Steigen Sie auf die Transportscheiben.«

Chmeee folgte der Aufforderung zuerst. Er schnurrte leise, ehe er verschwand. Louis trat nach ihm auf die Scheibe und befand sich in einem anderen Raum.

6. »So lautet mein Plan.«

Der Raum kam ihm vertraut vor. Er hatte Ähnlichkeit mit dem Flugdeck eines kleinen interplanetarischen Raumschiffes. Sie waren alle gleich ausgestattet: mit einer künstlichen Schwerkraft, einem Computer, den Steuervorrichtungen für die Schubmotoren und für die Ausgleichsdüsen und einem Massedetektor. Die drei Sitze für die Besatzung waren zurückklappbar, mit Sicherheitsnetzen ausgerüstet, mit Kontrollhebeln in den Armlehnen, mit Harnableitern und Ausgabeschlitzen für Nahrungsmittel und Getränke. Einer der drei Stühle war viel größer als die anderen beiden Modelle. Das war alles. Louis hatte das Gefühl, er könnte das Landefahrzeug mit verbundenen Augen bedienen. Ein breites Panoramafenster befand sich über einem Halbkreis von Monitoren und Meßanzeigen. Durch das Fenster beobachtete Louis, wie der Bauch der Heißen Nadel nach oben und außen schwang. Das Landefahrzeug befand sich jetzt außerhalb der Frachtluke.

Chmeee überflog mit einem Blick die größeren Schaltknöpfe und -hebel vor seinem Stuhl. »Wir haben auch Waffen«, sagte er leise.

Ein Monitor blinkte auf und zeigte das verkleinerte Bild eines Puppetierkopfes, der die Lippen bewegte. »Ihre Vakuum-Ausrüstung befindet sich in der Kabine unterhalb der Treppe.«

Die Treppe des Landefahrzeugs war breit und flach, den Tatzen eines Kzin angepaßt. Der Raum, den sie jetzt betraten, war viel größer als das Flugdeck, ausgerüstet mit einem Wasserbett, Schlafplatten und einem Nahrungsmittel-Aufbereiter, der genauso aussah wie das Modell, mit dem sie bisher versorgt worden waren. Außerdem befand sich noch ein Autodock-Gerät in der Wohnkabine, groß genug, um auch einen Kzin darin unterzubringen. Louis hatte eine Ausbildung als Chirurg genossen. Vielleicht wußte der Hinterste davon.

Chmeee hatte seinen Raumanzug in einem der zahlreichen Wandschränke entdeckt. Als er das Ding angezogen hatte, schien er in mehreren miteinander verschweißten Ballons zu stecken. Der Kzin drängte ungeduldig: »Louis! Mach dich fertig zum Aussteigen!«

Louis zog sich den hautengen, einteiligen Raumanzug an, befestigte den Helm darauf und schnallte sich das Tornistergerät auf den Rücken. Der Raumanzug gehörte zur Standardausrüstung. Er war schweißdurchlässig und benötigte daher kein Kühlsystem. Und Louis zog noch eine dünne Außenhaut aus Silber über. Es mußte ziemlich kalt dort draußen auf dem Raumhafen sein.

Die Luftschleuse war für drei Personen gebaut. Gut: Louis konnte sich durchaus eine Situation vorstellen, wo er nicht draußen vor dem Raumschiff warten wollte, bis ein anderer die Luftschleuse passiert hatte. Wenn der Hinterste auch nicht mit einem Notfall rechnete, hatte er doch dafür vorgesorgt. Als die Luft durch Vakuum ersetzt wurde, dehnte sich Louis' Brust aus. Er zog den »Gürtel« straff, das breite elastische Band um seine Hüften, das ihn beim Ausatmen unterstützte.

Chmeee verließ das Landefahrzeug, ging über die Ausstiegsrampe hinaus in die Nacht. Louis nahm eine Werkzeugkiste auf und folgte ihm in leichtem Trab.

Das Gefühl der Freiheit war schwindelerregend, gefährlich. Louis erinnerte sich noch rechtzeitig daran, daß die Sprechfunkanlage in seinem Raumanzug auch mit dem Leitstand der Heißen Nadel verbunden war. Einige Dinge mußten jetzt bald gesagt werden, aber nicht, wenn der Puppetier zuhörte.

Die Proportionen waren auf dem Sims der Ringwelt verzerrt. Die zur Hälfte ausgeschlachteten Raumschiffe wirkten viel zu groß. Der Horizont war zu nahe und viel zu scharf. Eine schwarze Mauer, die sich bis in die Unendlichkeit auszudehnen schien, schnitt die ihm vage vertraute, gleißend helle Sternenlandschaft in zwei Hälften. Wenn man die entfernten Gegenstände durch das Vakuum beobachtete, zeichneten sie sich noch klar und deutlich auf eine Entfernung von mehreren hunderttausend Meilen vom Hintergrund ab.

Das unversehrte Ringwelt-Raumschiff lag ihnen am nächsten. Es schien ungefähr eine halbe Meile entfernt zu sein. Aber der Weg bis dorthin betrug fast eine Meile. Schon bei ihrer ersten Expedition hatte er Entfernungen und Maße der Gegenstände nicht richtig schätzen können. Dreiundzwanzig Jahre hatten ihn von diesem Fehler nicht kuriert.

Keuchend erreichten sie den Bauch des riesigen Schiffsrumpfes. Sie entdeckten einen Aufzug in einer der Landestützen. Die uralte Maschine hatte natürlich längst ihren Geist aufgegeben. Sie mußten mit Hilfe einer Leiter an Bord steigen.

Chmeee versuchte, die Schalthebel an einer riesigen Luftschleuse zu bedienen. Er ließ sich von Louis einen Greifschlüssel zureichen. »Es wäre nicht ratsam, so ein Ding mit einem Schweißbrenner zu öffnen«, sagte er.

»Vielleicht stehen sie noch unter Strom.« Er öffnete die Abdeckung der Schaltanlage und arbeitete an den Relais.

Die äußere Tür schloß sich, die innere schwang auf. Tintenschwarzes Vakuum hüllte sie ein. Chmeee schaltete seinen Taschenlampen-Laser ein.

Louis kam sich plötzlich klein und unscheinbar vor. Dieses Raumschiff war so groß, daß man in ihm die Bevölkerung einer kleinen Stadt unterbringen konnte. In so einem Schiff konnte man sich leicht verirren. »Wir sollten zuerst die Inspektionsröhren aufsuchen«, sagte er. »Ich würde gerne das Schiff mit Preßluft füllen. Mit diesem große Ballonhelm bleibst du in jedem Gang stecken, der für Menschen gebaut wurde.«

Sie gingen in einen Korridor hinein, der an dem gebogenen Schiffsrumpf entlangführte. Rechts gingen Türen ab, die knapp über Louis' Scheitel reichten. Louis öffnete ein paar von diesen Türen. Dahinter entdeckte er Wohnkajüten mit Schlafkojen und zusammenklappbaren Stühlen. Die Möbel waren für humanoide Wesen eingerichtet, die ungefähr seine Größe hatten.

»Ich würde behaupten, daß Halrloprillalars Artgenossen diese Raumschiffe gebaut haben.«

»Damit sagst du nichts Neues«, erwiderte Chmeee. »Ihr Volk baute die Ringwelt.«

»Das taten sie nicht«, gab Louis zurück. »Es ist auch gar nicht sicher, daß sie diese Raumschiffe selbst gebaut haben. Vielleicht haben sie sie von einem anderen Volk übernommen.«

Die Stimme des Hintersten meldete sich in ihren Helmen: »Louis? Halrloprillalar hat Ihnen doch erzählt, daß ihre Artgenossen die Ringwelt erbaut hätten. Glauben Sie, daß sie log?«

»Ja.«

»Warum?«

Sie hatte ihn auch in anderen Dingen belogen. Louis behielt das aber für sich.

Er sagte: »Ich erkenne es an dem Stil. Wir wissen, daß ihre Artgenossen die Städe erbaut haben. All diese schwebenden Wolkenkratzer. Protzobjekte. Monumente, die ihre Macht und ihren Reichtum unter Beweis stellen sollten. Erinnern Sie sich noch an das Luftschloß, an das schwebende Gebäude mit dem Kartenraum? Nessus hat davon holografische Aufzeichnungen gemacht.«

»Ich habe sie studiert«, erwiderte der Puppetier.

»Darin befand sich ein Thronsessel und eine monumentale Drahtskulptur von einem Kopf, die so groß war wie ein Haus. Wer setzte sich ein Luftschloß zum Denkmal, wenn er die Ringwelt bauen konnte? Das ist doch lächerlich. Ich glaube es nicht. Ich habe nie daran geglaubt.«

»Chmeee?«

Der Kzin sagte: »Wir müssen Louis' Urteil akzeptieren. Schließlich weiß er über das Wesen seiner Artgenossen am besten Bescheid.«

Sie bogen jetzt in einen radialen Korridor ein. Hier befanden sich noch mehr Schlafkabinen. Louis nahm eine von ihnen genau unter die Lupe. Der Druckanzug war interessant. Er war wie eine Jagdtrophäe an der Wand befestigt: aus einem Stück wie ein gegerbtes Tigerfell. Reißverschlüsse liefen kreuz und quer über den Anzug hin. Sie waren alle offen, leicht erreichbar, falls das Vakuum den Träger des Anzugs bedrohte.

Der Kzin wartete ungeduldig, während Louis die Reisverschlüsse zuzog und einen Schritt zurücktrat, um auf die Wirkung zu warten. Die Gelenke bauschten sich. Knie, Schultern und Ellenbogen quollen zu Würsten auf, die Hände glichen Walnüssen, die mit einer Schnur zu Ketten verbunden waren. Das Gesicht wölbte sich nach vorn. Unter der Gesichtsplatte befanden sich Meßanzeigen für Energie- und Luftreserven.

Der Kzin fauchte: »Nun?«

»Noch nichts. Ich brauche weitere Beweise. Gehen wir!«

»Mehr Beweise wofür?«

»Ich glaube, ich weiß jetzt, wer die Ringwelt gebaut hat. und weshalb die Eingeborenen so sehr dem Menschen ähnlich sind. Aber warum bauten sie etwas, das sie nicht verteidigen konnten? Das ergibt keinen Sinn.«

»Aber wenn wir darüber diskutieren.«

»Nein, noch nicht. Gehen wir weiter!«

An der Achse des Schiffes fanden sie, was sie suchten. Ein halbes Dutzend radialer Korridore gingen von diesem Punkt ab, und ein Rohr mit einer Leiter führte nach oben und nach unten. Vier Wandsegmente zwischen den Korridoröffnungen waren mit Schaltskizzen versehen. Die Erklärungen waren winzige, sehr ausführliche Piktogramme.

»Wie hilfreich«, sagte Louis. »Als hätten sie geahnt, daß wir eines Tages hier vorbeikommen würden.«

»Die Sprachen wandeln sich«, sagte der Kzin. »Diese Leute waren noch den Gesetzen der Relativität unterworfen; ihre Mannschaften trennte vermutlich der Altersunterschied von einem Jahrhundert. Also brauchten sie solche Hilfen. Auch wir hielten vor den Kriegen mit der Menschheit unser Imperium mit ähnlichen Symbolen zusammen.

Louis, ich kann auf dieser Beschreibungstafel keine Waffenkammer entdecken.«

»Ich sah auch keine militärischen Einrichtungen auf dem Raumflughafen. Wenigstens nichts, was mir ins Auge gesprungen wäre.« Louis fuhr mit dem Finger an den Diagrammen entlang. »Kombüse, Krankenstation, Wohnbereiche — wir befinden uns hier in einem Wohnbereich. Drei Kommandozentralen. Das erscheint mir ein wenig übertrieben.«

»Eine für die Bussard-Rammdüse und den interstellaren Raum. Eine für den Fusionsantrieb und das Manövrieren in einem bewohnten Planetensystem; und ein Waffenleitstand, falls vorhanden. Und eine Kommandozentrale für die Versorgungssysteme. Hier sehe ich ein Bildsymbol, eine Windströmung durch einen Korridor.«

Der Hinterste meldete sich über Funk. »Wenn sie über einen Materienumwandler verfügten, benützten sie auch einen Konversionsantrieb.«

»Oh, nicht unbedingt. Die gewaltigen radioaktiven Abgase hätten in einem bewohnten Planetensystem eine schreckliche Verwüstung angerichtet«, sagte Louis. »Hah! Dort sind unsere Zugänge zu den Ramscoop-Generatoren, zu den Fusionsmotoren, zur Brennstoffzufuhr. Wir wollen zuerst in die Komanndozentrale des Versorgungssystems. Es liegt zwei Decks über uns auf dieser Seite.«


Der Kontrollraum des Versorgungssystems war verhältnismäßig klein: eine gepolsterte Bank vor drei Wänden, die mit Schaltern und Skalen bedeckt waren. Eine Druckplatte am Türpfosten tauchte die Wände in ein gelbweißlich indirektes Licht. Auch die Skalen leuchteten auf. Sie waren natürlich nicht zu entziffern. Piktogramme teilten die Schalter in verschiedene Gruppen ein; anhand der Symbole ließen sich sechs Kategorien unterscheiden: Unterhaltung, Schwerkraftausgleich, Wasser, Abfallbeseitigung, Lebensmittelversorgung, Luftversorgung.

Louis begann die Schalter auszuprobieren. Logischerweise mußten die Schaltelemente, die am häufigsten bedient wurden, besonders handlich und am leichtesten zu erreichen sein. Als er ein pfeifendes Geräusch hörte, trat er von der Schaltwand zurück.

Die Druckanzeige an seinem Kinn stieg stetig an.

Der Luftdruck war niedrig, der Sauerstoffgehalt 40 Prozent. Keine schädlichen Substanzen, geringe Luftfeuchtigkeit.

Chmeee hatte bereits die Luft aus seinem Raumanzug entweichen lassen und zog ihn jetzt wieder aus. Louis schraubte seinen Helm ab, legte das Tornistergerät auf die Bank und schälte sich ebenfalls aus seinem Anzug. Die Luft war trocken und roch etwas muffig.

Chmeee sagte: »Ich schlage vor, wir beginnen mit der Kraftstoffzufuhr. Soll ich vorangehen?«

»Okay.« Eine Ungeduld und Erregung schwang in diesem Wort mit, die er eigentlich hatte unterdrücken wollen. Hoffentlich war das dem Hintersten nicht aufgefallen. Er folgte dem orangefarbenen Rücken des Kzin.

Wieder durch die Tür, dann nach rechts in einen radialen Korridor bis zur Mittelachse des Schiffes. Dann eine Treppe hinunter bis zum nächsttieferen Deck, wo eine große haarige Hand Louis beim Oberarm packte und in einen anderen Korridor hineinzog.

»Wir müssen etwas besprechen«, fauchte der Kzin.

»Ja, es ist höchste Zeit dafür! Wenn er uns jetzt hören kann, können wir gleich aufgeben. Also reiß dich zusammen.«

»Der Hinterste wird uns jetzt nicht zuhören. Louis, wir müssen die Heiße Nadel in unsere Gewalt bringen. Hast du auch schon daran gedacht?«

»Selbstverständlich habe ich das. Aber so ein Plan wäre zum Scheitern verurteilt. Dein erster Versuch war nicht schlecht; aber was würdest du tun, wenn du das Schiff in deine Gewalt bringst? Du kannst mit dem Ding nicht fliegen. Du hast die Kontrolleinrichtungen ja selbst gesehen.«

»Ich kann den Hintersten dazu zwingen, das Schiff nach meinen Befehlen zu manövrieren.«

Louis schüttelte den Kopf. »Vielleicht gelingt es dir, ihn zwei Jahre lang zu bewachen. Aber ich glaube nicht, daß die Versorgungssysteme so lange durchhalten werden. Sie sind nicht dafür gebaut, zwei Piloten zwei Jahre lang am Leben zu erhalten. Der Hinterste hat das alles im voraus geplant.«

»Also willst du dich widerstandslos ergeben?«

Louis seufzte.

»Also gut, gehen wir unsere Möglichkeiten der Reihe nach durch. Wir können den Hintersten mit einer glaubwürdigen Bestechung oder einer glaubwürdigen Drohung konfrontieren. Oder wir können ihn töten, falls wir hinreichend davon überzeugt sind, daß wir auch ohne ihn mit der Heißen Nadel manövrieren können.«

»Ja.«

»Wir können ihn aber nicht mit einem imaginären Materienumwandler bestechen. Dieses Gerät existiert nicht.«

»Ich fürchtete schon, du würdest mit der Wahrheit herausplatzen.«

»Ich bin doch nicht verrückt. Sobald er weiß, daß er uns nicht braucht, sind wir tot. Und wir haben keine anderen Bestechungsmittel. Wir können nicht auf das Flugdeck vordringen. Vielleicht gibt es irgendwo Transportscheiben, die uns dorthin bringen würden; aber wo sind sie im Raumschiff versteckt? Und wie bringen wir den Hintersten dazu, sie anzustellen? Angreifen können wir ihn auch nicht. Die Kugeln durchschlagen keinen General-Products-Rumpf. Die Raumschiffzelle ist mit einer Strahlenschutzschicht überzogen, und das Zwischenschott ist vermutlich genauso gesichert. Ein Puppetier hätte so etwas bestimmt nicht übersehen. Also können wir nicht mit einem Laserstrahl auf ihn schießen, weil sich die Wand in einen Spiegel verwandeln und den Strahl auf uns zurückwerfen würde. Was bleibt uns noch? Solarwaffen? Er brauchte nur die Mikrofone abzuschalten. Habe ich noch etwas ausgelassen?«

»Antimaterie. Du mußt mich nicht erst daran erinnern, daß wir darüber nicht verfügen.«

»Also können wir ihm nicht drohen, ihn nicht verletzen und auch den Kommandostand der Heißen Nadel nicht betreten.«

Der Kzin kraulte sich nachdenklkich die Mähne an seinem Hals.

»Und ich bin mir gar nicht so sicher«, fuhr Louis fort, »daß Heiße Nadel in unser besiedeltes Universum zurückkehren soll.«

»Was soll das nun wieder heißen?«

»Wir wissen zuviel. Wir wären eine schlechte Werbung für die Rasse der Puppetiers. Es ist durchaus möglich, daß der Hinterste uns gar nicht mehr zu unserem Heimatplaneten zurückbringen möchte. Warum sollte er auch? Er will doch nur wieder die Flotte der Puppetier-Planeten erreichen, die jetzt ungefähr zwanzig oder dreißig Lichtjahre von der Ringwelt entfernt ist. Selbst wenn wir die Heiße Nadel in den Griff bekommen, reichen vermutlich unsere Versorgungssysteme nicht aus, mit diesem Raumschiff unsere Galaxis zu erreichen.«

»Sollen wir uns dann ein Ringwelt-Raumschiff unter den Nagel reißen? Dieses hier?«

Louis schüttelte den Kopf. »Wir können es uns genau ansehen. Aber wir werden es vermutlich nicht fliegen können, auch wenn es in gutem Zustand ist. Halrloprillalars Volk brauchte tausend Leute für den Betrieb dieser Raumschiffe, und dabei kamen sie gar nicht weit damit, wenn man Prills Angaben Glauben schenken kann. Aber die Ringwelt-Ingenieure konnten damit weite Räume überbrücken.«

Der Kzin stand regungslos vor ihm, als fürchtete er, bei der kleinsten Bewegung könnte er explodieren. Louis bemerkte erst jetzt, wie wütend Chmeee war. »Läuft deine Logik darauf hinaus, daß ich mich ergeben soll? Können wir uns nicht einmal für die erlittene Schmach rächen?«

Louis hatte auch darüber nachgedacht, als er unter dem Einfluß des Wonnestroms stand. Der Optimismus, der ihn dabei beseelt hatte, wollte sich jetzt nicht mehr einstellen. »Wir verzögern, halten ihn hin, durchsuchen den Raumhafen. Wenn wir nichts Geeignetes finden, suchen wir auf der Ringwelt weiter.

Wir sind für so ein Unternehmen ausgerüstet. Wir zwingen den Hintersten, die Mission nicht eher zu beenden, bis wir die Lösung für unser Problem gefunden haben. Was immer das auch sein mag.«

»Du hast uns das eingebrockt, Louis.«

»Ich weiß. Das ist ja der Witz an der Sache.«

»Warum lachst du nicht?«

»Gib mir meinen Wonnestecker zurück, und ich lache, bis mir die Tränen kommen.«

»Deine idiotischen Theorien haben uns jetzt zum Sklaven eines verrückten Pflanzenfressers gemacht. Du hast dich als Autorität in Dingen ausgegeben, von denen du gar nichts weißt.«

Louis setzte sich mit dem Rücken zur beleuchteten Schaltwand. »Es erschien mir alles so logisch. Tanj, es war logisch. Hör zu: die Puppetiers hatten die Ringwelt schon jahrelang studiert, ehe wir etwas von ihrer Existenz erfuhren. Sie kannten ihre Rotationsgeschwindigkeit, ihre Größe und ihre Masse, die etwas größer ist als die Masse unseres Sol-Planeten Jupiter. Und nun betrachte dir den Himmel über diesem System. Er ist leergefegt. Da gibt es keine anderen Planeten mehr, keinen Mond, keinen Asteroid. Da gab es doch gar keine andere Lösung: die Ringwelt-Ingenieure suchten sich einen Planten von der Größe und Beschaffenheit des Jupiters aus und verwandelten ihn in Baumaterial. Sie verarbeiteten auch den übrigen planetarischen Müll und fügten ihn in der Ringwelt ein. Auch die Masse der Ringwelt entspricht ungefähr dem Planetensystem unserer Sonne.«

»Das war alles nur reine Theorie!«

»Mit der ich euch beide überzeugte. Vergiß das bitte nicht. Und Gasriesenplaneten«, fuhr Louis hartnäckig fort, »bestehen zum größten Teil aus Wasserstoff. Also mußten die Ringwelt-Ingenieure den Wasserstoff in das Ringwelt-Bodenmaterial verwandelt haben — aus welchem Stoff dieses Zeug auch immer bestehen mag. Es ist mit nichts vergleichbar, was wir auf unseren Planeten jemals erzeugt haben. Sie mußten dieses Material mit einer Geschwindigkeit umgewandelt haben, die sogar eine Supernova übertrifft. Chmeee, du mußt zugeben, wer die Ringwelt einmal gesehen hat, traute ihren Ingenieuren alles zu.«

»Auch Nessus ließ sich von dir überzeugen«, schnaubte der Kzin und vergaß, daß er ebenfalls an diese Theorie geglaubt hatte. »Und Nessus fragte Halrloprillalar Löcher in den Bauch, wie sie das Problem der Materieumwandlung gelöst hätten, und sie dachte, unser zweiköpfiger Reisebegleiter wäre ein bezaubernd leichtgläubiges Wesen. Sie band ihm den Bären von den Ringwelt-Sternenschiffen auf, die angeblich Blei transportiert hätten, um es in Treibstoff zu verwandeln. Blei! Warum denn nicht Eisen? Eisen besitzt zwar eine größere Masse, doch seine Molekularstruktur ist viel kräftiger.«

Louis lachte. »Daran dachte sie gar nicht.«

»Hast du ihr vielleicht gesagt, daß die Theorie der Materieumwandlung deinem Kopf entsprungen ist?«

»Was erwartest du von mir? Sie hätte sich nur über mich totgelacht. Und es war schon zu spät, Nessus wieder von dieser Theorie abzubringen. Denn Nessus lag damals schon im Autodock, mit einem amputierten Kopf.«

»Hmmm.«

Louis rieb sich die schmerzenden Schultern. »Einer von uns hätte es besser wissen müssen. Ich sagte dir doch schon, daß ich nach meiner Rückkehr den Computer mit dem Problem fütterte. Weißt du überhaupt, wieviel Energie man braucht, um die Masse der Ringwelt in eine Rotationsgeschwindigkeit von siebenhundertsiebzig Meilen pro Sekunde zu versetzen?«

»Warum fragst du mich?«

»Man braucht eine Menge Energie dazu. Die tausendfache Menge der jährlichen Energieabstrahlung einer Sonne, wie wir sie hier in der Ringwelt vorfinden. Wo wollten die Ringwelt-Ingenieure so viel Energie hernehmen?« Dafür hätten sie mindestens ein Dutzend Planeten von der Größe des Jupiter zerlegen müssen oder einen Super-Jupiter-Planeten, der die Masse des Jupiter mindestens ein Dutzend Male übertraf. Eine Masse, die vorwiegend aus Wasserstoff bestehen mußte. Dann mußten sie einen Teil dieses Wasserstoffes zu Kernenergie verschmelzen, um die nötige Energie für dieses Bauprojekt aufzubringen, und einen Teil von ihm sogar in magnetischen Flaschen lagern. Denn nachdem sie die Ringwelt aus den festen Bestandteilen der ausgeschlachteten Planeten erbaut hatten, mußten sie noch genügend Energiereserven übrig haben, um mit Hilfe von Fusionsraketen die Ringwelt in ihre Rotationsgeschwindigkeit zu versetzen.«

»Einsicht im nachhinein ist eine wunderbare Sache.« Chmeee rannte im Korridor auf seinen Hinterbeinen auf und ab wie ein Mensch, der tief in Gedanken versunken ist. »Wir wurden von einem verrückten fremden Wesen versklavt, um nach einer Maschine zu suchen, die nie existiert hat. Was wird deiner Meinung nach in diesem Jahr geschehen, das uns noch bleibt?«

Es war schwierig, sich optimistisch auszudrücken, wenn man nicht unter dem Wonnestrom stand. »Wir forschen. Materieumwandlung mag ja eine feine Sache sein, aber da gibt es bestimmt noch andere wertvolle Dinge auf der Ringwelt zu entdecken. Vielleicht finden wir etwas. Vielleicht ist auch schon ein Raumschiff der Vereinten Nationen hier gelandet. Vielleicht finden wir eine Raumschiffbesatzung der Ringwelt, die bereits tausend Jahre alt ist. Vielleicht fühlt sich der Hinterste einsam und lädt uns auf sein Flugdeck ein.«

Der Kzin schritt mit zuckendem Schwanz auf und ab. »Kann ich dir vertrauen? Der Hinterste kontrolliert den elektrischen Strom deines Wonnesteckers.«

»Ich werfe diese Sucht über Bord.«

Der Kzin schnaubte.

