ERSTES BUCH JENSEITS DES JORDANS

Bis Gott auch euren Brüdern Ruhe gibt, wie Er sie euch gab; und auch sie das Land in Besitz nehmen, das Gott ihnen gibt jenseits des Jordans; dann sollt ihr wiederkehren zu eurem Besitztum, das ich euch gegeben habe.

MOSES, 5. BUCH, 3, 20

WORTE DES DANKES

Bei der Sammlung des Materials für »Exodus« habe ich annähernd 50000 Meilen zurückgelegt. Die Anzahl der Tonbänder und der Interviews, die Massen von Büchern und die Menge der Filmaufnahmen und des ausgegebenen Geldes ergeben ähnlich eindrucksvolle Zahlen.

Im Laufe von zwei Jahren haben Hunderte von Leuten mir ihre Zeit, ihre Energie und ihr Vertrauen geschenkt. Ich hatte doppeltes Glück: Ungewöhnliche Hilfsbereitschaft und größtes Vertrauen begegneten mir.

Leider bin ich außerstande, allen, die mir geholfen haben, hier zu danken. Alle diese Personen aufzuführen, ergäbe ein eigenes Buch.

Es schiene mir aber mehr als undankbar, wenn ich die Bemühungen von zwei Menschen nicht betonte, ohne deren Hilfe »Exodus« nicht entstanden wäre.

Ich hoffe, daß ich keinen gefährlichen Präzedenzfall schaffe, wenn ich meinem Agenten öffentlich danke. »Exodus« wurde während einer Unterhaltung beim Essen geboren und wurde dank der Beharrlichkeit von Malcolm Stuart ein greifbares Projekt. Trotz unzähliger Rückschläge ließ er den Plan nicht fallen.

Ebenso danke ich aus ganzem Herzen Ilan Hartuv in Jerusalem. Er organisierte meine Reisen und begleitete mich durch ganz Israel im Zug, Flugzeug, Vauxhall oder Austin, im Jeep oder zu Fuß. Manchmal waren es ziemliche Strapazen. Vor allem aber danke ich Ilan, daß ich von seinem umfassenden Wissen lernen durfte.

I.

NOVEMBER 1946 WILLKOMMEN HIER IN ZYPERN (SHAKESPEARE)

Die Maschine rollte holpernd auf die Halle zu und hielt vor einer großen Tafel mit der Aufschrift: WELCOME TO CYPRUS. Mark Parker, der durch das Fenster zu der Bergkette an der Nordküste sah, erkannte in der Ferne den seltsam zerklüfteten Gipfel der Fünffingerspitze. Ungefähr in einer Stunde würde er über den Paß hinüber nach Kyrenia fahren. Er trat in den Gang, rückte den Schlips zurecht, rollte die Hemdsärmel herunter und zog seine Jacke an. Welcome to Cyprus, ging ihm dabei durch den Kopf, Willkommen hier in Zypern — das war doch Othello. Aber er konnte nicht daraufkommen, wie die Stelle weiterging.

»Irgendwas zu verzollen?« fragte der Zollbeamte.

»Zwei Pfund Heroin und ein Buch mit pornographischen Zeichnungen«, antwortete Mark, während er nach Kitty Ausschau hielt.

Müssen doch immer ihre Witze machen, diese Amerikaner, dachte der Zollbeamte und ließ Parker passieren. Eine junge Dame vom Empfang der britischen Flugleitung kam auf ihn zu. »Sind Sie Mr. Mark Parker?«

»Bekenne mich schuldig.«

»Mrs. Kitty Fremont hat angerufen. Sie läßt Ihnen ausrichten, es sei ihr leider nicht möglich, zum Flugplatz zu kommen, und Sie möchten doch gleich nach Kyrenia fahren, in das Dom-Hotel. Sie hat dort ein Zimmer für Sie bestellt.«

»Danke, mein Engel. Wo bekomme ich ein Taxi nach Kyrenia?« »Ich werde Ihnen einen Wagen besorgen, Sir. Es wird einen Augenblick dauern.«

»Kann ich hier irgendwo eine Coffein-Transfusion bekommen?«

»Ja, Sir. Die Kaffeebar befindet sich dort drüben am Ende der Halle.«

Mark lehnte an der Theke und nahm einen kleinen Schluck von dem heißen schwarzen Kaffee. Willkommen hier in Zypern — er kam einfach nicht darauf, wie das vollständige Zitat hieß.

»Tatsächlich!« sagte eine dröhnende Stimme neben ihm. »Sie waren mir schon im Flugzeug so bekannt vorgekommen. Sie sind Mark Parker, stimmt's? Ich wette, Sie wissen nicht mehr, wer ich bin.« Zutreffendes bitte unterstreichen, dachte Mark. Kennengelernt in: Rom, Paris, London, Madrid; und zwar an der Theke bei: Charley, Romeo, Alfonso, Jacques. Ich berichtete damals gerade über: Krieg, Revolution, Unruhen. An dem betreffenden Abend hatte ich mir: eine Blonde, Braune, Rothaarige (oder vielleicht war es auch die mit den zwei Köpfen).

Der Mann stand jetzt unmittelbar vor Mark und war vor Begeisterung kaum noch zu halten. »Na hören Sie, ich bin doch der Mann, der damals den Martini bestellte, als der Mixer keine Oliven hatte. Na, fällt's Ihnen jetzt wieder ein?« Mark seufzte, trank einen Schluck Kaffee und wartete auf den nächsten Ausbruch — »Ich weiß, das bekommen Sie dauernd zu hören, aber ich freue mich wirklich jedesmal, wenn ich Ihre Sachen in der Zeitung lese. Was machen Sie denn hier in Zypern?« Der Mann zwinkerte Mark zu und stieß ihm den Daumen in die Rippen. »Bestimmt wieder irgend so 'ne ganz kitzlige Sache. Aber wollen wir uns nicht mal irgendwo treffen und einen trinken? Ich wohne in Nikosia im Palast-Hotel.« Er drückte Mark eine Visitenkarte in die Hand. »Ich hab' hier außerdem so ein paar Beziehungen«, sagte er und blinzelte erneut.

»Verzeihung, Mr. Parker — Ihr Wagen ist da.«

Mark stellte die Tasse auf die Theke. »War nett, Sie mal wiederzusehen«, sagte er und ging rasch hinaus. Am Ausgang warf er die Visitenkarte in einen Papierkorb.

Das Taxi fuhr los. Mark lehnte sich zurück und schloß für einen Augenblick die Augen. Er war froh, daß Kitty nicht zum Flugplatz gekommen war. Es war so lange her, und jetzt gab es so viel zu berichten, sich an so vieles zu erinnern. Er fühlte, wie bei dem Gedanken an das Wiedersehen mit ihr eine Welle der Erregung in ihm aufstieg. Kitty — schöne, wunderschöne Kitty. Als das Taxi durch das Tor am Ende des Flughafengeländes fuhr, war Mark tief in Gedanken versunken.

Ja, Kitty. Sie war auch so ein typisch amerikanisches Produkt. Kitty war das sprichwörtliche »Mädchen von nebenan«, das häßliche junge Entlein, wie es im Buche steht. Sie entsprach genau der Klischeevorstellung von der ungebärdigen Range mit abstehenden Zöpfen, Sommersprossen und Zahnklammern; und ganz diesem Klischee entsprechend kamen die Klammern eines Tages herunter, auf die Lippen kam Rouge, der Pullover bekam Ausbuchtungen, und aus dem häßlichen jungen Entlein war ein wunderschöner Schwan geworden. Mark mußte lächeln, als er daran dachte — sie war so schön damals, so frisch und klar.

Und Tom. Tom Fremont war ein ebensolches amerikanisches Erzeugnis. Er war der gut gewachsene, gut aussehende Bursche mit dem jungenhaften Lächeln, der hundert Meter in knapp zehn Sekunden lief, beim Basketball aus zehn Meter Entfernung in den Korb traf und einen Ford-A mit verbundenen Augen zusammenbauen konnte. Tom Fremont war Marks bester Freund gewesen, schon immer, solange Mark zurückdenken konnte. Wir müssen schon miteinander befreundet gewesen sein, als wir entwöhnt wurden, dachte Mark.

Tom und Kitty — der typisch amerikanische Boy, das typisch amerikanische Girl, und der typisch amerikanische Mittlere Westen von Indiana. Ja, Tom und Kitty paßten zueinander wie Regen und Frühling.

Kitty war immer ein stilles Mädchen gewesen, sehr nachdenklich, mit einem leisen Schimmer von Trauer im Blick. Vielleicht war es nur Mark, der diese Trauer wahrnahm, denn für alle Menschen ihrer Umgebung war sie die personifizierte Heiterkeit. Sie hielt das Steuer stets mit beiden Händen fest, fand immer das richtige Wort, tat immer das Richtige und war voll freundlicher Teilnahme. Und doch war in ihr diese heimliche Trauer. Wenn es auch sonst niemand bemerkte, Mark sah es.

Mark fragte sich oft, was sie ihm so begehrenswert erscheinen ließ: vielleicht nur, daß sie für ihn so unerreichbar war. Kitty war jedenfalls von Anfang an Toms Mädchen gewesen, und Mark war nichts weiter übriggeblieben, als Tom zu beneiden.

Auf der Universität bezogen Tom und Mark ein gemeinsames Zimmer. Im ersten Jahr war Tom ganz unglücklich über die Trennung von Kitty. Stundenlang mußte sich Mark sein Gejammer anhören und ihn trösten. Als der Sommer kam, mußte Kitty mit ihren Eltern nach Wisconsin fahren. Sie ging noch zur Schule, und die Eltern wollten die stürmische Verliebtheit der jungen Leute durch die räumliche Trennung ein wenig dämpfen. Tom und Mark trampten nach Oklahoma und arbeiteten dort auf den Erdölfeldern. Als dann die Vorlesungen wieder begannen, war Tom schon wesentlich ruhiger geworden. Die Abstände zwischen Toms und Kittys Briefen wurden länger, und die Abstände zwischen Toms Rendezvous' auf dem Universitätsgelände wurden kürzer. Allmählich sah es so aus, als sei es zwischen dem College-Löwen und dem Mädchen zu Hause aus und vorbei.

Gegen Ende des Studiums hatte Tom seine Kitty so gut wie vergessen. Er war der Beau der Uni geworden, eine Rolle, die dem As des Basketball-Teams gut stand. Mark war bescheidener: er sonnte sich in Toms Ruhm und qualifizierte sich im übrigen als einer der schlechtesten Studenten des Zeitungswesens in der gesamten Geschichte der Universität.

Doch dann kam Kitty an die Uni. — Der Blitz schlug ein!

Mark konnte Kitty tausendmal sehen, und es war immer wieder genauso aufregend wie das erstemal. Diesmal ging es Tom ebenso. Einen Monat vor Toms Promotion brannten die beiden durch. Tom und Kitty, begleitet von Mark und Ellen, fuhren in einem Ford Modell A und mit vier Dollar und zehn Cent über die Grenze und suchten einen Friedensrichter auf. Ihre Flitterwochen verlebten sie hinten in dem Ford, der auf der Rückfahrt im Schlamm der Straße versank und bei strömendem Regen leckte wie ein Sieb. Es war ein verheißungsvoller Anfang für das typisch amerikanische junge Paar. Nach Toms Promotion hielten die beiden ihre Heirat noch ein ganzes Jahr lang geheim. Kitty blieb an der Uni, um ihre als Krankenpflegerin zu beenden. Kitty und Krankenpflege, das schien zusammenzugehören, mußte Mark immer denken.

Tom betete Kitty an. Er war immer ein bißchen ungebärdig gewesen und sehr abgeneigt, sich zu binden; doch das gab sich jetzt, und er entwickelte sich weitgehend zu dem, was man einen treuen Ehemann nennt. Seine berufliche Laufbahn begann er als sehr kleiner Angestellter einer sehr großen Public-Relations-Firma. Sie zogen nach Chikago. Kitty arbeitete als Pflegerin am Kinderkrankenhaus. Zentimeter um Zentimeter, in typisch amerikanischem Stil, machten sie ihren Weg nach oben. Erst eine Etagenwohnung, und dann ein kleines Haus. Ein neuer Wagen, monatliche Abzahlungen, große Hoffnungen. Kitty erwartete Sandra, ihre Tochter.

Marks Gedanken rissen ab, als das Taxi jetzt langsamer durch die Außenbezirke von Nikosia fuhr, der Hauptstadt von Zypern, die aus der braunen Erde der Ebene zwischen den Bergketten im Norden und im Süden emporwuchs. »Sprechen Sie Englisch?« fragte Mark den Fahrer.

»Ja, Sir.«

»Da auf dem Flugplatz ist ein Schild, auf dem steht: Welcome to Cyprus. Wie heißt das eigentlich weiter?«

»Soviel ich weiß«, antwortete der Fahrer, »heißt das weiter gar nichts, das soll nur so eine Höflichkeit gegenüber den Touristen sein.«

Sie kamen in das eigentliche Nikosia. Die Ebenheit des Bodens, die gelben Häuser mit den roten Ziegeldächern, das Meer von Dattelpalmen, alles erinnerte Mark an Damaskus. Die Straße führte an der alten venezianischen Mauer entlang, die sich als geschlossener Kreis rings um die Altstadt zog. Mark sah die beiden Minaretts, die über dem türkischen Teil der Altstadt in den Himmel ragten. Sie gehörten zu St. Sophia, der prächtigen Kathedrale aus der Zeit der Kreuzritter, die später zu einer Moschee umgebaut wurde. Während sie an der Mauer entlangfuhren, kamen sie an den riesigen Befestigungen vorbei, die die Form von Pfeilspitzen hatten. Mark erinnerte sich von seinem letzten Aufenthalt auf Zypern her, daß es elf Pfeilspitzen waren, die aus der Mauer herausragten, eine ungerade Zahl. Er wollte schon den Fahrer fragen, wieso eigentlich gerade elf, ließ es dann aber lieber bleiben.

Sehr bald waren sie aus Nikosia wieder heraus und fuhren weiter durch die Ebene nach Norden. Sie kamen durch ein Dorf nach dem anderen, alle aus grauen Lehmhütten und einander zum Verwechseln ähnlich. In jedem Dorf stand ein Hydrant mit einer Inschrift: die Erbauung sei der Großmut Seiner Majestät des Königs von England zu verdanken. Auf den farblosen Feldern waren die Bauern mit diesen prachtvollen Arbeitstieren, den zyprischen Mauleseln, bei der Kartoffelernte.

Der Fahrer beschleunigte das Tempo, und Mark überließ sich von neuem seinen Erinnerungen .. .

Mark und Ellen hatten kurze Zeit nach Tom und Kitty geheiratet. Es war von Anfang an ein Irrtum gewesen. Zwei nette Menschen, aber nicht füreinander geschaffen. Es war Kitty Fremonts freundliche Klugheit gewesen, die Mark und Ellen zusammengehalten hatte. Sie beide konnten bei Kitty ihr Herz erleichtern, und durch Kitty blieb die Ehe äußerlich noch intakt, als ihre Zeit schon längst abgelaufen war. Dann brach sie auseinander, und sie ließen sich scheiden. Mark war froh, daß die Ehe kinderlos geblieben war. Nach der Scheidung ging Mark in den amerikanischen Osten, wo er ruhelos von einem Job zum nächsten wechselte, nachdem es ihm gelungen war, vom schlechtesten Studenten der Zeitungswissenschaft zum schlechtesten Journalisten der Welt zu avancieren. Er wurde einer jener ziellos treibenden Menschen, wie man sie in der Welt der Presse treffen kann. Dabei war er keineswegs dumm oder untalentiert, er war nur völlig unfähig, die Stelle im Leben zu finden, an die er gehörte. Mark war im Grunde ein schöpferischer Mensch, doch die routinemäßige Tätigkeit der Lokalberichterstattung verschüttete diese schöpferische Ader. Dennoch hatte er nicht den Wunsch, es als freier Schriftsteller zu versuchen. Er war sich klar darüber, daß er den Anforderungen, die damit verbunden waren, menschlich nicht gewachsen war. So war er weder Fisch noch Fleisch und fühlte sich im Grunde unglücklich.

Jede Woche kam ein Brief von Tom, worin er begeistert berichtete, mit welchem Eifer er »nach oben kletterte«. Außerdem stand in diesen Briefen, wie sehr er Kitty liebte und Sandra, ihr Töchterchen. Auch von Kitty kamen Briefe. Ihr Inhalt war ein nüchternes Abwägen dessen, wovon Tom in den Tönen überschwenglicher Begeisterung berichtete. Kitty hielt Mark auch über Ellen stets auf dem laufenden, bis sich Ellen dann wieder verheiratete.

1938 öffnete sich für Mark Parker die Welt. Bei dem American News Syndicate in Berlin war ein Posten zu besetzen, und Mark, bis dahin ein Nichtsnutz, der sich bei der Presse herumtrieb, stieg plötzlich zu der achtbaren Stellung eines Auslandskorrespondenten auf.

In dieser Eigenschaft erwies sich Mark als ein begabter Bursche. Hier war er in der Lage, seinen Wunsch nach schöpferischer Tätigkeit wenigstens zu einem Teil zu verwirklichen, indem er einen Stil entwickelte, der ihn als Individuum kenntlich machte — als Mark Parker, der mit keinem anderen zu verwechseln war. Mark war durchaus kein weltbewegendes Genie, aber er verfügte über den einen entscheidenden Instinkt, der den wirklich guten Auslandskorrespondenten ausmacht; er hatte die Fähigkeit, alles, was irgendwo in der Luft lag, zu riechen, noch ehe es passierte. Die Welt war ein Rummelplatz. Mark fuhr kreuz und quer durch Europa, Asien und Afrika. Er hatte eine ganz bestimmte berufliche Funktion, seine Arbeit machte ihm Spaß, und er war ein gern gesehener, kreditwürdiger Gast an der Bar bei Charley, Romeo, Alfonso und Jacques, und die Liste der blonden, brünetten oder rothaarigen Kandidatinnen für den Club seiner »Mädchen des Monats« war unerschöpflich.

Als der Krieg ausbrach, sauste Mark überall in Europa herum.

Es war gut, zwischendurch für ein paar Tage in London auszuruhen, wo jedesmal ein Haufen Post von Tom und Kitty auf ihn wartete. Im Frühjahr 1942 meldete sich Tom Fremont freiwillig zum Marinekorps. Er fiel bei Guadalcanal.

Zwei Monate nach Toms Tod starb Sandra, die kleine Tochter, an Kinderlähmung.

Mark nahm Sonderurlaub und fuhr nach Hause, doch als er ankam, war Kitty Fremont nicht mehr zu finden. Er suchte nach ihr, ohne Erfolg, bis er wieder nach Europa zurück mußte. Allem Anschein nach war sie spurlos vom Erdboden verschwunden. Es berührte Mark merkwürdig: aber diese Trauer, die er schon immer in Kittys Augen gesehen hatte, schien jetzt wie eine Prophezeiung, die in Erfüllung gegangen war.

Sofort nach Kriegsende kam er zurück, um erneut nach ihr zu suchen, doch die Spur war nicht mehr aufzufinden.

Im November 1945 rief ihn das American News Syndicate nach Europa zurück, um über den Prozeß in Nürnberg zu berichten. Mark war inzwischen ein anerkannter Fachmann und führte den Titel »Sonderkorrespondent«. Er blieb in Nürnberg, bis die obersten Nazis gehängt waren, und schrieb eine Reihe hervorragender Berichte über den Prozeß. Das war gerade erst ein paar Monate her.

ANS bewilligte Mark einen dringend benötigten Urlaub, bevor man ihn nach Palästina schickte, wo ein örtlich begrenzter Krieg bevorzustehen schien. Um diesen Urlaub im gewohnten Stil zu verbringen, lud Mark Parker ein Mädchen von der UNO ein, das er von früher her kannte, eine leidenschaftliche Französin, die an das Büro der UNO in Athen versetzt worden war.

Und dann geschah alles aus völlig heiterem Himmel. Er saß in Athen in der American Bar und vertrieb sich die Zeit mit einigen Kollegen von der Presse, als im Lauf der Unterhaltung die Rede irgendwie auf eine amerikanische Kinderpflegerin kam, die in Saloniki griechische Waisenkinder betreute und ihre Sache großartig machte. Einer der Korrespondenten war soeben von dort zurückgekommen und hatte einen Bericht über das Kinderheim geschrieben. Der Name der Kinderpflegerin war Kitty Fremont. Mark forschte sofort nach und stellte fest, daß sie auf Zypern im Urlaub war.

Das Taxi verließ jetzt die Ebene und begann eine schmale Straße hinaufzufahren, die in Windungen zu dem Paß anstieg, der über das Pentadaktylos-Gebirge hinüberführte. Die Dämmerung setzte ein. Als sie die Höhe erreicht hatten, bat Mark den Fahrer, am Straßenrand zu halten.

Er stieg aus und sah hinunter auf Kyrenia, die kleine Stadt, die, an den Fuß des Berges geschmiegt, schön wie ein Schmuckstück am Rand des Meeres lag. Links über ihm ragten die Ruinen von St. Hilarion, dem alten Schloß, in dem die Erinnerung an Richard Löwenherz und die schöne Berengaria geisterte. Er nahm sich vor, eines Tages mit Kitty hierherzufahren.

Es war schon fast dunkel, als sie Kyrenia erreichten. Die kleine Stadt bestand aus lauter weiß gekalkten Häusern mit roten Ziegeldächern, darüber lag das Schloß, und davor erstreckte sich das Meer. Kyrenia war so malerisch, so altmodisch und romantisch, wie es ein Ort nur sein konnte. Sie kamen an dem Miniaturhafen vorbei, wo im Schutz einer breiten Mole, die rechts und links ins Meer hinauslief, Fischerboote und kleine Jachten lagen. Auf dem einen Arm der Mole befand sich der Kai, auf dem anderen stand eine alte Befestigungsanlage, das Castellum Virginae.

Kyrenia war seit langem ein Zufluchtsort für Maler und pensionierte englische Offiziere. Es war einer der friedlichsten Orte, die es auf der Welt gab.

Nicht weit vom Hafen erhob sich der Riesenbau des Dom-Hotels, der unverhältnismäßig groß und in dieser verschlafenen kleinen Stadt fehl am Platze schien; doch das Dom-Hotel hatte sich zu einem Zentrum des Britischen Empire entwickelt. Überall in der Welt, wo der Union-Jack wehte, war es als Treffpunkt für Engländer bekannt. Es bestand aus einem Gewirr von Gesellschaftsräumen, Terrassen und Veranden, die auf das Meer hinausgebaut waren. Ein langer Pier von ungefähr hundert Meter Länge verband das Hotel mit einer kleinen Insel, auf die sich die Gäste begaben, um zu schwimmen oder in der Sonne zu liegen.

Das Taxi hielt. Ein Hotelboy kam und nahm das Gepäck. Mark bezahlte und sah sich um. Es war November, doch die Luft war noch warm, und das Wetter war klar. Welch wunderbarer Ort für das Wiedersehen mit Kitty!

Der Portier überreichte Mark einen Brief.

Lieber Mark!

Ich bin in Famagusta aufgehalten und kann erst gegen neun zurück sein. Wirst du mir das jemals verzeihen können? Ich kann es kaum noch erwarten. Alles Liebe Kitty.

»Ich hätte gern ein paar Blumen, eine Flasche Whisky, und einen Kübel Eis«, sagte Mark.

»Mrs. Fremont hat für alles gesorgt«, sagte der Portier, während er dem Boy die Schlüssel gab. »Sie haben zwei ineinandergehende Zimmer mit Blick auf das Meer.«

Mark entdeckte auf dem Gesicht des Portiers ein Grinsen. Es war das gleiche dreckige Grinsen, das er in hundert Hotels gesehen hatte, in denen er mit hundert verschiedenen Frauen gewesen war. Er hatte zuerst die Absicht, dem Portier klarzumachen, daß er sich irre, entschloß sich aber dann, den Mann denken zu lassen, was immer er wollte.

Er nahm das Bild des dunkelnden Meeres in sich auf, dann packte er die Koffer aus, mixte sich einen Whisky mit Soda und trank ihn, während er in der Badewanne lag.

Sieben Uhr — noch zwei Stunden.

Er öffnete die Tür zu Kittys Zimmer. Es roch gut. Ihr Badeanzug und ein paar frisch gewaschene Strümpfe hingen über dem Rand der Badewanne. Ihre Schuhe standen aufgereiht neben dem Bett, er sah auf dem Frisiertisch ihre Toilettesachen. Mark mußte lächeln. Selbst in Kittys Abwesenheit war das Zimmer erfüllt von der Atmosphäre eines Menschen, der anders war als alle übrigen, die er kannte.

Er ging zurück in sein Zimmer und streckte sich auf dem Bett aus. Was mochten die Jahre aus ihr gemacht haben? Wie war sie mit dem tragischen Unglück fertig geworden? Kitty, dachte er, liebe, wunderschöne Kitty, bitte sei, wie du warst. Es war jetzt November 1946; wann hatte er sie das letztemal gesehen? 1938, kurz bevor er im Auftrag von ANS nach Berlin ging. Also vor acht Jahren. Dann war Kitty jetzt achtundzwanzig.

Erregung und Spannung wurden zuviel für Mark. Er war müde und nickte ein.

Das Klirren von Eiswürfeln im Glas — ein liebliches Geräusch für Mark Parker — weckte ihn aus tiefem Schlaf. Er rieb sich die Augen und suchte nach einer Zigarette.

»Sie haben geschlafen wie ein Toter«, hörte er eine Stimme mit sehr englischem Akzent sagen. »Ich habe fünf Minuten lang geklopft. Schließlich hat mich der Hotelboy hereingelassen. Sie haben hoffentlich nichts dagegen, daß ich mich mit einem Whisky versorgt habe.«

Die Stimme gehörte Major Fred Caldwell von der britischen Armee. Mark gähnte, reckte sich, um wach zu werden, und sah auf seine Uhr. Es war acht Uhr fünfzehn. »Was zum Teufel machen Sie denn hier in Zypern?« fragte er.

»Dasselbe wollte ich gerade Sie fragen.«

Mark steckte sich eine Zigarette an und richtete den Blick auf Caldwell. Er mochte ihn nicht sonderlich, haßte ihn aber auch nicht. Er war ihm zuwider, das war wohl das richtige Wort. Sie waren einander bisher zweimal begegnet. Caldwell war Adjutant von Colonel Bruce Sutherland gewesen, dem späteren Brigadier, einem durchaus befähigten Frontoffizier der britischen Armee. Das erstemal waren sie sich während des Krieges in Holland begegnet. In einem seiner Berichte hatte Mark auf einen taktischen Fehler der Engländer hingewiesen, der zur Folge gehabt hatte, daß ein ganzes Regiment aufgerieben worden war. Das zweitemal waren sie sich in Nürnberg bei dem Prozeß gegen die Kriegsverbrecher begegnet, über den Mark für ANS berichtete.

Gegen Ende des Krieges hatten Bruce Sutherlands Truppen als erste den Fuß in das Konzentrationslager Bergen-Belsen gesetzt. Sutherland und Caldwell waren beide nach Nürnberg gekommen, um hier als Zeugen auszusagen.

Mark ging ins Bad, wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser und suchte nach einem Handtuch. »Was kann ich für Sie tun, Freddy?«

»Wir wurden heute nachmittag von der CID telefonisch davon unterrichtet, daß Sie mit dem Flugzeug hier angekommen seien. Es liegt keine offizielle Bestätigung Ihres Auftrages vor.«

»Mein Gott, was seid ihr für eine mißtrauische Bande! Tut mir leid, Freddy, aber ich muß Sie enttäuschen. Ich bin auf dem Weg nach Palästina, und hier verbringe ich nur meinen Urlaub.«

»Mein Besuch bei Ihnen hat keinen dienstlichen Charakter, Parker«, sagte Caldwell. »Nur, sehen Sie, wir sind so ein bißchen empfindlich bei dem Gedanken an unsere Beziehungen in der Vergangenheit.« »Ihr habt ein gutes Gedächtnis«, sagte Mark und fing an, sich umzuziehen. Caldwell machte für Mark einen Whisky zurecht. Mark betrachtete den englischen Offizier nachdenklich und fragte sich verwundert, warum dieser Mann ihm eigentlich so sehr gegen den Strich ging. Vielleicht lag es an der Arroganz, die ihn als typisches Exemplar dieser ewigen Kolonisten abstempelte. Caldwell war ein schrecklich langweiliger Bursche, stur und engstirnig. Was Mark beunruhigte, war Freddy Caldwells Gewissen, oder vielmehr das völlige Fehlen eines Gewissens. Was recht oder unrecht war, das ergab sich für Caldwell aus einer Heeresdienstvorschrift oder aus einem Befehl.

»Habt ihr vielleicht irgendwelche schmutzigen Dinge hier auf Zypern zu verbergen?«

»Werden Sie bitte nicht komisch, Parker. Diese Insel gehört uns, und wir möchten gern wissen, was Sie hier wollen.«

»Wissen Sie, das gefällt mir an euch Engländern. Ein Holländer würde sagen: Scheren Sie sich zum Teufel. Ihr Burschen aber sagt immer: Würden Sie bitte so freundlich sein, sich zum Teufel zu scheren. — Ich sagte bereits, daß ich hier im Urlaub bin. Feiere hier Wiedersehen mit einer alten Bekannten.«

»Und wer ist das?«

»Ein Mädchen namens Kitty Fremont.«

»Ah, die Kinderpflegerin. Eine tolle Frau, wirklich hinreißend. Lernte sie vor einigen Tagen beim Gouverneur kennen.« Freddy Caldwell sah auf die Verbindungstür zu Kittys Zimmer, die nur angelehnt war, und hob fragend die Augenbrauen.

»Geben Sie Ihre dreckige Phantasie in die Reinigung«, sagte Mark. »Ich kenne sie seit fünfundzwanzig Jahren.«

»Aha, die Liebe wird also immer größer.«

»Stimmt. Und daher bekommt Ihr Besuch jetzt gesellschaftlichen Charakter — also verschwinden Sie gefälligst.«

Caldwell lächelte, setzte sein Glas ab und klemmte sich sein Stöckchen unter den Arm.

»Freddy Caldwell«, sagte Mark, »ich möchte Sie gern einmal sehen, wenn dieses Lächeln aus Ihrem Gesicht weggewischt ist.«

»Wovon in drei Teufels Namen reden Sie eigentlich?«

»Wir befinden uns im Jahre 1946, Major. Ein Haufen Leute haben im letzten Krieg die Schlagworte gelesen, um die es in diesem Kampf gehe, und haben daran geglaubt. Eure Uhr geht nach. Ihr werdet den kürzeren ziehen, überall — zuerst in Indien, dann in Afrika, und dann im Nahen Osten. Ich werde zur Stelle sein, um zuzusehen, wie ihr das Mandat in Palästina verliert. Und man wird euch sogar auch aus Suez und Jordanien hinauswerfen. Die Sonne sinkt über dem Empire, Freddy, was wird Ihre Frau bloß anfangen, wenn sie keine vierzig schwarzen Boys mehr hat, denen sie mit der Peitsche befehlen kann?«

»Ich habe Ihre Berichte über den Nürnberger Prozeß gelesen, Parker. Sie haben diese schreckliche amerikanische Tendenz, die Dinge zu dramatisieren. Außerdem, alter Knabe, habe ich gar keine Frau.«

»Ihr seid höfliche Burschen.«

»Sie sind also hier im Urlaub, Parker, vergessen Sie das nicht. Ich werde Brigadier Sutherland Ihre Grüße übermitteln. Cheerio.«

Mark lächelte und zog die Schultern hoch. Und dann fiel es ihm wieder ein — Welcome to Cyprus. Das Shakespeare-Zitat hieß vollständig: »Willkommen hier in Zypern — Ziegen und Affen!«

II.