»Bei Finagles stinkenden Hoden! Chmeee, ich bin zweihundertfünfundzwanzig Jahre alt. Ich bin schon alles gewesen! Ich war erst der Küchenchef. Ich habe mitgeholfen, eine Raumstation über Down zu errichten. Ich habe mich auf Home niedergelassen und dort eine Weile wie ein Kolonist gelebt. Jetzt bin ich ein Wonnestrom-Süchtiger. Nichts ist von Dauer. Man kann nicht einen Beruf oder ein Laster zweihundert Jahre lang durchhalten. Eine Ehe, eine Karriere, ein Hobby — das alles ist nur gut für zwanzig Jahre, und vielleicht wiederholt man auch einmal eine Phase seines Lebens. Ich habe mich auch mit experimenteller Medizin beschäftigt. Ich schrieb ein dickes Buch, eine Dokumentation über die Trinoc-Kultur, und gewann damit einen.«

»Die Wonnestrom-Sucht beeinträchtigt das Gehirn. Das ist ganz etwas anderes, Louis.«

»Ja, es ist ganz etwas anderes.« Louis spürte, wie die Depression ihn überkam, als würde eine schwarze Wand aus Gelee über ihm zusammenbrechen. »Die Welt ist entweder schwarz oder weiß. Der Draht ist tot oder gibt Strom ab. Es gibt keine Zwischentöne. Ich habe es satt. Ich hatte es schon satt, ehe der Hinterste die Kontrolle über meinen Wonnestromstecker übernahm.«

»Aber du hast ihn noch nicht aufgegeben.«

»Ich möchte den Hintersten im Glauben lassen, daß ich ohne ihn nicht auskommen kann.«

»Und du möchtest mich davon überzeugen, daß du ohne ihn auskommen kannst.«

»Ja.«

»Und was denkst du von dem Hintersten? Ich habe noch nie von einem Puppetier gehört, der sich so seltsam benommen hätte.«

»Ich weiß. Ich habe mir schon überlegt, ob nicht alle verrückten Händler Geschlechtsgenossen von Nessus gewesen sind. Ob nicht die beherrschenden Vertreter dieser Gattung sogenannte Spermaträger sind, also Männchen.«

»Hmmm.«

»Es muß nicht unbedingt so sein. Der Wahnsinn, der einen Puppetier auf die Erde treibt, weil er mit den anderen Puppetiers nicht mehr zurechtkommt, ist nicht von gleicher Qualität wie der Wahnsinn eines Joseph Stalin. Was verlangst du von mir, Chmeee? Ich kann dir keine Antwort geben, wie er reagieren wird. Wenn wir ihm die Intelligenz nicht absprechen, wird er die Verhandlungstechnik der General-Products-Gesellschaft anwenden. Es ist die einzige Methode, die nachweisbar bei Vertretern unserer Rassen zum Erfolg führt.«

Die Konservenluft war kühl und schmeckte nach Metall. In diesen Schiffen war viel zu viel Metall eingebaut, dachte Louis. Es war schon seltsam, daß Halrloprillalars Artgenossen keine fortschrittlicheren Materialien verwendet hatten. Die Konstruktion einer Bussard-Rammdüse war nichts für Primitive.

Die Luft roch komisch, und das diffuse, gelbweiße Licht in den Schaltwänden zeigte eine schwankende Helligkeit. Es war wohl besser, wenn sie wieder ihre Druckanzüge anlegten.

Chmeee sagte: »Da draußen steht das Landefahrzeug. Es, könnte uns auch als Raumflugzeug dienen.«

»Und was verstehst du dann unter einem Raumschiff? Ein Verkehrsmittel zwischen Planeten? Ein solches Schiff brauchen wir, wenn wir auf der Ringwelt herumkommen wollen. Aber ich bezweifle, daß wir damit einen anderen Stern erreichen können.«

»Ich dachte daran, die Heiße Nadel zu rammen. Wenn wir schon nicht mehr entrinnen können, sollten wir uns wenigstens rächen.«

»Das würde ziemlich komisch aussehen, wenn du mit diesem Ding eine General-Products-Rumpfzelle rammst.«

Der Kzin ragte über ihm auf. »Du betrachtest mir die Dinge zu oft von der lächerlichen Seite, Louis. Was wäre ich wohl auf der Ringwelt ohne Geschlechtspartner, ohne mein Leben, ohne Namen? Mit einer Lebenserwartung von einem Jahr?«

»Wir werden die Zeit gründlich nützen. Wir werden schon einen Ausweg finden. Inzwischen« — Louis erhob sich von der gepolsterten Bank — »suchen wir offiziell immer noch nach einem nicht existierenden Materieumwandler. Tun wir wenigstens so, als würden wir nach ihm suchen.«

7. Ein entscheidender Augenblick

Louis erwachte mit einem Bärenhunger. Er wählte sich ein Cheddar-Käse-Souffle, Irish Coffee und Blutorangen und aß davon eine doppelte Portion.

Chmeee schlief, zusammengerollt wie eine Wagenburg. Er sah irgendwie anders aus. Hübscher — ja, weil das Narbengewebe verschwunden war. Es war von einem neuen, frisch gewachsenen Pelz überzogen.

Seine Ausdauer war beeindruckend. Sie hatten zunächst alle vier Ringwelt-Sternschiffe durchsucht und waren weitergeeilt zu einem langgestreckten niedrigen Gebäude am Rande der Unendlichkeit, das sich als Leitstelle für die Ringmagnetanlage entpuppte. Zuletzt hatte sich Louis vor Erschöpfung kaum noch bewegen können. Er wußte, daß Heiße Nadel ein viel lohnenderes Objekt für ihre Ermittlungen darstellte. Er mußte sich die Einzelheiten ihrer Konstruktion vergegenwärtigen, nach Schwachpunkten suchen, nach Möglichkeiten, um auf das Kommandodeck zu gelangen. Statt dessen hatte er Chmeee begleitet, ihn schließlich mit seinem Haß verfolgt. Der Kzin hatte auch nicht eine Pause eingelegt.

Der Hinterste erschien plötzlich wie aus dem Nichts. Seine Mähne war gekämmt und gefönt, mit Kristallen geschmückt, die bei jedem Schritt ihre Spektralfarben wechselten. Louis war fasziniert davon. Der Puppetier war schlechter Laune gewesen, als er das Raumschiff alleine steuern mußte. Wechselte er seine Garderobe nur, um seine Gefangenen mit seiner Eleganz zu beeindrucken?

Der Puppetier fragte: »Louis, möchten Sie den Wonnestecker haben?«

Louis wollte ihn haben, aber. »Noch nicht.«

»Sie haben elf Stunden geschlafen.«

»Vielleicht habe ich mich bereits der Planetenzeit der Ringwelt angepaßt. Haben Sie inzwischen etwas erreicht?«

»Ich habe Laser-Spektogramme von den Schiffsrümpfen angefertigt. Sie bestehen größtenteils aus Eisenlegierungen. Zudem fertigte ich Tiefenradar-Bilder an, je zwei Ansichten von den vier Schiffen. Ich unternahm auch einen Erkundungsflug mit Heißer Nadel, während Sie schliefen. Ich entdeckte noch zwei Raumschiff-Rampen auf der Ringwelt; ihre Winkelentfernung auf dem Kreis beträgt einhundertzwanzig Grad. Dort entdeckte ich noch elf weitere Raumschiffe aufgrund der Spektralanalyse ihrer Schiffshaut. Auf diese Entfernung konnte ich natürlich keine Einzelheiten feststellen.«

Chmeee erwachte, streckte sich und trat neben Louis vor das durchsichtige Zwischenschott. »Wir haben bisher nur gelernt, noch mehr Fragen zu stellen«, sagte er. »Ein Schiff war unversehrt, drei ausgeschlachtet. Warum?«

»Vielleicht hätte uns Halrloprillalar darüber Auskunft geben können«, erwiderte der Hinterste. »Aber behandeln wir zunächst die dringenden Probleme. Wo ist der Materie-Umwandler?«

»Wir haben keine Instrumente in unserer Kabine. Transportieren Sie uns zum Landefahrzeug zurück, Hinterster. Wir werden die Monitore auf dem Flugdeck verwenden.«

Acht Monitore schimmerten an der hufeisenförmig angeordneten Instrumentenwand. Chmeee und Louis betrachteten die geisterhaften Schemaskizzen der Bussard-Rammdüsen-Schiffe, die vom Computer aus den Tiefenradar-Bildern zusammengesetzt wurden.

»Es sieht so aus, als hätte ein Team alle drei Schiffe geplündert«, sagte Louis. »Sie montierten zunächst alles ab, was ihnen am wichtigsten erschien. Und dann müssen sie bei ihrer Arbeit unterbrochen worden sein: vielleicht ging ihnen die Luft aus. Das vierte Schiff scheint erst später hinzugekommen zu sein. Hmmm . . . warum hat die vierte Besatzung nicht ihr eigenes Schiff geplündert?«

»Nebensächlichkeiten. Wir suchen nur den Materie-Umwandler. Wo steckt er?«

»Wir konnten ihn nicht identifizieren«, erwiderte Chmeee.

Louis studierte die Geisterskizzen der vier Raumschiffe. »Gehen wir methodisch vor. Untersuchen wir zunächst, was der Materie-Umwandler nicht sein kann.« Er fuhr mit einem Leuchtstab an dem Röntgenbild des unversehrten Raumschiffes entlang. »Hier, diese paarweise angeordneten Toroid-Spiralen am Rumpf müssen zu dem Ramscoop-Feldgenerator gehören. Das hier sind Treibstofftanks. Hier sind die Zugänge, und hier.« Während er die Skizze erklärte, schaltete der Hinterste alle Bauelemente ab, die als Materie-Umwandler nicht in Frage kamen. »Hier sind die Fusionsantriebe, die diesen ganzen Abschnitt umfassen. Dann die Motoren zum Einziehen der Landebeine. Schalten Sie auch die Beine ab. Hier sind die Steuerdüsen, und hier die Plasmazufuhr aus diesem kleinen Fusionsgenerator. Hier sind die Akkumulatoren. Dieses Ding mit der Schnauze, das aus der Mitte des Rumpfes herausschaut — wie hatte Prill es genannt?«

»Cziltang brone«, fauchte Chmeee. »Ein Osmose-Generator, der vorübergehend das Ringwelt-Material aufweicht, um es durchgängig zu machen. Sie benützten Osmose-Generatoren anstelle von Luftschleusen.«

»Richtig.« Louis fuhr mit versteckter Schadenfreude fort: »Vermutlich haben sie diesen geheimnisvollen Materie-Umwandler bestimmt nicht in den Wohnkajüten versteckt, trotzdem. das sind die Wohndecks, das sind die Leitstände der Versorgungseinrichtungen, hier ist die Kombüse.«

»Könnte nicht das vielleicht der Materie-Umwandler sein?«

»Nein, daran dachten wir auch schon. Aber es ist nur ein automatisiertes chemisches Laboratorium.«

»Weiter.«

»Hier sind die Gewächshäuser. Das ist die Zuleitung der behandelten Abwässer. Hier sind die Luftschleusen.«

Als Louis seinen Vortrag beendet hatte, war die Schiffsskizze von den Monitoren verschwunden. Der Hinterste ließ sie noch einmal auf den Schirmen aufleuchten. »Was haben wir beim erstenmal übersehen? Wäre es nicht möglich, daß der Materie-Umwandler abgebaut und in irgendeinem Lagerraum untergebracht wurde?«

Jetzt wurde die Sache lustig. »Aber wenn sie wirklich ihre Kraftstoffreserve an der Außenhaut befestigten — in der Form eines Bleimantels um den Schiffsrumpf — dann kann das doch nicht ein Innenbord-Wasserstofftank sein, nicht wahr? Vielleicht haben sie diesen geheimnisvollen Materie-Umwandler hier aufbewahrt. Er setzte eine starke Pufferung oder wenigstens eine sehr dichte Abschirmung voraus. oder ein Kühlsystem mit flüssigem Wasserstoff.«

Chmeee fragte, ehe der Hinterste einen Einwand erheben konnte: »Wie konnten sie diesen Materie-Umwandler überhaupt entfernen?«

»Vielleicht mit Hilfe eines Cziltang brone von einem anderen Raumschiff. Waren denn alle Treibstofftanks leer?« Er blickte auf die Geisterskizzen der anderen Schiffe. »Ja. Okay, dann werden wir die Materie-Umwandler auf der Ringwelt wiederfinden. und sie werden nicht mehr funktionieren. Die Seuche wird sie zersetzt haben.«

»Halrloprillalars Geschichte von den Bakterien, die von Superleitern leben, haben wir aufgezeichnet«, sagte der Hinterste.

»Nun, so besonders viel konnte sie uns davon ja nicht berichten«, entgegnete Louis. »Ihr Raumschiff hatte eine lange Reise hinter sich. Als sie zurückkam, gab es keine Ringwelt-Zivilisation mehr. Alles, das mit Superleitern ausgerüstet war, hatte seinen Betrieb eingestellt.« Er hatte sich schon damals gewundert, inwieweit Prills Geschichte von dem Verfall der Städte tatsächlich der Wahrheit entsprach. Aber irgend etwas mußte ja die herrschende Zivilisation der Ringwelt zerstört haben. »Superleiter sind eine wunderbare Sache. Am Ende gibt es kein Gerät mehr, das nicht einen Superleiter enthält.«

»Dann können wir die Materie-Umwandler wieder reparieren«, sagte der Hinterste.

»Wie bitte?«

»Sie werden in der Ladebucht Ihres Landefahrzeugs Superleiter-Draht und Superleiter-Druckschaltungen finden. Sie sind nicht aus dem gleichen Material hergestellt, das die Ringwelt benützte. Also ist das Material auch immun gegen diese Bakterien. Ich dachte mir, daß wir dieses Material für einen Tauschhandel anbieten können.«

Louis bewahrte sein Pokersgesicht; aber der Hinterste hatte diesmal doch überrascht. Wie konnten die Puppetiers nur so viel von der Mutanten-Plage wissen, die die Ringwelt-Maschinen zerstört hatte? Plötzlich hatte Louis keinen Zweifel mehr, daß diese Bakterien tatsächlich existierten.

Chmeee hatte es noch nicht begriffen: »Womit haben die Diebe denn die Apparate fortgeschafft? Wenn das Transportsystem auf dem Sims der Ringmauer versagte, können sie mit dem Materie-Umwandler nicht weit gekommen sein. Vielleicht liegen sie gleich hinter der Mauer, wurden dort, liegengelassen, weil sie nicht mehr funktionierten.«

Louis nickte. »Möglich. Wenn nicht, müssen wir ein riesiges Territorium absuchen. Ich schlage vor, wir suchen zunächst nach einem Reparaturzentrum.«

»Louis?«

»Es muß doch irgendwo eine Leitungs- und Wartungszentrale eingerichtet worden sein. Die Ringwelt ist doch kein autonomes technisches System. Da gibt es Anlagen zur Abwehr von Meteoren, zur Reparatur der Schäden, die durch Meteore entstanden, dann die Ausgleichsdüsen zur Korrektur des Orbit. die Ökologie konnte aus dem Gleichgewicht geraten. das alles mußte beobachtet werden. Natürlich kann das Reparaturzentrum überall auf der Ringwelt liegen. Aber es muß eine große Anlage sein. Es dürfte uns also nicht schwerfallen, sie wiederzufinden. Und vermutlich ist sie ebenfalls längst außer Betrieb wie dieser Raumhafen, denn wenn sich jemand um die technische Aufsicht gekümmert hätte, würde die Sonne der Ringwelt immer noch im Zentrum des Artefakten liegen.«

Der Hinterste sagte: »Sie haben sich ja gründlich mit dieser Materie beschäftigt.«

»Dazu hatten wir beim erstenmal nicht die Gelegenheit. Wir kamen als Forscher. Irgendeine Laserwaffe schoß uns vom Himmel herunter, und dann waren wir vorwiegend damit beschäftigt, uns wieder lebend von dieser Welt fortzustehlen. Wir haben an einer Stelle der Ringwelt ein Fünftel ihrer Breite erkundet und dabei fast nichts erfahren. Wir hätten schon damals nach der Reparaturzentrale suchen sollen. Dort werden wir die Wunder dieser Welt finden.«

»Ich hätte nicht so viel Ehrgeiz von einem Wonnestrom-Süchtigen erwartet.«

»Wir werden behutsam vorgehen.« Was die Menschen darunter verstanden, dachte Louis bei sich, nicht die Puppetiers. »Chmeee hat recht: die Materie-Umwandler könnten auf der anderen Seite der Ringmauer liegen, wo man sie wegwarf, sobald man sie durch die Mauer transportiert hatte. Dort wurden sie dann von Bakterien zerfressen.«

Chmeee sagte: »Wir sollten nicht versuchen, mit unserem Landefahrzeug die Ringmauer zu durchstoßen. Ich habe kein Zutrauen zu einer fremden Maschine, die schon mindestens tausend Jahre alt ist. Wir müssen die Ringmauer überfliegen.«

Der Hinterste fragte: »Dann kommen Sie in den Schußbereich der Meteor-Kanonen. Wie wollen Sie diesen ausweichen?«

»Wir müssen sie zu überlisten versuchen. Louis, glaubst du immer noch, daß wir damals von einer automatischen Meteor-Abwehranlage abgeschossen wurden?«

»Ich glaube es bis heute. Es passierte alles so verdammt schnell.« Sie fielen auf die Sonne zu, alle ein bißchen nervös, eingeschüchtert von der überwältigenden Wirklichkeit der Ringwelt. Alle, bis auf Teela natürlich. Und dann gab es plötzlich einen violettweißen Blitz, und dann war die Liar in eine dichte violettglühende Gaswolke eingehüllt. Teela hatte durch ein Bullauge im Rumpf geschaut. »Unser Flügel ist verschwunden«, hatte sie gesagt.

»Wir wurden nicht eher unter Feuer genommen, bis unser Schiff sich auf Kollisionskurs mit der Oberfläche der Ringwelt befand. Also mußte es sich um eine automatische Anlage handeln. Und ich sagte dir vorhin bereits, weshalb ich annehme, daß das Reparaturzentrum längst aufgegeben wurde.«

»Schön. Dann wird also niemand mit Absicht auf uns schießen. Louis, wenn die Abwehranlage automatisch funktioniert, wird sie doch nicht aufs Ringmagnet-Transportsystem schießen, oder?«

»Chmeee, wir wissen nicht, wer dieses Transportsystem gebaut hat. Vielleicht gehört es nicht zu den Werken der Ringwelt-Ingenieure. Vielleicht wurde es erst später errichtet, von Prills Artgenossen.«

»Das trifft zu«, sagte der Hinterste.

Seine beiden Gefangenen drehten sich um, sahen das Bild des Puppetiers auf den Monitoren.

»Ich sagte doch bereits, daß ich mich mit dem Teleskop auf der Ringwelt umgeschaut habe. Dabei stellte ich fest, daß das Magnetring-Transportsystem nur zum Teil fertiggestellt wurde. Es bedeckt nur 40 Prozent der Mauerkrone. Auf dem Abschnitt des Artefakten, wo wir uns jetzt befinden, fehlen diese Magneten. Auf dem Ringwall an der Backbordseite ist das System nur zu 15 Prozent vervollständigt. Die Ringwelt-Ingenieure hätten so ein nebensächliches System auch niemals halb vollendet gelassen, nicht wahr? Vermutlich verwendeten sie das gleiche Raumschiff als Transportmittel, mit dem sie den Bau der Ringwelt überwachten.«

»Prills Volk kam erst später auf diese Welt«, sagte Louis. »Wahrscheinlich sehr viel später. Vielleicht wurde ihnen das Ringmagneten-Transportsystem zu teuer. Möglicherweise ist ihnen sogar die Eroberung der Ringwelt nicht ganz gelungen. aber warum bauten sie dann Sternenschiffe? Oh, was soll's. Vielleicht werden wir das nie erfahren. Aber welche Schlüsse können wir daraus ziehen?«

»Wir überlegten uns gerade, wie wir die Meteor-Abwehranlage überlisten können«, sagte Chmeee.

»Ja. Ich gebe dir recht. Falls die Meteor-Kanonen die Krone der Ringmauer unter Feuer genommen hätten, wäre dort nie ein Transportsystem errichtet worden.« Louis dachte einen Moment darüber nach. Es steckten noch ein paar Löcher in seiner Annahme, doch dann wäre nur noch die Möglichkeit gegeben, das Landungsschiff mit Hilfe des Cziltang brone durch die Wand der Ringwelt zu schleusen. Das Ding war uralt und vermutlich nicht mehr sehr zuverlässig. »Okay. Wir fliegen über die Krone der Ringwelt-Mauer.«

Der Puppetier sagte: »Sie schlagen ein gefährliches Abenteuer vor. Ich bereitete Sie so gründlich wie möglich auf diese Expedition vor. Aber ich mußte mich auf die menschliche Technologie verlassen. Nehmen wir an, Ihr Fluggerät versagt den Dienst? Ich möchte meine Vorräte nicht noch mehr erschöpfen. Sie säßen auf der Ringwelt fest. Sie wissen, daß der Artefakt zum Untergang verurteilt ist.«

»Das habe ich nicht vergesseen«, erwiderte Louis.

»Zunächst müssen wir die elf Raumschiffe untersuchen, die ich auf den anderen Flughäfen auf der Ringmauer entdeckte. Vielleicht finden wir noch mehr auf der anderen Hälfte der Ringwelt.«

Und so konnte es noch Wochen dauern, ehe der Hinterste sich damit abfinden würde, daß an Bord dieser Schiffe keine Materien-Umwandler existierten. Oh, zum Teufel.

»Wir sollten sofort aufbrechen«, sagte Chmeee. »Vielleicht liegt die Lösung des Geheimnisses schon hinter der nächsten Mauer.«

»Wir haben genügend Treibstoff und Vorräte an Bord. Wir können noch warten.«

Chmeee streckte einen Arm aus und legte ein paar Schalter um. Er mußte sich die Sequenz der Schaltvorgänge genau überlegt und die Arbeitsweise des Landungsschiffes eingehend studiert haben, während Louis, von den Anstrengungen des vergangenen Tages erschöpft, wie ein Toter schlief. Das kleine kegelförmige Flugzeug erhob sich dreißig Zentimeter über den Boden, drehte sich um neunzig Grad, und dann füllte der Rückstoß eines Fusionsmotors die Ladeluke mit einem weißen Feuer.

»Das ist töricht von Ihnen«, sagte die melodische Altstimme des Hintersten mit leisem Tadel, »ich könnte Ihren Antrieb sofort abschalten.«

Das Landefahrzeug glitt aus der Ladebucht heraus und stieg mit der brutalen Kraft von vier g in das All hinauf. Als der Hinterste seine Warnung beendete, wären sie jetzt bei einem Absturz bereits getötet worden. Louis verfluchte sich, daß er das nicht vorausgesehen hatte. Chmeee war verjüngt, er hatte unruhiges Blut in den Adern. Die Hälfte aller Kzinti wurden nie erwachsen — sie starben im Kampf.

Und Louis Wu, der sich zu sehr mit sich selbst und seinen Entzugserscheinungen beschäftigt hatte, hatte eine seiner Optionen aus der Hand gegeben.


Er fragte kühl: »Wollten Sie die Ringwelt auf eigene Faust erkunden, Hinterster?«

Die Köpfe des Puppetiers zuckten unentschlossen über seiner Instrumentenkonsole.