Während Mark Parker darauf wartete, Kitty Fremont nach langer Zeit endlich wiederzusehen, warteten in einem anderen Teil von Zypern zwei Männer auf ein sehr andersgeartetes Wiedersehen. Sie warteten in einem Wald, vierzig Meilen von Kyrenia entfernt, nördlich von Famagusta.

Der Himmel war wolkig verhangen, und es leuchtete kein Stern. Die beiden Männer standen schweigend und starrten durch die Dunkelheit hinunter zum Strand der Bucht.

Sie standen in einem unbewohnten, verfallenen weißen Haus, oben auf dem Hügel, inmitten eines Waldes von Pinien, Eukalyptusbäumen und Akazien. Nichts war zu sehen oder zu hören, es war dunkel und still, bis auf einen gelegentlichen Windhauch und den leisen, unregelmäßigen Atem der beiden Männer.

Der eine war ein griechischer Zyprer, ein Waldaufseher; er war nervös.

Der andere schien so unbewegt wie eine Statue, und sein Blick war beständig auf das Wasser gerichtet. Er hieß David ben Ami, und dieser Name bedeutete: David, Sohn Meines Volkes.

Die Wolken begannen aufzureißen. Ein schwaches Licht fiel auf das stille Wasser der Bucht und den Wald, auf das weiße Haus und das Gesicht von David ben Ami, der am Fenster stand. Er war klein, von schlanker und zarter Figur, ein Mann Anfang der Zwanziger. Selbst in diesem schwachen Licht ließ das schmale, sensible Gesicht mit den tiefliegenden Augen den Geistesarbeiter erkennen, den Intellektuellen.

Das Gewölk verzog sich und der Lichtschein lief über die Trümmer marmorner Säulen und Statuen hin, die rings um das weiße Haus in weitem Umkreis den Boden bedeckten.

Trümmer. Die vergänglichen Überreste von Salamis, der einstmals berühmten Stadt, die um die Zeitenwende in hoher Blüte gestanden hatte. Salamis, in grauer Vorzeit von Teuker, dem Kriegshelden, gegründet, als er aus dem Trojanischen Krieg heimkehrte. Salamis, das durch ein Erdbeben zerstört wurde und sich von neuem erhob, um ein zweites Mal dem Ansturm der Araber unter dem Banner des Islams zu erliegen und sich danach nie wieder zu erheben. Das Licht schimmerte auf den Trümmern Tausender von Säulen, die das weite Gebiet bedeckten, auf dem sich einstmals ein griechisches Forum erhoben hatte.

Die Wolken ballten sich zusammen, und es war wieder dunkel.

»Er müßte längst da sein«, flüsterte der Grieche nervös.

»Da«, sagte David ben Ami, »ich höre etwas.«

Von weit draußen auf dem Wasser war das schwache Geräusch eines Motors zu hören. David ben Ami hob das Glas an die Augen. Das Geräusch des Motors wurde lauter.

Draußen blitzte ein Scheinwerfer auf, der einen Lichtstrahl über das Wasser zu dem weißen Haus auf dem Hügel sandte. Ein kurzes Blinkzeichen — einmal, zweimal, dreimal.

David ben Ami und der Waldaufseher rannten den Hügel hinunter, über das Geröll und durch das Gestrüpp, bis sie den Strand erreichten. Ben Ami erwiderte mit der Taschenlampe das Signal. Das Geräusch des Motors verstummte.

Ein Mann, nur als undeutlicher Schatten zu erkennen, glitt über die Bordwand und begann auf den Strand zuzuschwimmen. David ben Ami entsicherte seine Maschinenpistole und spähte den Strand hinauf und hinunter, um festzustellen, ob sich etwa eine englische Patrouille näherte. Der Schwimmer tauchte jetzt aus dem Wasser auf und watete an Land. »David!« rief eine Stimme.

»Ari!« rief Ben Ami zurück. »Hierher, rasch!«

Zu dritt rannten sie den Strand hinauf, an dem weißen Haus vorbei und zu einem Landweg. Dort wartete ein Taxi, verborgen im Gebüsch. Ben Ami dankte dem Griechen für seine Hilfe, und das Taxi fuhr los, nach Famagusta.

»Meine Zigaretten sind naß geworden«, sagte Ari.

David gab ihm ein Päckchen. Die Flamme des Feuerzeuges beleuchtete für einen Augenblick das Gesicht des Mannes, der Ari hieß. Er war groß und kräftig, in auffälligem Gegensatz zu dem kleinen, feingliedrigen Ben Ami. Er hatte ein gutgeschnittenes Gesicht, doch der Ausdruck seiner Augen war kalt und hart.

Sein voller Name war Ari ben Kanaan, und er war der fähigste Mann der illegalen Organisation Mossad Aliyah Bet.

III.

Es klopfte bei Mark Parker. Er öffnete. Vor ihm stand Katherine Fremont. Sie war fast noch schöner, als er sie in Erinnerung gehabt hatte. Lange standen sie schweigend und sahen sich an. Er betrachtete ihr Gesicht, ihre Augen. Sie war weiblicher geworden, eine Frau, sanft und mit dem Gefühl für andere, wie es nur durch eigenes schweres Leid entsteht.

»Ich sollte dir den Hals umdrehen, daß du nie auf einen meiner Briefe geantwortet hast«, sagte Mark.

»Mark«, flüsterte sie.

Sie fielen sich in die Arme und hielten sich umschlungen. In der nächsten Stunde sprachen beide wenig, sahen sich nur an, lächelten einander flüchtig zu und hielten sich von Zeit zu Zeit an den Händen. Beim Essen kam die Unterhaltung ein wenig in Gang. Meist war die Rede von Marks Abenteuern als Auslandskorrespondent. Es fiel Mark auf, daß Kitty im Gespräch sorgfältig alles vermied, was sie selbst betraf.

Dann kam der Käse, Mark schenkte sich den Rest von seinem Bier ein, und danach entstand wieder ein unbehagliches Schweigen, Es war deutlich zu sehen, wie Kitty unter den fragenden Blicken von Mark nervös wurde.

»Komm«, sagte er, »gehen wir ein bißchen an den Hafen.«

»Ich will mir nur schnell meine Stola holen«, sagte sie.

Schweigend gingen sie nebeneinander den Kai entlang und auf der Mole hinaus zu dem Leuchtturm, der bei der schmalen Hafeneinfahrt stand. Der Himmel war bedeckt, und die kleinen Boote, die im Hafen vor Anker lagen, waren nur als schwache Umrisse zu sehen. Sie sahen zu, wie der Leuchtturm sein Licht hinaus auf das Meer warf und einem Schleppfischer den Weg zum Schutz des Hafens zeigte. Ein leichter Wind strich durch Kittys blondes Haar. Sie zog ihre Stola enger um die Schultern zusammen. Mark setzte sich auf die Mauer und rauchte. Es war totenstill.

»Ich habe dich sehr unglücklich gemacht, daß ich gekommen bin«, sagte er. »Ich werde morgen wieder abreisen.«

»Nein«, sagte sie, »ich möchte nicht, daß du wegfährst.« Sie richtete den Blick hinaus auf das Meer. »Ich kann dir nicht sagen, wie mir zumute war, als ich dein Telegramm bekam. So vieles wurde in mir wieder wach, das ich mit aller Macht zu vergessen versucht hatte. Dabei wußte ich, daß dieser Augenblick eines Tages kommen würde — irgendwie fürchtete ich mich davor — und gleichzeitig bin ich froh, daß er jetzt da ist.«

»Es ist vier Jahre her, daß Tom gefallen ist. Wirst du denn niemals darüber hinwegkommen?«

»Ich weiß«, sagte sie leise, »Frauen verlieren im Krieg ihre Männer, das ist nun einmal so. Ich habe um Tom geweint. Wir liebten uns sehr, doch ich wußte, daß ich weiterleben würde. Ich weiß nicht einmal, wie er gestorben ist.«

»Darüber ist nicht viel zu sagen«, sagte Mark. »Tom war beim Marinekorps, und er ging mit zehntausend anderen irgendwo an Land, um einen Küstenstreifen zu besetzen. Er wurde getroffen und war tot. Kein Heldentum, keine Orden — nicht einmal so viel Zeit, um zu sagen: ,Grüße Kitty und sage ihr, daß ich sie liebe.' Es erwischte ihn halt, und es war aus. Das ist alles.«

Das Blut wich aus ihrem Gesicht. Mark zündete eine Zigarette an und gab sie ihr.

»Aber warum mußte Sandra sterben?« sagte sie. »Warum mußte auch mein Kind sterben?«

»Ich bin nicht Gott. Darauf kann ich keine Antwort geben.«

Sie setzte sich neben Mark auf die Mauer und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Ihr Atem ging unruhig. »Ich glaube, weiter kann ich nicht mehr davonlaufen«, sagte sie.

»Warum willst du es mir nicht erzählen?«

»Ich kann nicht —.«

»Mir scheint, es wäre allmählich an der Zeit.«

Mehrmals setzte Kitty zum Sprechen an, doch es kam nur ein leises Gestammel heraus. Zu tief waren die Jahre des Schreckens in ihrem Inneren verschlossen. Sie warf die Zigarette ins Wasser und sah Mark an. Er hatte recht; er war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie sich anvertrauen konnte.

»Es war sehr schlimm«, sagte sie, »als ich das Telegramm mit der Nachricht wegen Tom bekam. Ich liebte ihn so sehr. Doch dann — kaum zwei Monate später — starb Sandra an Kinderlähmung. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an alles. Meine Eltern brachten mich nach Vermont in ein Heim.«

»In eine Anstalt?«

»Nein — so nennt man das bei armen Leuten —, bei mir hieß es Erholungsheim für Nervenleidende. Ich weiß nicht, wie viele Monate ich dort blieb. Ich konnte mich hinterher nicht mehr an alles erinnern. Ich war Tag und Nacht in einem dichten Nebel. Melancholie nennt man das.«

Kittys Stimme wurde plötzlich ruhig und fest. Die Tür war aufgesprungen, und die stumme Qual fand den Weg ins Freie. »Eines Tages hob sich der Schleier, der über meinem Geist gelegen hatte, und ich war mir wieder bewußt, daß Tom und Sandra tot waren. Es tat weh, und der Schmerz blieb. In jeder Minute des Tages erinnerte mich alles an sie. Jedesmal, wenn ich jemanden singen, jemanden lachen hörte — jedesmal sah ich ein Kind vor mir. Jeder Atemzug, den ich tat, war Schmerz. Ich betete — betete darum, Mark, daß mich der Nebel wieder einhüllen möge. Ja, ich betete darum, den Verstand zu verlieren, um mich nicht mehr erinnern zu müssen.«

Sie erhob sich, stand groß und aufrecht da, und die Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. »Ich riß aus, ging nach New York. Versuchte mich in der Masse zu verlieren. Ich wohnte in einem kleinen Zimmer — ein Tisch, ein Stuhl, eine Glühbirne.« Sie lachte kurz und ironisch. »Es fehlte nicht einmal das Neonschild draußen vor dem Fenster, das an- und ausging. Alles dran, nicht wahr? Ich ging stundenlang ziellos durch die Straßen, bis sich all die Gesichter undeutlich verwischten, oder ich saß einfach da und sah aus dem Fenster, tagelang. Tom, Sandra, Tom, Sandra — der Gedanke an sie verließ mich keinen Augenblick.«

Kitty fühlte Mark hinter sich. Seine Hände ergriffen ihre Schultern. Draußen auf dem Wasser näherte sich der Schleppfischer der Hafeneinfahrt. Sie rieb ihre Wange an Marks Hand.

»Eines Abends hatte ich zu viel getrunken. Du kennst mich, ich kann schrecklich viel vertragen. Ich sah einen Jungen, der eine grüne Uniform anhatte, wie die von Tom. Er war allein, und er war groß und gut gewachsen — wie Tom. Wir haben dann zusammen weitergetrunken. Ich erwachte in einem billigen, schmutzigen Hotelzimmer — irgendwo, keine Ahnung. Ich war immer noch halb betrunken. Ich wankte zum Spiegel und sah mich im Spiegel an. Ich war nackt. Der Junge war auch nackt — lag quer über dem Bett.« »Herrgott noch mal, Kitty, nun laß doch ...«

»Nein, Mark, schon gut — laß mich zu Ende erzählen. Ich stand und sah in den Spiegel — wie lange, weiß ich nicht. Ich war unten angelangt, am tiefsten Punkt meines Lebens. Weiter hinunter konnte ich nicht mehr. Das hier — das war das Ende. Der Junge war bewußtlos — seltsam, ich erinnere mich nicht einmal mehr an seinen Namen. Ich sah seine Rasierklingen im Bad liegen, und ich sah das Rohr der Gasleitung, und eine Minute lang oder vielleicht auch eine Stunde — ich weiß nicht mehr, wie lange, stand ich am Fenster und sah hinunter auf den Bürgersteig, der zehn Stockwerke tiefer lag. Ich war am Ende meines Lebens angelangt, doch ich hatte nicht die Kraft, Schluß zu machen. Und dann geschah etwas Seltsames, Mark. Ich wußte plötzlich, daß ich weiterleben würde, auch ohne Tom und Sandra, und auf einmal war der Schmerz vorbei.«

»Kitty, liebe Kitty — ich habe so nach dir gesucht, und ich wollte dir so gern helfen.«

»Ich weiß. Aber das war etwas, mit dem ich allein fertig werden mußte, glaube ich. Ich fing wieder an, als Kinderpflegerin zu arbeiten, ich stürzte mich in die Arbeit. Als der Krieg in Europa zu Ende war, übernahm ich sofort die Leitung dieses griechischen Waisenheims — ein Posten, wo der Arbeitstag vierundzwanzig Stunden hat. Das war genau das, was ich brauchte, bis an den Rand meiner Kräfte zu arbeiten. Mark, ich — ich habe hundert Briefe an dich angefangen. Aber irgendwie hatte ich zu große Angst vor diesem Augenblick. Und jetzt bin ich froh, bin froh, daß ich es hinter mir habe.«

»Ich bin froh, daß ich dich gefunden habe«, sagte Mark.

Sie wandte sich nach ihm um und sah ihn an. »Das also war die Geschichte von Kitty Fremont ...« Mark nahm sie bei der Hand, und sie gingen den Deich entlang zurück zum Kai. Vom Dom-Hotel klang Musik herüber.

IV.

Brigadier Bruce Sutherland, Kommandeur von Zypern, saß an einem großen Schreibtisch in seinem auf der Hippocrates-Straße gelegenen Haus in Famagusta, einige vierzig Meilen von Kyrenia entfernt. Von kleinen, verräterischen Anzeichen abgesehen — ein leichter Ansatz von Leibesfülle in der Taillengegend und einige weiße Haare an den Schläfen, glaubte man ihm seine fünfundfünfzig Jahre nicht. Dagegen verriet die stocksteife Haltung eindeutig den Militär. Es klopfte, und sein Adjutant, Major Fred Caldwell, kam herein.

»'n Abend, Caldwell. Schon zurück von Kyrenia? Nehmen Sie Platz.« Sutherland schob die Akten beiseite, reckte sich und legte seine Brille auf den Schreibtisch. Er wählte von dem Pfeifenständer eine Pfeife und stopfte sie. Caldwell nahm dankend eine Zigarre, und die beiden Männer begannen, sich in dicke Wolken zu hüllen. Der Brigadier drückte auf die Klingel, und der griechische Boy erschien in der Tür.

»Zwei Gin und Soda, bitte.«

Sutherland stand auf und kam nach vorn. Er trug eine dunkelrote Samtjacke, Er ließ sich in einem Ledersessel nieder, der vor dem wandhohen Bücherregal stand. »Haben Sie Mark Parker angetroffen?«

»Jawohl, Sir.«

»Und was ist Ihr Eindruck?«

Caldwell zuckte die Schultern. »Dem äußeren Anschein nach ist ihm natürlich nicht das geringste vorzuwerfen. Er will weiter nach Palästina und ist hierhergekommen, um diese amerikanische Kinderpflegerin Katherine Fremont zu besuchen.«

»Fremont? O ja, diese reizende Frau, die wir beim Gouverneur kennenlernten.«

»Ich sage ja, Sir — es sieht alles ganz harmlos aus. Trotzdem, Parker ist nun mal Reporter, und ich muß immer noch an den Ärger denken, den wir durch ihn in Holland hatten.«

»Aber, aber«, sagte Sutherland. »Wir alle haben im Krieg Fehler gemacht. Er hat uns nur zufällig bei einem Fehler erwischt, den wir gemacht haben. Glücklicherweise haben wir den Krieg gewonnen, und ich glaube nicht, daß es zehn Leute gibt, die sich noch an die Geschichte von damals erinnern.«

Die Getränke kamen. »Auf Ihr Wohl.«

Sutherland setzte das Glas ab und strich sich seinen weißen Seehundsschnurrbart. Doch Fred Caldwell gab sich noch nicht zufrieden.

»Sir«, begann er erneut, »falls Parker nun neugierig wird und anfängt, sich hier genauer umzusehen — meinen Sie nicht, es wäre besser, ihn durch ein paar Leute von der CID beschatten zu lassen?« »Hören Sie, mein Lieber, lassen Sie den Mann in Frieden. Man braucht einem Pressemann nur ,Nein' zu sagen, und man hat mit ziemlicher Sicherheit in ein Wespennest gestochen. Berichte über Flüchtlinge sind heutzutage nicht mehr gefragt, und ich glaube nicht, daß er sich für die Flüchtlingslager hier interessieren wird. Dennoch wollen wir nicht riskieren, seine Neugier zu wecken, indem wir ihm irgend etwas verbieten. Wenn Sie mich fragen — ich glaube, es war falsch, daß Sie ihn heute aufgesucht haben.«

»Aber ich bitte Sie, Brigadier — nach dieser unangenehmen Sache da in Holland —...«

»Holen Sie den Schachtisch, Freddy!« In der Art, wie Sutherland ,Freddy' sagte, lag etwas endgültig Abschließendes. Caldwell brummte in sich hinein, während sie die Figuren aufstellten. Sie begannen zu spielen, doch Sutherland konnte deutlich sehen, daß sein Adjutant nicht bei der Sache war. Er legte die Pfeife aus der Hand und lehnte sich zurück.

»Caldwell, ich habe Ihnen zu erklären versucht, daß wir hier keine Konzentrationslager unterhalten. Die Flüchtlinge in den Lagern bei Caraolos werden nur so lange auf Zypern zurückgehalten, bis sich diese Querschädel in Whitehall darüber klargeworden sind, was sie in der Frage des Palästina-Mandats machen wollen.«

»Aber diese Juden sind so schwer zu bändigen«, sagte Caldwell mit gerunzelter Stirn. »Ich wäre wirklich für ein bißchen Disziplin im guten alten Stil.«

»Nein, Freddy, nicht in diesem Falle. Diese Leute sind keine Verbrecher, und sie haben die Sympathie der ganzen Welt auf ihrer Seite. Es ist Ihre und meine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß es keine Unruhen gibt, keine Ausbrüche und überhaupt nichts, was man als Propaganda gegen uns verwenden könnte. Verstehen Sie?«

Es war Caldwell nicht klar. Er war im Gegenteil durchaus der Meinung, daß der Brigadier mit den Flüchtlingen wesentlich schärfer verfahren sollte. Aber bei einem Streit mit einem General kann niemand gewinnen, wenn er nicht zufällig ein noch höheres Tier ist. Die ganze Sache war außerdem so verwickelt — und Caldwell begnügte sich, einen Bauern vorzurücken.

»Sie sind am Zug, Sir«, sagte er.

Caldwell hob den Blick vom Schachbrett und sah zu Sutherland hinüber. Der Brigadier schien in Gedanken versunken zu sein und die Anwesenheit von Caldwell völlig vergessen zu haben. Das geschah in letzter Zeit immer häufiger.

»Sie sind am Zug, Sir«, wiederholte Caldwell.

Sutherlands Gesicht sah bekümmert aus. Armer Kerl, dachte Caldwell. Der Brigadier war fast seit dreißig Jahren mit Neddy Sutherland verheiratet gewesen, und plötzlich hatte sie ihn verlassen und war mit einem Mann, der zehn Jahre jünger war als sie, nach Paris durchgebrannt. Es war ein Skandal, der in Armee-Kreisen monatelang die Gemüter erschüttert hatte, und Sutherland schien noch immer schwer daran zu tragen. Es war ein schrecklicher Schlag für den Brigadier, der immer ein so korrekter Mann gewesen war. Sutherlands blasses Gesicht war voller Falten, und auf seiner Nase erschienen kleine rote Äderchen. In diesem Augenblick sah er wirklich aus wie fünfundfünfzig, wenn nicht noch älter.

Doch Bruce Sutherland dachte nicht an Neddy, wie Caldwell annahm. Seine Gedanken waren bei den Flüchtlingslagern von Caraolos.

»Sie sind am Zug, Sir.«

»Also will ich deine Feinde verderben, Israel —.«, murmelte Sutherland.

»Was haben Sie eben gesagt, Sir?«

V.

Mark führte Kitty zurück an den Tisch, beide waren außer Atem. »Weißt du, wann ich das letztemal Samba getanzt habe?« sagte sie. »Für ein so altes Mädchen, wie du es bist, machst du deine Sache gar nicht schlecht.«

Mark sah sich im Räume um. An allen Tischen saßen englische Offiziere, in der Khaki-Uniform der Army und den weißen Jacken der Navy, und unterhielten sich mit unverkennbar englischem Akzent. Mark liebte Lokale dieser Art. Der Kellner brachte frische Getränke, und sie stießen miteinander an.

»Auf dein Wohl, Kitty, wo immer du dich befinden magst«, sagte Mark. »Ja, Gnädigste, was ist eigentlich Ihr nächstes Reiseziel?« Kitty zog die Schultern hoch. »Ach, ich weiß nicht recht, Mark. Meine Arbeit in Saloniki ist zu Ende, und ich fange an, unruhig zu werden. Ich habe ein Dutzend Angebote, bei der UNO zu arbeiten, in allen Teilen Europas.«

»Ja, es war ein prächtiger Krieg«, sagte Mark. »Überall massenhaft Waisenkinder.«

»Nein, im Ernst«, sagte Kitty, »erst gestern bekam ich ein wirklich gutes Angebot, hier in Zypern zu arbeiten.«

»In Zypern?«

»Da in der Gegend von Famagusta sind irgendwelche Flüchtlingslager. Eine Amerikanerin hat sich an mich gewandt. Die Lager sind anscheinend überfüllt, und an der Straße nach Larnaca werden neue Lager eingerichtet. Ich sollte dort die Leitung übernehmen.«

Mark zog die Stirn in Falten.

»Das ist einer der Gründe, weshalb ich dich nicht auf dem Flugplatz abholen konnte. Ich war heute in Famagusta, um mit dieser Amerikanerin zu reden.«

»Und was hast du ihr gesagt?«

»Ich habe nein gesagt. Es sind Juden. Ich glaube zwar, daß jüdische Kinder kaum anders sind als irgendwelche anderen, aber ich möchte doch lieber nichts mit ihnen zu tun haben. Bei diesen Lagern scheint eine ganze Menge Politik mit im Spiele zu sein, und sie unterstehen nicht der Aufsicht der UNO.«

Mark schwieg nachdenklich. Kitty blinzelte ihn verschmitzt an und wedelte mit dem Zeigefinger vor seiner Nase hin und her. »Mach nicht so ein ernstes Gesicht. Willst du wissen, was der andere Grund war, weshalb ich dich nicht abholen konnte?«

»Du tust, als ob du einen kleinen Schwips hättest.«

»Ich glaube, so allmählich kriege ich auch einen. Also hören Sie, Mr. Parker: ich war in Famagusta, um meinen Freund ans Schiff zu bringen. Du kennst mich ja — der eine Mann reist ab, der nächste kommt an.«

»Solange du sie nicht durcheinanderbringst! Und was war das für ein Knabe, mit dem du hier nach Zypern gefahren bist?«

»Möchtest du wohl gerne wissen, wie?«

»Mhm.«

»Colonel Howard Hillings, von der britischen Armee.«

»Irgendwas gewesen zwischen euch beiden?«

»Halt den Mund! Er war so korrekt, daß es geradezu widerlich war.«

»Und woher kennst du ihn?«

»Er war Chef der britischen Militärmission in Saloniki. Als ich die Leitung des Heims übernahm, fehlte es uns an allem — Betten, Medikamenten, Verpflegung, Decken — einfach alles. Kurz und gut, ich wandte mich an ihn. Er hat einen gewaltigen Papierkrieg für mich geführt, und wir wurden gute Freunde für immer und ewig. Er ist wirklich ein guter Kerl.«

»Erzähl weiter. Die Sache fängt an, außerordentlich interessant und spannend zu werden.«

»Vor ein paar Wochen erfuhr er, daß er nach Palästina versetzt würde und vorher in Urlaub gehen sollte, und da bat er mich, seinen Urlaub hier mit ihm zu verbringen. Weißt du, ich steckte so in der Arbeit drin, daß mir völlig entgangen war, seit achtzehn Monaten nicht einen einzigen freien Tag gehabt zu haben. Na, kurz und gut, sein Urlaub wurde abgeblasen, und heute mußte er sich in Famagusta melden, um dort das Schiff nach Palästina zu besteigen.« »Irgendwelche Zukunftspläne als Mrs. Hillings?«

Kitty schüttelte den Kopf. »Ich mag ihn sehr. Er hat extra die weite Reise mit mir nach Zypern gemacht, nur um die richtige Umgebung für die Frage zu finden, ob ich ihn heiraten wollte —.«

»Na und?«

»Ich habe Tom geliebt. Ich werde nie wieder etwas Ähnliches für einen Mann empfinden.«

»Du bist inzwischen achtundzwanzig, Kitty. Das ist ein gutes Alter, sich zur Ruhe zu setzen.«

»Ich beklage mich ja gar nicht. Ich habe etwas gefunden, was mir Befriedigung gewährt. — Mark, du gehst auch nach Palästina. So viele von den Offizieren hier werden jetzt nach Palästina versetzt.« »Es gibt Krieg, Kitty.«

»Krieg? Aber warum denn? Das verstehe ich nicht.«

»Oh, aus allen möglichen Gründen. Es gibt überall auf der Welt eine Menge Leute, die entschlossen sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Kolonien kommen in unserer Zeit aus der Mode. Die Engländer reiten einen toten Gaul. Das da, das ist der Soldat des neuen Weltreichs«, sagte Mark und zog eine Dollarnote aus der Tasche. »Wir haben Millionen dieser grünen Soldaten in Marsch gesetzt, überallhin, in jeden Winkel der Welt. Es ist die größte Armee, die es je gegeben hat, und sie erobert die Welt ohne Blutvergießen. Aber Palästina — da liegen die Dinge wieder anders. Das ist eine Sache, Kitty, die fast etwas Erschreckendes hat. Da gibt es Leute, die ernstlich entschlossen sind, eine Nation wiedererstehen zu lassen, die seit zweitausend Jahren tot ist. So etwas hat es noch nie gegeben. Und das Tollste ist — ich glaube, sie werden es schaffen. Die Leute, von denen ich spreche, sind die Juden, die du nicht leiden kannst.«

»Das habe ich nicht gesagt«., widersprach Kitty, »daß ich die Juden nicht leiden könnte.«

»Ich möchte jetzt nicht mit dir streiten. Aber denk doch mal scharf nach, Liebling — hast du in der Zeit, seit du hier in Zypern bist, irgend etwas gehört oder gesehen, das vielleicht, sagen wir mal, auffällig oder ungewöhnlich zu nennen wäre?«

Kitty biß sich nachdenklich auf die Unterlippe und holte tief Luft. »Nein«, sagte sie dann, »nur die Flüchtlingslager. Wie ich höre, sind sie überfüllt und in jämmerlichem Zustand. Warum fragst du?«

»Ich weiß nicht. Ich hab' halt nur so eine Ahnung, daß hier auf Zypern irgendwas los ist, irgendeine ganz dicke Sache.«

»Warum sagst du nicht lieber, daß du einfach von Beruf neugierig bist?«

»Nein, das allein ist es nicht. Kennst du einen Major Caldwell? Er ist der Adjutant von Brigadier Sutherland.«

»Ja, ein schrecklich langweiliger Kerl. Ich habe ihn beim Gouverneur kennengelernt.«

»Er suchte mich im Hotel in meinem Zimmer auf, kurz bevor du kamst. Warum sollte mir der Adjutant eines Generals zehn Minuten nach meiner Ankunft auf die Bude rücken wegen einer Sache, die anscheinend ganz belanglos ist? Nein, Kitty, glaube mir, die Engländer sind wegen irgendeiner Sache hier nervös. Ich kann es nicht beweisen, aber ich gehe jede Wette ein, daß es mit diesen Flüchtlingslagern zusammenhängt. Sag mal — könntest du nicht ein paar Wochen in diesen Lagern arbeiten, mir zuliebe?«

»Natürlich, Mark, wenn du das möchtest.«

»Ach, hol's der Teufel!« sagte Mark und stellte das Glas aus der Hand. »Wir sind im Urlaub. Du hast ganz recht, ich bin neugierig und mißtrauisch von Beruf. Denk nicht mehr dran, tanzen wir lieber.«

VI.

An der Arsinos-Straße in Famagusta, gegenüber der alten Stadtmauer, lag das große und prächtige Haus eines griechischen Zyprers namens Mandria, dem die Zyprisch-Mittelmeerische Schiffahrtsgesellschaft gehörte und außerdem die meisten Taxen der Insel. In einem Raum dieses Hauses warteten Mandria und David ben Ami voll ungeduldiger Spannung auf Ari ben Kanaan, der seine nassen Kleider wechselte.

Beiden war klar, daß das Auftauchen Ari ben Kanaans in Zypern auf einen besonders wichtigen Auftrag der illegalen Organisation Mossad Aliyah Bet hinwies. Seit vielen Jahren ging die Politik der Engländer dahin, die jüdische Einwanderung nach Palästina zu verhindern oder auf ein Mindestmaß zu beschränken. Zum Vollzug dieser Politik hatte man die Royal Navy eingesetzt. Mossad Aliyah Bet war eine Organisation der in Palästina ansässigen Juden, deren Aufgabe es war, andere Juden heimlich nach Palästina zu schmuggeln. Jedesmal aber, wenn die englische Flotte eines der Mossad-Schiffe aufbrachte, das die Blockade zu durchbrechen versuchte, wurden die illegalen Einwanderer in die Internierungslager auf Zypern überführt.