»Nein? Dann müssen Sie uns schon überlassen, wie wir die Erkundung durchführen wollen. Vielen Dank.« Louis wandte sich dem Kzin zu und sagte: »Versuche auf dem Ringwall zu landen.« Erst jetzt fiel ihm die eigentümlich starre Haltung des Tigerwesens auf, dessen blanke Augen und ausgefahrene Krallen. Hatte er den Verstand verloren? Wollte er tatsächlich versuchen, mit dem Landungsboot das Raumschiff zu rammen?

Der Kzin heulte in der Heldensprache.

Der Puppetier antwortete mit der Stimme eines Kzin, änderte seine Meinung und wiederholte auf Interworld: »Zwei Fusionsraketen, eine im Achterschiff, eine unter dem Rumpf. Keine Schubmotoren. Sie brauchen die Fusionsmotoren auf dem Boden nicht zu zünden, es sei denn, Sie müssen sich verteidigen. Sie können mit Hilfe der Repulsionsdüsen abheben, die das Schiff von dem Bodenmaterial der Ringwelt wegdrückt. Sie können damit fliegen, als würden Sie einen negativen Gravitationsgenerator benützen, aber die Repulsionsdüsen sind einfacher gebaut und leichter zu reparieren und zu warten. Aber schalten Sie jetzt diese Düsen nicht ein. Sie würden Sie von der Ringmauer abdrücken und in das Weltall hinausstoßen.«

Das erklärte auch Chmeees offensichtliche Panik. Er hatte Schwierigkeiten, mit dem Fluggerät zu fliegen. Das war nicht sehr ermutigend. Aber die Rampe des Raumhafens lag jetzt schon tief unter ihnen, und das entsetzliche Rütteln beim Start hatte sich fast vollkommen gelegt. Sie flogen mit einer stetigen Schubkraft von vier g in das Universum hinauf. und plötzlich stand der Fusionsmotor still. Louis sagte: »Autsch!«, als das Fluggerät in den freien Fall überging.

»Wir dürfen uns nicht zu hoch über die Ringmauer erheben. Schau mal in den Wandschränken nach, Louis. Mache eine Bestandsaufnahme unserer Ausrüstung.«

»Du sagst mit Bescheid, ehe du wieder ein- oder abschaltest, ja?«

»Ja.«

Louis löste sich aus dem Sicherheitsnetz und schwebte den Niedergang hinunter.

Hier befand sich der Wohnbereich, der von Wandschränken und der Luftschleuse umgeben war. Louis fing an, die Türen zu öffnen. Der größte Schrank enthielt ein zusammengelegtes, feines, seidenartiges schwarzes Gewebe, das vermutlich eine Quadratmeile bedeckte, wenn man es auf dem Boden ausbreitete. Daneben lagen Zwanzig-Meilen-Spulen, an denen ein dünner schwarzer Draht aufgewickelt war. Wenn man die Drähte abspulte, hatten sie eine Länge von mehreren hundert Meilen. Der nächste Schrank erhielt Fluggeschirre verschiedener Größen mit Repulsionsdüsen an den Schultern und einen kleinen Schubmotor am Tornister. Zwei große und ein kleines Geschirr. Eines war natürlich für Halrloprillalar angefertigt worden. Louis fand auch noch Taschenlampen-Laser, Betäubungsstrahler und einen mit zwei Händen zu bedienenden, schweren Zerstäuber. Er entdeckte drei Boxen, die ungefähr die Größe von Chmeees Faust hatten, mit einer Halte-Vorrichtung, einem Mikrofon-Gitter und Ohrstöpseln (zwei kleine und ein großer). Das waren offenbar Übersetzungsmaschinen mit einem eingebauten Computer. Wenn sie die Dinger an den Bordcomputer angeschlossen hätten, hätten sie sich diese Boxen ersparen können.

Und da waren große rechteckige Repulsionsplatten — sollten diese Dinger als Lastenschlepper dienen? Und er sah Rollen mit Sinclair-Molekularketten, die aussahen wie sehr dünner und sehr fester Draht. Dann eine Kiste mit sehr kleinen Goldbarren. Sollten sie diese als Währung beim Tauschhandel benützen? Schutzbrillen mit eingebauten Linsen und Lichtverstärkern. Schutzpanzer. Louis murmelte: »Er hat an alles gedacht.«

»Vielen Dank.« Der Hinterste sprach auf einem Monitor, den Louis bisher noch nicht entdeckt hatte. »Ich hatte viele Jahre Zeit, diese Expedition vorzubereiten.«

Louis hatte es satt, in allen Ecken und Enden des Schiffes auf den Hintersten zu stoßen. Seltsam. Er konnte auch die Geräusche zweier sich raufender Katzen im Niedergang hören. Der Hinterste redete also mit zwei Köpfen in zwei verschiedenen Sprachen auf einmal und gab Chmeee Unterweisungen in den Instrumenten des Landefahrzeuges. Er hörte den Ausdruck für »Steuerraketen« — Chmeees Stimme brüllte, ohne sich des Mikrofons zu bedienen: »Louis, halt dich fest!«

Louis schoß wieder durch den Niedergang nach oben. Kaum saß er im Stuhl, als Chmeee bereits die Fusionsmotoren zündete. Das Landefahrzeug wurde abgebremst und schwebte dann knapp über den Rand der Ringmauer.

Der Sims war breit genug für das Landefahrzeug, aber mehr hätte nicht darauf Platz gehabt. Und wie nahm die automatische Meteor-Abwehranlage der Ringwelt dieses Manöver auf?

Sie hatten sich damals innerhalb des Kreises der Ringwelt befunden und fielen auf den inneren Ring der Schattenblenden zu, als dieses violette Licht das Raumfahrzeug »Lying Bastard« einhüllte. Der Rumpf der »Liar« hatte sich im selben Augenblick in einer Null-Zeit-Blase abgekapselt. Als die Zeit wieder einsetzte, hatten der Rumpf und seine Besatzung keinen Schaden davongetragen. Aber der Delta-Flügel der »Liar« mit ihren Schubdüsen und Fusionsmotoren und Sonden hatte sich in ionisierten Dampf aufgelöst. Und der flügellose Rumpf fiel auf die Ringwelt zu.

Später hatten sie darüber nachgedacht, was dieses Attentat zu bedeuten hatte. Sie mutmaßten, daß der violette Laser zu einem automatischen Meteor-Abwehrsystem gehörte. Sie glaubten, daß der Laser sich auf einer der Sonnenblenden befand. Aber das war alles nur Theorie; sie hatten auf der Ringwelt nichts über deren Waffensysteme erfahren.

Das Magnetring-Transportsystem war eine viel spätere Errungenschaft. Die Ringwelt-Ingenieure hatten es nicht in ihre Berechungen einbezogen, als sie die Meteor-Verteidigungsanlage programmierten. Aber Louis hatte alte Aufzeichnungen von der Arbeitsweise dieses Transportsystems in einem von Halrloprillalars Spezies aufgegebenem Gebäude gesehen. Das Transportmittel hatte funktioniert; und die Meteor-Verteidigungsanlage hatte nicht auf die linearen Magnetbeschleuniger geschossen oder auf die Raumschiffe, die von diesem Magnetstrom aufgenommen wurden. Louis klammerte sich an die Armstützen seines Sessels und wartete auf eine violette Flamme, als Chmeee das Landungsschiff über den Rand der Ringweltmauer hinweggleiten ließ.

Aber die Flamme blieb aus.

8. Ringwelt

Wenn man die Erde aus einer Höhe von tausend Meilen betrachtet — von einer Raumstation in einer Zwei-Stunden-Kreisbahn —, gleicht die Erde einer großen Kugel. Die Königreiche dieser Welt drehen sich im Blickfeld. Einzelheiten verschwinden hinter dem gekrümmten Horizont, andere, bisher verborgene Details schieben sich in einen günstigen Blickwinkel hinein. Nachts markieren die Lichter der Städte die Umrisse der Kontinente.

Wenn man jedoch die Ringwelt aus einer Höhe von tausend Meilen betrachtet, ist die Welt flach, und man sieht die Königreiche dieses Planeten alle auf einen Blick. Die Mauer der Ringwelt war aus demselben Stoff gemacht wie ihr Boden. An manchen Stellen war infolge der Bodenerosion bereits dieses künstliche Material zutage getreten. Louis hatte bei ihrer ersten Expedition darauf zu gehen versucht — doch dieses graustichige, durchsichtige Material war schrecklich schlüpfrig gewesen. Aber hier war die Oberfläche durch Reibungskräfte aufgerauht worden. Jedoch der Druckanzug und das Tornistergerät machten Chmeee und Louis kopflastig. Sie bewegten sich sehr vorsichtig.

Am Fuß dieser glasartigen, tausend Meilen hohen Klippe hing eine dünne, nicht ganz geschlossene Wolkendecke und Wasserflächen. Gewässer in einer Ausdehnung von zehntausend bis ein paar Millionen Quadratmeilen waren mehr oder weniger gleichmäßig über das Land verteilt und mit einem Netzwerk von Flüssen verbunden. Als Louis das Gesicht hob, wurden diese Wasserflecken mit wachsender Entfernung immer kleiner, kleiner und sogar ein bißchen dunstig. so klein, daß man ihre Umrisse nicht mehr zu erkennen vermochte und das Wasser, die Wüste und das fruchtbare Land mit den Wolken zu einem blauen Bleistiftstrich verschmolzen, der wie ein Messer durch das schwarze All schnitt.

Links und rechts davon war auch dieses schwarze Vakuum, bis das Auge das blaue Band wiederfand, das aus der Unendlichkeit hinter dem Horizont hervorzukommen schien. Es stieg wie ein Bogen in den Himmel hinauf, verengte sich wieder, lief in einer Kurve in sich selbst zurück, ein helles Babyblau, das sich mit dunklem Blau in regelmäßiger Folge ablöste, bis es sich hinter einer zusammengeschrumpften Sonne verlor.

Dieser Teil der Ringwelt hatte soeben seinen sonnenentferntesten Punkt durchschritten, aber ein Stern von der Beschaffenheit der irdischen Sonne konnte einem trotzdem auf diese Distanz die Augen ausbrennen. Louis blinzelte und schüttelte den Kopf. Seine Augen waren geblendet und sein Geist verwirrt. Diese weiten Entfernungen übten eine hypnotische Macht auf seinen Verstand aus und hielten ihn fest, so daß man stundenoder tagelang in die Unendlichkeit hinausstarrte. Man konnte seine Seele an diese Entfernungen verlieren. Was war ein einzelner Mensch, wenn man ihn einem so gewaltigen Artefakten gegenüberstellte?

Er war Louis Wu. Es gab nichts auf dieser Ringwelt, das sich mit ihm vergleichen ließ. Daran hielt er fest. Vergiß die Unendlichkeiten; konzentriere dich auf das Detail.

Hier, ungefähr fünfunddreißig Grad bogenaufwärts, bemerkte er einen etwas helleren blauen Fleck.

Louis stellte die Vergrößerung an seiner Schutzbrille ein. Sie hafteten auf der Gesichtsplatte, aber man mußte schon seinen Kopf sehr still halten, wenn man was durch diese Linsen erkennen wollte. Dieser helle Fleck war ein Ozean, eine Ellipse, die sich fast über die ganze Breite der Ringwelt erstreckte.

Er konnte auch Gruppen von Inseln hinter einer dünnen Wolkenschicht ausmachen. Auf der anderen Seite des Bogens, nur etwas höher, entdeckte er noch so einen großen Ozean. Er glich einem etwas unregelmäßigen vierzackigen Stern, der gleichfalls mit Gruppen von winzigen Inseln bestreut war — winzig natürlich nur aus dieser Entfernung, in der man die Erde mit dem nackten Auge vielleicht gerade noch hätte erkennen können.

Die Größe dieses Artefakten überwältigte ihn von neuem. Er mußte den Blick aus der Entfernung zurücknehmen und Gegenstände in seiner nächsten Umgebung betrachten.

Fast senkrecht unter ihm, ein paar hundert Meilen spinnwärts, lehnte ein halber Bergkegel betrunken gegen die Ringmauer. Er schien seltsam regelmäßig geformt zu sein. Man konnte drei Schichten an ihm unterscheiden, die sich farblich voneinander absetzten: oben ein kahler, schmutziggrauer Gipfel ein ganzes Stück tiefer ein weißes Band, das vermutlich aus Schnee und Eis bestand; dann ein grünes Band, das sich bis in die Hügel am Fuße des Berges ausdehnte.

Dieser Berg stand ganz isoliert in der Landschaft. Wenn man spinnwärts blickte, bildete die Ringmauer eine flache senkrechte Klippe, so weit man mit den binokularen Schutzbrillen zu sehen vermochte. Nein. Wenn diese Beule am äußersten Rand des Sichtfeldes noch so ein Berg war, dann war er verdammt weit von seinem Standort entfernt. Dort stieg die Ringwelt schon in einer schlanken Kurve zu einem Bogen an.

Da war noch so eine Beule, wenn man antispinnwärts blickte. Louius runzelte die Stirn. Merke dir das für zukünftige Studien vor.

Wenn man nach Backbord blickte (geradeaus) und dann den Blick ein wenig nach rechts verschob (spinnwärts), konnte man eine glitzernde weiße Fläche erkennen, viel heller als das Land und das Wasser. Ein mitternachtsblauer Schatten näherte sich dieser Region. Salz, war Louis' erster Gedanke. Dieser helle glitzernde Fleck mußte eine gewaltige Ausdehnung haben. Er schloß bereits ein paar Dutzend Wasserflächen der Ringwelt ein, die kleinste davon ein Binnenmeer von der Größe eines Lake Huron, die größte dem Mittelmeer auf der Erde vergleichbar. Grelle Punkte wanderten über dieses Feld und erloschen wieder.

Ah! »Ein Sonnenblumenfeld.«

Chmeee blickte nach Backbord. »Das Feld, über dem ich bei unserer ersten Expedition fast verbrannt wäre, war größer.«

Slaver-Sonnenblumen waren so alt wie das Slaver-Imperium, das vor mehr als einer Milliarde Jahren zugrunde gegangen war. Die Slaver-Rasse schien diese Sonnenblumen zum Schutz ihres Eigentums am Rand ihrer Grundstücke angepflanzt zu haben. Heute noch konnte man auf einigen Welten des bekannten Universums auf diese Pflanzen stoßen. Es war sehr schwierig, sie auszurotten. Man konnte sie nicht einfach mit Laserkanonen abbrennen. Die Silberblüten der Pflanzen warfen den Strahl auf den Schützen zurück.

Was diese Sonnenblumen auf der Ringwelt zu suchen harten, war ein Rätsel. Chmeee, der damals noch Dolmetscher hieß, war über die Ringwelt hinweggeflogen, als eine Wolkenbank unter ihm aufriß und sich die parabolspiegelartigen Blüten der Pflanzen auf ihn ausrichteten. Die Narben, die von diesen gebündelten Lichtstrahlen zurückgeblieben waren, waren jetzt fast verheilt.

Louis verkleinerte den Bildausschnitt, holte diesen glitzernden Fleck näher heran. Eine geschwungene, glatte Grenzlinie trennte das blaugrüne, erdähnliche Terrain von dem silbernen Sonnenblumenfeld. Die Linie schob sich wie eine Zunge in das Feld hinein, wo das Land in ein Gewässer überging.

»Louis? Links hinter dem Sonnenblumenfeld kann ich eine kurze schwarze Linie erkennen.«

»Ich sehe sie.« Ein kleiner schwarzer Strich auf einer unendlich ausgedehnten Mittags-Landschaft, vielleicht hunderttausend Meilen von ihrem Standort entfernt. Nun, was konnte das sein? Eine riesige Teergrube? Nein, petrochemische Stoffe hätten sich niemals auf der Ringwelt entwickeln können. Ein Schatten? Was konnte unter der ewigen Mittagssonne der Ringwelt einen Schatten werfen?

»Chmeee, ich glaube, es ist eine schwebende Stadt.«

»Ja. Schlimmstenfalls ist es irgendein Zentrum einer Zivilisation. Wir sollten uns dorthin wenden.«

Bei ihrem ersten Besuch der Ringwelt waren sie in alten, verfallenden Städten auf vereinzelte schwebende Gebäude gestoßen. Warum sollte es hier nicht eine Stadt geben, die nur aus fliegenden Gebäuden bestand? Es ließ sich aus dieser Perspektive natürlich nicht erkennen. »Ich schlage vor«, sagte Louis, »daß wir in sicherer Entfernung von diesem Zivilisationszentrum landen und uns bei den Eingeborenen über diese Stadt erkundigen. Ich möchte nicht wie ein Fallschirmspringer mitten zwischen diesen Leuten landen. Wenn es ihnen gelungen ist, ihre Stadt vor dem allgemeinen Verfall der Zivilisation zu retten, müssen wir mit bösen Überraschungen rechnen. Es muß sich um eine zähe Rasse handeln. Am besten gehen wir gleich am Rand des Sonnenblumenfeldes nieder.«

»Warum ausgerechnet dort?«

»Die Sonnenblumen haben eine verheerende Wirkung auf die Ökologie der Ringwelt. Vielleicht können die Einheimischen unsere Hilfe sehr gut gebrauchen. Deshalb werden sie uns dort auch wohlwollend empfangen. Hinterster, was sagen Sie dazu?«

Die Lautsprecher blieben stumm.

»Hinterster? Ich rufe den Hintersten. Chmeee, ich glaube, er kann uns nicht hören. Die Mauerkrone der Ringwelt blockiert seine Signale.«

Chmeee sagte: »Ich glaube, daß unsere Freiheit nicht lange dauern wird. Ich habe ein paar Sonden in der Ladebucht hinter unserem Landungsboot entdeckt. Der Puppetier wird die Sonden als Relaisstationen verwenden. Gibt es noch etwas Wichtiges, das du mir jetzt im Vertrauen sagen möchtest?«

»Ich würde sagen, wir haben das alles schon gestern abend besprochen.« »Nicht alles. Unsere Motive decken sich nämlich nicht, Louis. Wie ich dich verstanden habe, möchtest du vor allem dein Leben retten. In zweiter Linie verlangst du eine freie Verfügung über den Wonnestrom. Ich hingegen möchte nicht nur mein Leben und meine Freiheit retten, sondern verlange auch Satisfaktion. Der Hinterste hat einen Kzin gekidnappt. Er soll mir das büßen.«

»Einverstanden. Er hat mich ebenfalls gekidnappt.«

»Hat ein Wonnestrom-Süchtiger überhaupt noch eine Vorstellung von gekränkter Ehre? Also versuche mir ja nicht in den Arm zu fallen, wenn ich Satisfaktion verlange, Louis.«

»Dürfte ich dich vielleicht daran erinnern«, erwiderte Louis, »daß ich dir bei unserer ersten Expedition auf der Ringwelt das Leben rettete? Ohne mich hättest du nie die Long Shot auf deinen Heimatplaneten entführen und dir einen Namen verdienen können.«

»Damals warst du aber kein Wonnestrom-Süchtiger.«

»Ich bin auch jetzt kein Wonnestrom-Süchtiger. Behaupte jetzt bloß nicht, ich würde dich belügen.«

»Das habe ich gar nicht.«

»Still.« Louis deutete mit dem Finger durch das Panoramafenster. Aus den Augenwinkeln hatte er eine Bewegung am Sternenhimmel bemerkt. Eine Sekunde später kam die Stimme des Hintersten aus dem Lautsprecher.

»Bitte verzeihen Sie mir die Funkpause. Was haben Sie inzwischen beschlossen?«

»Wir werden erkunden«, gab Chmeee knapp zurück. Er wandte sich wieder dem Fenster zu.

»Übermitteln Sie mir Einzelheiten. Ich riskiere nicht gerne eine meiner Sonden, um mich mit Ihnen unterhalten zu können. Sie sind eigentlich zur Brennstoffergänzung des Raumschiffes gedacht.«

»Dann holen Sie Ihre Sonde wieder zum Schiff zurück«, sagte Chmeee zum Puppetier. »Wenn wir von dem Erkundungsflug zurückkehren, werden wir ausführlich Bericht erstatten.«

Die Sonde ging mit Hilfe mehrerer Düsen auf der Ringwand nieder. Es war ein plumper, ungefähr sechs Meter hoher zylindrischer Körper. Der Hinterste meldete sich wieder: »Sie führen eine leichtfertige Sprache. Es ist schließlich mein Landungsboot, das Sie aufs Spiel setzen. Beabsichtigen Sie, die Basis der Ringmauer abzusuchen?«

Generationen von Puppetier-Händlern hatten Sprachunterricht genommen, bis sie sich mit dieser betörenden, melodischen Frauen-Altstimme artikulieren konnten. Vermutlich lernten sie eine andere Sprache, mit der sie Frauen zum Kaufen verführten. Für Männer war es eine Stimme, der sie kaum zu widerstehen vermochten. Louis bäumte sich dagegen auf. Er sagte: »Wir haben doch Kameras an Bord des Landungsbootes. Damit können Sie uns doch aus der Ferne beobachten.«

»Ich habe Ihren Wonnestecker, Louis. Ich verlange eine Erklärung.«

Weder Louis noch Chmeee gaben dem Hintersten diesmal eine Antwort.

»Also gut. Ich habe die Transportscheiben-Verbindung zwischen dem Landeboot und dem Raumschiff hergestellt. Die Sonde wird auch dafür als Relaisstation fungieren. Was Ihren Wonnestecker anbelangt, Louis, gebe ich Ihnen das Gerät nicht eher zurück, bis Sie gehorchen gelernt haben.«

Damit war sein Problem kurz und bündig ausgedrückt, dachte Louis.

Chmeee sagte: »Es freut mich, zu erfahren, daß wir fliehen können, wenn wir Fehler machen. Ist die Reichweite der Transportscheiben beschränkt?«

»Ihre Beschränkungen liegen im Energiebereich. Die Transportscheiben können nur eine beschränkte kinetische Energiedifferenz absorbieren. Das Raumschiff und das Landungsboot sollten sich nicht mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen, wenn Sie in das Raumschiff zurückkheren wollen. Außerdem sollten Sie sich immer auf der Steuerbordseite der Heißen Nadel aufhalten.«

»Das können wir mit unseren Plänen vereinbaren.«

»Wenn Sie vorhaben, das Landungsboot zu verlassen, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß nur ich Ihnen die Flucht von der Ringwelt ermöglichen kann. Hören Sie mich, Chmeee, Louis? Die Ringwelt wird nach einem irdischen Jahr mit den Sonnenblenden zusammenstoßen.«

Chmeee hob mit Hilfe der von den Puppetiers entwickelten Repulsionsdüsen ab. Dann schaltete er kurz den Fusionsmotor im Heck des Landungsbootes ein und löste sich vom Rand der Ringweltmauer.

Zunächst war es gar nicht so einfach, mit den Repulsionsdüsen über den Ringweltboden zu fliegen. Da sie sowohl von der Mauer, die den Rand der Ringwelt bildete, als auch von der Landschaft, die unter ihnen lag, abgestoßen wurden, bewegte sich das Landungsboot in einer schrägen Kurve nach unten. Chmeee fing den Sturzflug auf einer Höhe von vierzig Meilen wieder auf.

Louis koppelte das Teleskop mit einem Monitor. Das Landungsboot glitt jetzt auf dem Schubstrahl seiner Repulsionsdüsen über die Atmosphäre dahin. Das Boot lag so still und ruhig im Raum wie ein Ballon. Es eignete sich vorzüglich als Weltraumstativ für ein Teleskop.

Lehmerde, mit Steinen vermischt, türmte sich zu Hügeln, die sich bis zum Fuß der Ringmauer ausbreiteten. Louis bewegte das Teleskop mit starker Vergrößerung an dieser Grenzlinie entlang. Nackte braune Erde vor glasigem Grau. Eine Unregelmäßigkeit würde er mühelos entdecken.

»Was suchst du denn dort?« fragte Chmeee.

Louis hätte antworten können, daß sie unter der Beobachtung des Puppetiers standen, der glaubte, sie suchten nach einem ausgebauten Materieumwandler. Statt dessen sagte er: »Eine Raumschiffbesatzung, die durch die Osmose-Schleuse kam, muß ungefähr hier die Ringwelt betreten haben. Aber ich kann nichts Sperriges entdecken, das auf eine weggeworfene Maschine hindeutet. Kleine Gegenstände interessieren uns doch nicht, oder? Denn sie haben bestimmt alles mitgenommen, was ihnen wertvoll erschien, und nur notgedrungen zurückgelassen, was sie nicht mehr zu schleppen vermochten.« Er hielt das Teleskop an. »Was sagst du dazu?« fragte er.

Auf dem Monitor zeichnete sich ein kegelförmiges Gebilde ab, das sich, ungefähr dreißig Meilen hoch, gegen die Ringmauer gestützt hatte. Wind und Wetter schienen hundert Millionen Jahre an diesem Gebilde gearbeitet zu haben, hatten alle Kanten von seiner Oberfläche abgeschliffen. Ein breiter Eisgürtel bedeckte den Fuß des Kegels; die Eisschicht war sehr dick und schien in einer Gletscherzunge zu enden.

»Die Ringwelt kopiert die Topographie erdähnlicher Planeten«, sagte Chmeee. »Aber dieser Berg paßt nicht in das Muster erdspezifischer geologischer Erscheinungen.«

»Ja. Man könnte diesen Halbkegel als Stilbruch bezeichnen. Berge treten in Ketten auf, und das trifft für dieses Gebilde nicht zu. Berge sind auch nicht so regelmäßig geformt. Aber da ist noch etwas, das mich stutzig macht. Alles auf dieser Welt ist vorgeprägt wie eine gedruckte Schaltung. Erinnerst du dich noch an unsere erste Expedition, als wir mit der Liar unter den Boden der Ringwelt flogen? Meeresböden zeigten sich im Hochrelief als Beulen oder Kuppeln. Berge als Kerben oder Beulen im versenkten Relief. Flüsse wie Adern auf dem Arm eines Gewichthebers. Selbst die Deltas der Flußmündungen waren im Ringweltmaterial vorgeprägt. Dieser Kunstplanet ist nicht dick genug, daß sich die Natur ihre eigenen Formen bilden könnte.«

»Hier gibt es auch keine tektonischen Prozesse, die die Landschaft umformen könnten.«

»Dann hätten wir also diesen Bergkegel dort drüben auf der Rückseite der Ringwelt vom Raumhafen aus sehen müssen. Ich sah ihn nicht. Du etwa?«

»Ich fliege etwas näher heran.«

Das war ein schwieriges Manöver. Der Kzin mußte die Fusionsmotoren einschalten, weil die Repulsionsdüsen das Schiff wieder von der Ringmauer abgedrängt hätten.

Sie kamen bis auf fünfzig Meilen an den Bergkegel heran — nahe genug, um auch die Stadt zu entdecken. Große graue Felsen ragten aus den Eisschichten heraus, und einige dieser Felsen zeigten Myriaden von schwarzen Schatten markierte Türen und Fenster. Als er das Teleskop darauf einstellte, zeigten sich auf den Monitoren Balkone mit Markisen und Hunderte von schmalen Hängebrücken, die sich wie Lianen kreuz und quer zwischen den Häusern spannten. Treppen waren in den Felsen gehackt; sie verzweigten sich zu seltsam geformten Spiralen, die mindestens eine halbe Meile lang waren. Eine Treppe reichte bis zur Baumgrenze in den Vorbergen hinunter.

Im Zentrum der Stadt hatte sich ein flaches Plateau gebildet, halb Stein, halb Permafrost. Die Einwohner der Stadt benützten das Plateau als Marktplatz. Blaßgoldene, winzige Gestalten bewegten sich dort unten, waren gerade noch im Teleskop zu erkennen. Trugen sie einen goldenen Pelz? Oder Kleider in dieser Farbe? Ein mächtiger Findling an der Schmalseite des Marktplatzes war zu einer Skulptur umgewandelt worden. Sie zeigte das Gesicht eines haarigen, pausbäckigen, wohlwollend blickenden Menschenaffen.

Louis sagte: »Versuche nicht, noch näher heranzukommen. Wir jagen ihnen einen tödlichen Schrecken ein, wenn wir mit unserem Fusionsantrieb landen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«

Eine vertikal angelegte Felsenstadt, in der schätzungsweise zehntausend Leute leben. Das Tiefenradarbild zeigte, daß man sie nicht sehr tief in den Felsen gegraben hatte. Tatsächlich schienen diese Steinkegel, in denen sich die Wohnhöhlen aneinanderdrängten wie Waben in einem Bienenstock, aus schmutzigem Permafrost zu bestehen.

»Wollen wir sie nicht befragen, was es mit diesem seltsamen Berg auf sich hat?«

»Ich würde nur zu gerne mit ihnen reden«, erwiderte Louis ehrlich. »Aber schau dir mal die beiden Monitoren des Spektographen und des Tiefenradars an. Sie verwenden weder Metalle noch Plastik, ganz zu schweigen von monokristallinen Stoffen. Ich möchte gar nicht wissen, woraus diese Brücken gebaut sind. Die Bewohner dieser Stadt sind Primitive. Sie glauben wohl, sie leben auf einem Berg.«

»Ich bin der gleichen Meinung. Es ist zu schwierig, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Wohin fliegen wir jetzt? Zur schwebenden Stadt?«

»Ja, wir orientieren uns nach dem Sonnenblumenfeld.«


Eine Schattenblende schob sich vor die Sonnenscheibe.

Chmeee zündete wieder den Heckmotor, beschleunigte auf zehntausend Meilen pro Stunde und stellte den Schub erneut ab. Sie flogen nicht so schnell, daß sie keine Einzelheiten mehr ausmachen konnten, aber die Geschwindigkeit war schnell genug, daß sie ihr Ziel ungefähr in zehn Stunden erreichen mußten. Louis betrachtete die Landschaft, die unter ihnen dahinraste.

Nach ihrem Bauprinzip hätte die Ringwelt ein endloser Garten sein müssen. Es war keine zufällig entstandene Welt, sondern ein Artefakt.

Was sie bei ihrer ersten Expedition von dieser Kunstwelt gesehen hatten, konnte man nicht als typisch bezeichnen.

Sie hatten sich damals zwischen zwei markanten Punkten der Ringwelt bewegt, die durch Meteoreinschläge entstanden waren: Zwischen dem Orkanauge, einem Luftstrudel über einem Leck im Ringweltboden und einem mächtigen Bergkegel, der ebenfalls durch eine Meteoreinschlag entstanden war und den sie »Faust Gottes«, getauft hatten. Selbstverständlich war dort die Ökologie gestört gewesen. Das sorgfältig berechnete Windmuster der Ringwelt-Ingenieure war dort vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten.

Und wie stand es hier? Louis suchte vergeblich nach dem Muster eines Vulkanauges, nach einem Hurrikan, dessen Kegel vertikal verlief und an seiner Unterseite abgeflacht war. Hier gab es keine Meteor-Lecks im Ringweltboden. Aber er unterschied Wüstengebiete, so groß wie die Sahara und noch größer. Und die Sättel und Gipfel der Bergketten zeigten den perlgrauen Schimmer des Ringwelt-Basismaterials. Der Wind hatte den Fels, der früher die Gipfel bedeckte, abgetragen.

Hatte sich das Wettermuster so schnell zum Schaden der Ringwelt verändert? Oder hatten die Ringwelt-Ingenieure eine Vorliebe für Wüstengebiete gehabt? Das Reparaturzentrum muß schon sehr lange verwaist sein, dachte Louis. Halrloprillalars Artgenossen hatten es vermutlich nie entdeckt, nachdem die Ringwelt-Ingenieure von ihrem Kunstplaneten verschwunden waren. Und das waren sie ganz bestimmt, wenn Louis' Theorie stimmte.

»Ich möchte jetzt drei Stunden schlafen«, sagte Chmeee. »Kannst du das Landeboot bedienen, falls ein Notfall eintreten sollte?«

Louis bewegte die Achseln. »Sicher kann ich das. Aber was soll schon passieren? Wir fliegen zu niedrig für das Meteoren-Abwehrsystem. Selbst wenn sich diese Anlagen auf der Ringmauer befänden, würden sie nicht auf das tiefer gelegene Land hinunterschießen. Wir werden eine Weile lang in dieser Höhe kreuzen.«

»Ja. Weck mich in drei Stunden.« Chmeee stellte die Rückenlehne nach hinten und schlief ein.

Louis schaltete jetzt das Bug- und Heckteleskop gleichzeitig ein. Die Nacht hatte sich über die Sonnenblumen gesenkt. Er verfolgte im Teleskop den aufstrebenden Bogen der Ringwelt bis zu einem der Großen Ozeane.

Dort, vom Ozean aus spinnwärts und fast auf der Medianlinie der Ringwelt, ragte dieser mächtige, schiefe Vulkankegel auf, der in Wirklichkeit eine Verwerfung durch einen Meteoreinschlag darstellte und den sie »Faust Gottes« getauft hatten. Er war von einer marsfarbenen Wüste umgeben, die größer war als der Mars. Weiter drüben auf der Backbordseite leckte eine Zunge des Großen Ozeans in das Land hinein, in der mehrere Planeten Platz gefunden hätten.

Sie hatten damals die Küste dieser Meeresbucht erreicht und waren wieder umgekehrt.

Die Inseln waren in Gruppen über diese blaue Ellipse verteilt. Er sah auch eine einzelne Insel von kontinentaler Größe, geformt wie eine Schüssel, gefärbt wie eine Wüste. Da war eine Scheibe im Ozean, die von einem Kanal durchschnitten wurde. All die anderen Inseln in diesem gewaltigen Meer schienen wie von der Natur geschaffen. dort, da hatte er die Landkarte der Erde wiedergefunden: Amerika, Grönland, Eurasien und Afrika, Australien, die Antarktis — alle unter dem gleißend weißen Nordpol angeordnet, wie er sie auf dem Globus in dem schwebenden Palais bei ihrem ersten Besuch betrachtet hatte.

Waren alle diese Inseln in den Großen Ozeanen Nachbildungen der Landkarten im Weltall vorkommender Planeten? Prill hätte ihm darüber keine Auskunft geben können. Diese Inselgruppen waren lange vor der Zeit erschaffen worden, als ihre Spezies auf der Ringwelt in Erscheinung trat.

Er hatte Teela und den Sucher dort irgendwo zurückgelassen. Sie mußten sich immer noch im Bereich des Großen Ozeans befinden. Wenn man die riesigen Entfernungen der Ringwelt berücksichtigte und den Rückfall in eine primitive Technologie, konnten die beiden in dreiundzwanzig Jahren nicht weit gekommen sein. Sie waren jetzt fünfunddreißig Grad bogenaufwärts auf dem Riesenrad der Kunstwelt — achtundfünfzig Meilen von ihrem Flugboot entfernt.

Louis hatte keine Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit Teela.

Drei Stunden waren vergangen. Louis streckte die Hand aus und rüttelte Chmeee sacht an der Schulter.

Ein kräftiger, mit orangenem Fell bewachsener Arm schwang nach außen. Louis wich erschrocken zurück, doch nicht weit genug.

Chmeee sah ihn blinzelnd an. »Louis, so darfst du mich nie mehr wecken. Brauchst du den Autodock?«

Er hatte zwei tiefe Schnittwunden dicht hinter der Schulter. Er spürte, wie sein Hemd das Blut aufsaugte. »Das kann noch eine Weile warten. Schau dorthin!« Er deutete auf die Weltkarte der Erde — winzige Inseln, die durch eine breite Wasserfläche von den anderen Inselgruppen getrennt waren.

Chmeee starrte auf das Projektionsbild des Teleskops. »Kzin!«

»Wie bitte?«

»Das ist die Weltkarte von Kzin! Dort! Louis, ich glaube, wir irrten uns, als wir annahmen, es handelte sich um Miniaturkarten uns bekannter Planeten. Sie sind originalgetreu nachgebildet. Im Verhältnis eins zu eins!«

Eine halbe Million Meilen von der Weltkarte der Erde entfernt konnten sie eine andere Inselgruppe ausmachen. Wie bei der Erdkarte waren auch bei dieser Inselgruppe die Ozeane durch die Polarprojektion verzerrt. Aber die Kontinente zeigten sich in ihrer wahren Gestalt. »Das ist Kzin«, sagte Louis, »warum ist mir das nicht gleich aufgefallen? Und diese Scheibe mit dem Kanal, der sie in zwei Hälften trennt — das ist Jinx. Dieser kleine, rotorange gefärbte Klumpen muß der Mars sein.« Louis zwinkerte ein paarmal, um das Schwindelgefühl zu vertreiben. Sein Hemd war klatschnaß vom Blut. »Wir können später noch darüber sprechen. Hilf mir hinunter zu dem Autodock.«

9. Die Herdenmenschen

Er schlief im Autodock.

Vier Stunden später — nur noch das Gefühl einer etwas zu straffen Haut über und unter dem Schulterblatt erinnerte ihn daran, daß er einen schlafenden Kzin nicht anfassen durfte — nahm Louis wieder seinen Sitz auf dem Flugdeck ein.

Draußen war es immer noch Nacht. Chmeee hatte den Großen Ozean auf dem Monitorschirm. Er fragte: »Wie geht es dir?«

»Gesund und munter wie ein Fisch. Dank der Errungenschaften unserer modernen Medizin.«

»Die Verletzung lenkte deine Aufmerksamkeit keine Sekunde ab. Aber du mußt einen Schock erlitten und einen scharfen Schmerz gespürt haben.«

»Oh, ich glaube, Louis Wu wäre wahrscheinlich noch in seinem fünfzigsten Lebensjahr in ein hysterisches Geschrei ausgebrochen. Aber was soll's. Ich wußte, daß der Autodock griffbereit in der Nähe war. Weshalb fragst du?«

»Zunächst nahm ich an, du hättest die Courage eines Kzin. Doch dann schob ich deine Reaktion auf deine Wonnestrom-Sucht. Vermutlich hat sie dein Gehirn für kleinere Reize unempfindlich gemacht.«

»Bleiben wir lieber bei der ersten Version. Es war Courage. Okay? Wie bist du allein zurechtgekommen?«

»Ausgezeichnet.« Der Kzin deutete auf den Monitor. »Erde. Kzin. Jinx — die zwei Kegel, die sich bis über die Atmosphäre hinaufschieben, entsprechen dem Ost — und Westpol des Planeten Jinx. Das gilt auch für den Mars. Das ist Kdat, der Sklaven-Planet...»

»Das stimmt nicht mehr.«

»Die Kdatlyno waren unsere Sklaven. Die Pierin ebenfalls. Das dort drüben ist ihre Heimatwelt, glaube ich. Diese Inselgruppe dort solltest du eigentlich kennen: ist das nicht der Heimatplanet der Trinocs?«

»Ja, und sie haben auch ihren Nachbarplaneten besiedelt, soviel ich weiß. Wir können ja den Hintersten fragen, ob er eine Weltkarte des Kolonialplaneten besitzt.«

»Unsere Theorie ist hinreichend bewiesen.«

»Einverstanden. Okay, was ist der Sinn des Ganzen? Ganz gewiß ist es nicht eine Liste von erdähnlichen Welten. Außerdem befinden sich ein halbes Dutzend Inselgruppen im Ozean, die ich nicht zu identifizieren vermag.«

Chmeee schnaubte: »Selbst die primitivste Intelligenz sieht den Sinn des Ganzen sofort ein, Louis. Es ist ein Bilderverzeichnis der potentiellen Gegner, intelligenter oder fast intelligenter Wesen, die eines Tages die Ringwelt bedrohen könnten. Pierin, Kzinti, Martianer, Menschen, Trinocs.«

»Aber die Jinx passen nicht in dieses Bild. Oh. Chmeee, sie haben doch nicht angenommen, daß die Bandersnatchi eines Tages mit Kriegsschiffen hier landen würden. Sie sind so groß wie Dinosaurier und besitzen keine Hände. Und Down hat ebenfalls intelligente Wesen. Wo ist Down?«

»Dort!« »Ja. Das ist schon beeindruckend. Die Grogs erscheinen mir allerdings keine Bedrohung darzustellen. Sie verbringen ihr ganzes Leben im Sitzen auf einem Felsen.«

»Die Ringwelt-Baumeister haben auf ihrem Streifzug durch das Universum alle diese Gattungen entdeckt und sie hier als Landkarten im Großen Ozean festgehalten, um ihre Nachkommen vor ihren möglichen Feinden zu warnen. Stimmst du mir soweit zu? Aber ich kann die Welt der Puppetier auf dem Ozean nicht finden.«

»Oh?«

»Und wir wußten, daß sie auf Jinx gelandet sind. Bei unserer ersten Expedition entdeckten wir das Skelett eines Bandersnatch.«

»Richtig. Vermutlich sind sie auf allen diesen Welten gelandet.«

Die Lichtqualität änderte sich, und Louis sah, daß die Schattenblende sich antispinnwärts entfernte. »Wir können bald landen«, sagte er.

»Und wo?«

Das Sonnenblumenfeld vor ihnen füllte sich mit Sonnenlicht. »Drehe nach links ab und folge der Linie des Terminators. Fliege so weit, bis du wieder Land unter dir siehst. Wir wollen noch vor der Morgendämmerung niedergehen.«

Chmeee lenkte das Raumfahrzeug in eine weite Kurve. Louis deutete nach vom. »Siehst du, wie sich dort das Sonnenblumenfeld an den Ufern des Sees voranschiebt? Diese Pflanzen haben offenbar Mühe, ein Gewässer zu überqueren. Wir landen auf dem anderen Ufer.«

Das Fahrzeug tauchte in die Atmosphäre ein. Eine Flammenschicht zog sich um die Zelle des Raumfahrzeuges und verdeckte die Aussicht mit gleißendem Licht. Chmeee blieb in großer Höhe, verzögerte die Geschwindigkeit nur allmählich und ging tiefer, wenn die Reibungshitze nachließ. Der See blieb unter ihnen zurück. Wie alle Gewässer der Ringwelt besaß er eine reich gegliederte Küste mit vielen Buchten und Stränden, die sacht hinunterfielen zum Seeboden, der überall die gleiche Tiefe aufwies. An der Küste entdeckten sie Wälder aus Seetang und zahllose Inseln mit reinem weißen Sand am Ufer. Eine weite Grasebene reichte antispinnwärts bis an diesen See heran.

Die Sonnenblumenplage hatte an zwei Seiten zur Attacke angesetzt, um den See zu umzingeln. Ein Fluß schlängelte sich in S-Kurven durch die Sonnenblumen bis zu einem Delta, wo er in den See mündete. Auf der Backbordseite säumten die Sonnenblumen bereits das Ufer eines sumpfigen Flusses, der offenbar das Wasser wieder aus dem See ableitete. Die Pflanzen waren unerbittlich auf dem Vormarsch wie die Zunge eines Gletschers.

Die Sonnenblumen entdeckten das Landungsboot.

Licht explodierte unter ihnen. Die Fenster wurden sofort schwarz, ließen Louis und Chmeee geblendet auf ihren Sitzen.

»Keine Angst«, sagte Chmeee, »in dieser Höhe können wir mit nichts zusammenstoßen.«

»Die blöden Pflanzen verwechselten uns vermutlich mit einem Vogel. Kannst du schon wieder etwas sehen?«

»Ja. Die Instrumente.«

»Geh auf eine Höhe von fünf Meilen. Häng die Dinger ab!«

Fünf Minuten später wurden die Fenster wieder klar. Hinter ihnen war der Horizont gleißend hell erleuchtet; die Sonnenblumen versuchten immer noch, sie abzuschießen. Vor ihnen. ja, das war es! »Ein Dorf.«

Chmeee ging noch tiefer, damit sie die Anlage deutlicher sehen konnten. Das Dorf bestand aus einem geschlossenen Doppelring von Hütten. »Wollen wir genau in der Mitte landen?«

»Nicht ratsam. Landen wir am Rand, obwohl ich mir wünschte, ich wüßte, wovon sie sich ernähren.«

»Ich werde schon nichts anbrennen.«

Eine Meile über dem Dorf bremste Chmeee das Landungsboot mit dem Fusionsantrieb ab. Er landete auf diesem hohen grasartigen Zeug, das auf dieser Ebene wuchs. Im letzten Augenblick sah Louis, wie sich das Gras bewegte — sah drei Objekte, die grünen Zwergelefanten ähnelten, sich aus dem Gras erheben. Sie reckten kurze, flache Rüssel in die Luft und warnten sie mit schmetternden Trompetenstößen. Dann galoppierten sie davon.

»Die Bewohner des Dorfes müssen Hirten sein«, sagte Louis. »Wir haben eine Stampede ausgelöst.«

Noch mehr grüne Elefanten schlossen sich der flüchtenden Herde an. »Nun, gute Flucht, Captain.«

Die Instrumente zeigten eine erdverwandte Atmosphäre an. Das war keine Überraschung. Louis und Chmeee zogen sich die Schutzpanzer an: ein lederartiges Zeug, nicht so steif, daß es der Haut unangenehm gewesen wäre. Aber das Zeug wurde hart wie Stahl, sobald es von einem Speer, einem Pfeil oder einer Kugel getroffen wurde. Sie bewaffneten sich mit solaren Betäubungsstrahlern, Übersetzungsgeräten, Binokular-Brillen. Die Rampe trug sie hinunter in hüfthohes Gras.

Die Hütten lagen dicht beieinander und waren durch Zäune verbunden. Die Sonne stand senkrecht über ihnen. Eine Selbstverständlichkeit auf der Ringwelt. Die Dämmerung brach gerade herein, und die Eingeborenen stiegen vermutlich gerade aus ihren Betten. An der Außenseite der Hütten vermochten sie keine Fenster zu entdecken — bis auf eine Ausnahme. Es befand sich in einer Hütte, die doppelt so groß war wie die anderen, und zu diesem Fenster gehörte sogar noch ein Balkon. Vielleicht hatte man sie bereits entdeckt.

Als Chmeee und Louis auf das Dorf zugingen, zeigten sich die Eingeborenen.

Sie kamen in einer geballten Horde über den Zaun und riefen sich etwas mit Falsettstimmen zu. Sie waren klein, rothäutig und von menschlichem Aussehen. Sie rannten wie die Teufel.

Sie hatten sich mit Netzen und Speeren bewaffnet. Louis sah, wie Chmeee seinen Strahler aus dem Gürtel zog und folgte seinem Beispiel. Die roten Humanoiden rasten an Louis und Chmeee vorbei, ohne sie zu beachten. Chmeee sagte: »Hat man uns soeben beleidigt?« »Nein. Sie rennen natürlich den Elefanten hinterher, um die Stampede aufzuhalten. Zweifelsohne haben sie einen gesunden Sinn für die Reihenfolge von Dringlichkeiten. Gehen wir in das Dorf. Vielleicht ist jemand zu Hause geblieben.«


Jemand war zu Hause geblieben. Ein paar Dutzend rothäutige Kinder beobachteten sie durch die Zaunlatten, als sie näher kamen. Es waren magere Kinder; selbst die Babys waren so schlank wie Windhund-Welpen. Louis blieb am Zaun stehen und lächelte auf sie hinunter. Sie beachteten ihn kaum. Die meisten hatten nur Augen für Chmeee.

Der freie Platz im Rundling bestand aus nackter, gestampfter Erde. Ein paar rußige Steine markierten ein ausgebranntes Lagerfeuer. Ein einbeiniger rothäutiger Mann kam aus einer Hütte heraus und näherte sich ihnen mit Hilfe einer Krücke. Er hüpfte wie ein Känguruh. Er trug einen Kittel aus Wildleder, der mit dekorativen Fransen besetzt war. Seine großen Ohren standen vom Kopf ab, und eines seiner Ohrläppchen mußte schon vor langer Zeit verstümmelt worden sein. Seine Zähne waren spitz zugefeilt: waren sie das? Die Kinder lachten jetzt, und ihre Zähne waren auch spitz. Sogar die Babys hatten Haifischzähne. Nein. Sie mußten von Natur aus so gewachsen sein.

Der alte Mann hielt am Zaun. Er lächelte und stellte eine Frage.

»Ich beherrsche eure Sprache noch nicht«, erwiderte Louis.

Der Alte nickte. Er hob den Arm und bewegte ihn im Kreis. Was das eine Einladung?

Eines von den älteren Kindern faßte Mut und machte einen Anlauf. Er (sie; die Kinder trugen keine Kittel) landete auf Chmeees Schulter, ließ sich darauf nieder und untersuchte sein Fell. Chmeee stand ganz still. Er fragte: »Was soll ich jetzt machen?«

»Das Mädchen ist nicht bewaffnet. Sage ihm nur nicht, wie gefährlich du bist.« Louis stieg über den Zaun. Der alte Mann machte für ihn Platz. Chmeee folgte ihm vorsichtig, damit das Mädchen nicht von seinen Schultern herunterfiel. Sie hielt sich an seiner dicken Halskrause fest.

Sie ließen sich in der Nähe der offenen Feuerstätte nieder — Louis, Chmeee, der einbeinige rote Mann und die Kinder. Sie schlossen einen Kreis um die Gruppe der Erwachsenen. Sie fingen an, den Übersetzungsgeräten ihre Sprache beizubringen. Für Louis war das Routine. Seltsamerweise schien es auch für den alten Mann Routine zu sein. Auch die Kunststimmen der Übersetzer überraschten ihn nicht.

Sein Name war Shivith Hooki-Furlaree soundso. Er hatte eine hohe Piepsstimme. Seine erste verständliche Frage lautete: »Was eßt ihr? Ihr müßt es mir nicht sagen.«

»Ich esse Pflanzen und Meeresfrüchte und gekochtes oder gebratenes Fleisch. Chmeee ißt unbehandeltes Fleisch«, sagte Louis, und ihm erschien das eine hinreichende Auskunft zu sein.