Ari ben Kanaan, der sich inzwischen umgezogen hatte, betrat den Raum und nickte Mandria und David ben Ami zu. Ben Kanaan war ein stattlicher, kräftig gebauter Mann von gut über ein Meter achtzig. Er und Ben Ami waren seit langem gute Freunde; doch im Beisein von Mandria, dem Zyprer, der kein Mitglied ihrer Organisation war, sondern mit ihr nur sympathisierte, gaben sie das nicht zu erkennen. Ari steckte sich eine Zigarette an und kam ohne Umschweife zur Sache. »Die Zentrale hat mich hierhergeschickt mit dem Auftrag, eine Massenflucht aus den Lagern zu organisieren. Die Gründe dafür sind uns wohl allen klar. Was ist deine Meinung dazu, David?«

Der junge Mann mit dem schmalen Gesicht ging nachdenklich hin und her. Er war schon vor Monaten nach Zypern gekommen, im Auftrag der geheimen Armee der Juden in Palästina, Palmach genannt. Er und Dutzende weiterer Palmach-Angehöriger hatten sich ohne Wissen der Engländer in die Flüchtlingslager eingeschlichen und dort Schulen eingerichtet, Lazarette und Synagogen, hatten sanitäre Anlagen gebaut und eine Kleinindustrie organisiert. Die illegalen Einwanderer, die man von Palästina nach Zypern gebracht hatte, waren Menschen ohne Hoffnung. Das Auftauchen junger Männer, die der jüdischen Armee in Palästina angehörten, gab ihnen neue Hoffnung und stärkte die Moral des Lagers. David ben Ami und die anderen Palmach-Mitglieder gaben Tausenden von Männern und Frauen in den Lagern eine militärische Ausbildung, wobei sie an Stelle von Gewehren Stöcke und als Ersatz für Handgranaten Steine verwendeten. David ben Ami war, obwohl nicht älter als zweiundzwanzig, der Palmach-Kommandeur auf Zypern. Falls die Engländer Wind davon bekommen hatten, daß sich Leute aus Palästina in die Lager eingeschlichen hatten, ließen sie sich jedenfalls nichts davon anmerken. Denn sie hatten kein Verlangen danach, sich in das Innere der von Haß erfüllten Lager zu begeben, und beschränkten sich darauf, sie von außen zu bewachen.

»Wie viele sollen fliehen?« fragte David.

»Ungefähr dreihundert.«

David schüttelte den Kopf. »Wir haben ein paar unterirdische Gänge gegraben, doch die führen zum Meer. Du wirst heute abend selbst festgestellt haben, daß die Strömung vor der Küste gefährlich ist und daß man ein sehr guter Schwimmer sein muß, wenn man es schaffen will. Die zweite Möglichkeit: wir benutzen, um ins Lager hinein-und wieder herauszukommen, die Stellen außerhalb, wo die Abfälle abgeladen und abgefahren werden. Diese Kanäle werden nicht sonderlich scharf bewacht, aber so viele Leute auf einmal kann man dort unmöglich durchschleusen. Die dritte Möglichkeit: englische Uniformen und gefälschte Papiere, doch auch auf diese Weise kann man jeweils nur ein paar Leute hinein- oder herausbekommen. Die vierte und letzte Möglichkeit: wir nageln einige von unseren Mitgliedern in Lattenkisten ein und schicken diese Kisten zum Hafen. Mr. Mandria hier ist Eigentümer der Schifffahrtsgesellschaft, und seine Hafenarbeiter sind instruiert, wenn solche Kisten ankommen. Im Augenblick, Ari, sehe ich keinen Weg, wie man eine Massenflucht organisieren könnte.«

»Wir werden einen Weg finden«, sagte Ben Kanaan im Tone sachlicher Feststellung. »Allerdings haben wir dafür nur ein paar Wochen Zeit.«

Mandria, der Grieche, erhob sich, seufzte und schüttelte den Kopf. »Mr. Ben Kanaan«, sagte er dann, »Sie sind heute abend an Land geschwommen und haben uns gebeten, das Unmögliche möglich zu machen, noch dazu in zwei Wochen. Mein Herz sagt« — Mandria legte die Hand auf sein Herz, »daß es gelingen wird. Aber mein Kopf«, und er klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, »sagt mir, daß es unmöglich ist.« Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und ging unruhig durch das Zimmer. »Glauben Sie mir, Mr. Ben Kanaan« — Mandria drehte sich herum und machte eine großartige Handbewegung —, »Ihr von Palmach und Mossad könnt euch darauf verlassen, daß die Griechen in Zypern bis zum letzten Blutstropfen für euch einstehen. Wir stehen auf eurer Seite. Wir stehen neben euch und hinter euch! Und dennoch — Zypern ist eine Insel, rings von Wasser umgeben, und die Engländer sind weder Dummköpfe noch Schlafmützen. Ich, Mandria, bin bereit, alles zu tun, was in meiner Macht steht, und trotzdem wird es Ihnen nicht gelingen, dreihundert Leute auf einmal aus den Lagern von Caraolos herauszubekommen. Diese Lager sind von drei Meter hohen Stacheldrahtpalisaden umgeben, und die Wachtposten haben Gewehre — geladene Gewehre.«

Ari Ben Kanaan stand auf, groß und breit wie ein Turm vor den beiden anderen Männern. Er hatte kaum hingehört auf das, was Mandria mit soviel Pathos vorgebracht hatte. »Ich brauche für morgen eine englische Uniform«, sagte er, »Ausweispapiere und einen Fahrer. Und Sie können sich schon einmal nach einem Schiff umsehen, Mr. Mandria. Ungefähr zwischen hundert und zweihundert Tonnen. Und, David, wir werden einen Fachmann brauchen, der sich auf die Herstellung von gefälschten Ausweisen versteht.«

»Wir haben da im Jugendblock einen Jungen, der ein wahrhafter Künstler auf diesem Gebiet sein soll, aber der wird nicht wollen. Alle andern sind kümmerliche Pfuscher.«

»Ich werde morgen nach Caraolos gehen und mit dem Jungen reden. Ich will mir ohnehin das Lager ansehen.«

Mandria war begeistert. Dieser Ari ben Kanaan, das war ein Mann. Ein Mann der Tat. Besorgen Sie ein Schiff! Wir brauchen einen Fälscher! Beschaffen Sie mir eine Uniform und einen Fahrer! Das Leben war aufregend geworden, seit die Mossad- und die Palmach-Leute nach Zypern gekommen waren, und er fand es wunderbar, teilnehmen zu können an dem Spiel, in dem es gegen die Briten ging. Er ergriff Ari ben Kanaans Hand und drückte sie.

»Wir Zyprer sind auf eurer Seite«, sagte er. »Euer Kampf ist unser Kampf!«

Ben Kanaan sah Mandria abweisend an. »Herr Mandria«, sagte er, »man wird Sie für die Zeit und Mühe, die Sie aufwenden, in angemessener Form entschädigen.«

Im Raum entstand betretenes Schweigen. Mandria war weiß wie die Wand geworden. »Glauben Sie denn, wagen Sie ernstlich zu glauben, mein Herr, daß ich, Mandria, dies etwa für Geld tue? Glauben Sie, ich würde um des Geldes willen riskieren, zehn Jahre ins Gefängnis gesteckt oder aus der Heimat verbannt zu werden? Seit ich angefangen habe, mit Ihren Leuten vom Palmach zu arbeiten, hat mich das mehr als fünftausend Pfund gekostet.«

»Ich finde«, sagte David rasch und vermittelnd, »du solltest dich bei Herrn Mandria entschuldigen. Er selbst, seine Taxifahrer und seine Hafenarbeiter nehmen alle möglichen Risiken auf sich. Ohne die Hilfe der Griechen wäre es uns kaum möglich, hier zu arbeiten.« Mandria ließ sich in einen Sessel fallen. Man sah ihm an, daß er tief verletzt war. »Jawohl, Ben Kanaan, wir bewundern euch. Denn wir meinen, wenn es euch gelingt, die Engländer aus Palästina hinauszuwerfen, dann gelingt es uns vielleicht eines Tages, hier in Zypern dasselbe zu tun.«

»Ich bitte um Verzeihung, Herr Mandria«, sagte Ari. »Ich bin vermutlich überreizt.« Doch er sagte die Worte rein mechanisch, ohne sie so zu meinen.

Das schrille Geräusch von Sirenen, das von draußen zu hören war, ließ die Unterhaltung abbrechen. Mandria öffnete die Tür zum Balkon und ging zusammen mit David hinaus. Ari ben Kanaan folgte ihnen und blieb hinter ihnen stehen. Sie sahen einen Panzerwagen mit Maschinengewehren, der an der Spitze einer Kolonne von Lastwagen die Straße vom Hafen heraufkam. Es waren insgesamt fünfundzwanzig Lastwagen, umgeben von Jeeps, auf denen Maschinengewehre aufmontiert waren.

Die Menschen, die eng zusammengedrängt auf den Lastwagen standen, waren Passagiere des illegalen Schiffes Tor der Hoffnung, das versucht hatte, von Italien aus Palästina zu erreichen und die englische Blockade zu durchbrechen. Das Schiff war von einem englischen Zerstörer gerammt worden. Man hatte es nach Haifa abgeschleppt und die illegalen Einwanderer unverzüglich nach Zypern gebracht.

Das Heulen der Sirenen wurde lauter, als die Wagenkolonne an dem Balkon von Mandrias Haus vorbeifuhr. Ein Wagen nach dem anderen kam vorbei, und die drei Männer, die auf dem Balkon standen, sahen von oben auf das Elend der eingepferchten, durcheinandergerüttelten Menschen. Es waren geschlagene Leute, Menschen, die am Ende waren, fassungslos, verfallen, entkräftet. Die Sirenen kreischten, die Wagenkolonne bog bei dem Tor der alten Stadtmauer um die Ecke auf die Straße nach Salamis ein, die zu den Lagern bei Caraolos führte. Dann waren die Wagen verschwunden, doch das Heulen der Sirenen zerschnitt noch lange die Luft.

David ben Amis Hände waren zu Fäusten geballt; er hatte die Zähne krampfhaft zusammengebissen, und in seinem Gesicht stand ohnmächtige Wut. Mandria weinte. Nur Ari ben Kanaan ließ keinerlei Regung erkennen. Sie verließen den Balkon und gingen wieder hinein.

»Sie werden sicherlich vieles miteinander zu bereden haben«, sagte Mandria, noch immer schluchzend. »Ich hoffe, Ben Kanaan, daß Ihr Zimmer Ihnen zusagt. Eine Uniform für Sie, Ausweise und ein Taxi werden wir bis morgen beschaffen. Gute Nacht.«

Kaum waren David und Ari allein, als sie sich in die Arme fielen. Der Große hob den Kleinen hoch und stellte ihn wieder hin, als wäre er ein Kind. Sie musterten einander, gratulierten sich gegenseitig zu ihrem guten Aussehen und umarmten sich von neuem, »Was ist mit Jordana?« fragte David ungeduldig. »Warst du vor der Abreise bei ihr? Hat sie dir etwas für mich mitgegeben?«

»Etwas mitgegeben?« sagte Ari und strich sich das Kinn, als müßte er überlegen. »Warte mal —.«

»Komm, Ari — es ist Monate her, seit ich einen Brief bekommen habe —.«

Ari seufzte und holte einen Brief aus der Tasche, den David ihm aus der Hand riß. »Ich habe ihn in einen Gummibeutel gesteckt.

Als ich heute abend an Land schwamm, war mein einziger Gedanke, daß du mir den Kopf abreißt, wenn dein blöder Brief naß wird.«

Doch David hörte nicht zu. Er hielt sich in dem dämmrigen Licht den Brief dicht vor die Augen und las langsam die Worte einer Frau, die Sehnsucht nach dem hatte, den sie liebte. Dann faltete er den Brief vorsichtig zusammen und verwahrte ihn sorgsam in seiner Brusttasche, um ihn später wieder und wieder zu lesen. Denn bis zum nächsten Brief konnten Monate vergehen. »Wie geht es ihr?« fragte er.

»Ich verstehe nicht, was meine Schwester eigentlich an dir hat. Jordana? Die ist unverändert. Sie ist wild und schön, und sie liebt dich sehr.« »Und meine Eltern — meine Brüder — unsere Palmach-Gruppe — was macht —.«

»Sachte, sachte. Ich bleibe ein Weilchen hier. Immer eins nach dem andern.«

David holte den Brief wieder heraus und las ihn noch einmal, und die beiden Männer schwiegen. Sie starrten durch die Scheiben der Balkontür auf die alte Stadtmauer jenseits der Straße. »Wie sieht es aus bei uns zu Hause?« fragte David mit leiser Stimme. »Bei uns? Wie immer. Es wird geschossen, und es fallen Bomben. Genau, wie es Tag für Tag gewesen ist, seit wir Kinder waren. Es bleibt immer dasselbe. Jedes Jahr nähern wir uns einer Krise, die mit Sicherheit das Ende bedeutet — und dann bewegen wir uns auf die nächste Krise zu, die noch bedrohlicher ist als die letzte. Nein«, sagte Ari, »bei uns zu Haus ist alles beim alten. Nur — diesmal wird es Krieg geben.« Er legte dem kleineren David, seinem Freund, die Hand auf die Schulter. »Wir alle sind verdammt stolz auf das, was du in den Internierungslagern geleistet hast.«

»Ich habe mich bemüht, alles zu erreichen, was möglich ist, wenn man versucht, Soldaten mit Besenstielen auszubilden. Palästina ist für diese Leute unerreichbar fern. Sie haben keine Hoffnung mehr.

— Ari, ich möchte dich bitten, kein Mißtrauen mehr gegen Mandria zu hegen. Er ist ein großartiger Mann und wirklich unser Freund.« »Ich vertrage es nun einmal nicht, David, wenn Leute meinen, sie müßten uns beschützen.«

»Wir könnten unsere Arbeit hier nicht leisten ohne ihn und die Hilfe der Griechen.«

»Fall bitte nicht auf die Mandrias herein, die es überall auf der Welt gibt. Sie weinen blutige Tränen über die Millionen von uns, die man umgebracht hat, doch wenn es ernst wird, dann werden wir allein sein. Mandria wird uns genauso im Stich lassen wie alle andern. Wir werden verraten und verkauft sein, wie wir es stets gewesen sind. Wir haben keinerlei Freunde außer unseren eigenen Leuten, vergiß das nicht.«

»Und du irrst dich doch«, gab David heftig zurück.

»David, David, David. Ich bin schon so lange beim Palmach und Mossad-Mitglied, daß ich die Jahre nicht mehr zählen mag. Du bist noch jung. Das hier ist dein erster großer Auftrag. Laß dir den Verstand nicht durch dein Gefühl verdunkeln.«

»Ich will aber, daß das Gefühl meinen Verstand verdunkelt«, antwortete David. »Mein Inneres brennt jedesmal, wenn ich so etwas wie diese Wagenkolonne sehe. Unsere Leute, Menschen unseres Volkes, eingesperrt wie Tiere im Käfig!«

»Wir versuchen es mit den verschiedensten Methoden«, sagte Ari, »und wir müssen dabei einen klaren Kopf behalten. Manchmal haben wir Erfolg, und manchmal mißlingt er uns. Hauptsache, daß man immer klar und nüchtern bleibt.«

Noch immer war aus der Ferne das Geräusch der Sirenen zu hören. David zündete sich eine Zigarette an und sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin. »Ich darf nie den Glauben daran verlieren«, sagte er feierlich, »daß ich an dem neuen Abschnitt einer Geschichte mitschreibe, deren Anfang über viertausend Jahre zurückliegt.« Er drehte sich um und sah aufgeregt nach oben in das Gesicht des Größeren.

»Ari, denken wir zum Beispiel an die Stelle, wo du heute abend an Land gekommen bist. Einstmals stand dort die Stadt Salamis. Und dieses Salamis war es, von wo die Erhebung ausging, deren Führer Bar Kochba war. Er vertrieb die Römer aus unserem Land und stellte das jüdische Königreich wieder her. Es gibt da in der Nähe der Internierungslager eine Brücke — die heißt die Judenbrücke. Sie heißt seit zweitausend Jahren so. An diese Dinge muß ich immer denken. Genau an derselben Stelle, an der wir einst gegen das römische Imperium gekämpft haben, kämpfen wir jetzt, zweitausend Jahre später, gegen das Britische Empire.«

Ari Ben Kanaan, der David um Haupteslänge überragte, sah lächelnd zu dem jüngeren Mann hinunter, wie ein Vater, der milde über die allzugroße Begeisterung seines Sohnes lächelt. »Erzähl die Geschichte bis zu Ende. Nach dem Aufstand des Bar Kochba kamen die römischen Legionen in unser Land zurück, nahmen eine Stadt nach der andern ein und metzelten die Bevölkerung nieder. In der Entscheidungsschlacht von Bejtar vereinigte sich das Blut der hingemordeten Frauen und Kinder zu einem roten Strom, der eine Meile weit floß. Akiba, einem der Heerführer, wurde bei lebendigem Leibe die Haut heruntergezogen, und Bar Kochba wurde in Ketten nach Rom gebracht, um dort in der Löwengrube zu sterben. Oder war es Bar Giora, der bei einem anderen Aufstand in der Löwengrube starb? Es ist möglich, daß ich diese vielen Erhebungen durcheinanderbringe. O ja, die Bibel und unsere Geschichte sind voll von wunderbaren Erzählungen und gern geglaubten Wundern. Doch unser Heute, das ist kein Wunder, sondern Wirklichkeit. Wir haben keinen Josua, der die Sonne stillstehen und die Mauern einstürzen lassen kann. Die britischen Tanks werden nicht im Schlamm steckenbleiben wie die Wagen der Kanaaniter, und das Meer hat sich nicht über der englischen Flotte geschlossen wie damals über dem Heer des Pharao. Die Zeiten der Wunder sind vorbei, David.«

»Nein, sie sind nicht vorbei! Allein die Tatsache unserer Existenz ist ein Wunder. Wir haben die Römer überlebt, die Griechen und sogar Hitler. Wir haben jeden überlebt, der uns unterdrücken wollte, und wir werden auch das Britische Empire überleben. Das ist ein Wunder, Ari.«

»Also, David — das eine weiß ich jedenfalls mit Sicherheit: Wie man mit Worten streitet und recht behält, darauf verstehen wir Juden uns. Und jetzt wollen wir ein bißchen schlafen.«

VII.

»Sie sind am Zug, Sir«, wiederholte Fred Caldwell.

»Ja, ja — entschuldigen Sie.« Brigadier Sutherland studierte die Stellung der Figuren und rückte einen Bauern vor. Caldwell zog den Springer, und Sutherland wehrte ab, indem er gleichfalls einen Springer zog. Der Brigadier stellte fest, daß seine Pfeife ausgegangen war, fluchte und steckte sie wieder an.

Die beiden Männer blickten auf, als sie das leise, aber anhaltende Sirenengeheul hörten. Sutherland sah auf die Uhr an der Wand. Das mußten die illegalen Einwanderer von dem Schiff Tor der Hoffnung sein.

»Tor der Hoffnung!« sagte Caldwell höhnisch. »Zions Zinnen, Gelobtes Land, Stern Davids — tolle Namen haben diese Blockadebrecher, das muß ich schon sagen.«

Sutherland legte die Stirn in Falten. Er versuchte, den nächsten Zug auszuklügeln, doch die Sirenen gingen ihm nicht aus den Ohren. Er starrte auf die elfenbeinernen Schachfiguren, doch was er vor sich sah, das war eine Kolonne von Lastwagen, angstverzerrte Gesichter, Maschinengewehre, Panzerwagen. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Caldwell, dann möchte ich mich jetzt lieber zurückziehen.«

»Fehlt Ihnen irgend etwas, Sir?«

»Nein«, sagte der Brigadier. »Gute Nacht.« Er ging mit raschen Schritten hinaus, machte die Tür seines Schlafzimmers hinter sich zu und lockerte seine Jacke. Das Heulen der Sirenen schien ihm unerträglich laut. Er machte hastig das Fenster zu, um das Geräusch nicht mehr hören zu müssen. Doch er hörte es noch immer.

Bruce Sutherland stand vor dem Spiegel und fragte sich, was eigentlich mit ihm los war. Mit ihm, einem Sutherland von Sutherland-Heights. Eine weitere ruhmreiche Karriere in einer langen Reihe ruhmreicher Karrieren, einer Reihe, die weiterging und so dauerhaft war wie England.

Doch in diesen letzten Wochen ging in Zypern irgend etwas vor sich. Etwas, das an seinen Nerven zerrte. Er stand vor dem Spiegel, sah in die schwimmenden Augen, die ihn aus dem Spiegel anblickten, und fragte sich, wo und wann das Ganze eigentlich angefangen hatte.

Sutherland: Guter Mann für jedes Team, hieß es in den Annalen von Eton. Sehr ordentlicher Knabe, dieser Sutherland. Familie, Ausbildung, Laufbahn, alles, wie es sein soll.

Zur Army? Das ist das Richtige, Bruce, alter Junge. Wir Sutherlands haben seit Jahrhunderten in der Army gedient, das ist echte Familientradition.

Standesgemäße Heirat. Neddie Ashton, die Tochter von Colonel Ashton, das war ein guter Griff. Kommt aus einem guten Stall, die Neddie Ashton. Sehr geeignet als Herrin des Hauses, diese Frau. Kennt alle Leute, die man kennen muß. Sie wird dir für deine berufliche Laufbahn eine große Hilfe sein. Passen großartig zusammen, die Ashtons und die Sutherlands.

Wo lag der Fehler? fragte sich Sutherland. Neddie hatte ihm zwei prächtige Kinder geschenkt. Albert war ein echter Sutherland, schon Captain in dem alten Regiment seines Vaters, und Martha hatte eine hervorragende Partie gemacht.

Bruce Sutherland nahm seinen Pyjama aus dem Schrank und zog ihn an. Er strich über den leichten Fettansatz in der Taillengegend. Gar nicht so schlecht für einen Mann von fünfundfünfzig.

Sutherland hatte im zweiten Weltkrieg eine rasche Karriere gemacht, verglichen mit dem langsamen und mühsamen Avancement in Friedenszeiten. Er war in Indien gewesen, in Hongkong, in Singapur und im Nahen Osten. Doch erst im Krieg hatte sich gezeigt, aus welchem Holz er geschnitzt war. Er erwies sich als ein ungewöhnlich befähigter Infanterie-Kommandeur. Bei Kriegsende war er Brigadier.

Sutherland zog seine Hausschuhe an, ließ sich langsam in einen Sessel sinken, schirmte das Licht ab — und die Gedanken an die Vergangenheit stiegen in ihm auf.

Neddie war ihm immer eine gute Frau gewesen. Sie war eine gute Mutter, eine hervorragende Gastgeberin, und sie war genau die richtige Frau für einen Offizier in den Kolonien. Er war sehr vom Glück begünstigt gewesen. Wann war der Riß in ihrer Ehe entstanden? Doch, er erinnerte sich genau. Das war in Singapur, vor vielen Jahren.

Er war damals Major, als er Marina begegnete, der Eurasierin mit dem olivfarbenen Teint. Dieser Frau, die geschaffen war für die Liebe. Jeder Mann trug tief in seinem Innersten verborgen das Bild einer Marina, doch seine Marina war aus Fleisch und Blut, war Lachen und Weinen, Glut und Leidenschaft, war Wirklichkeit. Mit Marina zusammen zu sein, war wie auf einem kochenden Vulkan zu leben, der jeden Augenblick ausbrechen konnte. Sie brachte ihn um den Verstand, er war verrückt nach ihr. Er machte ihr vor Eifersucht wütende Szenen, um sie im nächsten Augenblick, den Tränen nahe, um Verzeihung zu bitten. Marina — Marina. Die dunklen Augen und das rabenschwarze Haar. Sie konnte ihn quälen, konnte ihn entzücken. Mit ihr, durch sie erlebte er Höhen, von deren Existenz er bis dahin überhaupt nichts gewußt hatte. Bruce Sutherland erinnerte sich, was für ein fassungsloses und tief gekränktes Gesicht Neddie gemacht hatte, als sie ihm eröffnete, daß sie alles wußte.

»Es ist nicht so, daß mich diese Sache etwa nicht tief verletzt hätte«, hatte Neddie gesagt, zu stolz, um zu weinen, »doch ich bin bereit, zu vergeben und zu vergessen. Wir müssen schließlich an die Kinder denken, an deine Karriere — und an unsere Familien. Ich will versuchen, eine Form zu finden, irgendwie weiter mit dir zu leben, Bruce, doch du mußt mir schwören, daß du diese Person nie wieder siehst und daß du ein Gesuch um sofortige Versetzung von Singapur einreichst.«

Diese Person, wie du sie nennst, hatte Bruce gedacht, ist die Frau, die ich liebe. Sie hat mir etwas gegeben, was weder du noch tausend andere Neddies mir jemals geben könnten. Sie hat mir gegeben, was zu erhoffen kein Mann auf dieser Erde ein Recht hat.

»Ich möchte deine Antwort hören, Bruce.«

Antwort? Wie konnte die Antwort schon ausfallen. Sollte er etwa einem eurasischen Mädchen seine Karriere opfern? Dem Namen Sutherland Schande machen?

»Ich werde sie nie wiedersehen, Neddie«, hatte Bruce Sutherland versprochen.

Bruce Sutherland hatte sie nie wiedergesehen, doch er hatte auch nie aufgehört, an sie zu denken. Vielleicht war es das, womit alles angefangen hatte.

Die Sirenen waren nur noch sehr schwach zu hören. Die Wagenkolonne mußte schon ganz in der Nähe von Caraolos sein, dachte Sutherland. Bald würden die Sirenen schweigen, und dann konnte er schlafen. Er dachte an seine Pensionierung, die in vier bis fünf Jahren zu erwarten war. Der Stammsitz der Familie in Sutherland-Heights war für ihn allein viel zu groß. Er würde in einer kleinen Villa wohnen, vielleicht auf dem Lande. Es wurde allmählich Zeit, sich nach ein paar guten Settern für die Jagd umzusehen, sich Rosenkataloge schicken zu lassen und die Bibliothek zu vervollständigen. Es war zu überlegen, bei welchem Club in London er Mitglied werden sollte. Albert, Martha und seine Enkelkinder würden für ihn, wenn er in den Ruhestand trat, wirklich ein Trost sein. Und vielleicht — vielleicht würde er sich auch eine Geliebte zulegen.

Es schien sonderbar, daß er sich nach fast dreißigjähriger Ehe ohne Neddie zur Ruhe setzen sollte. Sie war all die Jahre so still, vornehm und reserviert gewesen. Sie war so taktvoll über seine Affäre mit Marina hinweggegangen. Und auf einmal, nachdem sie ihr ganzes Leben lang völlig korrekt gewesen war, brach sie hemmungslos aus, um die letzten Jahre zu retten, die ihr als Frau noch blieben. Ging mit irgend so einem Bohemien, der zehn Jahre jünger war als sie, auf und davon nach Paris. Alle Leute hatten großes Mitleid mit Bruce, dabei machte es ihm im Grunde wirklich nicht viel aus. Er hatte schon seit vielen Jahren keinerlei Berührung und nur wenig gefühlsmäßige Verbindung mit Neddie gehabt. Wenn sie meinte, sich austoben zu müssen, bitte sehr. Vielleicht würde er sie später wieder zu sich nehmen — doch vielleicht war eine Geliebte besser. Das Geräusch der Sirenen hörte endlich auf. Im Raum herrschte völlige Stille, und nur das dumpfe Murren der Brandung, die sich am Strande brach, war noch zu hören. Bruce Sutherland öffnete das Fenster und atmete in tiefen Zügen die kühle, frische Novemberluft. Er ging in das Badezimmer, nahm seine Zahnprothese heraus, säuberte sie und legte sie in ein Glas Wasser. Wirklich ein Jammer, dachte er, daß er diese vier Zähne hatte verlieren müssen. Das sagte er nun schon seit mehr als dreißig Jahren. Damals hatte er sie bei einem Rugby-Spiel eingebüßt. Er prüfte die anderen Zähne und stellte befriedigt fest, daß sie noch in gutem Zustand waren.

Er machte das Medizinschränkchen auf und musterte die Reihe der Flaschen. Er nahm eine Büchse mit Schlafpulver heraus und löste eine doppelte Dosis in Wasser auf. Er schlief in letzter Zeit schlecht. Sein Herz begann heftig zu klopfen, während er das Glas austrank. Er wußte, daß ihm wieder eine dieser entsetzlichen Nächte bevorstand. Verzweifelt versuchte er, die Gedanken loszuwerden, die in ihm aufstiegen. Er verkroch sich unter der Bettdecke und hoffte, rasch einschlafen zu können, doch schon begann es in seinem Kopf zu kreisen und zu wirbeln, immer rundherum, rundherum ... Bergen-Belsen — Bergen-Belsen — Bergen-Belsen — NÜRNBERG! — NÜRNBERG! NÜRNBERG! NÜRNBERG! »Kommen Sie vor und nennen Sie Ihren Namen ...«

»Bruce Sutherland, Brigadegeneral, Kommandeur des ...«

»Zeuge, schildern Sie dem Gericht, aus eigener Anschauung ...« »Am 15. April, zwanzig Minuten nach fünf Uhr abends, rückten Teile der mir unterstellten Truppe in Bergen-Belsen ein.«

»Schildern Sie, aus eigener Anschauung ...«

»Lager Eins war ein abgesperrter Raum von rund sechshundert Meter Breite und dreihundert Meter Länge. Auf diesem Raum befanden sich achtzigtausend Menschen, osteuropäische Juden.« »Schildern Sie dem Gericht ...«

»Die Verpflegungsration für das Lager Nummer Eins bestand aus zehntausend Broten pro Woche.«

»Können Sie dem Gericht sagen ...«

»Ja, das sind Hodenklemmen und Daumenschrauben, wie sie bei Folterungen verwendet wurden ...«

»Schildern Sie ...«

»Eine von uns durchgeführte Zählung ergab im Lager Eins dreißigtausend Tote, von denen fast dreizehntausend als Leichen am Boden herumlagen. Achtundzwanzigtausend Frauen und zwölftausend Männer befanden sich noch am Leben.«

»SCHILDERN SIE ... !«

»Wir unternahmen alles, was in unseren Kräften stand, doch die Überlebenden waren durch Hunger und Krankheit so geschwächt, daß innerhalb weniger Tage nach unserem Eintreffen weitere dreizehntausend starben.«

»SCHILDERN SIE ... !«

»Die Zustände, die wir im Lager vorfanden, waren nicht mehr menschlich.«

Bruce Sutherland hatte kaum seine Zeugenaussage in Nürnberg beendet, als er eine dringende Aufforderung erhielt, sofort nach London zurückzukehren. Diese Aufforderung kam von einem langjährigen guten Freund im Kriegsministerium, General Sir Clarence Tevor-Browne. Sutherland ahnte, daß es sich um etwas Ungewöhnliches handeln mußte.

Er flog am nächsten Tag nach London und begab sich unverzüglich zu dem riesigen Gebäude an der Ecke von White Hall und Great Scotland Yard, in dem sich das Kriegsministerium befand.

»Da sind Sie ja, Bruce! Kommen Sie herein, mein Lieber, kommen Sie! Schön, daß Sie da sind. Ich habe Ihre Zeugenaussage in Nürnberg verfolgt. Kein sehr schönes Geschäft.«

»Ich bin froh, daß ich es hinter mir habe«, sagte Sutherland.

»Hat mir so leid getan, das von Ihnen und Neddie zu hören. Falls ich irgend etwas für Sie tun kann ...«

Sutherland schüttelte den Kopf.

Schließlich kam Tevor-Browne damit heraus, weshalb er ihn gebeten hatte, nach London zu kommen. »Hören Sie, Bruce«, sagte er, »ich habe Sie hergebeten, weil sich eine Aufgabe ergeben hat, die sehr viel Fingerspitzengefühl erfordert. Ich soll einen geeigneten Mann dafür empfehlen, und ich möchte gern Sie dafür vorschlagen. Ich wollte die Sache aber vorher mit Ihnen besprechen.«

»Ich höre, Sir Clarence.«

»Bruce, diese Juden, die aus Europa abwandern, stellen für uns ein ernstliches Problem dar. Sie überschwemmen Palästina. Die Araber sind sehr beunruhigt über diese Einwanderungsmassen, die in das Mandatsgebiet kommen. Wir haben deshalb beschlossen, auf Zypern Internierungslager zu errichten, in denen diese Leute zurückgehalten werden. Jedenfalls ist das eine vorläufige Maßnahme, bis White Hall beschließt, wie wir uns in der Frage des Palästina-Mandats verhalten wollen.«

»Ich verstehe«, sagte Sutherland leise.

»Das Ganze ist eine sehr kitzlige Angelegenheit«, fuhr Tevor Browne fort, »und erfordert eine sehr behutsame Behandlung. Kein Mensch hat den Wunsch, einen armen Haufen geschlagener Flüchtlinge zusammenzutreiben und einzusperren, und man muß auch bedenken — nun ja, Tatsache ist, daß diese Leute sich hoher und höchster Sympathie erfreuen, besonders in Frankreich und Amerika. Die geplanten Maßnahmen auf Zypern dürfen natürlich keinerlei Staub aufwirbeln. Wir möchten, ja wir müssen unbedingt alles vermeiden, was die öffentliche Meinung gegen uns aufbringen könnte.«

Sutherland ging zum Fenster, blickte auf das Wasser der Themse und sah den großen, zweistöckigen Autobussen zu, die über die Waterloo-Brücke fuhren. »Ich halte diese ganze Idee für verkehrt«, sagte er.

»Darüber haben wir beide nicht zu entscheiden, Bruce. White Hall erteilt die Befehle. Wir führen sie nur aus.«

Sutherland sah noch immer zum Fenster hinaus. »Ich habe die Menschen in Bergen-Belsen gesehen«, sagte er. »Wahrscheinlich sind es dieselben, die jetzt nach Palästina zu kommen versuchen.« Er schritt zurück zu seinem Stuhl. »Seit dreißig Jahren haben wir in Palästina diesen Leuten gegenüber ein Versprechen nach dem anderen gebrochen.«

»Sehen Sie, Bruce«, sagte Tevor-Browne, »Sie und ich, wir machen uns in dieser Sache nichts vor, doch wir sind in der Minderheit. Wir beide haben zusammen im Nahen Osten gedient. Und jetzt will ich Ihnen mal was erzählen, mein Lieber. Ich habe im Krieg hier an diesem Schreibtisch gesessen und erlebt, wie aus dem arabischen Raum eine Verratsmeldung nach der anderen kam: Wie der ägyptische Generalstab Kriegsgeheimnisse an die Deutschen verkaufte, wie Kairo festlich geschmückt war, um Rommel als Befreier zu empfangen, wie die Iraker sich auf die Seite der Deutschen schlugen, wie die Syrier übergingen zu den Deutschen, wie der Mufti von Jerusalem sich als Agent der Nazis betätigte. Und so könnte ich Ihnen noch stundenlang weitererzählen. Sie müssen aber auch bedenken, wie die Sache für White Hall aussieht, Bruce. Wir können nicht riskieren, wegen einiger tausend Juden unser Ansehen und unsern Einfluß im ganzen Nahen Osten zu verlieren.« »Und gerade das ist von all unseren Irrtümern der tragischste, Sir Clarence«, sagte Sutherland. »Wir werden den Nahen Osten auch so verlieren.«

»Sie sind ja ganz aufgeregt, Bruce.«

»Es gibt schließlich so etwas wie Recht und Unrecht.«

General Sir Clarence Tevor-Browne schüttelte mit einem bitteren Lächeln den Kopf. »Ich habe in meinem Leben sehr wenig gelernt, Bruce, aber das eine habe ich doch begriffen: die Außenpolitik dieses oder irgendeines anderen Landes beruht nicht auf Recht oder Unrecht. Recht und Unrecht? Es ist nicht Ihre und nicht meine Sache, zu erörtern, wie es in diesem besonderen Falle mit der Frage von Recht oder Unrecht steht. Das einzige Reich, das auf Rechtschaffenheit beruht, ist das Himmelreich. Die Herrschaft der Welt beruht auf dem Öl. Und die Araber haben Öl.«

Bruce Sutherland schwieg. Dann nickte er und wiederholte: »Nur das Reich Gottes beruht auf Gerechtigkeit, die Herrschaft der Welt beruht auf dem Öl. Das ist eine wichtige Erkenntnis, Sir Clarence. In diesen beiden Sätzen scheint das ganze Leben enthalten zu sein. Wir alle — Menschen wie Völker — leben nach dem Gesetz der Notwendigkeit, nicht nach dem der Wahrheit.«

Tevor-Browne kam in seinem Stuhl nach vorn. »Irgendwo in seinem Weltenplan hat Gott uns für die schwierige Aufgabe vorgesehen, die Verantwortung für ein Empire zu tragen —.«

»Und es steht uns nicht zu, nach dem Warum zu fragen«, sagte Sutherland leise. »Nur, ich kann diese Sklavenmärkte in SaudiArabien nicht vergessen, auch nicht den Augenblick, als ich das erstemal aufgefordert wurde, zuzusehen, wie einem Mann, der gestohlen hatte, zur Strafe die Hände abgehackt wurden — und ebensowenig kann ich diese Juden in Bergen-Belsen vergessen.«

»Es ist nicht besonders gut, Soldat zu sein und ein Gewissen zu haben. Ich will Sie nicht zwingen, diesen Posten in Zypern anzunehmen.«

»Ich gehe hin. Selbstverständlich gehe ich hin. Nur, sagen Sie mir bitte — weshalb fiel Ihre Wahl gerade auf mich?«

»Die meisten von unseren Leuten sind pro-arabisch eingestellt, und zwar aus dem Grund, weil wir schon von jeher pro-arabisch gewesen sind und weil einem Militär nicht viel anderes übrigbleibt, als sich nach der Politik zu richten. Ich möchte nicht gern jemanden nach Zypern schicken, der diesen Flüchtlingen gegenüber vielleicht feindlich eingestellt wäre. Es handelt sich um eine Aufgabe, die Verständnis und Mitgefühl verlangt.«

Sutherland stand auf. »Ich muß manchmal denken«, sagte er, »daß es beinahe ebensosehr ein Fluch ist, als Engländer auf die Welt zu kommen, wie ein Jude zu sein.«

Sutherland nahm das Kommando auf Zypern an, doch sein Herz war voller Furcht. Er fragte sich, ob Tevor-Browne wußte, daß er Halbjude war. Der Entschluß, den er damals beim Tod seiner Mutter gefaßt hatte, dieser schreckliche Entschluß, der schon so lange zurücklag — jetzt kam er über ihn und rächte sich.

Er erinnerte sich, daß er damals in der Bibel Trost gesucht und auch gefunden hatte. Das war in den inhaltslosen Jahren mit Neddie gewesen, nach dem schmerzlichen Verlust des eurasischen Mädchens, der Frau, die er geliebt hatte, und alles zusammen hatte ihn immer stärker danach verlangen lassen, inneren Frieden zu finden. Wie wunderbar war das für ihn als Soldaten, von den großen kriegerischen Taten eines Josua, Gideon oder Joab zu lesen. Und diese wunderbaren Frauen — Ruth und Esther und Sara — und — und Deborah. Deborah, die Jeanne d'Arc der Juden, Befreierin ihres Volkes. Er wußte noch genau, wie es ihn kalt überlaufen hatte, als er die Worte las: Wach auf, Deborah, wach auf, wach auf!

Deborah — so hieß seine Mutter.

Deborah Davis war eine schöne und ungewöhnliche Frau gewesen. Kein Wunder, daß sich Harold Sutherland heftig in sie verliebt hatte.

Die Familie sah großmütig darüber hinweg, als Harold es durchsetzte, daß Der Widerspenstigen Zähmung fünfzehnmal über die Bretter ging, damit er die schöne Schauspielerin Deborah Davis darin bewundern konnte, und die Familie lächelte auch nachsichtig, als er sein Konto überzog, um sie mit Blumen und Geschenken zu überhäufen. Sie hielten es für eine jungenhafte Laune und meinten, er würde sie schon vergessen.

Er vergaß sie nicht, und die Familie hörte auf, tolerant zu sein. Deborah Davis erhielt eine strenge Aufforderung, in Sutherland-Heights zu erscheinen, doch sie kam nicht. Daraufhin begab sich Harolds Vater, Sir Edgar, nach London, um sich diese erstaunliche junge Dame einmal näher anzusehen, die sich weigerte, nach Sutherland-Heights zu kommen. Deborah war ebenso geistreich wie schön, und Sir Edgar war von ihr hingerissen.

Er machte kein Hehl aus seiner Meinung, daß sein Sohn ein unverschämtes Glück gehabt hätte. Schließlich war bekannt, daß die Sutherlands schon immer eine Neigung für Schauspielerinnen gehabt hatten, und einige dieser Damen waren die gesellschaftlichen Prunkstücke in der langen Familiengeschichte der Sutherlands geworden.

Da war natürlich der eine etwas heikle Punkt, daß Deborah Davis Jüdin war, doch dieses Problem erledigte sich dadurch, daß sie sich bereit erklärte, zur anglikanischen Kirche überzutreten.

Harold und Deborah hatten drei Kinder. Mary, die einzige Tochter, und Adam, der schwermütig und nicht ganz zurechnungsfähig war. Und Bruce, der Älteste und Deborahs Liebling. Er liebte seine Mutter abgöttisch. Doch bei aller zärtlicher Nähe sprach sie nie über ihre Kindheit oder von ihren Eltern. Er wußte nur, daß sie sehr arm gewesen und von zu Hause weggelaufen war, um zur Bühne zu gehen.

Die Jahre vergingen. Bruce wurde Offizier und heiratete Neddie Ashton. Albert und Martha wurden geboren. Harold Sutherland starb, und Deborah wurde alt und älter.

Bruce erinnerte sich noch sehr genau an den Tag, an dem es geschah. Er war mit Neddie und den Kindern nach Sutherland-Heights gekommen, um längere Zeit dort zu bleiben. Wenn Bruce nach Haus kam, fand er seine Mutter entweder draußen bei den Rosen oder im Wintergarten, oder irgendwo im Haus, wo sie ihren Verpflichtungen nachging, heiter, lächelnd und glücklich. Doch als er an diesem Tag vorgefahren war, hatte sie weder dagestanden, um ihn zu begrüßen, noch war sie sonst irgendwo zu finden gewesen. Schließlich hatte er sie in ihrem Salon entdeckt, wo sie im Dunkeln saß. Das war seiner Mutter so unähnlich, daß er erschrak. Sie saß unbeweglich wie eine Statue und schien ihre Umgebung vergessen zu haben.

Bruce küßte sie sanft auf die Wange und kniete sich neben sie. »Fühlst du dich nicht wohl, Mutter?«

Sie wandte langsam den Kopf und flüsterte: »Heute ist Jom-Kippur, der Versöhnungstag.«

Bruce erschrak zutiefst.

Er sprach mit Neddie und seiner Schwester Mary darüber. Sie wurden sich darüber klar, daß ihre Mutter seit Vaters Tod zuviel allein gewesen war. Außerdem war Sutherland-Heights viel zu groß für sie. Sie sollte sich eine Wohnung in London nehmen, um Mary näher zu sein. Und außerdem wurde Deborah alt. Es fiel ihnen schwer, sich das klarzumachen, da ihnen die Mutter noch immer genauso schön erschien wie damals, als sie Kinder gewesen waren. Dann gingen Bruce und Neddie in den Nahen Osten. Mary schrieb glückliche Briefe, wie gut es ihrer Mutter gehe, und Deborahs Briefe berichteten von ihrem Glück, in London und in der Nähe von Marys Familie zu sein.

Doch als Bruce nach England zurückkam, sah die Sache ganz anders aus. Mary war völlig außer sich. Die Mutter war jetzt siebzig Jahre alt und wurde immer wunderlicher. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was gestern gewesen war, dagegen äußerte sie ungereimtes Zeug über Ereignisse, die fünfzig Jahre zurücklagen. Dabei bekam es Mary mit der Angst zu tun, weil Deborah ihren Kindern gegenüber nie von ihrer Vergangenheit gesprochen hatte. Was Mary aber am meisten beunruhigte, war, daß ihre Mutter häufig verschwunden war, ohne daß jemand wußte, wohin. Mary war sehr froh, daß Bruce wieder da war. Er war der Älteste, Mutters Liebling, und er war so zuverlässig. Bruce ging seiner Mutter eines Tages nach, als sie einen ihrer geheimnisvollen Spaziergänge machte. Ihr Ziel war eine Synagoge in Whitechapel.

Er überlegte alles sorgfältig und beschloß, seine Entdeckung für sich zu behalten. Sie war eine alte Frau; er hielt es nicht für richtig, sie an Dinge zu erinnern, die sich vor mehr als fünfzig Jahren ereignet hatten. Es schien ihm das Beste, stillschweigend darüber hinwegzugehen.

Im Alter von fünfundsiebzig Jahren lag Deborah Sutherland im Sterben. Bruce kam gerade noch rechtzeitig nach England zurück. Die alte Frau lächelte, als sie ihren Sohn an ihrem Bett sitzen sah. »Du bist jetzt Oberstleutnant — gut siehst du aus. Höre, Bruce — ich habe nicht mehr sehr viele Stunden zu leben —.«

»Still, Mutter! Du wirst sehr bald wieder gesund und auf sein.« »Nein, mein Sohn, ich muß dir etwas sagen. Ich wünschte mir so, deinen Vater zu heiraten. Ich wollte so gern — so sehr gern die Herrin von Sutherland-Heights werden. Bruce, ich habe etwas Entsetzliches getan. Ich habe die Meinen verleugnet. Ich verleugnete sie im Leben. Jetzt möchte ich mit ihnen zusammen sein. Versprich mir, daß ich dort begraben werde, wo meine Eltern liegen —.«

»Ich verspreche es dir, Mutter.«

»Mein Vater — dein Großvater, du hast ihn nie gekannt. Als ich — als ich klein war, nahm er mich oft auf den Schoß und sagte zu mir — wach auf, Deborah, wach auf, wach auf —.«

Das waren ihre letzten Worte.

Bruce Sutherland saß lange am Bett seiner toten Mutter, betäubt vor Schmerz. Doch allmählich begann die Betäubung von ihm zu weichen, und er spürte einen brennenden Zweifel, der sich nicht unterdrücken ließ. War er wirklich gebunden an ein Versprechen, das er einer Sterbenden gegeben hatte? Das er ihr hatte geben müssen? Würde er, wenn er es nicht erfüllte, gegen den Ehrenkodex verstoßen, nach dem er stets gelebt hatte? War es nicht wirklich so, daß Deborah Sutherlands Geist im Lauf der vergangenen Jahre Stück für Stück von ihr gegangen war? Sie war im Leben nie Jüdin gewesen, warum sollte sie im Tode eine sein. Deborah war eine Sutherland gewesen und sonst nichts.

Was würde es für einen entsetzlichen Skandal geben, wenn er gezwungen sein sollte, sie auf einem verfallenden jüdischen Friedhof in einem Londoner Armenviertel begraben zu lassen. Mutter war tot. Die Lebenden — Neddie, Albert und Martha, die Familie seiner Schwester Mary und sein Bruder Adam — würden dadurch zutiefst verletzt werden. Das Recht der Lebenden ging vor.

Als er seine Mutter zum Abschied küßte und ihr Zimmer verließ, hatte er seinen Entschluß gefaßt.

Deborah wurde in Sutherland-Heights in der Familiengruft beigesetzt.

Die Sirenen! Die Sirenen der Wagenkolonne mit den jüdischen Flüchtlingen! Ihr Geheul wurde lauter und lauter, bis es ihm in den Ohren dröhnte. Bergen-Belsen — Marina — Neddie — Menschen, auf Lastwagen zusammengepfercht — die Lager von Caraolos — überfüllte Baracken — Tote — ich verspreche es dir, Mutter — ich verspreche es dir —.

Ein Donnerschlag ließ das Haus bis in seine Grundfesten erzittern, Sturm erhob sich auf dem Meer, hohe Wogen brachen sich donnernd am Strand, kamen höher und höher, fast bis an das Haus heran. Sutherland schleuderte die Bettdecke fort und taumelte wie betrunken durch den Raum. Erstarrt blieb er am Fenster stehen, es blitzte und donnerte! Höher und höher stieg das tobende Meer!

»O Gott — Gott — Gott —!«

»Brigadier! Brigadier Sutherland. Wachen Sie auf, Sir! Wachen Sie auf!«

Der griechische Boy stand bei ihm und rüttelte ihn heftig.

Sutherland öffnete die Augen und blickte wild um sich. Er war schweißgebadet, und sein Herz schlug hämmernd. Er schnappte nach Luft. Der Boy brachte ihm rasch einen Brandy.

Sutherland sah hinaus auf das Meer. Die Nacht war still, das Wasser lag spiegelglatt und spülte sanft gegen den Strand.

»Es ist schon wieder gut«, sagte er. »Alles in Ordnung.«

»Bestimmt, Sir?«

»Ja.«

Die Tür schloß sich.

Bruce Sutherland sank auf einen Stuhl, barg das Gesicht in seinen Händen, weinte und flüsterte immerzu: »Mutter ... Mutter ...«

VIII.

Brigadier Bruce Sutherland schlief den quälenden Schlaf des Verdammten.

Mandria, der Zyprer, wälzte sich im Schlaf unruhig hin und her, doch seine Unruhe war frohe Erregtheit.

Mark Parker schlief den Schlaf eines Mannes, der eine Mission erfüllt hat.

Kitty Fremont schlief mit einem Seelenfrieden, wie sie ihn jahrelang nicht mehr gekannt hatte.

David ben Ami schlief erst, nachdem er Jordanas Brief so oft gelesen hatte, daß er ihn auswendig wußte.

Ari ben Kanaan schlief nicht. Für einen solchen Luxus war vielleicht später einmal Zeit, nicht jetzt. Er mußte so vieles wissen und hatte so wenig Zeit, es zu lernen. Die ganze Nacht hockte er über Karten, Dokumenten und Berichten, machte sich mit allen Einzelheiten vertraut, die mit Zypern zusammenhingen, mit den Maßnahmen der Engländer, und mit den Leuten seines Volkes, die hier in Zypern saßen. Er arbeitete sich durch Stöße von Material durch, unablässig rauchend oder Kaffee trinkend, und sein Geist war ruhig und zuversichtlich.

Die Engländer hatten häufig geäußert, daß die Juden von Palästina, was den geheimen Nachrichtendienst betraf, es mit jedem anderen Volk aufnehmen könnten. Die Juden hatten dabei den Vorteil, daß jeder Jude in jedem beliebigen Lande der Welt für einen Mossad-Agenten eine potentielle Informationsquelle darstellte und ihm Schutz gewährte.

Der Tag brach an. Ari weckte David, und nach einem raschen Frühstück fuhren sie in einer von Mandrias Taxen hinaus zu dem Internierungslager bei Caraolos.

Das Lager zog sich mit seinen einzelnen Unterabteilungen meilenweit am Rande der Bucht entlang, etwa auf halbem Wege zwischen Famagusta und den Ruinen von Salamis. Nur an den Stellen, an denen die Lagerabfälle zusammengetragen und nach draußen abgefahren wurden, konnten die Internierten und die Zyprer miteinander Kontakt aufnehmen. Die Engländer bewachten diese Stellen nicht besonders scharf, weil das Müllkommando aus sogenannten »Vertrauensleuten« bestand. Dadurch entwickelten sie sich zu Orten mit lebhaftem Handel, wo Lederwaren und andere im Lager hergestellte Dinge gegen Brot und Kleidungsstücke getauscht wurden. Hier, wo das morgendliche Feilschen zwischen Griechen und Juden schon in vollem Gange war, schleuste David Ari ins Lager; und sie betraten die erste Sektion.

Ari musterte die hohe Wand aus Stacheldraht, die sich Meile um Meile hinzog. Selbst jetzt im November war es heiß und stickig durch den Staub, der beständig durch die Luft wirbelte. Die einzelnen Sektionen des Lagers mit ihren Gruppen von Zelten erstreckten sich in langer Reihe durch das mit Akazien bestandene Gelände am Rande der Bucht. Jede Sektion war von drei bis dreieinhalb Meter hohen Stacheldrahtwänden eingefaßt. An den Ecken standen Wachtürme mit Scheinwerfern und Maschinengewehren. Ein abgemagerter Hund schloß sich ihnen auf ihrem Rundgang an. Auf seine Flanken war das Wort ,Bevin' gemalt — eine Verbeugung vor dem englischen Außenminister.

In jeder Sektion, zu der sie kamen, der gleiche Anblick: elende und verbitterte Menschen, auf engem Raum zusammengepfercht. Fast alle trugen primitiv genähte rote Hosen und Hemden, hergestellt aus dem Stoff, mit dem die Zelte innen abgefüttert waren. Ari betrachtete die Gesichter, aus denen das Mißtrauen sprach, der Haß und die Hoffnungslosigkeit.

Jedesmal, wenn sie eine neue Sektion betraten, stürzte ein junger Mann oder ein Mädchen von etwas über oder unter Zwanzig auf Ari zu. Es waren Palmach-Mitglieder, die von Palästina hierhergebracht und ins Lager geschleust worden waren, um unter den Internierten zu arbeiten. Sie fielen ihm um den Hals und wollten wissen, wie es zu Hause aussah. Doch Ari vertröstete sie jedesmal mit der Zusage, er werde in den nächsten Tagen für alle Mitglieder der Arbeitsgruppe ein Palmach-Treffen abhalten. Jeder Palmach-Offizier führte Ari durch die Sektion, für die er verantwortlich war, und gelegentlich stellte Ari dabei eine Frage.

Doch die meiste Zeit sagte er nichts. Schweigend musterte er Meile um Meile des Stacheldrahts, auf der Suche nach einer Möglichkeit, dreihundert Leute auf einmal herauszubekommen.

Von den einzelnen Sektionen waren viele mit Menschen eines bestimmten Herkunftslandes belegt. Es gab polnische, französische und tschechische Sektionen. Es gab orthodoxe Juden, und es gab andere, die durch eine gemeinsame politische Überzeugung zusammengehalten wurden. Bei den meisten aber handelte es sich einfach um Überlebende, denen nichts anderes gemeinsam war, als daß sie Juden waren, die nach Palästina wollten. Und alle waren einander ähnlich durch das gleiche Elend.

David führte Ari zu einer hölzernen Brücke, die oben über die Wände aus Stacheldraht hinüberführte und die beiden Hauptabteilungen des Lagers miteinander verband. An der Brücke war eine Tafel angebracht mit der Aufschrift: WILLKOMMEN IN BERGEN-BEVIN. »Das ist übrigens eine verdammt bittere Ironie, Ari, mit dieser Brücke. Genauso eine Brücke gab es in Polen, im Ghetto von Lodz.«

David geriet mehr und mehr in Wut. Er war empört über die menschenunwürdigen Zustände, die in diesem englischen Lager herrschten, über die vergleichsweise größere Freiheit der deutschen Kriegsgefangenen auf Zypern, über die ungenügende Verpflegung, die mangelnde ärztliche Betreuung und ganz allgemein das schwere an ihnen begangene Unrecht. Ari hörte kaum, was David in seiner Erregung äußerte. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich die örtlichen Gegebenheiten einzuprägen. Schließlich bat er David, ihm die unterirdischen Gänge zu zeigen.

David führte Ari zu einer Gruppe orthodoxer Juden, die unmittelbar am Rande der Bucht lag. Nahe am Stacheldraht stand eine Reihe von Latrinen. An der ersten war ein Schild angebracht mit der Inschrift: BEVINGRAD. David zeigte Ari, daß das fünfte und sechste Häuschen in der Reihe nur dem Schein nach Latrinen waren. Die Löcher unter den Sitzen bildeten den Eingang zu unterirdischen Gängen, die unter dem Stacheldraht hindurch zur Bucht führten. Ari schüttelte den Kopf. Ein paar Leute mochten durch diese Gänge entkommen können, aber für eine Massenflucht waren sie nicht geeignet.

Mehrere Stunden waren vergangen. Sie hatten fast das ganze Lager besichtigt. Ari hatte die letzten beiden Stunden kaum ein Wort gesprochen. Schließlich fragte David, der es vor Ungeduld nicht mehr aushielt: »Nun, was ist dein Eindruck?«

»Mein Eindruck?« sagte Ari. »Mir scheint, daß Bevin hier nicht besonders populär ist. Was gibt es hier sonst noch zu sehen?«

»Das Jugendlager habe ich für zuletzt aufgespart. Wir haben dort unser Palmach-Hauptquartier.«

Als sie diesen Teil des Lagers betraten, stürzte auch hier ein Palmach-Angehöriger auf Ari zu. Diesmal aber erwiderte er die Umarmung herzlich, denn dieser junge Mann, Joab Yarkoni, war ein guter alter Freund. Er wirbelte Yarkoni im Kreis herum, stellte ihn auf die Füße und drückte ihn wieder an sich. Joab Yarkoni war ein dunkelhäutiger marokkanischer Jude, der als kleiner Junge nach Palästina emigriert war. Seine schwarzen Augen funkelten, und ein mächtiger Schnurrbart schien die Hälfte seines Gesichts einzunehmen. Joab und Ari hatten schon viele Abenteuer gemeinsam bestanden, denn obwohl Joab erst Anfang Zwanzig war, so war er doch einer der fähigsten Agenten von Mossad Aliyah Bet und verfügte über eine genaue Kenntnis der arabischen Länder. Von Anfang an war Yarkoni einer der gerissensten und wagemutigsten Mossad-Leute gewesen. Seine größte Leistung war ein Bravourstück gewesen, das es den Juden in Palästina ermöglicht hatte, mit dem Anbau von Dattelpalmen zu beginnen. Die Araber bewachten ihre Dattelpalmen eifersüchtig, doch Yarkoni hatte es fertiggebracht, hundert Schößlinge vom Irak nach Palästina hereinzuschmuggeln. David ben Ami hatte Joab Yarkoni das Kommando in diesem Teil des Lagers übertragen, weil die Jugendsektion der wichtigste Teil des gesamten Lagers von Caraolos war.

Joab führte Ari durch die Sektion, in der sich lauter Waisenkinder befanden, von den kleinsten bis zum Alter von siebzehn Jahren. Die meisten dieser Waisenkinder hatten den Krieg in Konzentrationslagern verbracht, und viele von ihnen hatten das Leben außerhalb des Stacheldrahts niemals kennengelernt. Im Gegensatz zu den anderen Sektionen standen hier mehrere feste Gebäude. Es gab eine Schule, einen großen Eßraum, ein Lazarett, mehrere kleinere Gebäude und einen großen Spielplatz. Verglichen mit der Lethargie in den übrigen Teilen des Lagers, herrschte hier lebhafte Aktivität. Krankenschwestern, Ärzte, Lehrer und Fürsorgepfleger arbeiteten hier, die nicht zum Lager gehörten, sondern aus den Spenden amerikanischer Juden bezahlt wurden. Infolge dieses beständigen Kommens und Gehens von Außenseitern war die Jugendsektion der Teil des Lagers, der am lässigsten bewacht war. David und Joab hatten sich diesen Umstand sofort zunutze gemacht und hier das Palmach-Hauptquartier eingerichtet. Nachts verwandelte sich der Spielplatz in ein militärisches Ausbildungslager für die Internierten. Die Klassenzimmer dienten für Schulungskurse in arabischer Psychologie, palästinischer Geographie, Taktik, Waffenkunde und hundert anderen Zweigen der Kriegführung.

Jeder Internierte, der vom Palmach militärisch ausgebildet wurde, mußte sich vor einem Scheintribunal verantworten. Dabei ging man von der Annahme aus, daß der Betreffende nach Palästina gelangt und dort von den Engländern geschnappt worden sei. Der Palmach-Ausbilder nahm ihn in ein Verhör, um den Nachweis zu erbringen, daß der Flüchtling illegal eingewandert war. Der »Kandidat« mußte zahllose Fragen über die Geographie und die Geschichte von Palästina beantworten, um zu »beweisen«, daß er bereits seit vielen Jahren dort gelebt hatte.

Wenn ein »Kandidat« den Kursus erfolgreich beendet hatte, organisierte der Palmach seine Flucht, meist von der Jugendsektion oder durch die unterirdischen Gänge zu dem weißen Haus auf dem Hügel von Salamis, von dem aus er nach Palästina geschmuggelt wurde. Auf diese Weise waren, in kleinen Gruppen von jeweils zwei oder drei Leuten, bereits mehrere hundert Flüchtlinge nach Palästina gebracht worden.

Bei der britischen CID wußte man sehr wohl, daß in der JugendSektion dunkle Dinge vor sich gingen. Von Zeit zu Zeit versuchte man, Spitzel im Lager anzusetzen, getarnt als Lehrer oder Pfleger, doch Ghetto und Konzentrationslager hatten eine Generation von Kindern hervorgebracht, die schweigen gelernt hatten, und die Eindringlinge waren jedesmal innerhalb von ein oder zwei Tagen entdeckt worden.

Ari beendete seine Inspektion in dem Schulgebäude. Eins der Klassenzimmer war kein Schulraum, sondern das Palmach-Hauptquartier. Im Pult des Lehrers war ein Funkgerät verborgen, das die Nachrichtenverbindung mit Palästina aufrechterhielt. Unter den Bodenbrettern waren Waffen für die militärischen Ausbildungskurse versteckt. Und in diesem Raum wurden auch Ausweise und Pässe gefälscht.

Ari sah sich die Ausrüstung der Fälscherwerkstatt an und schüttelte den Kopf. »Das ist eine völlig unbrauchbare Pfuscherei«, sagte er. »Joab, ich bin sehr unzufrieden mit dir.«

Yarkoni zuckte nur die Schultern.

»In den nächsten Wochen werden wir einen Fachmann brauchen«, sagte Ari. »Du hast mir doch gesagt, David, es gäbe einen hier in dieser Sektion.«

»Stimmt. Es ist ein Junge aus Polen, Dov Landau, doch der will nicht.« »Wir haben wochenlang vergeblich versucht, ihn dazu zu bewegen«, sagte Joab.

»Ich möchte gern mit ihm reden.«

Ari bat die beiden, draußen zu warten, und betrat das Zelt von Dov Landau. Er sah sich einem blonden Jungen gegenüber, zu klein für sein Alter, der den unerwarteten Eindringling mißtrauisch musterte. Ari kannte den Blick, diese Augen, in denen der Haß stand. Er sah die nach unten gezogenen Mundwinkel und die verächtlich aufgeworfenen Lippen des Jungen, einen Ausdruck von Bösartigkeit, den so viele der Menschen zeigten, die im Konzentrationslager gewesen waren.

»Du heißt Dov Landau«, sagte Ari und sah dem Jungen fest in die Augen. »Du bist siebzehn Jahre alt und stammst aus Polen. Du bist im Konzentrationslager gewesen, und du bist ein Fachmann auf dem Gebiet der Fälschung. Ich heiße Ari ben Kanaan, komme aus Palästina und bin Mitglied von Mossad Aliyah Bet.«

Der Junge spuckte verächtlich aus.