»Auch wir essen unbehandeltes Fleisch. Chmeee, du bist ein außergewöhnlicher Gast.« Shivith zögerte. »Ich muß euch sagen, daß wir nicht Rishathra pflegen. Seid deswegen nicht ärgerlich.« Bei dem Wort Rishathra streikte der Übersetzer.

Chmeee fragte: »Was ist Rishathra

Der alte Mann sah ihn überrascht an. »Wir dachten, dieses Wort wäre überall gleich.« Er begann zu erklären. Chmeee hüllte sich in ein tiefes Schweigen, als sie sich mit dem Begriff abmühten und ihn zu umschreiben versuchten: Rishathra bedeutete Sex mit einer anderen Spezies. Jeder kannte dieses Wort. Viele Spezies praktizierten diesen Brauch. Für einige Rassen war es eine Technik der gegenseitigen Geburtenkontrolle. Für andere wieder die Einleitung eines Handelsabkommens. Für einige war es tabu. Für dieses Volk war es kein Tabu. Sie konnten diesen Brauch einfach nicht ausüben. Die sexuellen Signale waren falsch; es konnte daran liegen, daß sie andere Pheromone — Lockstoffe — ausschieden. »Ihr müßt von weither kommen, weil ihr das Wort nicht kennt«, sagte der alte Mann.

Louis berichtete von sich, daß er von den Sternen hinter dem blauen Himmelsbogen gekommen sei. Nein, weder er noch Chmeee hätten bisher Rishathra getrieben, obgleich es auch von seiner Gattung viele verschiedene Familien gäbe. (Er erinnerte sich an ein Wunderland-Mädchen, das dreißig Zentimeter größer und fünfzehn Pfund leichter gewesen war als er — eine Feder in seinen Armen.) Er sprach von der Vielfalt der Welten im Universum, die mit intelligentem Leben bestückt waren, wobei er allerdings das Thema Krieg und Waffen aussparte.

Die Stämme des »Volkes« hatten sich Herden aus verschiedenartigen Tieren zugelegt. Sie liebten die Abwechslung, aber hungern mochten sie nicht, und es war in der Regel nicht möglich, sich Herden verschiedener Tierarten gleichzeitig zu halten. Die Stämme des »Volkes« blieben miteinander in Verbindung, um Tausch-Feste zu feiern. Manchmal tauschten sie ganze Herden aus. Das war gleichbedeutend mit dem Wechsel eines kompletten Lebensstils: manchmal brauchte man einen halben Falan dazu, um sich gegenseitig in der Tierhaltung zu unterrichten, ehe man sich wieder trennte. (Ein Falan waren zehn Umdrehungen der Ringwelt, also siebenundfünfzig Tage zu je dreißig Stunden.)

Würden die Hirten sich keine Sorgen machen, wenn Fremde sich in ihrem Dorf aufhielten? Shivith verneinte das. Zwei Fremde waren noch keine Bedrohung.

Wann würden sie zurückkommen? Mittags, antwortete Shivith. Sie hatten es sehr eilig gehabt wegen der Stampede. Sonst wären sie am Zaun stehengeblieben und hätten mit ihren Besuchern geredet.

Louis fragte: »Müßt ihr das Fleisch gleich essen, das ihr getötet habt?«

Shivith lächelte: »Nein. Es kann einen halben Tag liegenbleiben. Aber ein Tag und eine Nacht sind zu lange.«

»Habt ihr.«

Chmeee stand plötzlich auf. Er setzte das Mädchen vorsichtig ab und schaltete den Übersetzer aus. »Louis, ich brauche Bewegung und Einsamkeit. Ich war so lange eingesperrt, daß ich fast davon wahnsinnig geworden wäre. Brauchst du mich?«

»Nein. He.«

Chmeee war schon über den Zaun gesprungen. Er drehte sich noch einmal um.

»Behalte deine Kleider an! Aus der Entfernung wird man dich vermutlich nicht für ein intelligentes Wesen halten. Und töte keinen von den grünen Elefanten!«

Chmeee winkte noch einmal und tauchte dann in dem grünen, wogenden Gras unter.

»Dein Freund ist sehr schnell zu Fuß«, sagte Shivith.

»Ich sollte mich ebenfalls verabschieden. Ich habe heute noch etwas Wichtiges vor.«


Die Flucht und das Überleben waren ihre Hauptsorgen gewesen, als sie zum erstenmal die Ringwelt besuchten. Erst später, in der sicheren und vertrauten Umgebung von Resht auf der Erde, hatte das Gewissen bei Louis Wu angeklopft. Da war es ihm wieder eingefallen, daß er eine Stadt zerstört haben mußte.

Die Schattenblenden bildeten einen konzentrischen Ring in der Ringweltebene. Es waren zwanzig von ihnen, die vermittels eines dünnen unsichtbaren Drahtes zu einem Kreis zusammengebunden waren und ihre Breitseite der Sonne zukehrten. Der Draht blieb straff, weil die Schartenblenden mit einer größeren Geschwindigkeit rotierten, als nötig war, um in ihrer Umlaufbahn stabil zu bleiben.

Liar, die in einen freien Fall überging, als ihre Antriebsmotoren sich in ionisierte Wolken auflösten, hatte bei ihrem Sturz einen Draht der Schattenblenden zerrissen und aus seiner Verankerung gelöst. Dieser Draht, hauchdünn, aber ein paar zehntausend Meilen lang, hatte sich wie eine Rauchwolke auf einer bewohnten Stadt niedergelassen.

Louis hatte den Draht gebraucht, um damit die notgelandete Liar über den Ringweltboden zu schleppen.

Sie hatten ein Ende des Drahtes gefunden und ihn an dem improvisierten Schleppfahrzeug — Halrloprillalars schwebendes Gefängnis — befestigt. Dann hatten sie den Draht hinter sich hergezogen. Louis wußte nicht genau, was aus dieser Stadt geworden war, aber es war unschwer zu erraten. Das Zeug war so fein wie Altweibersommer-Fäden und so stark und widerstandsfähig, das es sogar Rumpfmetall zu zerschneiden vermochte. Es mußte die Gebäude der Stadt zu Sand zermahlen haben, als die Schleifen des Drahtes sich zusammenzogen.

Diesmal sollten die Eingeborenen nicht darunter leiden, daß Louis Wu zu ihnen gekommen war. Er litt noch an den Wonnestrom-Entzugserscheinungen; er wollte sich nicht auch noch Schuldgefühle aufladen. Er hatte seinen Besuch damit eingeleitet, daß er eine Massenflucht auslöste. Das verlangte nach Wiedergutmachung.

Es war schwere körperliche Arbeit.

Zwischendurch legte er eine Pause ein und stieg zum Flugdeck hinauf. Der Kzin machte ihm Sorgen. Sogar ein menschliches Wesen — ein Flachlandbewohner vor fünfhundert Jahren, der sich im mittleren Jahren auf seinem Erfolg ausgeruht machte — mochte aus den Latschen kippen, wenn er sich plötzlich in sein achtzehntes Lebensjahr zurückversetzt fühlte, sein kontinuierliches Fortschreiten zum Tod jählings unterbrochen wurde, sein Blut sich wieder mit mächtigen und beängstigenden Säften füllte, seine ganze Identität fraglich geworden war: das Haar fülliger wurde, die Farbe wechselte, alte Narben verschwanden.

Nun, wo steckte Chmeee bloß?

Es war ein sonderbares Gras. Hier, in der Nachbarschaft des Dorfes war es hüfthoch. Spinnwärts war ein weites Areal der Ebene bis auf die Wurzeln abgeweidet. Louis sah, wie die Herde sich am Rande des hüfthohen Graslandes bewegte, gehütet und gelenkt von den schmächtigen roten Humanoiden. Hinter der Herde blieb eine Schneise zurück, die fast vegetationslos erschien.

Das mußte man ihnen lassen: die kleinen grünen Elefanten waren tüchtige Weidetiere.

Die roten Männer mußten vermutlich ihr Lager recht häufig verlegen.

Louis bemerkte eine Bewegung im Gras in seiner unmittelbaren Nähe. Er wartete geduldig, bis sich dort wieder etwas bewegte. und plötzlich wurde daraus ein orangefarbener Blitz. Louis bekam Chmeees Beute niemals zu Gesicht. Zum Glück waren keine Humanoide in seiner Nähe. Louis beendete seine Pause und setzte seine Arbeit fort.


Als die Hirten zurückkehrten, fanden sie ein Fest vor.

Sie kamen in einer geschlossenen Gruppe zum Dorf zurück, sich angeregt miteinander unterhaltend. Sie hielten kurz an, um das Landungsboot zu betrachten, wagten sich aber nicht zu nahe heran. Ein paar von ihnen führten einen grünen Elefanten mit. (Das Mittagessen?) Es mochte ein Zufall sein, daß die Speerträger die Nachhut bildeten, als die Horde den Doppelkreis der Hütten durchquerte.

Sie blieben überrascht stehen, als sie Louis und Chmeee mit einem anderen Mädchen auf den Schultern und einer halben Tonne Fleisch vor sich sahen, das bereits zu Portionen geschnitten, auf einer sauberen Lederunterlage ausgebreitet war.

Shivith stellte die fremden Wesen vor und gab seinen Stammesgenossen einen kurzen und recht zutreffenden Bericht ihres Anliegens. Louis war darauf vorbereitet, der Lüge bezichtigt zu werden, aber das geschah nicht. Er wurde auch dem Häuptling vorgestellt: eine Frau, die ihm nicht einmal bis zu den Brustwarzen reichte und ihn mit beunruhigenden spitzen Zähnen anlächelte. Louis versuchte, ihre Verbeugung nachzuahmen. Die Frau hieß Ginjerofer.

»Shivith erzählte uns, daß ihr die Abwechslung liebt«, sagte Louis und deutete auf das Ergebnis seiner stundenlangen Bemühungen in der Bordküche. Drei der Eingeborenen schwenkten den grünen Elefanten herum, gaben ihm einen Schlag mit den Speergriffen und trieben ihn zurück zur grasenden Herde. Der Stamm fiel über sein Mittagessen her. Auch aus den Hütten, die Louis für leer gehalten hatte, kamen noch Dorfbewohner zum Essen: ein Dutzend sehr alter Männer und Frauen. Louis hatte Shivith schon für einen alten Mann gehalten. Er war an den Anblick von faltiger Haut, arthririschen Gelenken und alten Narben nicht mehr gewöhnt. Er fragte sich, warum sich diese Leute bisher versteckt gehalten hatten. Vermutlich hatten sie mit Pfeilen auf ihn und Chmeee gezielt, während sie mit Shivith und den Kindern plauderten.

In eine paar Minuten waren vom Fleisch nur noch kahle Knochen übrig. Sie redeten nicht beim Essen und schienen dabei auch keine protokollarische Ordnung einzuhalten. Ihre Tischsitten unterschieden sich kaum von jenen der Kzinti. Chmeee nahm die Einladung an, an dem Fest teilzunehmen. Er aß den Moa, den die Eingeborenen nicht haben wollten. Sie hielten sich an das rote Fleisch.

Louis hatte das Fleisch mit Hilfe der großen Repulsionsplatten vom Schiff zum Dorfplatz tranportiert. Seine Muskeln schmerzten von der anstrengenden Arbeit. Er sah zu, wie die Eingeborenen sich das Fleisch schmecken ließen. Das tat ihm wohl. Er fühlte sich wohl, obwohl kein Wonnestecker in seinem Schädel befestigt war.

Die Mehrzahl der Eingeborenen verließ das Dorf nach der Mahlzeit, um die Herde zu bewachen. Shivith, Ginjerofer und noch ein paar von den älteren Bewohnern blieben auf dem Dorfplatz zurück. Chmeee fragte Louis: »Ist dieser Moa ein organisches Kunstprodukt oder ein Vogel? Der Patriarch möchte bestimmt so einen Vogel in seiner Fasanerie unterbringen.«

»Es gibt so einen Vogel«, erwiderte Louis. »Ginjerofer, ich hoffe, damit habe ich mich für die Stampede heute morgen revanchiert.«

»Wir danken dir«, sagte sie. Frisches Blut war an ihren Lippen und an ihrem Kinn. Ihre Lippen waren voll und viel roter als ihre Haut. »Vergessen wir die Stampede. Es gehört mehr zum Leben als das Gefühl, satt zu sein. Wir freuen uns, wenn wir Leute treffen, die anders sind als wir. Sind eure Welten wirklich so viel kleiner als unsere? Und noch rund dazu?«

»So rund wie ein Ball. Wenn meine Welt dort oben auf dem Ringbogen liegen würde, würde man sie von hier aus nur als einen weißen Punkt erkennen können.«

»Werdet ihr zu diesen kleinen Welten zurückkehren und von uns berichten?«

Die Übersetzungsgeräte übermittelten dieses Gespräch vermutlich zum Raumschiff, wo es auf Band aufgenommen wurde. Louis sagte: »Eines Tages kehren wir zu unseren Planeten zurück.«

»Ihr werdet bestimmt manches von uns wissen wollen.«

»Ja. Vernichten die Sonnenblumen eure Weidegründe?«

Er mußte mehrmals deuten, ehe sie ihn verstanden. »Dieses helle Licht dort drüben am Horizont? Darüber können wir euch nichts erzählen.«

»Habt ihr euch nicht darüber gewundert? Habt ihr keine Späher dorthin geschickt?«

Sie runzelte die Stirn.

»Was ich weiß, habe ich von meinen Vätern und Müttern erfahren. Sie waren schon als kleine Kinder immer antispinnwärts gezogen. Sie erinnern sich noch daran, daß sie einem großen See ausweichen mußten, aber dem Ufer nicht zu nahe kamen, weil unsere Tiere die Pfanzen verschmähten, die dort am Ufer wuchsen. Damals sahen wir ein helles Licht spinnwärts, das jetzt aber stärker ist als zu jener Zeit. Was die Kundschafter betrifft: Eine Abteilung junger Männer zog aus, um sich das Licht zu betrachten. Unterwegs trafen sie auf Riesen. Die Riesen töteten ihre Tiere. Deshalb mußten sie umkehren. Sie hatten keinen Reiseproviant mehr.«

»Es scheint, daß sich die Sonnenblumen schneller bewegen als ihr.«

»Okay. Wir können uns auch schneller bewegen, falls das nötig ist.«

»Was wißt ihr von den schwebenden Städten?«

Ginjerofer hatte die fliegende Stadt schon als Kind gesehen. Sie war ein Wahrzeichen wie der blaue Himmelsbogen. Nachts konnte man sogar bei bedecktem Himmel noch den gelben Fleck wiederfinden, wo sich die Stadt befand. Doch das war alles, was sie darüber wußte. Die Stadt war so weit von ihnen entfernt, daß nicht einmal Gerüchte über die Lebensverhältnisse der Stadt bis zu ihnen vorgedrungen waren.

»Aber es werden uns Geschichten aus großer Entfernung zugetragen, falls ihr euch vielleicht dafür interessiert. Es ist möglich, daß sie entstellt oder verzerrt wurden, ehe sie uns erreichten. Aber man erzählte uns von den Leuten der Schüttberge, die zwischen der kalten weißen Ebene und den Hügeln wohnen, wo die Luft viel zu dick ist. Sie fliegen zwischen den Schüttbergen hin und her. Dazu verwenden sie Himmelsschlitten, wenn sie diese Geräte bekommen können, doch es werden keine neuen Himmelsschlitten mehr gebaut, so daß sie sich seit ein paar hundert Jahren mit Ballons begnügen müssen. Könnt ihr mit euren Sehgeräten bis zu den Schüttbergen blicken?«

Louis schnallte ihr die binokularen Schutzbrille um und zeigte ihr, wie sie die Vergrößerung einstellen mußte. »Warum nennt ihr sie Schüttberge? Ist das das gleiche Wort, das ihr verwendet, wenn ihr Wasser ausschüttet?«

»Ja. Ich habe keine Ahnung, warum wir sie Schüttberge nennen. Dein Sehgerät zeigt mir nur die größeren Berge.« Sie drehte sich spinnwärts. Die Brille bedeckte fast ihr ganzes Gesicht. »Ich kann das Ufer des Wassers sehen und dahinter ein Leuchten.«

»Was habt ihr sonst noch für Geschichten gehört?«

»Wenn wir anderen Stämmen begegnen, reden wir meistens über die Gefahren, die uns bedrohen. Antispinnwärts wohnen gehirnlose Fleischfresser, die auch Menschen töten. Sie sehen uns ähnlich, sind aber kleiner, haben eine schwarze Haut und jagen nur nachts. Und sie sind.« Sie runzelte wieder die Stirn. »Wir wissen nicht, ob es wahr ist, was man sich von ihnen erzählt. Da gibt es gehirnlose Wesen, die einen Menschen zwingen, mit ihnen Rishathra zu begehen. Aber man überlebt den Liebesakt nicht.«

»Ihr könnt doch nicht den Brauch des Rishathra ausüben, hörte ich. Also können sie euch auch nicht gefährlich werden.«

»Selbst uns werden sie gefährlich, habe ich gehört.«

»Wie steht es mit Krankheiten? Parasiten?«

Keiner von den Eingeborenen wußte, was diese Worte bedeuteten! Flöhe, Hakenwürmer, Moskitos, Masern, Wundbrand — all diese Plagen waren unbekannt auf der Ringwelt. Das hätte er sich allerdings denken können. Die Ringwelt-Ingenieure harten diese Plagen gar nicht erst aus dem Weltall mitgebracht. Trotzdem erschrak er, als Ginjerofer mit diesen Begriffen nichts anzufangen wußte. Es bestand ja die Möglichkeit, daß er Keime dieser Krankheiten, nach denen er sich erkundigte, auf die Ringwelt eingeschleppt haben konnte. nein, höchstwahrscheinlich nicht. Der Autodock würde alle gefährlichen Keime abgetötet haben.

Trotzdem waren die Eingeborenen den zivilisierten Menschenwesen sehr ähnlich. Sie wurden alt, aber nicht krank.

10. Das gewagte Spiel, sich als Gott auszugeben

Die Abenddämmerung war noch nicht hereingebrochen, ab Louis vor Erschöpfung die Augen nicht mehr offen halten konnte.

Ginjerofer bot ihnen eine Hütte zum Schlafen an; aber Chmeee und Louis zogen das Landungsboot als Ruhestätte vor. Louis warf sich sofort zwischen die Schlafplatten, während Chmeee noch das Landungsboot in Verteidigungszustand versetzte.

Er erwachte mitten in der Nacht.

Chmeee hatte die Bildschirme der Teleskope eingeschaltet, ehe er sich schlafen legte. Die Landschaft zeichnete sich so hell auf dem Bildschirm ab wie an einem regnerischen Tag. Die von der Sonne beschienenen Rechtecke des Himmelsbogens glichen brennenden Deckenleuchten: sie waren so hell, daß man nur einen Blick darauf zu werfen vermochte. Aber der größte Teil des Großen Ozeans auf dem ihnen näher liegenden Himmelsbogen war in Dunkelheit getaucht.

Die Großen Ozeane faszinierten ihn. Sie wirkten barock. Und genau das hätten sie nicht sein sollen. Wenn Louis' Theorie von den Ringwelt-Ingenieuren zutraf, gehörte Prahlerei nicht zu ihrem Wesen. Das Barocke war kein Stil, der ihnen gemäß sein konnte. Was sie bauten, mußte einfach, von langer Dauer und zweckmäßig sein. Und sie hatten Kriege ausgefochten.

Aber die Ringwelt war an sich selbst schon ein barockes Gebilde, das unmöglich zu verteidigen war. Warum hatten sie nicht an Stelle dieses gigantischen Artefakten viele kleine Ringwelten gebaut? Und warum hatten sie die Großen Ozeane erschaffen? Das paßte auch nicht zu ihrem Stil.

Vielleicht ging er von einer grundfalschen Prämisse aus. Das war ihm schon früher passiert. Die Beweise jedoch.

Bewegte sich da nicht etwas im Gras?

Louis stellte den Infrarot-Sucher ein.

Sie verrieten sich durch ihre Körperhitze. Sie waren größer als Hunde, erschienen ihm als ein Zwitterwesen aus Mensch und Schakal: schrecklich übernatürliche Wesen in diesem unnatürlichen Licht. Louis brauchte eine gewisse Zeit, bis er die solare Betäubungskanone im Turm des Landungsfahrzeuges auf dem Instrumentenbrett gefunden und sie auf die Eindringlinge gerichtet hatte. Es waren vier, die sich auf allen vieren durch das Gras bewegten.

Sie hielten vor dem Zaun des Dorfes an. Dort verharrten sie einige Minuten. Dann zogen sie sich wieder zurück, diesmal nur in halbgebückter Stellung. Louis schaltete den Infrarot-Sucher wieder ab.

Das Licht des Himmelsbogens reichte aus, ihm den Zweck ihres Erscheinens zu erklären: sie schleppten den Müll des Tages weg, die Überreste des Festes. Aasfresser wahrscheinlich. Das Fleisch war noch reif genug für ihren Geschmack.

Gelbe Augen in seiner nächsten Nachbarschaft: Chmeee war hellwach. Louis sagte: »Die Ringwelt ist alt. Sie existiert mindestens schon hunderttausend Jahre.«

»Wie kommst du jetzt auf diesen Gedanken?«

»Die Ringwelt-Ingenieure hatten niemals Schakale hierher gebracht. Also blieb genügend Zeit für die biologische Entwicklung eines Zweiges der menschenähnlichen Wesen, diese ökologische Nische zu besetzen.«

»Für diese Evolution reichen hunderttausend Jahre nicht aus«, sagte Chmeee.

»Vielleicht doch. Ich frage mich nur, was die Ingenieure noch vergaßen, mitzubringen. Moskitos zum Beispiel.«

»Du bist ein Witzbold. Sie hüteten sich wohlweislich davor, Blutsauger mitzubringen.«

»Richtig. Sie ließen auch Haifische und Pumas vermutlich zu Hause.« Louis lachte. »Stinktiere ebenfalls. Was noch? Giftschlangen? Säugetiere könnten nicht so leben wie Schlangen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Säugetier Gift durch die Zähne spuckt.«

»Louis, es würde viele Millionen von Jahren dauern, bis menschenähnliche Wesen sich biologisch so entwickeln, daß sie einen Ersatz für diese fehlenden Gattungen stellen. Wir müssen zunächst fragen, ob auf der Ringwelt überhaupt eine Evolution stattgefunden hat?«

»Das hat sie, wenn ich nicht von vollkommen verkehrten Voraussetzungen ausgehe. Wie lange es dauert, bis sich ein Evolutionsprozeß vollzieht, ist eher ein mathematisches Problem. Nehmen wir an, es gab eine homogone Urbevölkerung als Grundlage der Evolution, die vor hunderttausend Jahren einsetzte.« Louis beendete den Satz nicht.

Trotz ihrer Last bewegten sich die Schakalmenschen ziemlich schnell und waren schon ein gutes Stück vom Landeboot entfernt. Plötzlich hielten sie an, kehrten wieder um, schienen einen Moment lang Witterung aufzunehmen und ließen sich dann ins Gras fallen. Als Louis den Infrarot-Sucher wieder einschaltete, zeigte er vier glühende Punkte, die sich fluchtartig über die Ebene bewegten.

»Wir bekommen Gesellschaft«, sagte Chmeee ruhig.

Das waren kolossale Burschen, die sich von spinnwärts her näherten. Sie waren so groß wie Chmeee und versuchten erst gar nicht, sich zu verstecken. Vier bärtige Riesen marschierten durch die Nacht, als gehörte sie ihnen. Sie waren bewaffnet und gepanzert. Sie bewegten sich in Keilformation. Bogenschützen voran, dahinter die Schwertträger, und an der Spitze des Dreiecks ein Mann in voller Rüstung. Andere hatten nur Lederkoller und Armschützer aus dem gleichen Material, doch der Mann an der Spitze, der größte von allen, war in schimmernde Wehr gehüllt: eine glitzernde Metallschale, die an den Ellbogen, den Knöcheln, den Schultern, den Knien und den Hüften ausgeheult war. Das vorspringende Visier hatte er geöffnet, und im Ausschnitt des Helms zeigte sich ein heller Bart und eine breite Nase.