»Hör zu, Dov — ich habe weder die Absicht, dich um etwas zu bitten, noch habe ich die Absicht, dir zu drohen. Ich möchte dir vielmehr einen ganz klaren geschäftlichen Vorschlag machen. Nennen wir es einmal einen gegenseitigen Beistandspakt.«

»Ich will Ihnen mal was sagen, Ben Kanaan«, sagte Dov Landau höhnisch. »Ihr Burschen seid auch nicht besser als die Deutschen oder die Engländer. Ihr wollt uns ja nur mit Gewalt nach Palästina haben, weil ihr Angst vor den Arabern habt. Klar, ich will nach Palästina, aber wenn ich dort bin, dann gehe ich zu einem Verein, bei dem ich Leute umlegen kann!«

Ari verzog keine Miene bei den giftigen Worten, die ihm der Junge entgegenschleuderte. »Großartig. Wir sind uns völlig einig. Dir gefallen die Gründe nicht, aus denen ich wünsche, daß du nach Palästina kommst, und mir gefallen die Gründe nicht, aus denen du dir wünschst, dorthin zu kommen. In einem Punkt aber stimmen wir überein: Du gehörst nach Palästina und nicht hierher.«

Der Junge kniff die Augen mißtrauisch zusammen. Dieser Ben Kanaan war nicht wie die anderen.

»Gehen wir einen Schritt weiter«, sagte Ari. »Dadurch, daß du hier auf deinem Hintern sitzt und nichts tust, wirst du nicht nach Palästina kommen. Ich schlage also vor, du hilfst mir, und ich helfe dir. Was du machst, wenn du erst einmal dort bist, das ist deine Sache.«

Dov Landau blinzelte überrascht.

»Es handelt sich um Folgendes«, sagte Ari. »Ich brauche gefälschte Ausweise. Und zwar brauche ich Haufen von gefälschten Ausweisen innerhalb der nächsten Wochen, und diese Burschen hier sind nicht einmal imstande, ihre eigene Unterschrift zu falschen. Ich möchte, daß du für mich arbeitest.«

Der Junge war durch das rasche und direkte Vorgehen von Ari völlig überrumpelt. Er versuchte Zeit zu gewinnen, um zu prüfen, ob da irgendwo eine Falle war. »Ich werd's mir überlegen«, sagte er. »Sicher, überleg's dir. Du hast dreißig Sekunden Zeit.«

»Und wenn ich nun ablehne? Werden Sie dann versuchen, mich durch Prügel soweit zu kriegen?«

»Ich habe dir doch schon gesagt, Dov, wir brauchen einander. Ich möchte dir das mit aller Deutlichkeit erklären. Wenn du dich jetzt nicht an die Arbeit machst, dann werde ich persönlich dafür sorgen, daß du der letzte bist, der das Lager hier verläßt. Da du dann fünfunddreißigtausend Leute vor dir hast, wirst du, wenn du schließlich nach Palästina kommst, viel zu alt und schwach sein, um noch eine Bombe werfen zu können. Übrigens, deine dreißig Sekunden sind um.«

»Und woher weiß ich, daß ich Ihnen trauen kann?«

»Weil ich es gesagt habe.«

Über das Gesicht des Jungen glitt ein Lächeln, und er nickte, zum Zeichen, daß er sich an die Arbeit machen wollte.

»In Ordnung. Was du zu tun hast, werden dir entweder David ben Ami oder Joab Yarkoni sagen. Und ich möchte nicht, daß du irgendwelche Scherereien machst. Falls du besondere Fragen hast, dann wende dich an mich. Ich möchte, daß du in einer halben Stunde zum Palmach-Hauptquartier kommst, um dir anzusehen, was sie dort haben, und um David Bescheid zu sagen, was du noch brauchst.«

Ari drehte sich um und ging zum Zelt hinaus nach draußen, wo David und Joab standen und warteten. »Er wird in einer halben Stunde erscheinen, um sich an die Arbeit zu machen«, sagte er. David schnappte nach Luft, und Joab blieb vor Staunen der Mund offen. »Wie hast du das fertiggebracht?«

»Jugendpsychologie«, sagte Ari. »Ich fahre jetzt zurück nach Famagusta, und ich möchte euch beide heute abend dort im Haus von Mandria sehen. Bringt auch Seew Gilboa mit. Ihr braucht mich nicht zu begleiten. Ich weiß den Weg.«

David und Joab starrten fasziniert ihrem Freund nach, diesem bemerkenswerten Ari ben Kanaan, der sich über den Spielplatz entfernte, in Richtung der Müllabladestelle.

Am Abend wartete Mandria, der Zyprer, zusammen mit David, Joab und Seew Gilboa, Stunde um Stunde in seinem Wohnzimmer auf Ari ben Kanaan.

Gilboa, gleichfalls Palmach-Angehöriger, war ein breitschultriger Bauer aus Galiläa. Wie Yarkoni hatte auch er einen prächtigen Schnurrbart und war Anfang Zwanzig. Von allen Palmach-Agenten, die im Lager von Caraolos arbeiteten, war Seew Gilboa der beste Soldat. David hatte ihm die Leitung der militärischen Ausbildung übertragen. Mit Schwung und mit improvisierten Waffen hatte er seinen Leuten nachts auf dem Kinderspielplatz annähernd alles beigebracht, was sich ohne richtige Waffen beibringen ließ. Besenstiele waren Gewehre, Steine waren Handgranaten, Sprungfedern waren Bajonette. Er richtete Kurse ein für Nahkampf und Stockfechten. Vor allem aber impfte er den mutlosen Internierten einen ungeheuren Kampfgeist ein.

Es wurde immer später. Mandria fing an, nervös im Zimmer hin und her zu laufen. »Ich weiß nur«, sagte er, »daß ich ihm für heute nachmittag ein Taxi und einen Fahrer besorgt habe.«

»Beruhigen Sie sich, Herr Mandria«, sagte David. »Es ist durchaus möglich, daß Ari erst in drei Tagen wiederkommt. Er hat eine seltsame Arbeitsweise, aber wir kennen das schon bei ihm.« Mitternacht ging vorüber, und die vier Männer fingen an, es sich in den Sesseln bequem zu machen. Nach einer halben Stunde begannen sie, schläfrig zu werden, und eine Stunde später schliefen alle fest.

Es war gegen fünf Uhr morgens, als Ari ben Kanaan den Raum betrat. Seine Augen waren schwer, weil er die ganze Nacht auf der Insel herumgefahren war, ohne sich auch nur eine Stunde Schlaf zu gönnen. Seit seiner Ankunft in Zypern hatte er nur selten und viel zu wenig geschlafen. Ari und Seew Gilboa umarmten sich in der beim Palmach üblichen Weise, und danach kam Ari sofort zur Sache, ohne sich mit einer Entschuldigung oder Erklärung für seine achtstündige Verspätung aufzuhalten.

»Herr Mandria — haben Sie schon das Schiff für uns?«

Mandria war sprachlos. Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Herr Ben Kanaan! Vor weniger als dreißig Stunden sind Sie hier in Zypern angekommen und haben mich gebeten, Ihnen ein Schiff zu beschaffen. Ich bin kein Schiffbauer! Meine Firma, die Zyprisch-Mittelmeerische Schiffahrtsgesellschaft, unterhält Zweigbüros in Famagusta, Larnaca, Kyrenia, Limassol und Paphos. Weitere Häfen gibt es in Zypern nicht. Alle meine Büros haben Auftrag, sich nach einem Schiff für Sie umzusehen. Wenn es auf Zypern überhaupt so etwas wie ein Schiff gibt, dann werden Sie es erfahren, Herr Ben Kanaan.«

Ari achtete nicht auf Mandrias Sarkasmus und wandte sich an die andern.

»Seew, ich nehme an, David hat dich schon darüber informiert, was wir vorhaben.«

Der Mann aus Galiläa nickte.

»Von jetzt an arbeitet ihr drei für mich. Sucht euch jemanden, der eure Posten im Lager übernimmt. Joab, wie viele gesunde Jugendliche im Alter zwischen zehn und siebzehn Jahren gibt es in deiner Sektion?«

»Oh — ich würde sagen, ungefähr sechs- bis siebenhundert.«

»Seew — suche dreihundert der kräftigsten aus. Gib ihnen die beste sportliche Ausbildung!«

Seew nickte.

»In einer halben Stunde wird es hell sein«, sagte Ari und stand auf. »Ich werde ein Taxi brauchen, um wieder loszufahren, Herr Mandria — der Mann, der mich gestern gefahren hat, ist vermutlich etwas müde geworden.«

»Ich werde Sie selbst fahren«, sagte Mandria.

»Großartig. Sobald es hell wird, fahren wir los. Und jetzt entschuldigt mich bitte, ich muß mir oben in meinem Zimmer noch etwas ansehen.«

Er ging so plötzlich hinaus, wie er hereingekommen war. Die anderen begannen alle auf einmal zu reden.

»Dann sollen also die dreihundert, die ausbrechen, Kinder sein«, sagte Seew.

»So scheint es in der Tat«, sagte Mandria. »Wirklich ein seltsamer Mann. Er hofft auf ein Wunder — und er sagt nicht, was er vorhat.« »Im Gegenteil«, sagte David, »er glaubt nicht an Wunder. Deshalb arbeitet er so intensiv. Ich habe den Eindruck, hier steckt mehr dahinter, als Ari uns wissen läßt. Es kommt mir vor, als ob diese Flucht von dreihundert Kindern nur ein Teil von dem ist, was er plant.«

Joab Yarkoni lächelte. »Wir alle kennen Ari ben Kanaan lange genug, um von vornherein darauf zu verzichten, seine Pläne erraten zu wollen. Wir kennen ihn auch lange genug, um zu wissen, daß er seine Sache versteht. Wenn es soweit ist, werden wir schon erfahren, was Ari vorhat.«

Am nächsten Tag fuhr Ari mit Mandria kreuz und quer durch Zypern, anscheinend wahllos und ziellos. Sie fuhren die östliche Bucht entlang, vorbei an Salamis und Famagusta, bis an die Spitze von Kap Greco. In Famagusta stieg Ari aus, ging an der alten Stadtmauer entlang und studierte das Hafengelände. Mit Mandria sprach er mit Ausnahme gelegentlicher kurzer Fragen den ganzen Tag über kaum ein Wort. Dem Zyprer kam es so vor, als sei dieser Riese aus Palästina das kälteste menschliche Wesen, das er je kennengelernt hatte. Er verspürte eine gewisse Feindseligkeit, konnte dabei aber nicht umhin, Ari seiner völligen Konzentration und anscheinend übermenschlichen Ausdauer wegen zu bewundern. Dieser Mann, mußte Mandria denken, schien sich mit ungeheurer Leidenschaft für seine Sache einzusetzen — was eigentlich erstaunlich war, weil Ben Kanaan äußerlich keinerlei Spuren menschlicher Gefühlsbewegung erkennen ließ.

Von Kap Greco aus fuhren sie die südliche Bucht entlang und dann hinein in das hohe, felsig zerklüftete Gebirge, wo sich die Sporthotels für die Wintersaison rüsteten. Sollte Ben Kanaan dabei irgend etwas entdeckt haben, das für ihn von Interesse war, so gab er jedenfalls nichts davon zu erkennen. Mandria war ziemlich erschöpft, als sie nach Mitternacht wieder in Famagusta eintrafen. Doch es fand sofort eine neue Konferenz mit Seew, David und Joab statt. Danach begann Ari erneut, bis zum Morgen Karten und Berichte zu studieren.

Am Morgen des vierten Tages nach Ari ben Kanaans Ankunft auf Zypern erhielt Mandria einen Anruf seines Büros in Larnaca, mit der Mitteilung, daß soeben ein Schiff aus der Türkei eingelaufen sei, das seinen Anforderungen entspräche und käuflich zu erwerben sei. Mandria fuhr Ari nach Caraolos, wo sie David und Joab abholten, und zu viert fuhren sie los nach Larnaca.

Seew Gilboa kam nicht mit, weil er bereits damit beschäftigt war, die dreihundert Jugendlichen auszuwählen und spezielle Trainingskurse für sie einzurichten.

Mandria war stolz und sehr mit sich zufrieden, während sie die Straße von Famagusta nach Larnaca entlangfuhren. Auf halbem Wege wurde Ari plötzlich auf etwas aufmerksam, das auf einem großen Feld links von der Straße vor sich ging. Er bat Mandria, anzuhalten, und stieg aus, um nachzusehen. Es wurde dort fieberhaft gebaut. Allem Anschein nach handelte es sich um Baracken.

»Die Engländer bauen ein neues Internierungslager«, sagte David. »Caraolos wird allmählich zu klein.«

»Warum habe ich davon nichts erfahren?« fragte Ari heftig.

»Du hast nicht danach gefragt«, antwortete Joab Yarkoni.

»Soweit wir es abschätzen können«, sagte David, »wird man in zwei bis drei Wochen damit anfangen, alle, die in Caraolos zu viel sind, in das neue Lager zu überführen.«

Ari stieg wieder ein, und sie fuhren weiter. Joab Yarkoni, der nichts von dem Versuch hielt, die Pläne seines Freundes erraten zu wollen, stellte dennoch fest, daß ihn dieses neue Lager außerordentlich beschäftigte. Es war geradezu zu spüren, wie es in Aris Kopf arbeitete.

Sie kamen nach Larnaca und fuhren durch schmale, gewundene Gassen hinunter zum Hafen, an dem saubere zweistöckige weiße Häuser längs der Straße standen. Sie hielten vor der Taverne »Zu den vier Laternen«, wo sie der türkische Schiffseigner, ein Mann namens Armatau, erwartete. Ari bestand darauf, sofort das Schiff zu besichtigen — ohne erst bei einem Glas um den Preis zu feilschen, was hier doch ein so wesentlicher Teil jeder normalen geschäftlichen Transaktion war.

Armatau führte sie über die Straße hinüber zu der langen Pier, die sich mehr als eine halbe Meile weit ins Meer hinaus erstreckte. Während sie an einem Dutzend Schleppfischern, Barkassen und Segelbooten entlanggingen, sprach Armatau unablässig auf sie ein. Er versicherte ihnen, daß das Schiff, welches sie sogleich in Augenschein nehmen sollten, in der Tat eine Königin des Meeres sei. Ziemlich am Ende der Pier blieben sie bei einem uralten SeelenVerkäufer stehen, an dessen hölzernem Bug fast verblichen der Name Aphrodite zu lesen war.

»Ist sie nicht eine Schönheit?« sagte Armatau, glühend vor Begeisterung. Dann schwieg er gespannt, während vier Augenpaare den alten Kahn kühl und kritisch von vorn bis achtern musterten.

»Sie ist natürlich kein Schnellboot«, sagte der Türke.

Aris Schätzung nach war die Aphrodite 45 Meter lang und verdrängte rund zweihundert Tonnen. Der ganzen Bauweise und dem Aussehen nach mußte sie ungefähr fünfundvierzig Jahre alt sein.

»Sag mal, wer war eigentlich Aphrodite?« fragte Joab Yarkoni, mit den Augen zwinkernd.

»Aphrodite war die Göttin der Liebe. Sie wurde von der Brandung an den Strand gespült, nur ein paar Meilen von hier entfernt — vor etwa fünftausend Jahren«, antwortete David.

»Ja, das alte Mädchen hat bestimmt eine Menge durchgemacht«, sagte Joab.

Der Türke schluckte die Sticheleien hinunter und versuchte zu lächeln. Ben Kanaan drehte sich zu ihm herum und sah ihn an. »Hören Sie, Armatau, mich interessiert nur das eine. Bis Palästina sind es zweihundert Meilen. Sie muß die Reise schaffen. Kann sie das, ja oder nein?«

Armatau warf beide Arme in die Luft. »Bei der Ehre meiner Mutter«, sagte er, »ich habe dreihundert Reisen zwischen Zypern und der Türkei mit ihr gemacht. Das wird Herr Mandria hier Ihnen bestätigen können. Er weiß es.«

»Ja, das stimmt«, sagte Mandria. »Sie ist alt, aber zuverlässig.« »Herr Armatau, gehen Sie mit meinen beiden Freunden an Bord und zeigen Sie ihnen die Maschinen.«

Als die drei Männer unter Deck verschwunden waren, sagte Mandria zu Ari: »Armatau ist zwar Türke, aber man kann seinen Worten Glauben schenken.«

»Was für eine Geschwindigkeit kann man aus diesem Ding wohl herausholen?« fragte Ari.

»Schätzungsweise fünf Knoten — bei achterlichem Wind. Die Aphrodite hat es nicht so eilig.«

Sie gingen an Bord und inspizierten das Deck und die Aufbauten. Die Aphrodite war halb verrottet und längst über die Zeit hinaus, wo es sich bezahlt gemacht hätte, sie auszubessern. Trotz ihres offensichtlich schlechten Zustandes war sie von einer soliden Festigkeit. Man hatte das Gefühl, daß sie mit den Tücken des Meeres vertraut war und schon manche Schlacht gegen Wind und Wellen gewonnen hatte.

Nach einer halben Stunde waren David und Joab mit ihrer Besichtigung fertig.

»Dieses Schiff ist eine absolute Mißgeburt«, sagte David, »aber ich bin fest davon überzeugt, daß sie es schafft.«

»Bekommen wir dreihundert Leute an Bord?« fragte Ari.

David rieb sich das Kinn. »Na ja — vielleicht mit einem Schuhanzieher.«

»Wir werden allerhand ausbessern und reparieren müssen«, sagte Ari zu Mandria. »Wir müssen natürlich vermeiden, irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen.«

Mandria lächelte. Jetzt war er in seinem Element. »Ich verfüge da, wie Sie sich denken können, über sehr gute Beziehungen. Es handelt sich nur darum, die richtigen Leute zu schmieren, und Sie können versichert sein, daß man nichts sieht, nichts hört, und keine Behörde etwas erfährt.«

»Sehr gut. David, gib heute abend einen Funkspruch nach Palästina durch. Sag den Leuten, daß wir einen Kapitän und zwei Mann Besatzung brauchen.«

»Wird eine dreiköpfige Besatzung ausreichen?«

»Na schön, warum soll ich es euch nicht sagen — ihr beiden und Seew werdet mit mir auf diesem Schlammkahn nach Palästina zurückkehren. Wir werden die Crew vervollständigen. Joab! Du hast ja schon immer etwas für reifere Frauen übrig gehabt, also, jetzt hast du eine. Du hast den Auftrag, diesen Kasten einigermaßen in Ordnung zu bringen.«

Zum Schluß wandte er sich an Armatau, der noch immer hingerissen war von dem Tempo, mit dem Ari seine Fragen stellte und Anweisungen erteilte. »Also, Armatau, Sie können beruhigt sein, Sie haben uns das Monstrum verkauft — aber nicht zu dem Preis, den Sie sich gedacht haben. Gehen wir in die ,Vier Laternen', um den Handel abzuwickeln.«

Ari sprang vom Deck herunter auf die Pier und gab Mandria die Hand. »David und Joab — ihr müßt allein zusehen, wie ihr nach Famagusta zurückkommt. Herr Mandria wird mich, wenn wir unser Geschäft mit Armatau abgewickelt haben, nach Kyrenia fahren.« »Nach Kyrenia?« sagte Mandria verwirrt. »Wird denn dieser Mann niemals müde? Kyrenia ist auf der ganz anderen Seite der Insel«, sagte er protestierend.

»Ist Ihr Wagen nicht in Ordnung?« fragte Ari.

»Doch, doch«, sagte Mandria, »ich werde Sie nach Kyrenia fahren.« Ari begann, mit Mandria und dem Türken die Pier entlang zurückzugehen.

»Ari«, rief David hinter ihm her. »Wie sollen wir die alte Dame nennen?«

»Der Dichter bist du«, rief Ari zurück. »Gib du ihr einen Namen.« Joab und David sahen den drei Männern nach, bis sie am Ende der Pier verschwunden waren. Dann fingen sie von einem Ohr bis zum andern zu grinsen an und sich gegenseitig zu umarmen.

»Dieser Kerl, der Ari! Eine feine Art, uns mitzuteilen, daß es nach Hause geht.« »Du kennst doch Ari«, sagte David. »Um Gottes willen nur keine Gefühle zeigen!«

Sie atmeten tief und glücklich, und einen Augenblick lang dachten beide an Palästina. Dann betrachteten sie die Aphrodite. Sie war wirklich ein trauriges, altes Mädchen. Sie gingen auf dem Deck umher und musterten das alte Wrack.

»Mir fällt ein guter Name ein«, sagte Joab. »Wollen wir sie nicht Bevin nennen?«

»Ich weiß einen besseren Namen«, sagte David ben Ami. »Von heute an heißt dieses Schiff Exodus.«

IX.

Mark steuerte den Mietwagen von der Straße herunter und parkte. Er war mit Kitty hoch hinauf in das Gebirge gefahren, das sich unmittelbar hinter Kyrenia erhob. Vor ihnen zog sich ein riesiges, zerklüftetes Felsmassiv mehr als hundert Meter hoch nach oben. Auf seinem Gipfel standen die Ruinen von St. Hilarion. Ein Märchenschloß, das noch verfallen an Macht und Glanz des Gotenreichs gemahnte.

Mark nahm Kitty an der Hand und führte sie den Hang hinauf. Sie kletterten die Zinnen empor, bis sie auf der unteren Mauer standen und in den Schloßhof sahen.

Mühsam bahnten sie sich einen Weg durch die Trümmer und wanderten durch königliche Gemächer und riesige Hallen, durch die Ställe, das Kloster und die Bollwerke. Es war totenstill, doch die Räume schienen zu atmen, belebt von Geistern der Vergangenheit, die raunend Geschichten von einer längst vergangenen Zeit erzählten, da Menschen hier geliebt und gehaßt und gekämpft hatten. Dann stiegen Mark und Kitty fast eine Stunde lang hinauf zur höchsten Spitze des Berges. Schließlich standen sie oben, heiß und außer Atem, hingerissen von dem Anblick, der sich ihnen bot. Vor ihnen fiel der Fels als steiles Kliff fast neunhundert Meter hinunter nach Kyrenia. Am Horizont lag als schmaler Strich die türkische Küste, und rechts und links an den Rändern steiler Schrunde hingen üppige grüne Wälder, terrassenförmig angelegte Weingärten und Häuser. Von weiter unten schimmerten Olivenhaine silbern herauf, durch ihre Blätter strich ein Windhauch. Mark sah Kitty an, die sich als Silhouette gegen den Himmel abhob, während eine Wolke hinter ihr vorbeizog. Wie schön sie ist, dachte Mark, wie wunderschön. Kitty Fremont war anders als alle Frauen, die er kannte. Sie war etwas Einmaliges für ihn.

Er begehrte sie nicht, wollte sie nicht begehren. Es gab für Mark Parker nicht viel auf dieser Welt, wovor er Achtung hatte. Es war ihm ein Bedürfnis, Kitty Achtung entgegenzubringen. Außerdem war sie die einzige Frau, in deren Gesellschaft er sich absolut wohl fühlte; denn bei ihr konnte er sich geben, wie er war, hatte er es nicht nötig, Eindruck zu machen, brauchte er das alte Spiel nicht zu spielen.

Sie setzten sich auf einen großen Felsblock und betrachteten staunend die Fülle von Schönheit, die sie umgab. Das Schloß, das Meer, der Himmel, die Berge.

»Ich glaube«, sagte Mark schließlich, »das hier ist die schönste Aussicht, die es auf der ganzen Welt gibt.«

Sie nickte.

Es waren wunderbare Tage für sie beide gewesen. Kitty schien seit der Ankunft von Mark ein ganz neuer Mensch geworden zu sein. Sie hatte die wunderbar heilende Wirkung einer Beichte an sich erfahren.

»Ich muß gerade an etwas Schreckliches denken«, sagte Kitty. »Ich denke daran, wie froh ich bin, daß man diesen Colonel Howard Hillings nach Palästina geschickt hat, und daß ich dich ganz für mich allein habe. Wie lange kannst du bleiben?«

»Ein paar Wochen, solange du mich dahaben willst.«

»Ich möchte, daß wir uns nie wieder so weit voneinander entfernen.«

»Bist du dir eigentlich klar darüber«, sagte er, »daß im Dom-Hotel alle Welt davon überzeugt ist, wir hätten eine Affäre?«

»Wunderbar!« sagte Kitty. »Ich werde heute abend ein Schild an meine Tür hängen, auf dem mit großen roten Buchstaben steht: Ich liebe Mark Parker wahnsinnig.«

Sie blieben eine weitere Stunde sitzen und begannen dann lustlos hinabzusteigen, um vor Einbruch der Dunkelheit in der Stadt zu sein. Kurze Zeit, nachdem Mark und Kitty zum Hotel zurückgekehrt waren, langte Mandria in Kyrenia an, fuhr zum Hafen und parkte am Kai. Ari stieg aus und sah hinüber zu dem Turm des Kastells, das auf der anderen Seite des Hafens am Rande des Meeres stand. Er ging zusammen mit Mandria hinüber, und beide stiegen die Treppe im Innern des Turms hinauf. Oben vom Turm hatte man einen sehr guten Überblick, und Ari musterte die Gegend aufmerksam und schweigsam wie immer.

Den Abschluß des Hafens gegen die See bildeten die beiden Arme der Mole, von denen der eine von dem Turm des Kastells aus, auf dem sie standen, und der andere gegenüber von dem Kai mit seinen Häusern in annähernd kreisförmigen Bogen hinausgingen, bis sie sich fast berührten. Nur eine schmale Öffnung blieb frei, die Hafeneinfahrt. Das Hafenbecken war nicht groß, nur einige hundert Meter im Durchmesser, und es war voll von kleinen Fahrzeugen.

»Glauben Sie, daß man die Aphrodite hier in den Hafen hereinbekommen kann?« fragte Ari.

»Sie hereinzubekommen ist kein Problem«, sagte Mandria. »Aber mit ihr zu wenden und wieder hinauszufahren, das wird schwierig.« Ari schwieg nachdenklich, während sie zum Wagen zurückgingen. Sein Blick war auf den kleinen Hafen gerichtet. Es begann bereits dunkel zu werden, als sie bei dem Wagen anlangten.

»Sie fahren wohl am besten allein nach Famagusta zurück. Ich habe im Dom-Hotel noch etwas mit jemandem zu besprechen«, sagte Ari, »und ich weiß nicht, wie lange das dauern wird. Ich werde schon irgendwie nach Famagusta kommen.«

Bei jedem anderen hätte Mandria es übelgenommen, wie ein TaxiChauffeur weggeschickt zu werden, doch bei Ben Kanaan gewöhnte er sich allmählich daran, Befehle entgegenzunehmen. Er drehte den Zündschlüssel herum und startete.

»Mandria — Sie waren mir eine große Hilfe. Vielen Dank.«

Mandria strahlte, während Ari sich entfernte. Das waren die ersten freundlichen Worte, die er von Ben Kanaan gehört hatte. Er war überrascht und gerührt.

Im großen Saal des Dom-Hotels mengten sich die Klänge eines Strauß-Walzers mit dem Gewirr englischer Sätze, dem Klirren der Gläser und dem leisen Rauschen des Meeres, das von draußen hereindrang. Mark trank seinen Kaffee aus, wischte sich den Mund mit der Serviette ab und starrte dann über Kittys Schulter zum Eingang hin, wo soeben ein hochgewachsener Mann erschienen war. Der Mann beugte sich zu dem Ober und flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der Ober zeigte auf den Tisch, an dem Mark saß. Mark machte große Augen, als er Ari ben Kanaan erkannte. »Du machst ein Gesicht, als hättest du einen Geist gesehen«, sagte Kitty.

»Das habe ich auch, und er wird gleich hier sein. Wir haben einen sehr interessanten Abend vor uns.«

Kitty wandte sich um und sah Ari ben Kanaan, der wie ein Riese ihren Tisch überragte. »Freut mich, daß Sie mich noch kennen, Parker«, sagte er, nahm unaufgefordert Platz und wandte sich an Kitty. »Und Sie sind offenbar Mrs. Katherine Fremont.«

Aris und Kittys Blicke trafen sich, und beide sahen sich an. Es entstand ein unbehagliches Schweigen, bis sich Ari schließlich nach einem Kellner umsah und ihn heranrief. Er bestellte Sandwiches. »Darf ich vorstellen, Kitty«, sagte Mark. »Das ist Ari ben Kanaan, ein sehr alter Bekannter von mir. Mrs. Fremont ist Ihnen ja offenbar bekannt.«

»Ari ben Kanaan«, sagte Kitty. »Was für ein sonderbarer Name.« »Es ist ein hebräischer Name, Mrs. Fremont, und bedeutet: Löwe, Sohn Kanaans.«

»Das ist geradezu verwirrend.«

»Ganz im Gegenteil, das Hebräische ist eine sehr logische Sprache.« »Ach, wirklich? Den Eindruck hatte ich nicht«, sagte Kitty mit einem leicht sarkastischen Unterton.

Mark beobachtete die beiden. Sie waren sich kaum begegnet, und schon war zwischen ihnen das Wortgeplänkel im Gang, das Spiel, das er selbst so oft gespielt hatte. Offenbar hatte Ben Kanaan bei Kitty irgendeine angenehme oder unangenehme Schwingung ausgelöst, dachte Mark, denn sie zeigte die Krallen.

»Eigentlich sonderbar«, sagte Ari, »daß das Hebräische auf Sie nicht den Eindruck des Logischen macht. Immerhin fand Gott das Hebräische so logisch, daß er die Bibel in dieser Sprache schreiben ließ.«

Kitty lächelte und nickte. Die Kapelle ging über zu einem Foxtrott. »Tanzen Sie, Mrs. Fremont?«

Mark lehnte sich zurück und sah zu, wie Ben Kanaan Kitty auf die Tanzfläche führte, den Arm um sie legte und sie mit geschmeidiger Eleganz über das Parkett bewegte. Es war offensichtlich, daß auf den ersten Blick der Funke übergesprungen war, und diese Vorstellung behagte Mark gar nicht; es fiel ihm schwer, daß Kitty ein sterbliches Wesen sein sollte wie andere auch, empfänglich für die Spiele der Sterblichen. Die beiden tanzten nahe an seinem Tisch vorbei. Kittys Gesicht war seltsam verändert, sie schien wie betäubt.

Doch dann mußte Mark an etwas anderes denken, was ihn selbst anging. Von dem Augenblick an, da er in Zypern gelandet war, hatte er das Gefühl gehabt, daß hier irgend etwas in der Luft lag. Dieses Gefühl wurde durch das Auftauchen Ben Kanaans bestätigt. Er kannte den Mann aus Palästina genau genug, um sich darüber klar zu sein, daß er einer der wichtigsten Agenten von Mossad Aliyah Bet war. Er begriff auch, daß Ben Kanaan etwas von ihm wollte. Und was war mit Kitty? Wußte er über sie nur deshalb Bescheid, weil sie mit ihm zusammen war, oder gab es dafür noch irgendeinen anderen Grund?

Kitty war ziemlich groß, doch in Ari ben Kanaans Armen kam sie sich klein und hilflos vor. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl. Das plötzliche Auftauchen dieses athletischen, gut aussehenden Mannes hatte sie aus der Fassung gebracht. Und jetzt, in seinem Arm, nachdem sie ihn eben erst kennengelernt hatte, fühlte sie sich gelöst. Es war ein angenehmes Gefühl, wie sie es seit vielen, vielen Jahren nicht mehr gehabt hatte. Gleichzeitig aber kam sie sich sehr töricht vor.

Der Tanz war zu Ende, und die beiden kamen zurück an den Tisch. »Ich dachte, bei Ihnen in Palästina würde nur Horra getanzt«, sagte Mark.