»Ich hatte recht. Ich hatte von Anfang an recht. Aber warum eine Ringwelt? Warum bauten sie eine Ringwelt? Wie, in Finagles Namen hofften sie, diesen Artefakt verteidigen zu können?«

Chmeee stellte den Turm mit der Strahlerkanone neu ein. »Louis, wovon redest du eigentlich?«

»Die Rüstung. Schau dir die Rüstung an. Bist du schon einmal im Smithsonian Institute gewesen? Hast du dir nicht die Druckanzüge im Ringwelt-Raumschiff angesehen?«

»Hmmm. ja. Aber ich fürchte, wir haben uns mit wichtigeren Problemen zu befassen.« »Noch nicht schießen. Ich möchte erst mal sehen. Ja, ich hatte recht. Sie marschieren an dem Dorf vorbei.«

»Glaubst du, daß die kleinen roten Wesen unsere Verbündeten sind? Es war doch nur ein Zufall, daß wir sie als erste kennenlernten.«

»Ich würde behaupten, sie sind unsere Verbündeten. Vorläufig wenigstens.«

Das Mikrophon fing einen hellen Schrei auf, der von einem Trompetenstoß unterbrochen wurde. Die Bogenschützen legten alle zugleich einen Pfeil an die Sehnen. Zwei kleine rothäutige Wachposten liefen mit beeindruckender Geschwindigkeit zu den Hütten zurück. Aber die Riesen beachteten sie nicht.

»Feuer!« sagte Louis leise.

Viele Pfeile schwirrten jetzt ziellos in den Nachthimmel hinauf. Die Riesen knickten zusammen. Zwei oder drei grüne Elefanten gaben schmetternde Trompetenstöße von sich und versuchten sich im Gras aufzurichten. Auch sie gingen wieder in die Knie. In der Haut des einen Elefanten steckten zwei Pfeile.

»Sie hatten es auf die Herde abgesehen«, sagte Chmeee.

»Ja. Wir können nicht zusehen, wie sie die Herde abschlachten. Du bleibst hier und bedienst die Kanone, während ich mit diesen Leuten verhandle.«

»Ich nehme von dir keine Befehle entgegen, Louis.«

»Hast du einen anderen Vorschlag?«

»Nein. Aber laß wenigstens einen von den Riesen übrig, damit wir ihn verhören können.«


Dieser Riese lag auf dem Rücken. Er hatte nicht nur einen Bart, sondern eine Bartmähne: nur seine Augen und seine Nase schauten aus der goldenen Haarflut heraus, die Gesicht, Kopf und Schultern bedeckte. Ginjerofer kauerte neben ihm und zwang ihm mit ihren kleinen Händen die Kiefer auseinander. Die Kieferknochen des Kriegers waren gewaltig. Das Gebiß bestand durchweg aus flachkronigen Mahlzähnen, die erheblich abgenützt waren.

»Siehst du«, meinte Ginjerofer, »er ist ein Pflanzenfresser. Sie wollten unsere Herde töten, um ihnen das Gras wegnehmen zu können.«

Louis schüttelte den Kopf. »Ich hätte nicht geglaubt, daß der Konkurrenzkampf um das Grünfutter hier so groß ist.«

»Wir wußten es selbst nicht. Aber sie kommen von spinnwärts, wo unsere Herden das Gras abgeweidet haben. Ich danke dir, daß du sie für uns getötet hast, Louis. Wir müssen ein großes Fest veranstalten.«

Louis' Magen drehte sich um bei diesem Gedanken. »Sie schlafen nur. Und es sind intelligente Wesen wie du und ich.«

Sie blickte ihn groß an. »Aber ihr Verstand war doch auf unser Verderben ausgerichtet!«

»Aber wir überwältigten sie. Und deshalb bitten wir, sie am Leben zu lassen.«

»Und was sollen wir tun, wenn wir sie aufwachen lassen?«

Das war tatsächlich ein Problem. Louis improvisierte: »Wirst du sie am Leben lassen, wenn ich dafür eine Lösung finde? Vergiß nicht, daß es unsere Kanone war, die sie einschläferte.« Das war eine versteckte Drohung an Ginjerofer, daß Chmeee die Kanone auch gegen das Dorf verwenden konnte.

»Wir werden darüber beraten«, erwiderte Ginjerofer.

Louis wartete. Vierzig pflanzenfressende Riesen würden niemals im Landungsboot Platz finden. Man konnte sie natürlich entwaffnen. Louis mußte grinsen, als er das Schwert in der breiten Pranke des Riesen betrachtete. Die lange gebogene Klinge war eine vorzügliche Sichel.

Ginjerofer kam zu ihm zurück. »Sie dürfen am Leben bleiben, wenn wir ihren Stamm nie mehr zu Gesicht bekommen. Kannst du uns das versprechen?«

»Du bist eine intelligente Frau. Ja, sie könnten Verwandte haben, die der Blutrache verpflichtet sind. Ja, und ich kann dir versprechen, daß du diesen Stamm nie wieder sehen wirst.«

Chmeee meldete sich im Ohrstöpsel: »Louis? Vielleicht mußt du den ganzen Stamm ausrotten!«

»Nein, das kostet viel Zeit, und schau dir doch diese Riesen einmal an! Es sind Bauern. Sie können uns nichts anhaben. Schlimmstenfalls werde ich sie dazu zwingen, ein großes Floß zu bauen, und wir werden es mit dem Landungsboot auf den See hinausschleppen. Die Sonnenblumen haben die Flußgrenze noch nicht überquert. Wir werden sie in sicherer Entfernung der Sonnenblumen an einer Stelle wieder an Land setzen, wo Gras wächst.«

»Weshalb? Auch das wird uns ein paar Wochen Zeit kosten!«

»Für Informationen, Chmeee.« Louis drehte sich wieder Ginjerofer zu. »Ich brauche den Burschen, der die Rüstung trägt. Und ich möchte alle ihre Waffen haben. Du darfst ihnen nicht einmal ein Messer lassen. Such die von den Waffen aus, was du gerne haben möchtest. Aber alles andere verladen wir in unserem Schiff.«

Sie betrachtete unschlüssig den gepanzerten Riesen. »Wie sollen wir ihn von der Stelle bewegen?«

»Ich habe dafür ein Transportmittel. Eine Repulsionsplatte. Wenn wir den Riesen fortgeschafft haben, fesselt ihr die anderen Pflanzenfresser. Laßt sie nur paarweise wieder frei. Erzähl ihnen, wie die Sache steht. Und schicke sie nach spinnwärts, wenn es hell geworden ist. Wenn sie zurückkommen und dein Dorf ohne Waffen angreifen, gehören sie euch. Aber ich bin sicher, sie werden das nicht tun. Eure Herden haben nur Grasstoppeln übriggelassen, und sie haben keine Waffen. Sie werden sich beeilen, damit sie so rasch wie möglich wieder eine Futterstelle erreichen.«

Sie erwiderte nachdenklich: »Dein Vorschlag scheint vernünftig zu sein. Wir werden uns daran halten.«

»Und wir werden sie an ihrer neuen Lagerstelle erwarten, wo sie auch sein mag. Wir werden lange vor ihnen dort sein, Ginjerofer.«

»Wir werden ihnen nichts tun. Ich verspreche es im Namen meines Volkes«, erwiderte sie kalt.


Der gepanzerte Riese erwachte kurz nach Tagesanbruch. Er öffnete die Augen, blinzelte und starrte dann den Koloß aus orangefarbenem Fell an, der seinen Blick aus gelbglitzernden Augen erwiderte. Er blieb ganz still liegen, während er seine Augen umherschickte. sah die Waffen seiner dreißig Kameraden neben sich aufgeschichtet. sah die Luftschleuse, deren Schotts geöffnet waren, sah den Horizont vorbeifliegen; spürte den Wind auf seinem Gesicht.

Er versuchte, sich auf den Bauch zu rollen. Louis grinste. Er beobachtete den Riesen durch eine Kamera, die in der Decke der Kabine eingebaut war, während er das Landeboot steuerte. Die Rüstung des Riesen war an den Knien, den Fersen, den Handgelenken und den Schultern mit dem Deck verlötet. Man brauchte es nur ein bißchen aufzuheizen, und der Riese war wieder frei. Aber mit den Muskeln würde er es nicht schaffen.

Der Riese forderte und drohte. Er bettelte nicht. Louis achtete kaum auf ihn. Wenn das Übersetzungsprogramm des Computers aus diesem Kauderwelsch einen vernünftigen Text zusammenstellte, würde er sich um den Riesen kümmern. Im Augenblick war er damit beschäftigt, das Lager der Riesen in Augenschein zu nehmen.

Das Landungsboot schwebte eine Meile über dem Boden und war inzwischen fünfzig Meilen von dem Dorf der rothäutigen Fleischesser entfernt. Er drosselte die Geschwindigkeit. Das Gras war hier schon etwas nachgewachsen, aber die Riesen hatten ebenfalls eine große, breite, kahlgeschlagene Schneise hinterlassen, die bis zum Seeufer reichte und dem hellen Lichtstreifen über den Sonnenblumenfeldern am jenseitigen Ufer. Die Riesen waren beim Futterschneiden: Tausende von ihnen hatten sich über der Grasebene verstreut. Louis sah die Lichtreflexe der mähenden Sichelschwerter.

In der Nähe des Lagers hielten sich keine Riesen auf. Eine Reihe von Wagen waren im Lager abgestellt, aber er konnte nirgends Zugtiere entdecken. Also zogen die Riesen diese Wagen selbst. Oder vielleicht hatten sie auch ein paar Motore erbeutet, als vor tausend Jahren die welterschütternde Katastrophe eintrat, die Halrloprillalar den »Fall der Städte« genannt hatte.

Louis konnte das Lager mühelos überblicken. Nur das Zentralgebäude wurde durch einen schwarzen rechteckigen Fleck auf dem Panoramafenster verdeckt. Überlastung durch zu starke Lichtquellen, dachte Louis und grinste. Die Riesen hatten sich offenbar mit seinen Feinden verbündet.

Ein Monitor leuchtete auf. Eine verführerische Altstimme sagte: »Louis?«

»Hier.«

»Ich gebe Ihnen den Wonnestecker zurück«, sagte der Puppetier.

Louis drehte sich um. Das kleine schwarze Kätzchen stand auf der Transportscheibe. Louis wandte sich wieder ab, als drehte er einem Feind den Rücken zu, und sagte: »Da Sie sich gerade melden, Hinterster, möchte ich Sie bitten, etwas für uns auszukundschaften. Am Fuße der Ringmauer haben wir Berge entdeckt, die.«

»Ich habe Sie und Chmeee zur Ringwelt gebracht, damit Sie das Risiko der Erkundung übernehmen.«

»Können Sie sich vorstellen, daß ich dieses Risiko möglichst gering halten möchte?«

»Selbstverständlich.«

»Dann hören Sie mich bitte an. Ich glaube, daß wir uns diese Schüttberge aus der Nähe betrachten sollten. Doch vorher müssen wir einige Punkte klären, die die Ringmauer betreffen. Sie müssen nur.«

»Louis, warum verwenden Sie den Ausdruck Schüttberge?«

»Weil die Eingeborenen sie so nennen. Ich weiß nicht, warum, und sie wissen es auch nicht. Interessant, nicht wahr? Und sie erscheinen nicht als versenktes Relief auf der Unterseite der Ringwelt. Warum nicht? Alle anderen Formationen sind in den Ringweltboden eingestanzt — die Meere, die Berge und die Flüsse. Aber diese Schüttberge sind keine Reliefs. Sie haben Masse

»Interessant, durchaus. Sie müssen die Lösung dieses Rätsels schon selbst herausfinden. Ich werde Hinterster genannt, und das gilt für alle Anführer des Unisversums«, erwiderte der Puppetier. »Denn die Führer leiten ihre Völker von einer sicheren Stelle aus. Sicherheit ist das Privileg des Herrschers. Er ist verpflichtet, sich von allen Gefahren fernzuhalten, denn sein Tod oder seine Verwundung bedeutet eine Katastrophe für alle seine Untertanen. Louis, Sie haben doch Erfahrung mit meiner Rasse.«

»Tanj, ich habe Sie doch nur gebeten, eine Sonde zu riskieren, nicht Ihre kostbare Haut! Wir brauchen doch nur einen Hologrammfilm von der Ringweltwand. Jagen sie die Sonde durch die Magnetringe auf der Mauerkrone, bis sie die normale Umlaufgeschwindigkeit um die Ringwelt-Sonne erreicht hat. Schließlich ist die Anlage ja zu diesem Zweck gebaut worden. Jedenfalls ist die Sonde dort vor dem Beschuß der Meteorverteidigungsanlage sicher.«

»Louis, Sie versuchen, ein Waffensystem zu überlisten, das vor mehreren hunderttausend Jahren programmiert wurde. Zudem sind Ihre Voraussetzungen nur hypothetisch. Und zudem könnte das Ringmauer-Transportsystem blockiert oder fehlerhaft sein. Dasselbe könnten wir auch für die Feuerleitstellen der Laserkanonen annehmen.«

»Und was würden Sie im schlimmsten Fall dabei verlieren?«

»Die Hälfte meiner Kraftstoff-Ergänzungsanlage«, erwiderte der Puppetier. »In den Sonden sind Transport-Scheiben-Sender eingebaut, hinter einem Filter, der nur für Schweres Wasser durchlässig ist. Der Empfänger befindet sich im Treibstofftank. Zur Treibstoffgewinnung brauche ich die Sonde nur in einem Ringwelt-Meer zu versenken. Aber wenn ich die Sonden verliere, wie will ich dann die Ringwelt wieder verlassen? Und warum sollte ich dieses Risiko auf mich nehmen?«

Louis würgte seinen Zorn hinunter. »Diese Berge haben Masse, Hinterster! Was befindet sich in diesen Schüttbergen? Es muß ein paar hunderttausend von diesen dreißig bis vierzig Meilen hohen Halbkegeln auf der Ringwelt geben, und die Rückseite des Kunstplaneten ist an diesen Stellen flach! Einer dieser Berge könnte das Kontroll- und Wartungszentrum sein. Vielleicht gibt es eine ganze Kette von solchen Zentren. Ich zweifle zwar daran, aber ich möchte es genau wissen, ehe ich mir die Dinger aus der Nähe anschaue. Außerdem muß die Ringwelt mit Steuerdüsen bestückt sein, und der ideale Platz für diese Steuerdüsen ist ebenfalls die Ringmauer. Aber wo sind sie, und warum arbeiten sie nicht?«

»Sind Sie sicher, daß es sich bei den Steuerdüsen um Raketenmotoren handelt? Es gibt auch noch andere Lösungen. Gravitationsgeneratoren könnten ebensogut die Ringwelt im Gleichgewicht halten.«

»Ich glaube es nicht. Die Ringwelt-Ingenieure hätten ihren Kunstplaneten nicht in Drehung versetzt, wenn sie über Gravitations-Generatoren verfügt hätten. Das wäre doch eine viel einfachere Lösung dieses Problems gewesen.«

»Ein Ausgleich magnetischer Kräfte zwischen der Sonne und dem Ringweltboden zum Beispiel.«

»Mmm. vielleicht. Tanj, ich bin mir nicht sicher. Deswegen sollen Sie es für mich herausfinden!«

»Wie können Sie es wagen, in solchem Ton mit mir zu verhandeln?« Die Stimme des Puppetiers klang eher gekränkt als zornig. »Es hängt von meinem Willen ab, ob Sie die Ringwelt wieder verlassen können, ehe sie mit ihren Sonnenblenden zusammenstößt. Und Der Wonnestecker funktioniert nur, wenn ich es will.«

Der Übersetzer meldete sich endlich. »Schalten Sie sich aus«, sagte Louis. Er konnte mit dem Lautstärkeregler die Stimme des Puppetiers nicht ausblenden, aber der Hinterste hörte tatsächlich zu sprechen auf.

Der Übersetzer sagte: »Friedlich? Weil ich Pflanzen esse, muß ich friedlich sein? Hilf mir aus meinem Panzer, und ich kämpfe nackt mit dir, du orangehaariges Ungetüm! Die Dielen in meinem Langhaus könnten einen neuen Teppich gut gebrauchen.«

»Und was sagst du dazu?« erwiderte Chmeee und zeigte seine polierten schwarzen Krallen.

»Ich brauche nur einen kleinen Dolch gegen deine acht Messer. Oder gib mir gar nichts, und ich werde dich mit bloßen Händen besiegen.«

Louis lachte leise in sich hinein. Er verwendete die Gegensprechanlage: »Chmeee, hast du schon mal einen Stierkampf miterlebt? Offenbar haben wir den Patriarchen der Herde gefangengenommen, den König der Riesen!«

Der Riese fragte: »Wer oder was war das?«

»Das war Louis.« Chmeee senkte die Stimme. »Du mußt dich in acht nehmen, dich respektvoller verhalten. Louis ist. furchtgebietend.«

Louis verging das Grinsen. Was sollte das nun wieder sein? Ein Possenspiel, in dem die Stimme von Louis Wu die Rolle eines Gottes spielen sollte? Es konnte funktionieren, wenn Chmeee, das furchtgebietende Tigerwesen, sich offensichtlich vor einer Geisterstimme fürchtete. Louis sagte: »König der Pflanzenesser, sage mir, warum du meine Jünger angegriffen hast.«

»Ihre Bestien fressen uns das Futter weg«, erwiderte der Riese.

»Gibt es nicht woanders Futter genug für dich? Mußtest du meinen Zorn auf dich lenken?«

Unter den männlichen Tieren einer Herde von Rindern oder Büffeln gibt es nur Sieger oder Verlierer, keine Zwischenpositionen. Der Riese rollte die Augen, suchte eine Stelle, wohin er sich flüchten konnte, und sah keinen Ausweg. Wenn er Chmeee nicht beherrschen konnte, wie wollte er sich da gegen eine unsichtbare Stimme behaupten?

»Wir hatten keine andere Wahl«, erwiderte er. »Spinnwärts versperren uns die Feuerpflanzen den Weg. links von uns herrscht das Maschinen-Volk. Rechts von uns ragt ein Gebirge auf, das aus nacktem Scrith besteht, und auf Scrith wachsen keine Pflanzen mehr, und das Zeug ist so glatt, daß man nicht einmal darauf stehen kann. Nur antispinnwärts wächst noch Gras, und nichts hätte uns dort aufhalten können außer diesen zwergwüchsigen Wilden, bis du gekommen bist! Über welche Macht verfügst du, Louis? Sind meine Männer noch am Leben?«

»Ich ließ deine Männer leben. In.« — fünfzig Meilen, nackt, zu Fuß und hungrig — »in zwei Tagen werden sie wieder bei dir sein. Ich kann sie alle töten, ich brauche nur einen Finger krumm zu machen.«

Die Augen des Riesen suchten die Decke ab. »Wenn du die Feuerpflanzen töten kannst, werden wir dich anbeten«, sagte er eingeschüchtert.

Louis lehnte sich in seinem Pilotensitz zurück und dachte nach. Plötzlich war es keine Groteske mehr, sondern ein ernstes Problem.

Er hörte, wie der Riese Chmeee über »Louis« ausfragen wollte. Chmeee tischte ihm faustgroße Lügen auf. Sie hatten dieses Theater schon einmal aufgeführt. Das Spiel mit Gott und seiner Geisterstimme hatte ihnen bei ihrem ersten Besuch auf der Ringwelt das Leben gerettet. Als sie damals ihren langen, beschwerlichen Rückmarsch zu der Stelle antraten, wo die Liar notgelandet war, hatte der Ruf des Kzin als Kriegsgott die Eingeborenen so beeindruckt, daß sie ihm Opfer gebracht hatten. Diese Opfer hatten sie vor dem Hungertod bewahrt. Louis hatte gar nicht gewußt, daß Dolmetscher/Chmeee an seiner Rolle als Gott so großen Gefallen gefunden hatte.

Doch diesmal machte ihm die Sache offensichtlich Spaß. Aber der Riese bat um Hilfe; und was vermochte Louis gegen die Sonnenblumen auszurichten? Eigentlich war das ja gar nicht sein Problem. Die Riesen hatten ihn beleidigt, oder etwa nicht? Die Götter standen in dem Ruf, rachsüchtig zu sein. Louis öffnete schon den Mund, um seinen göttlichen Zorn zu verkünden, schloß ihn aber wieder und dachte noch ein paar Sekunden nach. Schließlich sagte er: »Beim Leben deines Volkes — sage mir die Wahrheit. Eßt ihr auch Feuerpflanzen, wenn sie euch nicht vorher verbrennen?«

Der Riese antwortete bereitwillig: »Ja, Louis. Wenn wir großen Hunger haben, pirschen wir uns nachts an die Grenze ihres Reiches heran und mähen sie um. Bei Tagesanbruch müssen wir wieder weit weg sein! Denn diese Pflanzen können meilenweit sehen und uns auch auf große Entfernung verbrennen. Dazu drehen sie uns alle gleichzeitig die Köpfe zu und verwenden die Sonnenstrahlen als Waffe, bis wir verbrannt sind!«

»Aber ihr könnt sie essen, wenn die Sonne nicht scheint.«

»Ja.«

»Weißt du, wie die Winde dort wehen?«

»Winde?. In der Nähe der Sonnenblumen blasen sie spinnwärts. Gleichgültig, aus welcher Richtung man sich dem Reich der Sonnenblumen nähert, alle Winde scheinen sich über dem Reich der Sonnenblumen zu vereinigen.«

»Weil die Pflanzen die Luft erhitzen?«

»Bin ich ein Gott, daß ich so etwas wüßte?«

Nicht alle Teile der Pflanzen kamen in den Genuß des Sonnenlichtes. Sie fingen zwar die Sonnenstrahlen mit ihren Blüten ab und erhitzten damit die Luft über und neben den Blütenständen. Doch das Sonnenlicht konnte niemals die silbernen Blüten passieren und den Boden oder die Wurzeln erreichen. Tau bildete sich auf dem kalten Boden unter den Blüten. So versorgten sich die Pflanzen mit dem nötigen Wasser. Und die aufsteigende heiße Luft sorgte dafür, daß neue, feuchtigkeitsgesättigte Luft von allen Seiten nachströmte.

Die Pflanzen verbrannten alles, was sich bewegte, und verwandelten Vögel und pflanzenfressende Tiere in Dünger für ihre Felder.

Er konnte es schaffen. Ja, da gab es eine Möglichkeit.

»Den größten Teil der Arbeit mußt du selbst leisten«, sagte Louis. »Schließlich gehört der Stamm dir, und du willst ihn ja retten. Später wirst du und dein Stamm das Reich der sterbenden Feuerpflanzen durchwandern. Ihr könnt sie entweder essen oder unterpflügen und auf dem Boden, den sie bisher beherrscht haben, alles anbauen, war ihr gerne eßt.« Louis grinste, als er Chmeees betroffenes Gesicht sah, und fuhr fort: »Aber du darfst niemals meine Jünger, das rote Volk der Hirten, belästigen.«

Der gepanzerte Riese strahlte über sein ganzes bärtiges Gesicht: »Das alles ist für mich eine hochwillkommene Botschaft. In Zukunft kannst du auch uns zu deinen Anbetern zählen. Wir müssen das heilige Bündnis mit Rishathra besiegeln.«

»Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank!«

»Wie bitte? Nein, das habe ich vorhin schon erwähnt, aber Chmeee wollte mich einfach nicht verstehen. Alle Verträge müssen mit Rishathra besiegelt werden, auch die Bündnisse zwischen den Menschen und Göttern. Chmeee, das ist überhaupt kein Problem. Für meine Frauen hast du genau die richtige Größe.«

»Ich bin dir nicht ganz so ähnlich, wie du glaubst«, erwiderte Chmeee.

Soweit das Louis durch sein optisches Guckloch an der Decke feststellen konnte, schien Chmeee jetzt seinem Gefangenen zu zeigen, daß er an einer bestimmten Stelle doch ganz anders gebaut war. Denn sonst hätte der Riese nicht so ein dämliches Gesicht gemacht. Louis konnte es egal sein. Tanj, dachte er, ich hab doch tatsächlich eine Lösung für unser Problem gefunden. Und nun das. Ihm mußte noch etwas einfallen...

Ja. »Ich werde ein Wesen erschaffen, das stellvertretend für mich den Bund besiegelt«, sagte Louis. »Da ich in Eile bin, reicht es nur zu einem Zwerg, der eurer Sprache nicht mächtig ist. Nenne ihn Wu. Chmeee, ich brauche dich, um dich mit meinem göttlichen Rat zu erleuchten.«

11. Die Gras-Riesen

Als das Landungsboot niederging, wurde es von einem bösartigen weißen Licht empfangen. Der gleißende weiße Lichtkegel, der von dem Langhaus ausging, hielt noch eine Minute an, als das Landungsboot schon unbeweglich auf dem abgemähten Grasboden stand. Dann verlosch es endlich. Sofort ging die Rampe nieder. Der König der Riesen ließ sich in voller Rüstung von der Rampe auf die Erde hinuntertragen. Er hob den Kopf und brüllte. Seine Stimme mußte man noch in fünf Meilen Entfernung hören können.

Riesen trabten von allen Seiten auf das Landungsboot zu.

Chmeee kam die Rampe herunter, dann Wu. Wu war klein, größtenteils unbehaart und sah recht harmlos aus. Er lächelte nach allen Seiten; er blickte mit bezauberndem Enthusiasmus um sich, als sähe er die Welt zum ersten Mal.