»Ich bin allzulange mit der westlichen Zivilisation in Berührung gewesen«, entgegnete Ari.

Die Sandwiches kamen, und er aß mit Heißhunger. Mark wartete geduldig darauf, daß ihm Ben Kanaan den Grund seines Besuches eröffnete. Er sah vorsichtig zu Kitty hin. Sie schien sich wieder einigermaßen in der Hand zu haben, obwohl sie Ari von der Seite her ansah, als sei sie auf der Hut und warte nur darauf, zuzuschlagen. Endlich hatte Ari gegessen und sagte beiläufig: »Ich hätte gern etwas mit Ihnen beiden besprochen.«

»Hier?« sagte Mark. »Inmitten der britischen Armee?«

Ari lächelte und sagte, zu Kitty gewandt: »Parker hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen zu erzählen, Mrs. Fremont, daß der Job, den ich habe, in gewissen Kreisen als suspekt angesehen wird. Die Engländer erweisen uns sogar immer wieder die zweifelhafte Ehre, uns als Untergrundbewegung' zu bezeichnen. Eines der ersten Dinge, die ich einem neuen Mitglied unserer Organisation immer einzuschärfen versuche, ist die Gefährlichkeit einer geheimen Zusammenkunft um Mitternacht. Meiner Meinung nach gibt es für das, was wir zu besprechen haben, keinen besseren Ort als diesen hier.«

»Ich schlage vor, daß wir in mein Zimmer hinaufgehen«, sagte Mark.

Sie hatten kaum die Tür hinter sich geschlossen, als Ari ohne Einleitung auf die Sache kam. »Hören Sie, Parker, Sie und ich wären in der Lage, uns gegenseitig einen wertvollen Dienst zu erweisen.« »Lassen Sie hören.«

»Sind Sie informiert über die Internierungslager bei Caraolos?« Mark und Kitty nickten.

»Ich bin eben fertig geworden mit der Ausarbeitung der Pläne für die Flucht von dreihundert Jugendlichen. Wir werden sie hierher bringen und auf ein Schiff verfrachten, das im Hafen von Kyrenia liegt.« »Ihr habt seit Jahren Flüchtlinge nach Palästina geschmuggelt; das ist nichts Neues mehr, Ben Kanaan.«

»Es wird etwas Neues sein, wenn Sie mir helfen, es dazu zu machen. Erinnern Sie sich, welchen Staub unser illegales Schiff, Das Gelobte Land, damals in der Öffentlichkeit aufgewirbelt hat?«

»Und ob ich mich erinnere.«

»Den Engländern war die Suppe damals ganz schön versalzen. Wir sind der Meinung, daß wir nur dann eine Chance haben, den Engländern die Fortsetzung ihrer Einwanderungspolitik in Palästina unmöglich zu machen, wenn es uns gelingt, einen weiteren Zwischenfall zu inszenieren, der ebensoviel Aufsehen erregt wie der von damals.«

»Ich bin leider nicht ganz mitgekommen«, sagte Mark. »Angenommen, es gelingt Ihnen, eine Massenflucht aus dem Lager von Caraolos zu organisieren — wie wollen Sie die Leute nach Palästina hinüberbringen? Und wenn es Ihnen gelingt, sie nach Palästina zu bringen — wo ist dann die Story?«

»Das ist genau der springende Punkt«, sagte Ari. »Sie sollen gar nicht bis nach Palästina kommen. Sie sollen nur hier in Kyrenia an Bord des Schiffes gehen.«

Mark beugte sich vor. Offensichtlich steckte mehr hinter Ben Kanaans Plan, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte. Die Sache begann ihn zu interessieren.

»Nehmen wir einmal an«, sagte Ari, »es gelingt mir, dreihundert Waisenkinder aus dem Lager herauszubekommen und hier in Kyrenia an Bord eines Schiffes zu bringen. Nehmen wir weiter an, die Engländer kommen dahinter und halten das Schiff im Hafen fest. Und nun nehmen wir einmal an, daß Sie bereits einen Bericht fertig haben, der in Paris oder New York vorliegt. In dem Augenblick, wo diese Waisenkinder an Bord gehen, bringt die Presse Ihren Bericht auf der ersten Seite.«

Mark stieß einen leisen Pfiff aus. Wie die meisten amerikanischen Korrespondenten, hatte er Mitgefühl mit Flüchtlingen. Er bekam seine Story, und Ben Kanaan bekam die Propaganda, die er haben wollte. Würde die Geschichte wichtig genug sein, daß es sich für ihn lohnte, einzusteigen? Er hatte keine Möglichkeit, Informationen einzuholen oder die Sache mit irgend jemandem durchzusprechen. Er mußte selbst und allein das Für und Wider abwägen und sich entscheiden. Ari hatte ihn nur einmal am Knochen riechen lassen, um seinen Appetit zu reizen. Wenn er weitere Fragen an ihn stellte, so konnte das bedeuten, daß er in die Sache verwickelt wurde. Mark sah Kitty an, der das Ganze völlig rätselhaft zu sein schien. »Wie wollen Sie es eigentlich fertigbringen, dreihundert Kinder aus dem Lager herauszubekommen und nach Kyrenia zu schaffen?« fragte sie.

»Soll das etwa heißen, daß Sie bereit sind, mitzumachen?«

»Das soll heißen, daß ich es gern wissen möchte, ohne mich dadurch zu irgend etwas zu verpflichten. Falls ich mich dagegen entscheide, so gebe ich Ihnen mein Wort, daß alles, was hier gesagt wird, unter uns bleibt.«

»Das genügt mir«, sagte Ari. Er setzte sich auf den Rand der Kommode und entwickelte seinen Fluchtplan Punkt für Punkt. Mark zog die Stirn in Falten. Der Plan war kühn, verwegen, ja geradezu phantastisch, dabei war er gleichzeitig von erstaunlicher Einfachheit. Was Mark betraf, so hatte er einen Bericht zu schreiben, ihn aus Zypern hinauszuschmuggeln und an das Pariser oder Londoner Büro des ANS gelangen zu lassen. Auf ein verabredetes Stichwort hin sollte dieser Bericht dann genau in dem Augenblick in der Presse erscheinen, in dem die Flucht stattfand. Ari schwieg, und Mark begann zu überlegen.

Er zündete sich eine Zigarette an, ging im Zimmer hin und her und stellte Ari in rascher Folge ein Dutzend Fragen. Doch Ari schien an alles gedacht zu haben. Ja, hier ergab sich unter Umständen wirklich eine Story, sogar eine sensationelle Serie. Mark versuchte abzuschätzen, welche Chancen dieser verwegene Plan hatte. Die Aussichten für das Gelingen waren bestenfalls fifty-fifty. Mark stellte dabei in Rechnung, daß Ari ein ungewöhnlich kluger Mann war, der die Mentalität der Engländer in Zypern genau kannte. Mark wußte auch, daß Ari Mitarbeiter besaß, die das Zeug dazu hatten, ein solches Unternehmen zum Erfolg zu führen.

»Ich mache mit«, sagte Mark.

»Freut mich«, sagte Ari. »Ich hatte mir gleich gedacht, daß Sie erkennen würden, was für Möglichkeiten hier stecken.« Dann wandte er sich an Kitty und sagte: »Mrs. Fremont — vor etwa einer Woche hat man Sie gefragt, ob Sie bereit wären, im Lager bei den Kindern zu arbeiten. Haben Sie sich die Sache überlegt?«

»Ich habe mich entschlossen, abzulehnen.«

»Würden Sie es sich vielleicht jetzt noch einmal überlegen — sagen wir, um Parker zu helfen?«

»Was haben Sie eigentlich mit Kitty vor?« fragte Mark.

»Alle Lehrer, Pflegerinnen und Pfleger, die von außen ins Lager kommen, sind Juden«, sagte Ari, »und wir müssen von der Voraussetzung ausgehen, daß die Engländer diese Leute verdächtigen.«

»Wessen?«

»Der Zusammenarbeit mit unserer illegalen Organisation. Sie aber sind eine Christin, Mrs. Fremont. Wir meinen, daß sich ein Mensch Ihrer Herkunft und Religion unbehinderter bewegen könnte.«

»Mit anderen Worten, Sie wollen Kitty als Kurier verwenden.« »Mehr oder weniger, ja. Wir stellen im Lager eine große Menge gefälschter Ausweise her, die wir für draußen brauchen.«

»Mir scheint«, sagte Mark, »ich sollte Ihnen wohl besser mitteilen, daß ich mich bei den Engländern keiner allzugroßen Beliebtheit erfreue. Ich war kaum hier angekommen, als ich auch schon Sutherlands Adjutanten auf dem Hals hatte. Ich glaube zwar nicht, daß ich irgendwelche Schwierigkeiten haben werde, aber wenn Kitty jetzt im Lager Caraolos arbeitet, würden die Engländer höchstwahrscheinlich annehmen, sie arbeite dort für mich.«

»Ganz im Gegenteil. Für die Engländer wäre es eine ausgemachte Sache, daß Sie nie und nimmer Mrs. Fremont nach Caraolos geschickt haben, um dort für Sie zu arbeiten.«

»Vielleicht haben Sie recht.«

»Natürlich habe ich recht«, sagte Ari. »Nehmen wir einmal das schlimmste an. Angenommen, man findet bei Mrs. Fremont gefälschte Ausweise. Es geschähe ihr nicht das geringste, man wäre nur einigermaßen erstaunt, brächte sie zum Flugplatz und in eine Maschine, die sie aus Zypern fortbringt.«

»Moment mal«, sagte Kitty. »Jetzt habe ich lange genug zugehört, wie ihr beiden über mich verfügt. Ich bedauere sehr, daß ich mit anhören mußte, was heute abend hier besprochen wurde. Ich werde nicht in Caraolos arbeiten, Mr. Ben Kanaan, und ich will mit Ihrem ganzen Plan nichts zu tun haben.«

Ari warf Mark einen fragenden Blick zu, doch der zuckte nur die Achseln und sagte: »Sie ist erwachsen.«

»Ich dachte, Sie wären mit Parker befreundet.«

»Das bin ich auch«, sagte Kitty, »und ich verstehe, daß ihn die Sache interessiert.«

»Und ich verstehe nicht, Mrs. Fremont, daß diese Sache Sie so wenig interessiert. Wir haben jetzt Ende 1946. In wenigen Monaten werden seit dem Ende des Krieges in Europa zwei Jahre vergangen sein. Und noch immer sitzen Menschen von uns hinter Stacheldraht, unter den grauenhaftesten Verhältnissen. Es gibt Kinder in Caraolos, die überhaupt nicht wissen, daß es eine Welt außerhalb des Stacheldrahtes gibt. Wenn es uns nicht gelingt, eine Änderung der englischen Politik zu erzwingen, dann können diese Armen unter Umständen ihr ganzes weiteres Leben hinter Stacheldraht verbringen.«

»Das ist es ja gerade«, gab Kitty heftig zurück. »Alles, was mit Caraolos zusammenhängt, ist von der Politik überhaupt nicht zu trennen. Ich bin sicher, die Engländer werden auch ihre guten Gründe haben. Und ich habe keine Lust, die Partei irgendeiner Seite zu ergreifen.«

»Mrs. Fremont — ich war Hauptmann der britischen Armee und bin Träger einer Tapferkeitsmedaille. Um eine alte Phrase zu benutzen: einige meiner besten Freunde sind Engländer. Es gibt bei uns Dutzende von englischen Offizieren und Soldaten, die ganz und gar nicht mit dem einverstanden sind, was in Palästina geschieht, und die Tag und Nacht mit uns zusammenarbeiten. Das ist keine Frage der Politik, sondern der Menschlichkeit.«

»Ich bezweifle Ihre Aufrichtigkeit. Wie könnten Sie sonst das Leben von dreihundert Kindern aufs Spiel setzen?«

»Die meisten Menschen haben einen Lebenszweck«, sagte Ari. »Das Leben in Caraolos ist zwecklos. Doch für seine Freiheit zu kämpfen, das ist ein Lebenszweck. In Europa sitzen eine Viertelmillion von unseren Leuten, die nach Palästina wollen. Jeder von ihnen würde, wenn er nur die Möglichkeit dazu hätte, sich an Bord dieses Schiffes in Kyrenia begeben.«

»Sie sind ein sehr kluger Mann, Mr. Ben Kanaan. Ich bin Ihnen in der Diskussion nicht gewachsen. Sie haben auf alles eine Antwort.«

»Ich dachte, Sie seien Krankenschwester«, sagte Ben Kanaan ironisch.

»Die Welt ist voll von Menschen, die leiden. Es gibt tausend Stellen, wo meine Arbeit ebenso nötig gebraucht wird wie in Caraolos, ohne daß die Sache einen Haken hat.«

»Warum wollen Sie nicht einmal nach Caraolos kommen, sich die Sache ansehen und mir dann sagen, was Sie davon halten?«

»Sie werden mich nicht überlisten, und ich lasse mich von Ihnen auch nicht provozieren. Ich habe in Amerika als Nachtschwester auf einer Unfallstation gearbeitet. Sie können mir in Caraolos nichts zeigen, was ich nicht schon gesehen hätte.«

Es wurde still im Raum. Schließlich holte Ari ben Kanaan tief Luft und hob die Hände hoch. »Schade«, sagte er, »aber da kann man nichts machen. Parker, ich werde mich in den nächsten Tagen mit Ihnen in Verbindung setzen.« Er ging zur Tür.

»Mr. Ben Kanaan«, sagte Kitty, »sind Sie auch ganz sicher, daß ich diese Geschichte nicht unseren gemeinsamen Freunden erzählen werde?«

Ari kam zurück, blieb vor ihr stehen und sah ihr von oben in die Augen. Es wurde ihr augenblicklich klar, daß sie etwas Falsches gesagt hatte. Er lächelte kurz und ironisch. »Sie wollen vermutlich nur als Frau das letzte Wort behalten. Ich täusche mich eigentlich nur sehr selten in Menschen. Ich kann mir das nicht leisten. Und für Amerikaner habe ich etwas übrig, Amerikaner haben ein Gewissen. Sollte sich das Ihre bemerkbar machen, so können Sie mich bei Mr. Mandria erreichen, und es wird mir eine Freude sein, Sie in Caraolos herumzuführen.«

»Sie sind sich Ihrer selbst sehr sicher, nicht wahr?«

»Ich würde sagen«, antwortete Ari, »daß ich es im Augenblick etwas mehr bin als Sie.« Er ging hinaus.

Die Erregung, die sein Besuch ausgelöst hatte, legte sich nur langsam, nachdem er gegangen war. Schließlich schleuderte Kitty die Schuhe von den Füßen und hockte sich auf das Bett. »Allerhand! Aber du hattest ja gleich gesagt, wir hätten einen interessanten Abend vor uns.«

»Ich glaube«, sagte Mark, »es war sehr klug von dir, daß du dich herausgehalten hast.«

»Und du?«

»Das ist ein Tag Arbeit. Und es kann unter Umständen eine wirklich große Sache werden.«

»Und wenn du nun abgelehnt hättest?«

»Oh, dann hätten sie irgendeinen anderen Korrespondenten aus Europa hergeholt. Diese Leute verfügen über allerhand Mittel und Wege. Ich war nur zufällig passend zur Stelle.«

»Sag mal, Mark«, sagte Kitty zögernd, »habe ich mich sehr töricht benommen?«

»Ich glaube, du hast dich nicht törichter benommen als hundert andere Frauen auch.«

»Ein toller Mann ist das. Woher kennst du ihn?«

»Das erstemal traf ich ihn in Berlin, Anfang 1939. Ich hatte dort gerade meinen Posten bei ANS angetreten. Er kam nach Berlin im Auftrag von Mossad Aliyah Bet, um möglichst viele Juden aus Deutschland herauszuschleusen, bevor der Krieg ausbrach. Er war damals Anfang Zwanzig. Später traf ich ihn dann wieder in Palästina. Das war im Krieg. Er war Angehöriger der britischen Armee und hatte irgendeinen Geheimauftrag. Was es genau war, weiß ich nicht. Nach Kriegsende tauchte er dann an den verschiedensten Stellen in Europa auf, um Waffen zu kaufen und illegale Einwanderer nach Palästina zu schmuggeln.«

»Glaubst du im Ernst, dieser absolut phantastische Plan, den er da hat, könnte gelingen?«

»Er ist ein schlauer Bursche.«

»Ja, das muß ich allerdings sagen — dieser Ben Kanaan ist anders als alle Juden, die ich je kennengelernt habe. Du weißt schon, was ich meine. Man stellt sich ja, wenn man an Juden denkt, nicht gerade Leute mit Fähigkeiten vor, wie er sie hat — denkt nicht an Athleten, tollkühne Draufgänger — und dergleichen.«

»So? Und wie sieht die Vorstellung denn aus, Kitty, die du von den Juden hast? Vielleicht hast du noch diese alten Vorstellungen wie sie bei uns zu Hause üblich waren: ... der kleine Judenjunge namens Maury heiratet ein kleines Judenmädchen namens Sadie ...«

»Ach, hör doch auf, Mark! Ich habe schließlich lange genug mit jüdischen Ärzten gearbeitet, um zu wissen, daß die Juden arrogante und aggressive Leute sind. Sie fühlen sich erhaben und blicken auf uns herab.«

»Herabsehen? — Wohl mit einem Minderwertigkeitskomplex?«

»Das würde ich dir abnehmen, wenn hier die Rede von Deutschland wäre.«

»Was willst du eigentlich sagen, Kitty — daß wir reinrassig sind?«

»Ich will nur sagen, daß kein amerikanischer Jude mit einem Neger oder einem Mexikaner oder einem Indianer tauschen würde.«

»Und ich sage dir, daß man einen Menschen nicht zu lynchen braucht, um ihm das Herz aus dem Leibe zu reißen. Oh, ja, die amerikanischen Juden haben es gut, aber daß eine große Anzahl von Leuten so denkt wie du, und daß die Juden zweitausend Jahre lang der Sündenbock gewesen sind, das hat auf sie abgefärbt.

Warum diskutierst du darüber nicht mit Ben Kanaan? Er scheint zu wissen, wie man mit dir umgehen muß.«

Kitty richtete sich wütend vom Bett auf. Doch dann fingen beide zu lachen an. Sie konnten nicht ernstlich böse miteinander sein.

»Sag mal, Mark, was bedeutet das eigentlich: Mossad Aliyah Bet?« »Das Wort ,Aliyah' bedeutet Aufstieg. Wenn ein Jude nach Palästina geht, so bezeichnet man das immer als eine ,Aliyah' — als Aufstieg. Aleph, das ist der Buchstabe A, bezeichnet die legale Einwanderung, und Bet, also der Buchstabe B, die illegale Einwanderung. Mossad Aliyah Bet heißt also alles in allem: Illegale Einwanderungs-Organisation.«

»Du lieber Gott«, sagte Kitty lächelnd, »was für eine logische Sprache das Hebräische ist.«

Die nächsten beiden Tage war Kitty verwirrt und unruhig. Sie wollte sich nicht eingestehen, daß sie den Wunsch hatte, den Riesen aus Palästina wiederzusehen. Mark spürte genau, was mit ihr los war, doch er ließ sich nichts anmerken und tat, als hätte es einen Ben Kanaan überhaupt nicht gegeben.

Sie wußte nicht genau, was sie beunruhigte; sie stellte nur fest, daß Ben Kanaans Besuch einen starken und nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht hatte. Lag das an dem amerikanischen Gewissen, über das Ben Kanaan so genau Bescheid wußte, oder bereute sie ihre unkontrollierte, antisemitische Reaktion?

Ganz beiläufig, oder vielmehr doch nicht so ganz beiläufig, fragte sie Mark, wann er Ari wiedersehen werde. Ein andermal winkte sie ziemlich deutlich mit dem Zaunpfahl, indem sie sagte, daß es ihr Spaß machen würde, mit Mark nach Famagusta zu fahren, um die Stadt zu besichtigen. Dann wieder wurde sie böse über sich selbst und beschloß, überhaupt nicht mehr an Ari zu denken.

Am Abend des dritten Tages konnte Mark durch die Verbindungstür hören, wie Kitty unruhig in ihrem Zimmer auf und ab ging. Sie setzte sich in einen Sessel, rauchte im Dunkeln eine Zigarette und war entschlossen, sich über die ganze Sache vernünftig klar zu werden.

Es behagte ihr nicht, daß sie gegen ihren Willen in die seltsam fremde Welt hineingezogen werden sollte, in der Ben Kanaan lebte. Ihr ganzes Leben lang war sie stets vernünftig, ja sogar berechnend vorgegangen. »Kitty ist ein so verständiges Mädchen«, hatte man immer von ihr gesagt.

Als sie in Tom Fremont verliebt war und beschlossen hatte, ihn für sich zu gewinnen, hatte sie nach einem genau überlegten Plan gehandelt. Sie führte einen vernünftigen Haushalt und wirtschaftete vernünftig. Sie faßte den Plan, ihr Kind im Frühjahr zu bekommen, und das war auch vernünftig gewesen. Sie hütete sich, momentanen Eingebungen zu folgen, sondern handelte lieber nach einem vorgefaßten Plan.

Sie konnte nicht verstehen, was in diesen letzten beiden Tagen mit ihr eigentlich geschehen war. Da tauchte plötzlich ein sonderbarer Mann auf und erzählte ihr eine Geschichte, die noch sonderbarer war; sie sah das harte, gutgeschnittene Gesicht Ari ben Kanaans vor sich, mit diesen durchdringenden Augen, die spöttisch lächelnd ihre Gedanken zu lesen schienen. Sie erinnerte sich daran, was sie gefühlt hatte, als sie mit ihm tanzte.

Die ganze Sache war völlig unlogisch. Kitty fühlte sich nun einmal unbehaglich unter Juden; das hatte sie Mark gegenüber ja auch zugegeben. Und außerdem — wie ging das zu, daß dieses Gefühl jetzt in ihr immer stärker wurde?

Schließlich sah sie ein, daß sie solange unruhig sein würde, bis sie Ari wiedergesehen und das Lager bei Caraolos besichtigt hatte. Sie beschloß also, ihn wiederzusehen, um sich die ganze Sache aus dem Kopf zu schlagen und um sich die Bestätigung zu verschaffen, daß es sich hier nicht etwa um eine mystische Verstrickung, sondern nur um eine plötzliche und rasch vorübergehende Faszination handelte. Sie wollte Ari ben Kanaan in seinem Lager stellen und ihn dort mit seinen eigenen Waffen schlagen.

Mark war nicht überrascht, als Kitty ihn am nächsten Morgen beim Frühstück bat, mit Ben Kanaan einen Zeitpunkt für ihren Besuch in Caraolos zu vereinbaren.

»Ich war sehr froh über deinen Entschluß von neulich abend«, sagte er. »Bitte bleib dabei.«

»Ich verstehe es selber nicht so ganz«, sagte sie.

»Dieser Ben Kanaan — er hat genau gewußt, daß er dich herumkriegen wird. Sei doch nicht so dumm. Wenn du nach Caraolos gehst, dann hängst du drin. Paß mal auf — ich steige auch aus. Wir reisen sofort ab.«

Kitty schüttelte den Kopf.

»Vor lauter Neugier wirst du unvorsichtig. Du warst doch sonst immer so ein kluges Mädchen. Was ist denn nur mit dir los?«

»Das klingt komisch aus meinem Munde, nicht wahr, Mark — doch ich habe beinah das Gefühl, als werde ich von irgend etwas getrieben. Aber du kannst mir glauben, ich will nach Caraolos, um mit der ganzen Sache Schluß zu machen — und nicht, um irgend etwas anzufangen.«

Mark sah, daß es Kitty erwischt hatte, wenn sie es auch zu leugnen versuchte. Was immer auch vor ihr lag, er hoffte, daß es nichts Böses sein werde.

X.

Kitty gab ihren Passierschein bei der englischen Wache am Tor ab und betrat das Lager bei der Sektion 57, die unmittelbar neben der Jugendsektion lag.

»Sind Sie Mrs. Fremont?«

Sie drehte sich um, nickte und sah in das Gesicht eines jungen Mannes, der ihr lächelnd die Hand hinhielt. Sie stellte fest, daß er einen sehr viel freundlicheren Eindruck machte als sein Landsmann. »Ich bin David ben Ami«, sagte er. »Ari bat mich. Sie in Empfang zu nehmen. Er kommt gleich.«

»Und was bedeutet Ben Ami? Ich habe seit kurzer Zeit angefangen, mich für hebräische Namen zu interessieren.«

»Das heißt: Sohn meines Volkes«, antwortete David. »Wir hoffen, Mrs. Fremont, daß Sie uns bei unserem ,Unternehmen Gideon' helfen werden.«

»Unternehmen Gideon?«

»Ja, so habe ich Aris Plan genannt. Kennen Sie die Bibel, Buch der Richter? Gideon sollte aus dem Volk Männer auswählen, um mit ihnen gegen die Midianiter zu streiten. Er wählte dreihundert Mann aus. Auch wir haben dreihundert ausgewählt, die gegen die Engländer streiten sollen. Der Vergleich mag ein wenig weit hergeholt sein, und Ari wirft mir vor, ich sei romantisch.«

Kitty hatte sich für einen Abend gewappnet, der schwierig zu werden versprach, doch jetzt fühlte sie sich entwaffnet durch diesen freundlichen jungen Mann. Der Tag ging zur Neige, ein kühler Wind wirbelte den trockenen Staub auf. Kitty zog sich ihre Jacke über. In der Ferne erkannte sie die unverkennbare Gestalt Ari ben Kanaans, der quer durch das Lager zu ihnen herankam. Sie holte tief Luft und versuchte der Erregung Herr zu werden, die sie auch jetzt wieder verspürte, genauso wie bei der ersten Begegnung.

Er blieb vor ihr stehen, und sie nickten sich schweigend zu. Kitty sah ihn mit kalten Augen an und gab ihm wortlos zu verstehen, daß sie gekommen sei, um die Herausforderung anzunehmen, und daß sie nicht die Absicht habe, zu verlieren.

Die Sektion 57 war größtenteils mit sehr alten, religiösen Menschen belegt. Sie gingen langsam durch die Reihen der Zelte, die überfüllt waren mit ungepflegten, verwahrlosten Männern. Die Wasserzuteilung sei so knapp, erklärte Ben Ami, daß jede Körperpflege praktisch unmöglich sei. Auch die Ernährung war ungenügend. Die Lagerinsassen machten einen geschwächten Eindruck. Ihre Gesichter zeigten teils den Ausdruck der Verbitterung und teils den dumpfer Betäubung, und alle waren vom Tode gezeichnet.

Sie blieben einen Augenblick am geöffneten Eingang eines Zeltes stehen, in dem ein Greis mit zerfurchtem Gesicht an einer hölzernen Plastik arbeitete.

Er hielt sie in die Höhe, damit Kitty sie sehen konnte. Es waren zwei zum Gebet gefaltete Hände, die mit Stacheldraht zusammengeschnürt waren. Ari beobachtete sie genau, um ihre Reaktion festzustellen.

Der Ort mit all seinem Elend, seinem Schmutz und seiner Ärmlichkeit war ebenso abstoßend wie mitleiderregend, doch Kitty hatte sich auf noch Schlimmeres gefaßt gemacht. Sie gewann allmählich die Überzeugung, daß Ari ben Kanaan doch keine geheimnisvolle Macht über sie besaß.

Sie machten erneut halt, um einen Blick in ein großes Zelt zu tun, das als Synagoge diente. Über dem Eingang war ein roh geschnitztes Symbol der Menora angebracht, des rituellen Leuchters. Im Innern des Zeltes bot sich Kitty ein seltsames, ungewohntes Bild: alte Männer, die mit dem Oberkörper hin und her schwangen, während sie sonderbare Gebete murmelten. Es war eine für Kitty völlig unbekannte Welt. Ihr Blick blieb auf einem besonders verwahrlosten alten Mann mit langem Bart hängen, der laut weinte und vor Qual aufschrie.

David nahm sie bei der Hand und führte sie nach draußen. »Er ist ein alter Mann«, sagte David. »Er redet mit Gott und sagt ihm, daß er das Leben eines Gläubigen geführt habe — er habe Gottes Gebote gehalten, die Thora verehrt und dem Bund Abrahams, Isaaks und Jakobs auch im tiefsten, bittersten Leid die Treue gehalten. Er bittet Gott, ihn gnädig zu erlösen, weil er ein guter Mensch gewesen sei.« »Diese alten Männer da drinnen«, sagte Ari, »sind sich nicht so ganz klar darüber, daß der einzige Messias, der sie eines Tages vielleicht erlöst, ein aufgepflanztes Seitengewehr ist.«

Kitty sah Ari an. Dieser Mann hatte etwas Unmenschliches an sich. Ari, der Kittys Ablehnung spürte, ergriff sie am Arm. »Wissen Sie, was ein ,Sonderkommando' ist?«

»Ari, bitte —«, sagte David.

»Das ist eine Gruppe, die von den Deutschen gezwungen wurde, bei den Verbrennungsöfen zu arbeiten. Ich würde Ihnen gern einen alten Mann hier zeigen. Er hat aus einem solchen Ofen in Buchenwald die Knochen seiner verbrannten Enkelkinder herausgeholt und sie in einem Schubkarren weggefahren. Sagen Sie mir, Mrs. Fremont — hat man Ihnen dort auf der Unfallstation, wo Sie gearbeitet haben, etwas Besseres zu bieten gehabt?«

Kitty drehte sich der Magen um. Doch dann stieg die Empörung in ihr hoch und sie schlug zurück, während ihr vor Zorn die Tränen in die Augen schossen. »Ihnen ist wirklich jedes Mittel recht.«

»Mir ist jedes Mittel recht, um Ihnen klarzumachen, wie verzweifelt unsere Lage ist.« Sie starrten sich feindselig und schweigend an. »Wollen Sie sich nun die Jugendsektion ansehen oder nicht?«

»Gehen wir«, sagte Kitty, »damit wir es hinter uns haben.«

Zu dritt betraten sie die Brücke, die oben über den Stacheldraht in die Abteilung des Lagers führte, in der die Kinder und Jugendlichen untergebracht waren, und sahen sich die Ernte an, die der erbarmungslose Schnitter Krieg gehalten hatte. Sie besichtigten das Lazarett, schritten die langen Reihen der Betten mit tuberkulösen Kindern ab, gingen durch die anderen Stationen, sahen die rachitisch verkrümmten Glieder, die von Gelbsucht verfärbten Gesichter, die schwärenden Wunden, die nicht heilen wollten. Und sie gingen durch die geschlossene Abteilung, deren jugendliche Insassen den leeren, starren Blick der Geisteskranken zeigten. Sie gingen an den Zelten entlang, in denen die Abiturienten der Jahrgänge 1940—45 lagen, die Matrikulanten des Ghettos, die Studenten der Konzentrationslager, die Doktoranden der Trümmerlandschaft. Junge Menschen ohne Eltern und ohne Heim. Mit den kahlgeschorenen Schädeln der Entlausten. In Lumpen. Bettnässer, in deren Gesicht das Grauen stand, Kinder, die nachts im Schlaf schrien. Brüllende Säuglinge und finster blickende Halbwüchsige, die nur durch ihre Schlauheit und Verschlagenheit am Leben geblieben waren.