Das Langhaus war ein beträchtliches Stück vom Landeplatz entfernt. Es bestand aus einem Tragegerüst aus Holz, dessen Zwischenräume mit Lehm und Gras ausgefüllt waren. Die Sonnenblumen, die auf dem Dach des Langhauses gepflanzt waren, bewegten ihre Köpfe ruhelos hin und her, richteten ihre konkaven Spiegel-Blüten mit den grünen photosynthetischen Stempeln bald auf die Sonne, bald auf die Riesen, die aus allen Richtungen zusammenströmten.

Chmeee fragte: »Was geschieht, wenn ein Gegner das Dorf am Tag angreift? Wie könnt ihr dann noch rechtzeitig das Langhaus erreichen? Oder bewahrt ihr eure Waffen woanders auf?«

Der Riese bewegte nachdenklich den Kopf hin und her, ehe er das Geheimnis ihrer Verteidigung ausplauderte. Aber Chmeee war Louis Prophet, und es war nicht ratsam, ihn zu beleidigen. »Siehst du den Holzstapel antispinnwärts vom Langhaus? Wenn Gefahr droht, muß sich ein Mann gebückt dem Holzstoß nähern und mit einem Laken winken. Dann setzen die Sonnenblumen das feuchte Holz in Brand. Im Schutz der starken Rauchentwicklung eilen wir dann zum Langhaus und bewaffnen uns.« Er warf einen Seitenblick auf das Landungsboot und fügte hinzu: »Wenn uns ein Feind beim Wettlauf zu unseren Waffen schlägt, ist er sowieso zu stark für uns. Vielleicht sind dann noch die Sonnenblumen für ihn eine unangenehme Überraschung.«

»Darf Wu sich seine Partnerin selbst aussuchen?«

»Hat er denn soviel Willensfreiheit? Ich hatte daran gedacht, ihm meine Frau Reeth zu leihen, die schon früher Rishathra ausgeübt hat. Sie ist klein, und die Maschinen-Menschen unterscheiden sich kaum von Wu.« — »Akzeptiert«, erwiderte Chmeee, ohne Wu eines Blickes zu würdigen.

Ungefähr hundert Riesen waren jetzt um sie versammelt. Sie schienen keinen Zulauf mehr zu bekommen. Der Kzin fragte: »Sind das alle?«

»Es fehlen noch meine Krieger. Sie und diese Leute bilden meinen Stamm. In diesem Lager wohnen sechsundzwanzig Stämme. Die Stämme bleiben an einem Ort zusammen, soweit das möglich ist —; aber keiner spricht für alle«, erläuterte der Riesenkönig.

Von den hundert Gaffern waren acht männlichen Geschlechtes. Man konnte alle acht als Krüppel bezeichnen; denn sie hatten kaum noch eine heile Stelle an ihrem Körper oder alle ihre Glieder beisammen. Doch keiner von ihnen zeigte schon die Spuren des Alters wie ihr König. Nur er hatte eine faltige Gesichtshaut und weiße Strähnen im Haar.

Die restlichen vierundneunzig waren Damen; Frauen vielmehr. Keine von ihnen war unter zweieinhalb Meter; wirkten aber neben ihren Männern immer noch zierlich. Sie hatten eine braune Haut, die nirgends von einem Kleidungsstück bedeckt war und trugen ihr goldenes Haar, das bis zu ihren Pobacken hinunterfiel, mit Würde. Die Haarflut war so groß, daß sie als Kleidung durchaus genügte. Keine von den Frauen trug Schmuck. Ihre Beine waren so dick wie Säulen, ihre Füße so groß wie Gehsteigplatten und mit dicker Hornhaut überwachsen. Ein paar von den Frauen hatten auch weiße Haare. Ihre schweren Brüste hingen mehr oder weniger durch und gaben einen Hinweis auf ihr Alter. Sie betrachteten ihre Gäste mit wohlwollender Neugier, während der gepanzerte Riese berichtete, was er von ihnen wußte.

Und Chmeee, der den Übersetzer abgeschaltet hatte, sprach mit leiser Stimme: »Wenn du dir eine andere Partnerin aussuchen möchtest, mußt du es gleich sagen.«

»Nein, sie sind ungefähr alle gleich. attraktiv.«

»Wir können trotzdem diese Situation abrupt beenden. Du mußt verrückt gewesen sein, als du ihnen Hilfe gegen die Sonnenblumen versprachst!«

»Ich kann mein Versprechen einlösen. He, möchtest du dich nicht an ihnen für deinen verbrannten Pelz rächen?«

»Rache an einer Pflanze? Du bist wirklich plemplem. Unsere Zeit ist kostbarer als Geld, und in einem Jahr sind sie sowieso alle tot. Sonnenblumen, Riesen, kleine rote Fleischfresser, alle!«

»Ja.«

»Deine Hilfe ist also gar keine Hilfe, wenn sie wüßten, was ihnen blüht. Wie lange wird dieses Projekt dauern? Einen Tag? Einen Monat? Du sabotierst dein eigenes Projekt.«

»Vielleicht bin ich verrückt. Chmeee, ich muß zu meinem Wort stehen. Seit ich die Ringwelt vor dreiundzwanzig Jahren verließ, hatte ich keinen. Anlaß mehr, auf mich stolz zu sein. Ich muß beweisen.«

Der Riesenkönig fiel ihm ins Wort: »Louis wird euch selbst verkünden, daß die Tage der Feuerpflanzen gezählt sind. Er wird uns sagen, was für eine Rolle wir bei seinem Feldzug spielen müssen.«

Wu zog sich nun, wie es seiner untergeordneten Stellung entsprach, hinter den Rücken des großen Kzin zurück. Keiner von den Riesen beachtete ihn! Sie bemerkten nicht, daß er mit seiner Hand redete. Eine halbe Minute später kam die zeitverzögerte Stimme von Louis durch die Lautsprecher des Landungsbootes: »Hört mich an, denn der Tag ist gekommen, wo ihr das Reich der Feuerpflanzen für die Menschenstämme erobern werdet. Ich werde in einer Wolke vor euch herwandeln, um das große Werk zu verrichten. Folgt ihr mir mit Säcken voller Saatgut, damit auf dem Boden der Feuerpflanzen wieder ein Gras wächst, das euch satt macht.«


Beim ersten Licht der Dämmerung, als die Sonne gerade mit einer winzigen Ecke hinter der Schattenblende hervorspitzte, waren die Riesen abmarschbereit.

Sie schliefen auch wie Herdentiere, einer an den anderen gekuschelt. Der König lag in einem Kreis von Frauen, Wu zu seinen Füßen, den kleinen, halbkahlen Kopf auf die Schulter einer Frau gebettet. Seine Beine hatte er um die Knöchel eines Mannes gehakt. Der schmutzige Boden war von einer Wand zur anderen mit nacktem Fleisch und Haaren bedeckt.

Nach dem Aufwachen verließen sie das Langhaus in umgekehrter Reihenfolge, wie sie es betreten hatten. Die Schläfer, die der Tür am nächsten waren, lösten sich von ihren Hintermännern, nahmen ihr Gepäck und ihre Sichelschwerter auf und traten hinaus ins Freie. Sobald der äußerste Kreis das Langhaus verlassen hatte, kam die nächste Windung der Schläfer an die Reihe. Und so spulten sich die Riesen nach und nach durch die Tür des Langhauses, bis die Prozession mit Wu und dem Riesenkönig endete.

Draußen beim Landungsboot verabschiedete sich ein einarmiger Riese mit narbenbedecktem Gesicht hastig von Chmeee und kam im schnellen Trab zum Morgenappell vor dem Langhaus. Die Wachen der vergangenen Nacht durften im Langhaus bleiben und sich ausschlafen. Ein paar von den älteren Frauen blieben ebenfalls zu Hause.

Die Riesen starrten Wu mit offenem Mund an, als er an der Wand des Langhauses hinaufkletterte.

Das Gras und der Lehm zwischen den Holzstützen bröckelte unter seinen Füßen ab, aber das Dach lag nur dreieinhalb Meter über der Erde. Louis schob sich zwischen die Sonnenblumen hinein.

Die Pflanzen waren ungefähr dreißig Zentimeter hoch, hatten einen grünen, knotigen Stengel und eine einzige ovale Blüte, die etwa neun bis zwölf Zoll im Durchmesser haben mochte und eine spiegelnde Oberfläche besaß. Ein kurzer Blütenstengel ragte im Zentrum des Konkavspiegels hervor, der in einem dunkelgrünen Stempel endete. Die Unterseite der Blüte bestand aus einem zähen, faserigen Gewebe, einer pflanzlichen Analogie des Muskelfleisches. Und alle Blüten versuchten sofort, Louis Wu mit gebündeltem Sonnenlicht zu überschütten; aber das Sonnenlicht der heraufziehenden Dämmerung reichte noch nicht aus, um ihm auch nur leichte Brandwunden zuzufügen.

Louis packte den Stengel einiger großen Sonnenblume und rüttelte daran. Das zeigte keine Wirkung. Die Wurzeln der Pflanze hatten sich im Dachgebälk des Hauses verankert. Er zog sein Hemd aus und hielt es zwischen die Blüte und die Sonne. Die silberglänzende Blüte bewegte sich unschlüssig und faltete sich dann wie ein Schirm über dem grünen Blütenstengel zusammen.

Dann kletterte Wu wieder vom Dach herunter. Er tat es mit Geschick und Anstand, weil ihm hundert Riesen dabei zusahen. Ein weißer Lichtkegel folgte ihm bis zum Raumschiff, wo Chmeee ihn erwartete.

Der Kzin sagte: »Ich habe die halbe Nacht damit verbracht, mich mit den Wachen zu unterhalten.«

»Hast du etwas Wichtiges erfahren?«

»Sie haben grenzenloses Vertrauen zu dir, Louis. Es ist eine leichtgläubige Rasse.«

»Das traf auch für die Fleischfresser zu. Aber vielleicht taten sie nur so, als glaubten sie mir. Aus Höflichkeit.«

»Das bezweifle ich. Die Pflanzen- und Fleischfresser sind darauf vorbereitet, daß jeden Moment ein Wunder am Horizont auftauchen kann. Sie wissen, daß Wesen mit gottähnlichen Kräften in den eigenartigsten Gestalten auftreten. Ich frage mich nun, welchen Wesen wir als nächsten begegnen werden. Und die Wachen wußten, daß wir nicht der Rasse angehören, die diesen Planeten baute. Ist das ein interessanter Hinweis für uns?«

»Vielleicht. Was hast du noch erfahren?«

»Mit den anderen Stämmen wird es keine Probleme geben. Vielleicht haben sie Ähnlichkeit mit Rindviechern, aber in ihren Köpfen steckt etwas mehr Gehirn. Alle Pflanzenfresser, die im Lager zurückbleiben, werden Saatgut für jene sammeln, die das eroberte Reich der Sonnenblumen besiedeln wollen. Sie werden den jungen erwachsenen Männern, die mit dir in den Krieg ziehen, Frauen mitgeben. Etwa ein Drittel der Pflanzenfresser wird sich auf den Sonnenblumenfeldern niederlassen, wenn du deinen Zaubertrick durchgeführt hast. Die übrigen zwei Drittel werden hier auf der Ebene bleiben, weil sie dann genug Gras zu fressen haben. Soviel jedenfalls, daß sie den Elefantenherden der rothäutigen Hirten keine Konkurrenz mehr machen.«

»Okay.«

»Ich fragte ihn nach den langfristigen Wetterbedingungen.«

»Gut! Und?«

»Der Wächter ist ein betagter Mann. Er sagte mir, als er noch jung war und beide Beine hatte — ehe ihm ein ›Ogre‹ — wie sich der Übersetzer ausdrückte, das linke bis zum Schenkel amputierte —, hatte die Sonne immer die gleiche Helligkeit und jeder Tag die gleiche Länge. Und nun scheint die Sonne manchmal heller und manchmal schwächer zu sein, und wenn die Sonne sehr hell ist, scheinen auch die Tage kürzer zu sein und umgekehrt. Er kann sich auch noch genau daran erinnern, wie diese Unregelmäßigkeiten anfingen. Vor zwölf Falans, was gleichbedeutend ist mit einhundertundzwanzig Rotationen dieser Kunstwelt, gab es plötzlich eine Sonnenfinsternis. Zwei oder drei Tage lang blieb gewissermaßen die Dämmerung aus. Sie sahen damals nur die Sterne und eine Geisterflamme, die sich über ihren Köpfen ausbreitete. Und dann ging es wieder ein paar Falans so weiter, als wäre nichts geschehen. Als die Unregelmäßigkeiten eintraten, wurden sie erst viel später darauf aufmerksam. Schließlich besitzen sie keine Uhren.«

»Das klingt alles recht plausibel. Nur.«

»Aber, Louis, drei Tage lang soll die Sonne nicht aufgegangen sein. Klingt das vielleicht vernünftig?«

Louis nickte. »Es gab vermutlich eine Sonneneruption. Die Schattenblenden zogen sich dann zusammen und bildeten einen geschlossenen Ring, um die Welt vor diesen Eruptionen abzuschirmen. Vermutlich können sich die Drähte, mit denen die Sonnenblenden verbunden sind, automatisch aufspulen.«

»Dann muß der Sonnensturm, der bei den Eruptionen entstanden ist, die Ringwelt aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Und nun werden die Tage immer unregelmäßiger. Alle Rassen, mit denen die Riesen Handel treiben, sind über diese Tatsache zutiefst beunruhigt.«

»Bei Gott, nicht ohne Grund.«

»Ich wünschte mir nur, wir könnten ihnen helfen.« Der Schwanz des Kzin zuckte hin und her. »Aber wir haben natürlich Wichtigeres zu tun. Wir kämpfen mit Sonnenblumen. Hattest du eine angenehme Nacht?«

»Ja.«

»Dann solltest du eigentlich jetzt lächeln.«

»Du glaubst, ich hätte Grund dazu? Du hättest ja zuschauen können. Außer dir haben das alle getan. In diesem großen Gebäude gibt es keine Wände. Das ist wie ein einziges großes Bett. Jedenfalls schauen sie gerne dabei zu.«

»Ich kann den Geruch nicht ausstehen.«

Louis lachte. »Es ist ein starker Geruch. Stark, nicht streng. Und ich mußte mich auf einen Stuhl stellen. Und die Frau war. gefügig.«

»Frauen sollen so sein.«

»Aber doch nicht menschliche Frauen! Und sie sind nicht einmal dumm. Ich konnte natürlich nicht mit ihnen reden, aber ich hörte zu.« Louis deutete mit dem Zeigefinger auf den Knopf an seinem Ohr. »Ich hörte, wie Reeth die Putzabteilung organisierte. Sie ist gut. He, du hattest recht. Sie sind genau so organisiert wie eine Rinderherde. Die Frauen sind alle die Gattinen des Riesenkönigs. Kein anderer Mann darf sie vernaschen, nur manchmal stiftet der Riesenkönig einen Feiertag und nimmt dann Urlaub, so daß er nicht zuzuschauen braucht. Kommt er vom Urlaub zurück, ist der Spaß vorbei und offiziell war nichts. Jeder ist natürlich ein bißchen verschnupft, weil wir den König von dem Kommandounternehmen vor zwei Tagen wieder lebend nach Hause brachten.«

»Wie ist das eigentlich so mit den menschlichen Frauen?«

»Oh. Orgasmus. Die Männchen aller Säugetiere haben einen Orgasmus. Die Weibchen in der Regel nicht. Aber menschliche Frauen haben ihn. Doch diese Riesenfrauen nehmen es nur hin. Sie nehmen gewissermaßen nicht daran teil.«

»Hat es dir Spaß gemacht?«

»Natürlich. Schließlich ist es ja Sex, nicht wahr. Aber man muß sich schon ein bißchen daran gewöhnen, daß ich Reeth nicht dazu bringen konnte, es so zu genießen wie ich, da sie das gar nicht kann

»Ich kann es ihr nachempfinden«, erwiderte Chmeee, »zumal keine meiner Frauen unter zweihundert Jahren von mir entfernt ist. Was müssen wir jetzt tun?«

»Auf den Riesenkönig warten. Vielleicht ist er ein bißchen groggy heute morgen. Er mußte sich heute nacht bei seinen Frauen wieder in Erinnerung bringen. Und da ich ja seine Sprache nicht verstehe, konnte er sie mir nur auf diese Weise vorstellen. Er ist. zum Fürchten. Er bediente — oder sollte ich lieber abfertigen sagen? — mindestens ein Dutzend Frauen, und ich versuchte bei der Vorstellung mit ihm Schritt zu halten, aber es tat meinem Ego natürlich nicht gut, daß ich. ach, lassen wir das.« Jetzt grinste Louis.

»Louis?«

»Mein Zeugungsorgan entspricht meinen Körpermaßen.«

»Der Wächter erzählte mir, daß die Frauen anderer Gattungen von den Riesenmännchen zutiefst beeindruckt wären. Die Riesenmännchen praktizieren Rishathra, so oft sie können. Deswegen schätzen sie Friedensverhandlungen über alles. Der Wächter war sehr enttäuscht davon, daß Louis dich nicht als Weibchen erschuf.«

»Louis hatte es eilig«, sagte Wu und betrat das Landungsboot.


Am Abend zuvor hatten die Schnitter des Stammes große Säcke voll Gras in der Nähe des Langhauses ausgeleert. Die Wächter und der Riesenkönig hatten den größten Teil dieses Grashaufens aufgezehrt; die Schnitter selbst futterten offenbar bei der Arbeit. Louis sah, wie der König einen Umweg zur Futterstelle machte, ehe er zum Raumschiff kam. Er verspeiste den Rest des Haufens zum Frühstück.

Pflanzenesser zu sein, hatte entschiedene Nachteile, dachte Louis. — Man verbrauchte die meiste Zeit seines Lebens für das Essen. Wie hatten die Humanoiden nur ihre Intelligenz bewahren können? Chmeee hatte recht — man brauchte nicht viel Grütze dazu, um sich an einen Grashalm heranzupirschen. Vielleicht gehörte Intelligenz dazu, sich davor zu hüten, daß man gefressen wurde. Oder es gehörte schon eine kräftige Portion Schläue dazu, sich an eine Sonnenblume heranzupirschen.

Louis fühlte sich beobachtet. Er drehte sich um. Nichts.

Es wäre schon peinlich gewesen, wenn der Riesenkönig entdeckt hätte, daß Louis ihm einen Bären aufgebunden hatte. Aber Louis war alleine auf dem Flugdeck, wenn man die elektronischen Augen des Puppetiers nicht berücksichtigte. Aber weshalb klingelten ihm die Ohren? Er drehte sich noch einmal um und traute seinen Augen nicht. Der Wonnestecker starrte ihn an. Das schwarze Plastikgehäuse lag auf der Transportscheibe.

So ein kurzer Wonnestrom-Stoß hätte ihm wirklich das Gefühl gegeben, Gott zu sein. Aber er würde ihm auch gründlich den Auftritt verpatzen. Er erinnerte sich, was Chmeee gesagt hatte. Er sähe mit eingeschaltetem Wonnestecker aus wie eine »hin- und herpendelnde Unterwasserpflanze«. Er drehte dem Stecker wieder den Rücken zu.

Der Riesenkönig trug heute keinen Panzer. Sobald Chmeee mit ihm die Raumschiffkabine betrat, hob der Kzin beide Hände zur Decke, legte die Handflächen zusammen und rezitierte: »Louis, Louis!« Der Riese ahmte alles nach, was Chmeee tat.

»Besorge mir eine von den Repulsionsplatten«, sagte Louis. »Lege sie auf den Boden. Gut. Nun hole ein Stück von dem Superleiter-Tuch. Drei Türen tiefer, der große Schrank. Ja. Wickle das Tuch um die Repulsionsplatte. Ganz einwickeln, aber die Falte über die Kontrollknöpfe legen, damit du daran drehen kannst. Chmeee, wie stark ist das Tuch?«

»Einen Moment, Louis. Siehst du, man kann es mit einem Messer zerschneiden. Aber ich bezweifle, daß man es mit den Hände zerreißen kann.«

»Gut. Nun besorge mir zwanzig Meilen Superleiter-Draht. Wickle ein Ende um die Repulsionsplatte. Aber du mußt den Draht gründlich befestigen, mit mehreren Schleifen. Knauser nicht damit. So ist es gut. Und jetzt wickle den Rest des Drahtes um die Platte, daß er sich nicht verheddert, wenn er sich abspulen muß. Ich brauche das andere Ende. Chmeee, du machst das. König der Grasesser, ich brauche den größten Stein, den du gerade noch tragen kannst. Du kennst dieses Land. Finde ihn, und bringe ihn hierher.«

Der Riesenkönig starrte an die Decke, senkte dann die Augen und verließ wortlos das Raumschiff. Chmeee sagte: »Mir dreht sich der Magen um, weil ich deine Befehle so widerspruchslos hinnehmen muß.«

»Aber du hast dir doch das Spiel ausgedacht. Zudem stirbst du vor Neugierde, wie die Sache weitergeht. Aber.«

»Ich könnte dich zwingen, mir deinen Plan zu verraten.«

»Ich kann dir etwas Besseres anbieten. Komm bitte zu mir herauf.«

Chmeee kam durch den Niedergang auf das Flugdeck, Louis fragte: »Was siehst du auf der Transportscheibe?«

Chmeee nahm den Wonnestecker hoch.

Louis Stimme sagte heiser: »Zerquetsche das Ding!«

Der Kzin schmetterte das kleine Gehäuse gegen die Wand. Doch es bekam nicht einmal eine Delle davon. Er öffnete die Plastikschale und wühlte mit einem Rumpfmetallmesser in den Eingeweiden des Wonnesteckers. Dann sagte er: »Jetzt kann man ihn nicht mehr reparieren.«

»Gut.«

»Ich werde unten auf den Grasfresser warten.«

»Nein, ich komme mit. Ich möchte mich davon überzeugen, ob du meine Vorschriften befolgt hast. Und ich habe Hunger.« Er war sich seiner anderen Gefühle nicht so sicher. Rishathra hatte seine Erwartungen nicht ganz erfüllt, und die reine Seligkeit des Wonnestromes war für immer vorbei. Aber. Käsefondue? Richtig. Und Freiheit. Und Stolz. In ein paar Stunden würde er die Invasionsarmee der Sonnenblumen vernichten und Chmeee das Fürchten lehren. Louis Wu, der Ex-Süchtige, dessen Gehirn sich doch noch nicht in Haferbrei verwandelt hatte.


Der Riesenkönig kam mit einem mächtigen Felsblock herbei, den er kaum mit beiden Armen zu fassen vermochte. Chmeee wollte ihm den Stein abnehmen, zögerte jedoch einen Moment, als er dessen Größe sah, und griff dann doch zu. Er drehte sich um, den Riesenstein auf den Armen, und fragte mit gepreßter Stimme: »Was muß ich mit diesem Stein tun, Louis?«

Louis spielte mit dem Gedanken, Chmeee zappeln zu lassen. Oh, es gibt so viele Möglichkeiten... Laß mich mal nachdenken... Aber Götter zaudern nicht zu lange, und er konnte nicht dulden, daß Chmeee der Stein auf die Zehen fiel, während der Riese zusah.

»Setze ihn auf das Superleitertuch ab und wickle ihn darin ein. Binde ihn mit Superleiterdraht fest. Geize nicht mit dem Draht, damit der Stein nicht herunterfallen kann. Okay, nun brauche ich noch einen stärkeren Draht, der Hitze vertragen kann.«

»Wir haben die Sinclair-Molekularkette.«

»Aber sie muß kürzer sein als der Superleiterdraht. Also keine Länge von zwanzig Meilen.« Louis war jetzt ganz froh, daß er die Arbeit überprüft hatte. Er hatte die Möglichkeit übersehen, daß der Superleiterdraht vielleicht reißen könnte, wenn er die Repulsionsplatte hinter sich herschleppte. Aber diese Sinclair-Molekularkette war eine fantastische Sache. Die Kette hielt etwas aus.

12. Sonnenblumen

Louis flog in großer Höhe und hohem Tempo spinnwärts. Die Prärie unter ihm war viel zu braun: das Gras, das zuerst von den grünen Elefanten abgeweidet und dann von den Riesen gemäht worden war, hatte Mühe, nachzuwachsen. Vor ihm zeigte sich ein gleißendes Licht am entfernten Ufer. Der Riesenkönig beobachtete den See durch die durchsichtigen Luftschleusenschotts.

»Vielleicht hätte ich doch meinen Panzer mitnehmen sollen«, sagte er.

»Um mit Sonnenblumen zu kämpfen?« schnaubte Chmeee. »Metall wird heiß.«

»Woher hast du deine Rüstung?« fragte Louis.