Als sie die Besichtigung beendet hatten, sagte Kitty: »Das ärztliche Personal, das Sie hier haben, ist hervorragend, und die Kinder werden mit allem versorgt, was sie brauchen.«

»Nicht den Engländern zu verdanken«, gab Ari zurück »Alles Spenden unserer eigenen Leute.«

»Bitte«, sagte Kitty, »von mir aus kann es auch als Manna vom Himmel gefallen sein. Ich bin hierhergekommen, weil mein amerikanisches Gewissen mich trieb. Ich habe alles gesehen, und mein Gewissen ist zufriedengestellt. Und jetzt möchte ich gehen.« »Mrs. Fremont —«, sagte David ben Ami.

»Laß, David! Es hat keinen Zweck. Es gibt eben Leute, auf die allein schon unser Anblick abstoßend wirkt. Bring Mrs. Fremont zum Ausgang.«

David und Kitty gingen eine Zeltstraße entlang. Als sie sich kurz umwandte, sah sie, daß Ari ihr nachstarrte. Sie wollte möglichst rasch aus dem Lager heraus. Sie wollte zurück zu Mark und an diese ganze scheußliche Geschichte nicht mehr denken.

Sie kamen an einem großen Zelt vorbei, aus dem ausgelassenes Gelächter ertönte. Es war glückliches Kinderlachen, das in dieser Umgebung seltsam klang. Kitty blieb neugierig beim Zelteingang stehen und lauschte. Ein Mädchen las eine Geschichte vor. Sie hatte eine entzückende Stimme.

»Das ist ein erstaunliches Mädchen«, sagte David. »Sie arbeitet hier als Kindergärtnerin und macht ihre Sache ganz großartig.«

Aus dem Zelt klang erneut helles Gelächter. Kitty ging zum Eingang, zog die Leinwand beiseite und sah hinein. Das Mädchen saß mit dem Rücken zum Eingang auf einer Kiste, über das Buch gebeugt, das sie nahe an eine Kerosinlampe hielt. Im Kreis um sie herum saßen mit großen Augen zwanzig Kinder. Als Kitty und David hereinkamen, sahen sie zur Tür.

Das Mädchen hörte auf zu lesen, drehte sich um und stand dann auf, um die Hereinkommenden zu begrüßen. Die Lampe flackerte in dem Luftzug, der von dem offenen Eingang kam, und ließ die Schatten der Kinder auf der Zeltwand tanzen.

Kitty sah das Mädchen an, und ihre Augen weiteten sich schreckhaft.

Sie verließ mit raschen Schritten das Zelt, dann blieb sie stehen, drehte sich um und starrte durch den Eingang zu dem erstaunten Mädchen hin. Sie setzte wiederholt zum Sprechen an, konnte aber vor Verwirrung kein Wort herausbringen.

Schließlich sagte sie kaum hörbar: »Ich möchte mich gern mit diesem Mädchen unterhalten — allein.«

Ari, der inzwischen herangekommen war, nickte David zu. »Bring die Kleine zum Schulgebäude. Wir warten dort.«

Ari brannte die Laterne im Schulzimmer an und machte die Tür zu. Kitty blieb stumm, und ihr Gesicht war blaß.

»Dieses Mädchen erinnert Sie an irgend jemand«, sagte Ari abrupt.

Kitty antwortete nicht. Durch das Fenster sah Ari, wie David mit dem Mädchen herankam. Er warf noch einmal einen Blick auf Kitty und ging dann, hinaus.

Als Kitty allein war, schüttelte sie den Kopf. Es war verrückt. Warum war sie hierhergekommen? Warum war sie gekommen? Sie zwang sich zur Ruhe, rang um Fassung — um erneut dem Anblick dieses Mädchens standzuhalten.

Die Tür ging auf, und das Mädchen kam langsam herein. Kitty hielt den Atem an. Dieses Gesicht! Nur mit Mühe hielt sie sich zurück, das Mädchen in die Arme zu nehmen und an sich zu drücken.

Das Mädchen sah sie verwundert an, doch es schien irgend etwas zu begreifen, und ihr Blick verriet Mitleid.

»Ich heiße — Katherine Fremont«, sagte Kitty unsicher. »Sprichst du Englisch?«

»Ja.«

Wie reizend die Kleine war! Ihre Augen glänzten lebhaft, als sie lächelte und Kitty die Hand reichte.

Kitty legte dem Mädchen die Hand auf die Wange — und ließ sie dann rasch herunterfallen.

»Ich — ich bin Kinderpflegerin. Ich hätte gern mit dir gesprochen. Wie heißt du?«

»Karen«, sagte das Mädchen, »Karen Hansen-Clement.«

Kitty setzte sich auf das Feldbett und bat das Mädchen, sich zu ihr zu setzen.

»Wie alt bist du?«

»Ich bin grad sechzehn geworden, Mrs. Fremont.«

»Ach bitte, sag doch Kitty zu mir.«

»Gern, Kitty.«

»Wie ich höre, arbeitest du hier bei den Kindern.«

Das Mädchen nickte.

»Das ist schön. Weißt du, ich — ich werde möglicherweise auch hier arbeiten, und — nun ja, ich wüßte gern genauer über dich Bescheid. Eigentlich möchte ich alles wissen. Hast du Lust, es mir zu erzählen?«

Karen lächelte. Sie fühlte sich zu Kitty hingezogen, und sie spürte instinktiv, daß Kitty nach ihrer Zuneigung verlangte — sie brauchte. »Eigentlich bin ich aus Deutschland«, sagte Karen, »aus Köln. Aber das ist schon so lange her —.«

XI.

Das Leben ist wunderbar, wenn man sieben Jahre alt ist, wenn dein Vater der berühmte Professor Johann Clement ist, und wenn in Köln gerade Karneval gefeiert wird. In der Karnevalszeit gibt es vieles, was schön ist, aber etwas gibt es, was immer ganz besonders schön ist, und das ist ein Spaziergang mit Pappi. Da geht man unter den Bäumen am Ufer des Rheins entlang, oder man kann auch in den Zoo gehen, der die wunderbarsten Affenkäfige von der ganzen Welt hat, oder man kann um den Dom herumgehen und hinaufsehen zu den beiden Türmen, die so hoch sind, daß sie bis in den Himmel zu ragen scheinen. Und das Schönste von allem ist, früh am Morgen mit Pappi und Maximilian durch den Stadtpark zu gehen. Maximilian, das ist der großartigste Hund von ganz Köln, obwohl er ein bißchen komisch aussieht. In den Zoo darf Maximilian natürlich nicht mit. Manchmal nimmt man auch Hans auf so einen Spaziergang mit, aber kleine Brüder sind meist ziemlich lästig.

Wenn man so ein kleines Mädchen ist, dann hat man seine Mammi auch sehr lieb und möchte sie gern dabeihaben, wenn man mit Pappi und Hänschen und Maximilian spazierengeht. Aber Mammi bekommt wieder ein Baby und fühlt sich in letzter Zeit gar nicht wohl. Es wäre hübsch, wenn das Baby ein Schwesterchen sein würde, denn als Mädchen hat man mit einem Bruder schon Ärger genug.

Am Sonntag setzt sich die ganze Familie — bis auf den armen Maximilian, der auf das Haus aufpassen muß — ins Auto, und Pappi fährt am Rhein entlang nach Bonn, wo die Oma wohnt. Dort treffen sich jeden Sonntag viele Tanten und Onkel und Vettern und Kusinen, und Oma hat hundert kleine Plätzchen gebacken, oder vielleicht sogar noch mehr.

Bald, wenn es Sommer sein wird, wird man eine herrliche Reise machen, an die Nordsee, oder durch den Schwarzwald, oder nach Baden-Baden, wo man stets im Park-Hotel zu wohnen pflegt. Professor Johann Clement ist ein schrecklich berühmter Mann. In der Universität nehmen alle Leute den Hut vor ihm ab, machen eine Verbeugung und sagen lächelnd: »Guten Morgen, Herr Professor.« Abends kommen andere Professoren mit ihren Frauen, und manchmal kommen fünfzehn oder zwanzig Studenten zu Besuch, und in Pappis Zimmer ist es dann ganz voll. Da sitzen sie und reden und trinken und singen bis spät in die Nacht.

Am schönsten aber waren doch die Abende, an denen kein Besuch da war, und an denen Pappi auch nicht arbeiten oder einen Vortrag halten mußte. Dann saß die ganze Familie vor dem Kamin. Es war so schön, auf Pappis Schoß zu sitzen, in die Flammen zu sehen, den Rauch seiner Pfeife zu riechen und zuzuhören, wenn Pappi mit seiner tiefen, freundlichen Stimme ein Märchen vorlas.

Damals, in den dreißiger Jahren geschahen viele sonderbare Dinge, die man gar nicht richtig verstehen konnte. Die Leute schienen sich vor irgend etwas zu fürchten und sprachen flüsternd miteinander, besonders in der Universität. Doch das alles scheint ganz unwichtig, wenn die Karnevalszeit kommt.

Für Professor Johann Clement gab es vieles zu bedenken. In einer Zeit, wo um einen her alles drüber und drunter ging, mußte man seinen klaren Kopf behalten. Clement war der festen Überzeugung, daß der Ablauf menschlicher Entwicklungen für einen Wissenschaftler ebenso überschaubar und berechenbar war wie der Rhythmus von Ebbe und Flut. Es gab Wogen der Erregung und des Hasses, und es gab Wogen völliger Unvernunft. Diese Wogen erreichten einen Höhepunkt und vergingen dann wieder. In diesem bewegten Meer lebten alle Menschen, bis auf einige wenige, die auf einer Insel hausten, einer Insel, die so steil war, daß der Mahlstrom des Lebens sie nie erreichte. Eine Universität, so meinte Johann Clement ein wenig naiv-zuversichtlich, sei eine solche Insel, ein solcher Zufluchtsort.

Im Mittelalter hatte es schon einmal eine Welle des Hasses und der Unwissenheit gegeben, als die Kreuzritter die Juden töteten. Doch die Zeit, da man den Juden die Schuld für die Pest gab und ihnen vorwarf, sie hätten das Wasser in den Brunnen der Christen vergiftet, war vorbei. Im Zeitalter der Aufklärung, das auf die Französische Revolution gefolgt war, hatten die Christen eigenhändig die Mauern des Ghettos niedergerissen. Und in dieser neuen Ära waren die Juden von dem Ruhm und der Größe Deutschlands nicht mehr zu trennen gewesen. Die Juden hatten ihre eigenen Anliegen den größeren Problemen der Menschheit untergeordnet; sie hatten sich assimiliert und waren Mitglieder der großen menschlichen Gesellschaft geworden. Und wie viele bedeutende Männer hatten sie hervorgebracht! Heine und Rothschild und Marx und Mendelssohn und Freud — die Reihe war lang. Genau wie er, Johann Clement, waren auch diese Männer Deutsche — erstlich, letztlich und überhaupt.

Der Antisemitismus, so meinte Johann Clement, zog sich wie ein roter Faden durch die menschliche Geschichte. Er war nicht wegzudenken, war eine unumstößliche Tatsache. Unterschiede gab es nur in bezug auf den Grad und die Art. Zweifellos war er, Clement, sehr viel besser dran als die Juden in den östlichen Teilen Europas oder in den noch halb barbarischen Ländern Afrikas. Die Judenpogrome, wie etwa der von Frankfurt, gehörten einer vergangenen Epoche an.

Es war denkbar, daß Deutschland von einer neuen antisemitischen Welle erfaßt wurde, aber ihn würde sie nicht erfassen. Er würde auch nicht aufhören zu glauben, daß die Deutschen, ein Volk mit einem solchen kulturellen Erbe, letzten Endes doch diese Elemente, die vorübergehend die Herrschaft an sich gerissen hatten, ablehnen und ausbooten würden.

Johann Clement beobachtete die Entwicklung genau. Angefangen hatte es mit wirrem und wildem Gekeife. Dann kamen gedruckte Anschuldigungen und Unterstellungen. Dann ein Boykott jüdischer Geschäftsleute, und dann die Verunglimpfungen in der Öffentlichkeit, wo Juden auf der Straße geschlagen und an den Bärten gerissen wurden. Dann kam der nächtliche Terror der Braunhemden. Und dann kamen die Konzentrationslager.

Gestapo, SS, SD, KRIPO, RSHA. Bald wurde jede Familie in Deutschland von den Nazis bespitzelt, und der Würgegriff der Tyrannei wurde enger und enger, bis das letzte Röcheln des Widerstandes erstickte und erstarb.

Doch wie die meisten deutschen Juden glaubte Professor Johann Clement noch immer daran, daß ihm diese neue Bedrohung nichts anhaben werde. Die Universität war eine Insel, seine sichere Zuflucht, und er war der Meinung, durch und durch Deutscher zu sein.

Diesen einen Sonntag würde man nie vergessen. Die ganze Familie hatte sich bei Oma in Bonn versammelt. Sogar Onkel Ingo war den weiten Weg von Berlin herübergekommen. Alle Kinder waren nach draußen zum Spielen geschickt worden, und man hatte die Tür des Wohnzimmers abgeschlossen.

Auf der Rückfahrt hatten Mammi und Pappi nicht ein Wort gesprochen. Manchmal benahmen sich die Erwachsenen wirklich wie Kinder. Kaum zu Hause angekommen, wurde man schon ins Bett gesteckt. Diese geheimen Unterhaltungen wurden immer häufiger. Wenn man aber an der Tür stand und sie nur einen kleinen Spalt breit aufmachte, konnte man jedes Wort hören. Mammi war schrecklich aufgeregt, Pappi so ruhig und besonnen wie immer.

»Lieber Johann, wir müssen endlich irgend etwas unternehmen. Diesmal wird es auch uns treffen. Es ist schon so weit, daß ich Angst habe, mit den Kindern auf die Straße zu gehen.«

»Es ist wahrscheinlich nur dein Zustand, der dich alles als so schlimm ansehen läßt, schlimmer als es ist.«

»Seit fünf Jahren erzählst du mir nun, es würde besser werden. Aber es wird nicht besser.«

»Solange ich hier an der Universität bin, sind wir sicher.«

»Mein Gott, Johann — wie lange willst du dir denn noch etwas vormachen — wir haben keine Freunde mehr. Die Studenten kommen nicht mehr zu uns. Keiner von unseren Bekannten wagt es noch, mit uns zu reden.«

Johann Clement steckte sich seine Pfeife an und seufzte. Mirjam kauerte neben ihm auf dem Fußboden und legte ihren Kopf auf seinen Schoß, und er strich ihr über das Haar. Maximilian, der nahe bei ihnen vor dem Kamin lag, streckte sich und gähnte.

»Ich gebe mir ja solche Mühe, mutig und vernünftig zu sein wie du«, sagte Mirjam.

»Ich bin in diesem Haus geboren. Mein ganzes Leben, alles, was ich mir je gewünscht, alle Dinge, an denen je mein Herz gehangen hat, sind in diesen Räumen hier. Mein einziger Wunsch ist, daß unser Sohn Hans eines Tages dies alles ebenso lieben soll, wie ich es geliebt habe. Manchmal frage ich mich, ob ich recht gehandelt habe, dir und den Kindern gegenüber — aber irgend etwas in mir erlaubt mir nicht, davonzulaufen. Nur noch ein kleines Weilchen, Mirjam — das geht vorbei.«

9. NOVEMBER 1938

Hunderte von Synagogen niedergebrannt!

Tausende jüdischer Wohnungen demoliert!

7500 jüdische Geschäfte geplündert!

34 Juden ermordet!

Tausende von Juden schwer mißhandelt und verhaftet!

DER GESAMTHEIT DER JUDEN IN DEUTSCHLAND WIRD HIERMIT EINE GELDBUSSE VON EINER MILLIARDE REICHSMARK AUFERLEGT!

DIE ARISIERUNG MUSS BESCHLEUNIGT WERDEN! GRUNDBESITZ WIRD ENTEIGNET!

DIE JUDEN HABEN KEINERLEI ANSPRUCH AUF DEN BESITZ VON KUNSTGEGENSTÄNDEN ODER SCHMUCK!

AB SOFORT IST DEN JUDEN DER BESUCH VON THEATER, KINO UND KONZERT UNTERSAGT!

ALLE JUDEN KÖNNEN JEDERZEIT ZUR ZWANGSARBEIT HERANGEZOGEN WERDEN!

Es war schwer, sich vorzustellen, daß es noch schlimmer werden könnte. Doch die Flut stieg höher und höher, und schließlich brachen die Wogen über Johann Clements Insel herein, als die kleine Karen eines Tages nach Haus gestürzt kam, das Gesicht blutüberströmt, während in ihren Ohren noch die Schreie gellten: »Jude! Jude! Jude!«

Wenn ein Mensch eine so tief verwurzelte, eine so unerschütterliche Überzeugung hat wie Johann Clement, dann wird die Erschütterung und Zerstörung dieser Überzeugung zu einer grauenhaften Katastrophe. Nicht genug damit, daß er, Johann Clement, sich getäuscht hatte, er hatte auch das Leben seiner Familie gefährdet. Verzweifelt suchte er nach einem Ausweg, und bei dieser Suche verwies man ihn schließlich an die Gestapo in Berlin. Als er aus Berlin zurückkam, schloß er sich zwei Tage und zwei Nächte lang in seinem Arbeitszimmer ein, hockte dort an seinem Schreibtisch und starrte auf das Schriftstück, das vor ihm lag. Dieses Schriftstück war ein Stück Papier, das man ihm bei der Gestapo in die Hand gedrückt hatte, doch es war von nahezu unheimlich-magischer Kraft. Er brauchte nur seinen Namen darauf zu setzen, dann hatte er für sich und seine Familie in Zukunft nichts mehr zu befürchten. Es war ein lebensspendendes Dokument. Er las es wieder und wieder durch, bis er jedes Wort, das dieses Schriftstück enthielt, auswendig wußte.

... auf Grund der oben angegebenen Nachforschungen und der unbestreitbar daraus sich ergebenden Tatsachen bin ich, Johann Clement, der absoluten Überzeugung, daß die Angaben über meine Geburt nicht der Wahrheit entsprechen. Ich habe niemals dem jüdischen Glauben angehört. Ich bin Arier und ...

Unterschreibe es! Unterschreibe es! Tausendmal ergriff er den Federhalter, um seinen Namen unter das Schriftstück zu setzen. Es war jetzt nicht die Zeit, sich auf den Ehrenstandpunkt zu stellen! Er war nie Jude gewesen — warum sollte er das nicht unterschreiben — was bedeutete das schon. Warum nicht unterschreiben?

Die Gestapo hatte es Johann Clement mit aller Deutlichkeit erklärt: sollte er nicht bereit sein, dieses Dokument zu unterschreiben und seine Forschungsarbeit fortzusetzen, so durfte seine Familie Deutschland nur verlassen, wenn er als Geisel dablieb.

Am Morgen des dritten Tages kam er aus seinem Arbeitszimmer heraus, bleich und eingefallen. Er begegnete dem angstvollen Blick Mirjams. Er ging zum Kamin und warf das Schriftstück in die Flammen. »Ich kann nicht«, sagte er leise. »Du mußt unverzüglich mit den Kindern aus Deutschland fort.« Er bangte plötzlich um jeden Augenblick, den seine Familie noch da war. Bei jedem Klopfen an der Tür, jedem Läuten des Telefons, jedem sich nähernden Schritt, ergriff ihn eine Angst, wie er sie noch nie in seinem Leben verspürt hatte.

Er machte einen Plan. Zunächst sollte die Familie nach Frankreich, wo sie bei befreundeten Kollegen bleiben konnte. Mirjam stand kurz vor der Niederkunft und konnte keine weite Reise machen. Wenn das Baby erst einmal da war und sie sich wieder erholt hatte, dann konnten sie nach England oder Amerika weiterfahren. Noch war nicht alles verloren. Wenn erst einmal die Familie in Sicherheit war, dann konnte er immer noch überlegen, was aus ihm werden sollte. Es gab mehrere Geheimorganisationen in Deutschland, die sich speziell damit befaßten, Wissenschaftler aus Deutschland herauszuschmuggeln. Man hatte ihm den Tip gegeben, sich an eine dieser Organisationen zu wenden, die in Berlin saß und sich Mossad Aliyah Bet nannte.

Die Koffer waren gepackt, es war alles soweit. Am letzten Abend vor der Abreise saßen Johann Clement und seine Frau schweigend beieinander und hofften verzweifelt auf irgendein Wunder, das ihnen einen Aufschub gewähren würde.

Doch in der Nacht begannen bei Mirjam Clement die Wehen. Da sie nicht in ein Krankenhaus durfte, gebar sie zu Haus. Es war ein Sohn. Die Geburt war schwierig, und Mirjam brauchte mehrere Wochen, um sich davon zu erholen.

Panik ergriff Johann Clement! Er wurde gepeinigt von der Vorstellung, daß seine Familie in der Falle saß, ohne jede Möglichkeit, dem nahenden Unheil zu entrinnen.

In fliegender Hast fuhr er nach Berlin und begab sich in die Meineckestraße 10, wo sich das Büro von Mossad Aliyah Bet befand. Es war wie in einem Irrenhaus. Im Vorraum drängten sich die Menschen, die verzweifelt aus Deutschland herauszukommen versuchten.

Gegen zwei Uhr morgens führte man ihn in ein Zimmer, in dem ein sehr junger und sehr erschöpfter Mann saß. Sein Name war Ari ben Kanaan, und er war aus Palästina hierhergeschickt worden, um deutschen Juden zu helfen, die aus dem Land heraus wollten. Ben Kanaan sah ihn mit geröteten Augen an. »Also gut, Herr Professor«, sagte er seufzend, »wir werden dafür sorgen, daß Sie hinauskommen. Fahren Sie jetzt wieder nach Hause, man wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich muß einen Paß beschaffen, ein Visum, muß die entsprechenden Leute bestechen. Es wird einige Tage dauern.«

»Es handelt sich nicht um mich. Ich kann nicht fort, und auch meine Frau nicht. Aber ich habe drei Kinder. Sie müssen sie hinausbringen.«

»Ich muß Sie hinausbringen«, wiederholte Ben Kanaan. »Herr Professor, Sie sind ein wichtiger Mann. Ihnen kann ich vielleicht helfen. Ihren Kindern kann ich nicht helfen.«

»Sie müssen!« schrie Clement.

Ari ben Kanaan schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf. »Haben Sie die Leute gesehen, die sich da draußen drängen? Sie alle wollen aus Deutschland hinaus!« Er lehnte sich über den Schreibtisch, bis sein Gesicht unmittelbar vor Johann Clement war. »Seit fünf Jahren haben wir euch gebeten, haben wir gebettelt, daß ihr aus Deutschland fortgeht! Jetzt aber, selbst wenn es uns gelingt, euch hinauszubekommen, lassen die Engländer euch nicht nach Palästina hinein. ,Wir sind Deutsche', habt ihr die ganze Zeit gesagt, ,wir sind Deutsche — uns werden sie doch nichts tun.' Herrgott noch mal, was soll ich denn jetzt machen!«

Ari schluckte und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Er schloß einen Augenblick lang ermüdet die Augen. Dann ergriff er ein Bündel mit Schriftstücken, das auf seinem Schreibtisch lag und blätterte es durch. »Ich habe hier Ausreisevisa für vierhundert Kinder. Dänische Familien haben sich bereit erklärt, sie aufzunehmen. Wir haben einen Zug organisiert. Eins von Ihren Kindern kann mitfahren.«

»Aber — ich habe drei Kinder.«

»Und ich habe zehntausend Kinder. Und keine Ausreisevisa für sie. Und ich bin machtlos gegen die englische Flotte. Ich schlage vor, daß Sie das älteste Ihrer Kinder schicken. Das wird am besten auf sich allein aufpassen können. Der Zug fährt morgen abend, vom Potsdamer Bahnhof.«

Karen drückte schläfrig ihre Lieblingspuppe an sich. Ihr Vater kniete neben ihr. In ihrem Halbschlummer roch sie den wunderbaren Geruch seiner Pfeife.

»Es wird eine sehr schöne Reise werden, Karen. Das ist genau, als ob du nach Baden-Baden führest.«

»Aber ich mag nicht, Pappi.«

»Hör mal, Karen — denk doch nur an all die netten Jungen und Mädchen, die mit dir fahren.«

»Ich will aber nicht mit ihnen fahren. Ich will hierbleiben, bei dir und Mammi und Hans und Maximilian. Und bei meinem neuen Brüderchen.«

»Na, na, Karen Clement! Meine Tochter wird doch nicht weinen.« »Ich will nicht weinen — ich will ganz bestimmt nicht weinen. Pappi — Pappi — werde ich auch bald wieder bei dir sein?«

»Ja, weißt du — wir werden uns alle Mühe geben —.«

Eine Frau näherte sich Johann Clement und berührte seine Schulter. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »es ist Zeit.«

»Ich setze sie in den Zug.«

»Tut mir leid — aber die Eltern dürfen nicht mit in den Zug.«

Er nickte, drückte Karen rasch noch einmal an sich, trat zurück und biß so fest auf seine Pfeife, daß ihm die Zähne weh taten. Karen ließ sich von der Frau bei der Hand nehmen, doch dann blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. Sie gab ihrem Vater ihre Stoffpuppe. »Pappi, nimm du mein Püppchen, es wird auf dich aufpassen.«

Scharen angsterfüllter Eltern drängten sich am Zug, und die abreisenden Kinder preßten ihre Gesichter gegen das Glas der Fenster, riefen, winkten, und suchten verzweifelt einen letzten Blick zu erhaschen.

Johann Clement suchte nach seiner Tochter, konnte sie aber nicht mehr sehen.

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Die Eltern liefen nebenher und riefen ein letztes Lebewohl.

Professor Clement stand regungslos in der Menge. Als der letzte Wagen vorbeikam, hob er den Blick und sah Karen ganz ruhig und gefaßt auf der hintersten Plattform stehen. Sie legte die Finger an die Lippen und warf ihm eine Kußhand zu — als ob sie ahnte, daß sie ihn nie wiedersehen sollte.

Er sah ihr nach, sah die kleine Figur kleiner und kleiner werden, bis nichts mehr zu sehen war. Sein Blick fiel auf die Puppe, die er in der Hand hielt. »Leb wohl, mein Leben«, sagte er leise.

XII.

Aage und Meta Hansen bewohnten ein wunderschönes Haus in einem Vorort von Aalborg. Es war genau das richtige Heim für ein kleines Mädchen. Sie hatten keine eigenen Kinder. Die Hansens waren ein gut Teil älter als die Clements; Aage bekam schon graue Haare, und Meta war durchaus nicht so schön wie Mirjam; doch Karen fühlte sich dennoch wohl und sicher bei ihnen, vom ersten Augenblick an, als die beiden sie halb im Schlaf in ihr Auto getragen hatten.

Die Fahrt nach Dänemark war wie ein böser Traum gewesen. Sie erinnerte sich nur noch, daß rings um sie herum Kinder gesessen und leise vor sich hingeschluchzt hatten. Alles übrige war undeutlicher Nebel — sie hatten sich in Reihen aufstellen müssen, man hatte ihnen Zettel angesteckt, unbekannte Menschen hatten in einer unverständlichen Sprache zu ihnen gesprochen. Dann ging es in einen Warteraum, in einen Autobus, es gab einen neuen Zettel. Schließlich hatte man sie allein in den Raum geführt, in dem Meta und Aage Hansen standen und ungeduldig warteten. Aage nahm sie in die Arme und trug sie zum Wagen, und Meta hielt sie auf der ganzen Fahrt bis nach Aalborg auf ihrem Schoß, streichelte sie und sprach freundlich mit ihr, und Karen wußte, daß sie bei guten Leuten war.

Aage und Meta blieben erwartungsvoll an der Tür stehen, als Karen zögernd und auf Zehenspitzen in das Zimmer ging, das sie für sie eingerichtet hatten. Es war voll von Puppen und Spielsachen und Büchern und Kleidern und so ungefähr von allem, was sich ein kleines Mädchen überhaupt nur wünschen konnte. Doch dann entdeckte Karen den Wuscheligen jungen Hund auf ihrem Bett. Sie kniete sich neben ihn und streichelte ihn, und er leckte ihr das Gesicht, und sie spürte seine nasse Nase an ihrer Backe. Sie drehte sich um und lächelte den Hansens zu, und Aage und Meta lächelten zurück.

Die ersten Nächte ohne Pappi und Mammi waren schrecklich. Und es war sonderbar, wie sehr sie ihren Bruder Hans vermißte. Sie aß kaum und saß nur still für sich allein in ihrem Zimmer und streichelte den kleinen Hund, den sie Maximilian getauft hatte. Meta Hansen verstand das alles sehr gut. Abends saß sie bei Karen, streichelte sie und hielt ihre Hand, bis das leise Schluchzen aufgehört hatte und Karen eingeschlafen war.

In der darauffolgenden Woche kam ein nicht abreißender Strom von Besuchern, die Geschenke mitbrachten, mächtig viel Getue um Karen machten und in einer Sprache auf sie einredeten, die sie noch nicht verstehen konnte. Die Hansens waren sehr stolz, und Karen gab sich die größte Mühe, zu allen Leuten nett zu sein. Und ein paar Tage später wagte sie sich zum erstenmal aus dem Haus nach draußen.

Karen hatte Aage Hansen schrecklich gern. Er rauchte Pfeife, genau wie ihr Pappi, und er machte gerne Spaziergänge. Aalborg war ein interessanter Ort. Es gab da, wie in Köln, ein Wasser, das hieß der Limfjord. Herr Hansen war Rechtsanwalt und ein großer Mann, und beinahe alle Leute schienen ihn zu kennen. Er war natürlich kein so großer Mann wie ihr Pappi — aber das waren sowieso nur sehr wenige Leute.

Eines Abends sagte Aage: »Hör mal, Karen, du bist jetzt schon beinahe drei Wochen bei uns, und wir möchten gern etwas mit dir besprechen, etwas sehr Wichtiges.«

Er verschränkte die Hände auf dem Rücken, schritt im Zimmer auf und ab und sprach zu ihr, auf eine ganz wunderbare Art, und so, daß sie auch alles sehr gut verstehen konnte. Er erzählte ihr, es gäbe jetzt in Deutschland so vieles, was gar nicht schön sei, und ihre Eltern meinten, es sei besser, wenn sie vorläufig erst einmal hier bei ihnen bliebe. Und dann sagte Aage Hansen, sie wüßten sehr gut, daß sie ihr niemals die Eltern ersetzen könnten, da aber Gott ihnen nun einmal keine eigenen Kinder gegeben habe, seien sie sehr glücklich, sie bei sich zu haben, und sie möchten gern, daß auch Karen glücklich sei. Doch, Karen verstand das alles sehr gut, und sie sagte Aage und Meta, sie hätte nichts dagegen, vorläufig erst einmal bei ihnen zu bleiben.

»Und noch etwas, Karen. Da wir uns dich nun für ein Weilchen ausleihen, und weil wir dich so gern haben, wollten wir dich fragen — würde es dir etwas ausmachen, wenn du dir unseren Namen ausleihst?«

Darüber mußte Karin nachdenken. Ihr schien, Aage hatte noch irgendwelche anderen Gründe. Seine Frage hatte diesen besonderen Ton gehabt, hatte so erwachsen geklungen — genau wie bei Mammi und Pappi, wenn sie hinter geschlossenen Türen miteinander geredet hatten. Dann nickte sie und sagte, ja, das wäre ihr auch recht.