»Wir bauten eine Straße für das Maschinen-Volk. Dafür schenkten sie uns das Gras, durch das die Straße führte, und als sie fertig war, schmiedeten sie eine Rüstung für die Stammeskönige. Wir zogen weiter. Die Luft behagte uns nicht.«

»Was störte euch an der Luft?«

»Sie schmeckt schlecht und riecht schlecht, Louis. Sie riecht nach dem Zeug, das die Maschinen-Leute manchmal trinken. Sie gießen dasselbe Zeug manchmal in ihre Maschinen, aber sie verdünnen es vorher nicht.«

Chmeee sagte: »Es fiel mir auf, daß dir die Rüstung gar nicht paßt. Ich meine, sie ist dir nicht auf den Leib geschmiedet. Weshalb nicht?«

»Sie soll Angst und Ehrfurcht erwecken. Tut sie das nicht?«

»Nicht ganz«, erwiderte Chmeee. »Hatte diese Rüstung vielleicht den Leuten gepaßt, die diese Planeten bauten?«

»Wer weiß?«

»Ich weiß es«, sagte Louis. Der Blick des Riesen ging nervös zur Kabinendecke.

Gras, das wieder nachgewachsen war, wich plötzlich einem Wald. Die Sonnenblumen richteten schon ihre Blüten auf. Louis ließ das Raumschiff bis auf eine Höhe von dreißig Metern absacken und drosselte die Geschwindigkeit erheblich.

Der Wald endete vor einem breiten Sandstrand. Louis schlich jetzt förmlich über dem Boden dahin und ging so tief herunter, daß er mit dem Rumpfboden fast das Wasser berührte. Die Sonnenblumen verloren ihr Interesse an ihm.

Er flog auf das erlöschende Licht zu. Das Wasser war ruhig, seine Oberfläche von einer sanften Brise, die von achtem kam, mit flachen Rillen überzogen. Der Himmel war blau und wolkenlos. Sie flogen an Inseln vorbei, deren Ufer ebenfalls reich gegliedert waren. Weißer Sand fiel sanft zum Wasser ab. Die Kuppeln der Inseln waren schwarz verkohlt. Zwei von ihnen waren von Sonnenblumen erobert worden.

Fünfzig Meilen vor dem Ufer, das die Sonnenblumen besetzt hielten, erwachte wieder das Interesse der silbernen Pflanzen. Louis hielt das Landungsboot in der Luft an. »Sie können sich doch nicht einbilden, daß sie uns als Dünger verwenden könnten«, sagte er. »Wir sind viel zu weit von ihnen entfernt und fliegen viel zu tief.«

»Diese Pflanzen haben kein Hirn«, meinte Chmeee mit einem verächtlichen Hüsteln.

Der Riesenkönig sagte: »Sie sind gerissen. Sie lösen sogar Buschbrände aus. Und auf den verbrannten, mit Asche bedeckten Boden versprühen sie ihre Samen.«

Aber sie waren doch jetzt über dem Wasser!. Was soll's. »König der Grasesser-Riesen, jetzt ist deine Stunde gekommen! Wirf den großen Stein über Bord. Paß auf, daß sich der Draht nicht verheddert.« Louis öffnete die Luftschleuse und ließ die Rampe hinunter. Der Riesenkönig trat hinaus in das gleißende Licht. Der Stein fiel in das sechs Meter tiefe Wasser, nahm den schwarzen und den silbernen Draht mit hinunter auf den Grund.

Scheinwerfer schienen vom Ufer aus nach ihnen zu greifen. Einzelne Pflanzengruppen versuchten, das Landefahrzeug zu verbrennen, gaben dann aber wieder auf. Die Bewegung reizte sie, aber sie würden doch nicht auf laufendes Wasser zielen. Oder doch? Etwa auf einen Wasserfall? Seines Wissens entwickelten sich diese Pflanzen am besten auf halbtrockenen Planeten. »Chmeee. Du stellst jetzt die Repulsionsplatte auf achtzehn Meilen ein und wirfst sie über Bord. Paß auf, daß die Drähte sich nicht verhedddern.«

Das schwarze Rechteck stieg in den Himmel hinauf. Schwarzer und silberner Draht spulte sich ab. Die Sinclair-Molekularkette hätte eigentlich unsichtbar dünn sein müssen, aber sie glitzerte im gleißenden Licht, und ein greller Lichthof bildete sich um die rasch kleiner werdende Repulsionsplatte. Jetzt war die Platte nur noch ein schwarzer Fleck am Himmel, kaum noch zu erkennen, wenn nicht dieser helle Lichthof ihren Standort markiert hätte. Auf dieser Höhe bildete sie ein gutes Ziel für Tausende von Sonnenblumenblüten.

Ein Superleiter läßt Strom ohne Widerstand passieren. Deswegen ist er ja so wertvoll für die Industrie. Und er hat noch eine zweite, außerordentlich wertvolle Eigenschaft. Ein Superleiter behält überall die gleiche Temperatur bei.

Die Luft, Staubpartikel und die Sinclair-Kette glühten im Licht der Sonnenblumen auf. Aber das Superleiter-Tuch und der Superleiter-Draht blieben schwarz. Gut. Louis blinzelte, weil ihm das grelle Licht die Tränen in die Augen trieb, und blickte dann hinunter auf das Wasser. »König der Grasesser«, sagte er, »komm zurück ins Schiff, weil du dir sonst die Füße verbrennst.«

Wo die beiden Drähte im See verschwanden, fing das Wasser an zu kochen. Dampf stieg auf und zog auf das weiße Licht zu, das spinnwärts über den Sonnenblumen glitzerte. Louis ließ das Landungsboot nach Steuerbord abdriften. Schon kochte das Wasser auf einer Länge von mehreren hundert Metern.

Die Ringwelt-Ingenieure hatten nur zwei tiefe Ozeane auf dem Kunstplaneten angelegt. Diese beiden Weltmeere balancierten sich gegenseitig aus. Die übrigen Binnenseen der Ringwelt hatten eine Standardtiefe von acht Metern. Wie die Menschen, hatten die Ringwelt-Ingenieure offenbar nur die Meeresoberfläche benützt. Das war ein Vorteil, den Louis jetzt für sich ausnützte. Es war verhältnismäßig leicht, so einen Binnensee zum Kochen zu bringen.

Die Dampfwolken erreichten die Küste.

Götter lachen nicht schadenfroh. Das war bedauerlich. »Wir werden jetzt zuschauen, bis du zufriedengestellt bist«, sagte er zu dem Riesenkönig.

»Ahem«, sagte Chmeee.

»Ich beginne zu verstehen«, sagte der Riesenkönig, »aber.«

»Sag, was dich bedrückt.«

»Die Feuerpflanzen verbrennen die Wolken.« Louis schluckte seine Nervosität hinunter. »Wir werden weitersehen. Chmeee, du darfst unserem Gast Salat anbieten. Vielleicht wollt ihr beide etwas essen, allerdings durch eine Tür voneinander getrennt.«


Der Felsblock, an dem der Superleiter-Draht im Wasser befestigt war, befand sich jetzt fünfzig Meilen an der Backbordseite von ihnen entfernt. Das Raumschiff versteckte sich hinter einer hohen, kahlen Insel, die wie ein Schirm einen Teil der gleißenden Strahlen aus dem Sonnenblumenfeld abfing. Die Pflanzen hatten immer noch die Absicht, das Landungsboot in Asche zu verwandeln. doch die meisten Sonnenblumen hatten Wichtigeres zu tun. Einige richteten ihre gebündelten Strahlen auf das schwarze Rechteck am Himmel, andere wieder auf die Dampfwolken.

Inzwischen kochten ein paar Quadratmeilen Wasser um den versenkten Felsblock herum. Der Dampf wallte in dicken Wolken über den See, erreichte fünfzig Meilen weiter das Ufer, und fing dort Feuer. Fünf Meilen rückten sie noch auf das Sonnenblumenfeld vor, leuchtend wie Kugelblitze, ehe sie sich in Luft auflösten.

Louis richtete das Teleskop auf die Dampfwolken. Er konnte das Wasser kochen sehen. Bald mußten die ersten Sonnenblumen sterben. Ein fünf Meilen breiter Streifen des Feldes bekam kein Sonnenlicht mehr. Andere Pflanzen vergeudeten ihre Energie damit, gebündelte Lichtstrahlen auf Dampfwolken zu richten, statt damit Zucker herzustellen. Aber ein fünf Meilen breiter Streifen war ein Nichts, ein gar Nichts. Das Feld nahm die halbe Breite der Ringwelt ein.

Und da sah er noch etwas, das ihn veranlaßte, das Teleskop fast senkrecht zu stellen.

Der Silberdraht stürzte, trieb spinnwärts mit dem Wind ab. Die Sonnenblumen hatten die Sinclair-Molekularkette durchgebrannt. Louis zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Aber der Draht des Superleiters war immer noch schwarz. Der Draht würde halten. Er würde nicht reißen.

Er konnte nicht heißer werden als das kochende Wasser, und überall hatte er die gleiche Temperatur. Und wenn die Pflanzen noch mehr Licht zu ihm hinaufschickten, würde das nichts an dieser Tatsache ändern. Der Draht würde nur das Wasser schneller zum Kochen bringen, und der Draht hing in einem gewaltigen Binnensee. Und Wasserdampf verschwindet nicht so einfach. Er erhitzt sich und steigt höher in den Himmel hinauf.

»Gott speist gut«, sagte der Riesenkönig. Er verzehrte einen zarten Salatkopf von der Marke Boston butter lettuce. Es war sein zwanzigster Salatkopf oder vielleicht sogar schon sein dreißigster. Er stand hinter Chmeee und betrachtete die Dampfwolken. Aber im Unterschied zu Chmeee stellte er keine Spekulationen an, was sich dort draußen abspielte.

Das Wasser kochte jetzt wie der Teufel. Die Sonnenblumen wollten unbedingt diesen schwarzen Vogel abschießen, der wahrscheinlich Sonnenblumen fraß und deshalb zu Dünger verwandelt werden sollte. Sie konnten weder die Höhe noch die Entfernung abschätzen. Aber die Evolution hatte dafür gesorgt, daß sie ihren blinden Fanatismus nicht übertrieben. Ehe sie an Auszehrung sterben konnten, richteten sie ihre Strahlen wieder auf den grünen photosynthetischen Stempel, während andere für sie den Kampf gegen den schwarzen Vogel aufnahmen.

Chmeee sagte mit ruhiger Stimme: »Louis, die Insel.«

Etwas Großes, Schwarzes stand bis zur Hüfte im Wasser, nahe beim Ufer. Das Wesen war nicht ganz Mensch und nicht ganz Otter, hatte von beiden etwas. Das Wesen wartete geduldig, beobachtete das Landungsboot mit großen braunen Augen.

Louis sprach mit mühsam bewahrter Ruhe: »Ist dieser See mit Menschen bevölkert?«

»Das wußten wir nicht«, sagte der König der Riesen.

Louis glitt mit dem Landungsboot auf den Strand zu. Der Humanoide wartete furchtlos. Seine Haut war mit einem kurzen ölig schwarzen Pelz bewachsen, und er schien den Verhältnissen des Wassers hervorragend angepaßt: gedrungener Hals, scharf abfallende Schultern, eine breite Nase, die ganz flach auf seinem kinnlosen Gesicht lag.

Louis aktivierte die Mikrofone: »Verstehst du die Sprache der Grasriesen?«

»Ich kann mich in ihr verständlich machen. Aber sprich langsam. Was suchst du hier!«

Louis seufzte. »Ich erhitze das Meer.«

Die Selbstbeherrschung der Kreatur war bemerkenswert. Die Vorstellung, daß das Wasser zu kochen anfangen könnte, brachte sie nicht aus der Ruhe. Das Wesen fragte das schwebende Gebäude: »Wie heiß?«

»Sehr heiß an dieser Seite des Meeres. Wie viele seid ihr?«

»Im Augenblick vierunddreißig«, erwiderte das amphibische Wesen. »Wir waren zu achtzehn, als wir vor einundfünfzig Falans hierher kamen. Wird das Wasser auf Steuerbordseite deines Schiffes sehr heiß werden?«

Louis, sank erleichtert in den Pilotensitz zurück. Er hatte sich mehrere hunderttausend gekochte Wasserleichen vorgestellt, weil Louis Wu Gott spielte. Er krächzte: »Du mußt mir sagen, wie heiß es werden darf. Auf dieser Seite ist auch der Fluß, durch den das Wasser wieder abfließt. Wieviel Wärme könnt ihr vertragen?«

»Eine ganze Menge. Wir werden besser essen. Fische lieben die Wärme. Aber gestatte mir eine Frage, ehe du einen Teil unseres Hauses zerstörst: Warum tust du das?«

»Wir wollen damit die Feuerpflanzen töten.«

Der Amphibien-Mensch dachte nach. »Gut. Wenn die Feuerpflanzen sterben, können wir einen Boten flußaufwärts zu dem Meer von Fuboobishes Sohn schicken. Sie glauben wohl, daß wir schon längst tot sind.« Er fügte hinzu: »Aber ich vergaß meine guten Manieren. Rishathra ist uns angenehm, wenn du uns dein Geschlecht offenbarst und auch unter Wasser zu kopulieren vermagst.«

Louis benötigte eine Sekunde, seine Stimme wiederzufinden: »Keiner von uns kopuliert im Wasser.«

»Wenige tun das«, erwiderte das Amphibien-Wesen. Offensichtlich war er von der Antwort nicht enttäuscht.

»Wie seid ihr hierhergekommen?«

»Wir erkundeten den Fluß, als uns Stromschnellen in das Gebiet der Feuerpflanzen trugen. Dort konnten wir nicht ans Ufer, um den Rückweg zu Fuß anzutreten. Wir mußten mit der Strömung bis zu diesem Binnensee schwimmen, den ich Tuppugops Meer taufte. Es ist keine üble Heimstätte, obwohl man sich vor den Feuerpflanzen in acht nehmen muß. Kannst du sie tatsächlich mit Nebel töten?«

»Ich glaube ja.«

»Ich muß mit meinen Leuten umziehen«, erwiderte das Amphibien-Wesen. Er tauchte ohne einen Spritzer im Wasser unter.

»Ich dachte schon, du würdest ihn töten«, sprach Chmeee, den Blick zur Decke gerichtet, »für seine Unverschämtheit.«

»Es ist seine Heimat«, erwiderte Louis. Er schaltete die Gegensprechanlage ab. Er hatte dieses Spiel satt. Da vertreibe ich Menschenwesen mit kochendem Wasser aus ihrem Haus, dachte er, und weiß nicht einmal, ob die Sache funktioniert! Er sehnte sich nach dem Wonnestecker. Nichts half gegen die Depression außer diesem vegetativen Glückszustand, wenn sein Gehirn unter Strom stand. Nichts sonst konnte diese gewitterschwarze Wut eindämmen, die ihn dazu trieb, mit den Armen auf die Sessellehnen zu schlagen und mit zusammengepreßten Augen tierische Geräusche auszustoßen.

Aber die Zeit heilt alle Schmerzen. Die Zeit verging und mit ihr der Anfall. Er öffnete die Augen.

Nun vermochte er weder den schwarzen Draht noch das kochende Wasser zu sehen. Da war nur eine einzige riesige Nebelwand, die nach spinnwärts trieb, Feuer fing, sobald sie die Küste erreicht hatte, zehn Meilen weit landeinwärts vordrang und dann verschwand. Dann blieb nur noch das gleißende Licht der Sonnenblumen. und ein paar parallele Linien am Horizont.

Eine weiße Linie über einer schwarzen Linie, die ungefähr fünfzig Grad des Horizontes bedeckte.

Wasserdampf verschwindet nicht so einfach. Er war bis in die Stratosphäre hinaufgestiegen und hatte sich dort rekondensiert. Eine weißrandige Wolke, die unter der Strahlenattacke der Sonnenblumen aufglühte: ein schwarzer Schatten über einem beträchtlichen Bereich des Sonnenblumen-Gebietes. Dieser Schatten mußte fünfhundert oder gar tausend Meilen entfernt sein, wenn man ihn mit der Wolke über dem Feld verglich, und besaß eine Breite von mehreren hundert Meilen. Und dieser Schatten dehnte sich stetig aus — aufreizend langsam zwar, aber stetig.

In der Stratospähre wurde die Luft vom Zentrum des Sonnenblumenfeldes weggedrückt. Selbstverständlich würde ein Teil der kondensierten Flüssigkeit abregnen, aber ein Teil des Wasserdampfes würde sich wieder mit dem Dampf vereinigen, der von der kochenden See in die Höhe stieg, und mit dem Wind auf das Feld zutreiben. Der Dampf zirkulierte stetig über dem Reich der Sonnenblumen.

Seine Arme taten ihm weh. Louis lockerte den schraubstockartigen Griff um die Sessellehnen und schaltete die Gegensprechanlage ein.

»Louis hat sein Versprechen gehalten«, sagte der König der Riesen soeben, »aber die sterbenden Pflanzen scheinen so weit vom Ufer entfernt zu sein, daß wir sie nicht mähen können. Ich weiß nicht.« »Wir werden die Nacht hier verbringen«, unterbrach Louis ihn. »Morgen früh werden wir es genau wissen.«


Es ging mit dem Landungsboot antispinnwärts von der Insel nieder. Seetang war in großen Mengen an den Strand gespült worden. Chmeee und der König der Riesen schaufelten eine Stunde lang Seetang in eine Luke am Rumpf des Landungsbootes, um die Grundstoffreserven des Nahrungsmittel-Zubereiters aufzufüllen. Louis nahm die Gelegenheit wahr, um Heiße Nadel über Funk zu rufen.

Der Hinterste befand sich nicht auf dem Flugdeck. Er mußte sich im versteckten Teil des Raumschiffes aufhalten. »Sie haben Ihren Wonnestecker demoliert«, sagte er.

»Ich weiß. Haben Sie inzwischen etwas.«

»Ich habe einen Ersatzstecker.«

»Und wenn Sie ein paar Dutzend Ersatzstecker hätten, würde mich das nicht interessieren. Ich verzichte darauf. Wollen Sie immer noch den Materie-Umwandler der Ringwelt-Ingenieure haben?«

»Selbstverständlich.«

»Dann müssen wir auch ein bißchen zusammenarbeiten. Die Leitstation der Ringwelt muß irgendwo auf diesem Kunstplaneten sein. Falls sie in einem der Schüttberge untergebracht wurde, müssen die Materieumwandler, die aus den Raumschiffen ausgebaut wurden, auch in diesen Schüttbergen sein. Ich möchte eine genaue Lageerkundung, ehe ich mich in einen dieser Berge wage.«

Der Hinterste dachte über seinen Vorschlag nach.

Hinter seinen flachen, sich wiegenden Köpfen sah Louis beleuchtete Wolkenkratzer, eine breite Straße mit Transportscheiben an den Kreuzungen, die sich auf einen Fluchtpunkt hin bewegten. Die Straße wimmelte nur so von Puppetiers. Ihre gekämmten oder gelockten Mähnen waren mit glitzernden Steinen geschmückt. Die Puppetiers schienen sich immer nur in Gruppen zu bewegen. Da war ein schmaler Himmelsstreifen zwischen den hohen Gebäuden, in dem zwei Landwirtschaftsplaneten über dem Horizont schwebten, jeder von einer rotierenden Lichterkette umgeben. Ein sanftes melodiöses Geräusch kam aus dem Hintergrund, als würden sich Millionen Puppetiers miteinander unterhalten, knapp außer Hörweite, so daß man die Worte nicht mehr zu verstehen mochte.

Der Hinterste hatte ein Stück seiner verlorenen Zivilisation bei sich: Bänder und eine Hologramm-Wand. Vermutlich umgab er sich ständig mit dem Geruch seiner Artgenossen. Die Möbel seiner Wohnkabine hatten nicht eine scharfe Kante, wo man sich ein Knie anstoßen konnte. Sie bestanden nur aus weichen Kurven, und eine seltsam geformte Vertiefung auf dem Kabinenboden war vermutlich ein Bett.

»Die Rückseite der Ringmauer ist vollkommen flach«, sagte der Hinterste. »Mein Tiefenradar vermag das Material nicht zu durchdringen. Ich kann es mir nicht leisten, eine meiner Sonden zu riskieren. Sie dient immer noch als Relaisstation zwischen der Heißen Nadel und Ihrem Landungsboot. Tatsächlich wird die Verbindung noch besser, wenn die Sonde noch etwas höher über der Mauer steht. Deswegen werde ich eine der beiden Sonden im Magnetschleifen-Transportsystem unterbringen.«

»Das ist zufriedenstellend.«

»Glauben Sie wirklich, die Reparaturzentrale ist.«

»Nein, nicht eigentlich. Aber wir werden dort genug Überraschungen entdecken, daß wir uns nicht langweilen. Diese Schüttberge müssen genau untersucht werden.«

»Eines Tages müssen wir uns entscheiden, wer diese Expedition leitet«, erwiderte der Puppetier und verschwand vom Monitorschirm.


In dieser Nacht sah er keine Sterne.

Der Morgen war ein lichterwerdendes Chaos. Vom Flugdeck aus sah man nur ein formloses milchiges Glühen: kein Himmel, kein Wasser, kein Strand. Louis fühlte sich versucht, Wu neu zu erschaffen, damit er den Leitstand verlassen und nachsehen konnte, ob die Welt dort draußen noch existierte.

Statt dessen stieg er mit dem Landungsboot senkrecht in den Himmel hinauf. Auf hundert Meter Höhe sah er die Sonne wieder. Unter ihm war eine weiße Wolke, die sich nach spinnwärts hin mit Licht füllte. Der Nebel hatte sich ein beträchtliches Stück landeinwärts ausgedehnt.

Die Repulsionsplatte hing immer noch über dem Sonnenblumenfeld, ein schwarzer Punkt am blauen Himmel.

Zwei Stunden nach Einbruch der Morgendämmerung blies ein Wind den Nebel auseinander. Louis ging mit dem Landungsboot wieder bis knapp über den Wasserspiegel herunter, ehe der Nebel sich über dem Sonnenblumenfeld verflüchtigt hatte. Minuten später bildete sich wieder ein greller Lichthof um die Repulsionsplatte.

Der König der Riesen hatte den ganzen Morgen über in der offenen Luftschleuse gestanden und mit geistesabwesendem Gesicht Salatblätter gekaut. Chmeee hatte sich ebenfalls recht still verhalten. Sie blickten an die Kabinendecke, als Louis sich räusperte.

»Es wird funktionieren«, sagte er und glaubte nun selbst an seine Prophezeihung. »Bald wirst du eine Allee von toten Sonnenblumen finden, die dich zu einem viel größeren Feld der Feuerpflanzen bringen wird, die sich unter einer dicken, dauerhaften Wolkenschicht befinden. Säe deinen Grassamen. Wenn du lieber lebende Feuerpflanzen essen möchtest, dann ernte sie nachts zu beiden Seiten des Nebelstreifens. Vielleicht brauchst du dafür eine Basis auf einer Insel in diesem See. Vielleicht werdet ihr auch Boote für eure Ernte-Streifzüge brauchen.«

»Von jetzt an werden wir uns schon selbst helfen können«, erwiderte der König der Riesen. »Ich bin froh, daß auch Wasser-Leute in unserer Nähe sind, wenn auch nur in bescheidener Anzahl. Sie tauschen ihre Arbeitskraft gegen Metallwerkzeuge ein. Die Wasser-Leute werden unsere Boote bauen. Wächst denn auch Gras, wenn es Tag und Nacht regnet?«

»Ich weiß nicht. Du solltest auch auf den verbrannten Inseln deinen Grassamen ausstreuen.«

»Gut. Den Heroen unseres Volkes setzen wir ein Denkmal, indem wir ihr Ebenbild in einen Stein ritzen und ein paar Worte hinzusetzen. Wir sind Nomaden; wir können keine großen Standbilder mit uns herumschleppen. Genügt dir eine Felszeichnung?«

»Absolut.«

»Und wie sollen wir dich darstellen?«

»Ich bin ein bißchen größer als Chmeee, habe mehr Haare an den Schultern, deren Farbe sich mit deiner deckt. Dazu ein Gebiß wie die Fleischfresser mit Stoßzähnen. Keine externen Ohren. Und verschwende nicht so viel Mühe auf mein Ebenbild. Wohin soll ich dich jetzt bringen?«

»Zu unserem Lager. Ich denke, ich werde ein paar Frauen mitnehmen müssen, ehe ich das andere Seeufer erkunde.«

»Wir können es sofort erkunden.«

Der König der Riesen lachte. »Vielen Dank, Louis; aber meine Krieger werden in einer schrecklichen Laune sein, wenn sie ins Lager zurückkommen. Nackt, hungrig und besiegt. Ich sollte ihrer Stimmung schon ein wenig aufhelfen, indem ich sie ein paar Tage lang allein lasse. Ich bin kein Gott. Ein Held kann sich nur auf seine Gefolgsleute verlassen, wenn sie mit seiner Herrschaft zufrieden sind. Er kann nicht zu jeder wachen Stunde seine Stellung mit dem Schwert verteidigen.«

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