»Schön! Dann heißt du jetzt also Karen Hansen.«

Aage und Meta nahmen sie bei der Hand, wie sie das jeden Abend taten, brachten sie in ihr Zimmer und machten die kleine Lampe an. Aage spielte mit ihr und kitzelte sie, und Maximilian sprang aufs Bett und tobte mit. Karen lachte, bis sie nicht mehr konnte, dann schlüpfte sie unter die Bettdecke und sagte ihr Abendgebet. »— und behüte Mammi und Pappi und Hans und mein kleines Brüderchen, und alle meine Onkel und Tanten und Vettern und Kusinen — und auch die Hansens, die so nett zu mir sind — und die beiden Maximilians.«

»Ich komme gleich und setze mich an dein Bett«, sagte Meta.

»Das ist nicht nötig. Du brauchst jetzt nicht mehr bei mir zu sitzen. Maximilian paßt auf mich auf.«

»Gute Nacht, Karen.«

»Sag mal, Aage, sind die Leute in Dänemark auch so böse auf die Juden?«

Meine liebe Frau Clement, verehrter Herr Professor, ist es wirklich schon sechs Wochen her, daß Karen zu uns kam? Sie ist ein erstaunliches Kind. Ihre Lehrerin hat uns erzählt, daß sie sich in der Schule sehr gut macht. Es ist kaum zu glauben, wie schnell sie Dänisch lernt. Wahrscheinlich kommt das daher, daß sie mit Gleichaltrigen zusammen ist. Sie hat schon viele Freundinnen hier. Der Zahnarzt riet uns, einen Zahn ziehen zu lassen, um Platz zu machen für einen neuen. Es war nicht weiter schlimm. Wir möchten gern, daß Karen Musikstunden bekommt, und werden Ihnen darüber noch genauer schreiben.

Jeden Abend schließt sie in ihr Gebet ...

Und dabei lag ein Brief von Karen, in Blockschrift:

LIEBE MAMMI, PAPPI, HANS, MAXIMILIAN, UND MEIN NEUES BRÜDERCHEN, ICH HABE SOLCHE SEHNSUCHT NACH EUCH, WIE ICH EUCH GAR NICHT SAGEN KANN —. Im Winter läuft man Schlittschuh auf dem Eis des Limfjords, baut Schneemänner und rodelt, und dann sitzt man am knisternden Kamin, und Aage reibt einem die eiskalten Füße.

Doch der Winter verging, der Limfjord taute auf, und das Land wurde grün und blühte. Und als der Sommer kam, fuhren alle an die Nordsee, nach Blockhus, und Karen fuhr mit Meta und Aage im Segelboot hundert Meilen weit hinaus auf das Meer.

Das Leben bei Hansens war schön und abwechslungsreich. Karen hatte eine Menge ,bester' Freundinnen, und sie fand es wunderbar, mit Meta zum Einkaufen auf den Fischmarkt zu gehen, wo es nach allem möglichen roch, oder mit ihr in der Küche zu sein und zuzusehen, wie man einen Kuchen bäckt. Und Meta konnte einem gut helfen bei so vielen Dingen, beim Nähen oder bei den Schularbeiten, und sie war ein so wunderbarer Trost, wenn Karen mal mit Fieber oder Halsschmerzen im Bett liegen mußte.

Aage hatte immer ein Lächeln für sie und offene Arme, und er schien beinah genauso klug und freundlich zu sein wie ihr richtiger Pappi. Aage konnte auch mächtig streng sein, wenn es mal nötig war.

Eines Tages, als Karen gerade zum Tanzunterricht war, rief Aage zu Hause an und bat Meta ins Büro zu kommen.

»Ich habe eben Nachricht vom Roten Kreuz bekommen«, sagte er zu seiner Frau. Er war sehr erregt, und sein Gesicht war blaß. »Sie sind alle miteinander verschwunden. Spurlos. Die ganze Familie. Ich habe alles versucht, aber ich bekomme keinerlei Auskunft aus Deutschland.«

»Und was vermutest du, Aage?«

»Was gibt es da zu vermuten? Man hat sie alle in ein Konzentrationslager gebracht — oder an einen noch schlimmeren Ort.«

»Oh, mein Gott!«

Sie brachten es nicht übers Herz, Karen zu erzählen, daß ihre ganze Familie verschwunden war. Karen schöpfte Verdacht, als keine Briefe mehr aus Deutschland kamen, doch sie hatte zu große Angst, Fragen zu stellen. Sie liebte die Hansens und vertraute ihnen blind. Ihr Instinkt sagte ihr, daß sie ihre guten Gründe haben mußten, wenn sie Karens Familie mit keinem Wort mehr erwähnten.

Außerdem geschah etwas Sonderbares. Gewiß, Karen hatte Sehnsucht nach ihren Eltern und Geschwistern, doch allmählich schien das Bild ihrer Mutter und ihres Vaters mehr und mehr zu verblassen. Wenn ein achtjähriges Kind so lange von seinen Eltern getrennt ist, dann wird es immer schwerer, sich an sie zu erinnern. Karen war manchmal traurig, daß sie sich nicht deutlicher erinnern konnte. Gegen Ende des Jahres konnte sie sich kaum noch vorstellen, daß sie einmal nicht Karen Hansen geheißen hatte und keine Dänin gewesen sein sollte.

WEIHNACHTEN 1939

In Europa war Krieg, und seit Karens Ankunft bei Hansens war ein Jahr vergangen. Karen sang mit ihrer glockenreinen Stimme ein Weihnachtslied, während Meta sie am Klavier begleitete. Dann ging Karen in ihr Zimmer und holte aus dem Schrank ein Paket, das sie dort versteckt hatte. Es enthielt das Weihnachtsgeschenk, das sie in der Schule gebastelt hatte. Stolz überreichte sie es Meta und Aage. Auf das Papier, womit es eingepackt war, hatte sie geschrieben: FÜR MAMMI UND PAPPI, VON EURER TOCHTER KAREN

8. APRIL 1940

Die Nacht war trügerisch und voll Verrat. Durch den Nebel drang das dumpfe Geräusch marschierender Truppen, die sich auf die dänische Grenze zu bewegten. Die dunstige Morgendämmerung brachte Fähre auf Fähre heran. Sie glitten lautlos durch die Nebelschwaden über das Wasser, beladen mit Soldaten in Stahlhelmen. Die deutsche Wehrmacht rückte an, schweigend und mit der Präzision eines Roboters, und überzog das ganze Land.

9. APRIL 1940

Karen und die anderen Mädchen aus ihrer Klasse stürzten an die Fenster und sahen nach oben zum Himmel, der schwarz war von dröhnenden Flugzeugen, die eins nach dem andern herunterkamen und auf dem Flugplatz von Aalborg landeten.

9. APRIL 1940

Die Menschen stürzten verwirrt auf die Straße.

»Hier spricht der Dänische Rundfunk. Heute früh vier Uhr fünfzehn hat die deutsche Wehrmacht bei Saed und Krussa die dänische Grenze überschritten!«

Völlig konsterniert durch das unerwartet schnelle Zuschlagen der Deutschen saßen die Dänen an ihren Radiogeräten und warteten verzweifelt auf eine Botschaft König Christians. Dann kam die Proklamation: Dänemark kapitulierte, ohne einen Schuß zu seiner Verteidigung abgegeben zu haben. Das Beispiel Polens hatte deutlich genug gezeigt, daß jeder Widerstand zwecklos war.

Meta Hansen holte Karen eilig aus der Schule nach Hause und packte die Koffer, um nach Bornholm oder irgendeiner anderen abgelegenen Insel zu fliehen. Aage beruhigte sie und redete ihr gut zu, erst einmal abzuwarten. Es würde Wochen oder gar Monate dauern, bis die Deutschen eine Zivilverwaltung in Gang bekämen. Der Anblick des Hakenkreuzes und der deutschen Uniformen ließ in Karen eine Fülle von Erinnerungen aufsteigen, und mit den Erinnerungen kam die Angst. Alle Leute waren in den ersten Wochen ängstlich und verwirrt; nur Aage blieb ruhig.

Die deutsche Besatzungsmacht und die deutsche Zivilverwaltung machten großartige Versprechungen. Die Dänen, so sagten sie, seien Arier. Die Deutschen betrachteten sie als ihre Brüder, und das Land hätten sie in erster Linie deshalb besetzt, um die Dänen vor den Bolschewisten zu schützen. Dänemark könne, so sagten sie, seine inneren Angelegenheiten weiterhin selbst verwalten. Dänemark sollte ein Musterprotektorat werden. Auf Grund dieser Zusicherungen traten, nachdem sich die anfängliche Erregung gelegt hatte, wieder annähernd normale Verhältnisse ein.

Der ehrwürdige König Christian nahm seine täglichen Ausritte vom Schloß Amalienborg in Kopenhagen wieder auf. Ohne jede Begleitung oder Bewachung bewegte er sich furchtlos durch die Stadt, und die Dänen folgten seinem Beispiel. Die Losung des Tages hieß: passiver Widerstand.

Aage hatte recht behalten. Karen besuchte wieder die Schule, ging zu ihrem Tanzunterricht, und das Leben in Aalborg nahm seinen gewohnten Gang, als sei überhaupt nichts geschehen.

Es kam das Jahr 1941. Seit der Besetzung durch die Deutschen waren acht Monate vergangen. Mit jedem Tag wurde es deutlicher, daß die Spannung zwischen den Deutschen und der Bevölkerung ihres »Musterprotektorats« wuchs. König Christian ärgerte die Eroberer, indem er sie nach wie vor nicht zur Kenntnis nahm. Auch die Bevölkerung ignorierte die Deutschen, soweit sie irgend konnte, oder aber, noch schlimmer, sie machte sich über die Wichtigtuerei der Deutschen lustig und quittierte ihre großsprecherischen Proklamationen mit Gelächter. Je lauter die Dänen lachten, desto wütender wurden die Deutschen.

Alle Illusionen, die sich die Dänen im Anfang der deutschen Besatzungszeit gemacht hatten, wurden sehr bald zerstört. Die dänische Industrie, die dänische Landwirtschaft und die geographische Lage Dänemarks waren in den deutschen Herrschaftsplan einbezogen. Dänemark sollte ein weiteres Rädchen der deutschen Kriegsmaschine werden. Gegen Mitte des Jahres 1941 hatte sich daher in Dänemark, wo man das Beispiel Norwegens, des skandinavischen Brudervolkes, vor Augen hatte, eine zahlenmäßig zwar noch geringe, aber sehr entschlossene Widerstandsbewegung gebildet. Reichsbevollmächtigter Best, Oberhaupt der deutschen Zivilverwaltung in Dänemark, war dem »Musterprotektorat« gegenüber für eine Politik der Mäßigung, solange die Dänen friedlich blieben und zur Mitarbeit bereit waren. Die Maßnahmen gegen die Dänen waren milde im Vergleich zu dem Vorgehen in den anderen besetzten Gebieten. Trotzdem wuchs die Widerstandsbewegung unaufhaltsam. Ihre Mitglieder konnten es zwar nicht wagen, die deutschen Truppen mit Waffengewalt zu bekämpfen oder eine allgemeine Erhebung zu planen, doch sie fanden einen Weg, ihrem Haß auf die Deutschen wirksamen Ausdruck zu verleihen. Dieser Weg hieß Sabotage.

Dr. Werner Best verlor die Nerven nicht. In aller Ruhe erfaßte er diejenigen Dänen, die mit den Nazis sympathisierten, um der neuen Bedrohung Herr zu werden. Die von den Deutschen aufgestellte Hilfspolizei entwickelte sich zu einer Bande dänischer Terroristen, die zu Strafaktionen gegen ihre eigenen Landsleute eingesetzt wurde. Jeder Sabotageakt wurde mit einer Aktion der HIPOS beantwortet. Während die Monate und Jahre der deutschen Besatzung ins Land gingen, erlebte Karen Hansen im abgelegenen Aalborg, wo das Leben ganz normal schien, ihren elften und ihren zwölften Geburtstag. Die Berichte von Sabotageakten und der gelegentliche Krach einer Schießerei oder einer Explosion erschütterten die Ruhe des Städtchens nur für kurze Zeit.

Karen hörte auf, ein Kind zu sein, und verspürte die ersten Freuden und Leiden einer tiefen Zuneigung, die nicht den Eltern oder einer Freundin galt. Sie schwärmte für Mögen Sörensen, den besten Fußballspieler der Schule, und da ihre Zuneigung nicht unerwidert blieb, wurde sie von allen anderen Mädchen beneidet.

Ihre tänzerische Begabung war so groß, daß die Lehrerin Meta und Aage Hansen nahelegte, das junge Mädchen die Aufnahmeprüfung für das Königliche Ballett in Kopenhagen machen zu lassen. Karen sei ein sehr begabtes Kind, meinte die Lehrerin, und in ihrem Tanz äußere sich eine Empfindungsfähigkeit, die weit über ihr Alter hinausginge.

Anfang 1943 wurden die Hansens immer unruhiger. Die dänische Widerstandsbewegung gab den Alliierten durch Funkspruch sehr wertvolle Informationen über die Anlage wichtiger Rüstungsbetriebe und großer Nachschublager auf dänischem Gebiet. Sie ging in ihrer Mitarbeit so weit, der Royal Air Force die genaue Lage dieser Angriffsziele zu übermitteln.

Die HIPOS und andere von den Deutschen gekaufte Terroristen schritten zu Vergeltungsmaßnahmen. Als die Aktivität auf beiden Seiten zunahm, fing Aage an, sich Gedanken zu machen. Alle Leute in Aalborg wußten, wo Karen herkam. Zwar hatte man gegen die dänischen Juden bisher noch nichts unternommen, doch das konnte sich plötzlich andern. Mit ziemlicher Sicherheit war auch anzunehmen, daß die Deutschen durch die HIPOS über Karens jüdische Herkunft informiert waren. Schließlich faßten Meta und Aage den Entschluß, ihr Haus in Aalborg zu verkaufen und nach Kopenhagen zu ziehen, unter dem Vorwand, daß die beruflichen Möglichkeiten für Aage dort besser seien und daß Karen in Kopenhagen auch eine bessere Tanzausbildung bekommen könne.

Im Sommer des Jahres 1943 trat Aage als Sozius in ein Rechtsanwaltsbüro in Kopenhagen ein. In dieser Stadt von einer Million Einwohnern hofften sie, völlig anonym untertauchen zu können. Für Karen wurden falsche Papiere beschafft, aus denen hervorging, daß sie ihre leibliche Tochter war. Karen nahm Abschied von Mögen Sörensen und durchlitt heftigen Liebeskummer.

Die Hansens fanden eine sehr schöne Wohnung am Sortedams Dossering. Das war eine breite Straße, die sich mit vielen Bäumen an einem künstlichen Wasserlauf entlangzog, über den zahlreiche Brücken in die Altstadt führten.

Nachdem sich Karen in der neuen Umgebung eingewöhnt hatte, fand sie Kopenhagen ganz wunderbar. Diese Stadt war wie ein Märchen. Sie machte stundenlange Spaziergänge mit Aage und Maximilian, um sich all das Wunderbare anzusehen, was es hier gab. Man konnte am Hafen entlanggehen, an der Figur der kleinen Meerjungfrau vorbei, die Langelinie entlang oder durch die Gärten des Schlosses Christiansborg. Da gab es Kanäle und schmale Straßen mit alten, fünfstöckigen Backsteinhäusern. Überall waren zahllose Radfahrer unterwegs, und auf dem riesigen Fischmarkt am GammelStrand herrschte solcher Betrieb, daß der Fischmarkt von Aalborg dagegen gar nichts war.

Die Krönung von allem aber bildete das Tivoli mit seinen Anlagen und Blumenbeeten, seiner abendlichen Lichterfülle, seinen Rutschbahnen, Schaukeln und Karussells, dem Kinderorchester und dem Wivex-Restaurant, mit Feuerwerk und Gelächter. Karen verstand bald gar nicht mehr, wie sie es überhaupt fertiggebracht hatte, irgendwo anders zu leben als in Kopenhagen.

Eines Tages kam Karen die Straße herunter nach Hause gelaufen. Sie rannte die Treppe hinauf und riß die Wohnungstür auf, stürzte auf Aage zu und umarmte ihn.

»Pappi! Pappi! Pappi!«

Sie zog ihn vom Stuhl hoch und tanzte um ihn herum. Dann ließ sie ihn verdutzt mitten im Zimmer stehen, tanzte um die Möbel herum, kam zu ihm zurück und warf von neuem die Arme um ihn. Meta erschien an der Tür und lächelte.

»Deine Tochter versucht dir mitzuteilen, daß sie beim Königlichen Ballett angenommen ist.«

»So?« sagte Aage. »Na, das ist ja schön.«

Abends, als Karen schlief, konnte Meta, die schrecklich stolz war, Aage gegenüber endlich ihrem Herzen Luft machen.

»Soviel Talent wie Karen hat, sagte man mir, gäbe es unter tausend Mädchen nur einmal. Nach fünf bis sechs Jahren intensiver Ausbildung könnte sie ganz große Klasse werden.«

»Freut mich — freut mich wirklich«, sagte Aage, der versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie stolz er war.

Doch nicht alles in Kopenhagen war Heiterkeit und Märchenland. Nacht für Nacht erzitterte die Erde von Explosionen, Sprengungen der Widerstandsbewegung, deren Blitze die Nacht erhellten, und die Luft war erfüllt von lodernden Flammen, vom Krachen der Gewehrschüsse, dem Hämmern der Maschinengewehre.

Sabotage!

Vergeltungsmaßnahmen!

Die HIPOS begannen, systematisch Orte und Dinge zu zerstören, die den Dänen lieb und teuer waren. Dänische Nazi-Terroristen sprengten Theater in die Luft, Brauereien und Vergnügungsstätten. Die dänische Widerstandsbewegung schlug zurück und führte Sprengungen in Betrieben aus, die für die deutsche Rüstung arbeiteten. Bald verging kein Tag und keine Nacht, in denen man nicht den Donner der Explosionen vernahm.

Bei den Paraden der Deutschen waren die Straßen leer. Wenn die Deutschen sich in der Öffentlichkeit produzierten, blieben die Dänen in ihren Häusern. Doch an jedem dänischen Nationalfeiertag drängte sich die schweigende Menge der Leidtragenden auf den Straßen. Und der tägliche Ausritt des alten Königs rief eine vielhundertköpfige Menge auf den Plan, die den König mit lauten Zurufen begrüßte und neben ihm herlief.

Die Spannung wuchs und wuchs, bis sie sich schließlich entlud. Am Morgen des 29. August 1943 erfolgte eine Detonation, die über ganz Seeland hin zu hören war: die dänische Flotte hatte sich selbst versenkt, um den Seeweg vollkommen zu blockieren! Die ergrimmten Deutschen marschierten zum Regierungsgebäude und zum königlichen Schloß Amalienborg. Die königliche Wache trat ihnen entgegen. Es entspann sich ein erbittertes Gefecht, doch nach kurzer Zeit war alles vorbei. Statt der königlichen Wache zogen deutsche Soldaten vor dem Schloß in Amalienborg auf. Eine ganze Anzahl deutscher Generäle und hoher SS-Funktionäre erschien in Dänemark, um die Dänen »auf Vordermann zu bringen«. Das dänische Parlament wurde aufgelöst, und es erging eine Reihe scharfer Erlasse. Das Musterprotektorat hatte aufgehört, ein »Muster« zu sein, sofern es das überhaupt jemals gewesen war.

Die Dänen beantworteten die Maßnahmen der Deutschen mit gesteigerter Sabotage. Waffen- und Munitionslager, Fabriken und Brücken wurden in die Luft gejagt. Die Deutschen wurden allmählich nervös. Die Sabotage der Dänen begann sich empfindlich bemerkbar zu machen.

Vom deutschen Hauptquartier im Hotel d'Angleterre erging die Verordnung: ALLE JUDEN HABEN EINE GELBE ARMBINDE MIT DEM JUDENSTERN ZU TRAGEN.

In der Nacht darauf übertrug der illegale Sender eine Botschaft an das dänische Volk: »König Christian hat von Schloß Amalienborg aus auf die deutsche Anordnung, alle Juden hätten einen Judenstern zu tragen, die folgende Antwort erteilt. Der König hat erklärt, daß es zwischen einem Dänen und einem Dänen keinerlei Unterschied gäbe. Er selbst wird als erster den Davidstern tragen, und er erwartet, daß jeder loyale Däne das gleiche tut.«

Am nächsten Tag trug fast die gesamte Bevölkerung von Kopenhagen Armbinden, auf denen der Davidstern zu sehen war.

Am Tag darauf hoben die Deutschen ihre Anordnung wieder auf. Aage selbst war nicht aktiv in der Widerstandsbewegung tätig, doch seine Kollegen, mit denen er assoziiert war, standen an führender Stelle. Daher war er ziemlich genau darüber informiert, was vorging. Im Spätsommer 1943 wurde er sehr unruhig und fand, er müsse nun mit Meta zu einem Entschluß kommen, was mit Karen geschehen sollte.

»Ich weiß es positiv«, sagte er zu seiner Frau. »Im Lauf der nächsten Monate werden die Deutschen alle Juden in Dänemark abholen. Wir kennen nur den genauen Zeitpunkt noch nicht, zu dem die Gestapo zuschlagen wird.«

Meta Hansen ging ans Fenster und starrte hinaus, hinunter auf das Wasser und die Brücke zur Altstadt. Es war Abend, Karen würde bald aus der Ballettschule nach Hause kommen. Meta hatte den Kopf mit allen möglichen Plänen und Vorbereitungen für Karens dreizehnten Geburtstag vollgehabt. Es sollte alles ganz wunderbar werden — mit vierzig Kindern, im Tivoli.

Aage steckte sich die Pfeife an und sah auf Karens Bild, das auf seinem Schreibtisch stand. Er seufzte.

»Ich kann sie nicht weggeben«, sagte Meta.

»Wir haben kein Recht —.«

»Das ist doch etwas ganz anderes, sie ist keine dänische Jüdin. Wir haben Papiere, aus denen hervorgeht, daß sie unsere Tochter ist.« Aage legte seiner Frau die Hand auf die Schulter. »Irgend jemand in Aalborg könnte die Deutschen informieren.«

»Man wird sich doch nicht diese Mühe machen — um ein Kind.« »Kennst du diese Leute noch immer nicht?«

Meta drehte sich herum und sagte: »Wir lassen sie taufen und adoptieren sie.«

Aage schüttelte langsam den Kopf. Seine Frau sank in einen Sessel und biß sich auf die Lippe. Sie umklammerte die Armlehne so krampfhaft, daß ihre Hand weiß wurde. »Was wird werden, Aage?« »Sämtliche Juden sollen heimlich an die Seeländische Küste gebracht werden, in die Nähe des Öre-Sunds. Wir sind dabei, alle Fahrzeuge, die wir bekommen können, aufzukaufen für die Überfahrt nach Schweden. Die Schweden haben uns Nachricht zukommen lassen, daß sie bereit sind, alle aufzunehmen und für sie zu sorgen.«

»Wie viele Nächte habe ich wachgelegen und an diese Möglichkeit gedacht. Ich habe mir einzureden versucht, daß sie in größerer Gefahr ist, wenn sie fliehen muß. Und ich sage mir immer wieder, daß sie sicherer ist, wenn sie hier bei uns bleibt.«

»Überlege dir, was du sagst, Meta.«

Sie sah ihn mit einem Ausdruck der Verzweiflung und der Entschlossenheit an, wie er ihn bei ihr noch nie gesehen hatte. »Nie und nimmer werde ich Karen weggeben, Aage. Ich kann ohne sie nicht leben.«

Alle Dänen, die mitzumachen gebeten wurden, setzten ihre ganze Kraft ein. Die gesamte jüdische Bevölkerung Dänemarks wurde heimlich nach dem Norden von Seeland gebracht und hinübergeschmuggelt nach Schweden, wo sie in Sicherheit war. Kurze Zeit darauf machten die Deutschen in ganz Dänemark eine Razzia, um die Juden abzuholen. Sie fanden keine mehr vor.

Karen blieb in Kopenhagen. Obwohl ihr auch in der Folge nichts geschah, trug Meta doch schwer an der Verantwortung, die sie auf sich genommen hatte. Die deutsche Besatzung wurde für sie ein einziger Angsttraum. Jedes neue Gerücht löste eine Panik bei ihr aus. Drei- oder viermal floh sie mit Karen aus Kopenhagen zu Verwandten in Jütland.

Aage schloß sich der Widerstandsbewegung an und wurde immer aktiver. Jede Woche war er drei bis vier Nächte nicht zu Haus. Für Meta waren es lange und schreckliche Nächte.

Der dänische Widerstand, dessen Kräfte inzwischen zusammengefaßt und auf bestimmte Ziele gerichtet waren, konzentrierte seine Energie auf die Zerstörung der deutschen Transportwege. Es verging kaum eine halbe Stunde, ohne daß irgendwo eine Eisenbahnstrecke unterbrochen wurde. Bald war das gesamte dänische Eisenbahnnetz von den Trümmern und Wracks der in die Luft gesprengten Züge gesäumt.

Die HIPOS rächten sich, indem sie das Tivoli sprengten, den Lieblingsort aller Kopenhagener.

Die Dänen riefen zum Generalstreik gegen die Deutschen auf. Sie gingen in Massen auf die Straßen und errichteten in ganz Kopenhagen Barrikaden, von denen dänische, amerikanische, englische und russische Fahnen wehten.

Die Deutschen verhängten den Belagerungszustand über Kopenhagen.

Reichskommissar Best brüllte wütend: »Der Mob von Kopenhagen soll die Knute zu spüren bekommen!«

Der Generalstreik wurde niedergeknüppelt, doch die Widerstandsbewegung setzte ihre Zerstörungsarbeit fort.

19. SEPTEMBER 1944

Die Deutschen internierten die gesamte dänische Polizei, weil es ihr nicht gelungen war, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und weil sie Sympathie für die gegen die Besatzungsmacht gerichteten Aktionen der dänischen Bevölkerung bekundet hatte. Die Widerstandsbewegung unternahm einen tollkühnen Anschlag auf die amtlichen Archive der Nazis und vernichtete sämtliche Akten. Die Widerstandsbewegung stellte leichte Waffen her und schmuggelte Männer nach Schweden, wo sie dem Dänischen Freikorps beitraten. Die Wut der Widerstandskämpfer richtete sich gegen die HIPOS und andere Verräter, mit denen teilweise kurzer Prozeß gemacht wurde. HIPOS und Gestapo, rasend vor Wut, antworteten zur Vergeltung mit einer Welle wahlloser Erschießungen.

Und dann begannen Flüchtlinge aus Deutschland nach Dänemark zu strömen. Sie überschwemmten das ganze Land und forderten Nahrung und Unterkunft, ohne dafür zu danken. Die Dänen drehten ihnen verächtlich den Rücken.

Im April des Jahres 1945 schwirrten alle möglichen Gerüchte durch die Luft.

4. MAI 1945

»Mammi! Pappi! Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus!«

XIII.

Der Krieg war aus, und in Dänemark rückten die Sieger ein, die Amerikaner, die Engländer und das Dänische Freikorps. Es waren bewegte Tage — eine Woche der Vergeltung, der Abrechnung mit den HIPOS und den dänischen Verrätern, mit Reichskommissar Best und der Gestapo. Eine Woche lärmender, überschwenglicher Freude, deren Höhepunkt die Wiedereröffnung des dänischen Parlaments durch den alten König Christian war. Er sprach mit stolzer, aber matter Stimme, die vor Bewegung unsicher war. Für Meta und Aage Hansen war die Woche der Befreiung eine Zeit der Sorge. Vor sieben Jahren hatten sie ein Kind aus schwerer Gefahr errettet und es herangezogen zu einem blühenden jungen Mädchen, einem Mädchen, von strahlender Anmut und Heiterkeit. Und jetzt: der Tag des Gerichts.

In einem Anfall von Angst und Verzweiflung hatte Meta Hansen einst geschworen, sie würde Karen nie und nimmer hergeben. Nun aber wurde Meta Hansen das Opfer ihrer Rechtschaffenheit. Was ihr jetzt zu schaffen machte, waren nicht mehr äußere Feinde, sondern ihr christliches Gewissen. Und auch Aage würde tun, was ihm sein dänisches Ehrgefühl befahl. Mit der Befreiung kam für sie die Angst vor der Leere, die in ihrem Leben entstehen würde, wenn Karen eines Tages nicht mehr da war. Beide waren in den letzten sieben Jahren sehr gealtert. Das zeigte sich in dem Augenblick, als die Spannung des Krieges zu Ende war. So bedrohlich es in den vergangenen Jahren mitunter auch ausgesehen hatte, sie hatten doch nie das Lachen verlernt; jetzt aber, während ganz Dänemark lachte, war es bei ihnen still geworden. Die Hansens hatten kein anderes Verlangen, als Karen anzusehen, ihre Stimme zu hören, und stundenlang saßen sie in Karens Zimmer, verzweifelt bemüht, möglichst viele Erinnerungen für später zu sammeln.

Karen war sich darüber klar, was kommen mußte. Sie liebte die Hansens. Aage hatte immer das Richtige getan. Sie mußte warten, bis er als erster sprach. Von Tag zu Tag wurde die Stimmung bedrückter und das Schweigen schwerer. Endlich, zwei Wochen nach der Befreiung, als sie wieder einmal schweigend zu Abend gegessen hatten, erhob sich Aage vom Tisch und legte seine Serviette hin. Sein freundliches Gesicht lag in bekümmerten Falten, und seine Stimme war matt und ausdruckslos. »Wir müssen versuchen, deine Eltern zu finden, Karen«, sagte er. »Das ist unsere Pflicht.« Damit ging er rasch hinaus. Karen sah zur Tür, hinter der er verschwunden war, und dann zu Meta, die ihr am Tisch gegenübersaß.

»Ich liebe euch doch«, sagte Karen, lief in ihr Zimmer und warf sich schluchzend auf das Bett. Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie den Hansens diese Sorge bereitete. Und auch noch aus einem anderen Grunde war sie mit sich unzufrieden. Sie wußte nichts über ihre Vergangenheit; jetzt aber verlangte es sie danach, darüber Klarheit zu erhalten. Einige Tage später begaben sie sich zu der internationalen Flüchtlingsorganisation.

»Das ist meine Pflegetochter«, sagte Aage.

Die Sachbearbeiterin, mit der sie sprachen, hatte in der kurzen Zeit seit der Befreiung schon viele Fälle wie den des Ehepaares Hansen und ihrer Pflegetochter Karen erlebt. Tag für Tag war sie gezwungen, Augenzeuge von Tragödien zu werden. Oberall, in Dänemark und Holland, in Schweden, Belgien und Frankreich erschienen Pflegeeltern wie die Hansens, die Kinder bei sich aufgenommen, sie verborgen, geschützt und aufgezogen hatten, um ihren bitteren Lohn zu empfangen.

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß die Sache außerordentlich schwierig und nervenaufreibend ist, und daß es nicht so rasch gehen wird. Es gibt Millionen herumirrender Menschen in Europa. Wir haben keinerlei Ahnung, wie lange es dauern wird, die auseinandergerissenen Familien wieder zusammenzuführen.«

Sie teilten der Sachbearbeiterin alle ihnen bekannten Tatsachen mit, übergaben ihr eine Liste sämtlicher Verwandter Karens und die Briefe ihrer Eltern. Da Karen eine sehr zahlreiche Verwandtschaft hatte und ihr Vater ein prominenter Mann gewesen war, machte die Dame ihnen ein klein wenig Hoffnung.

Es verging eine Woche, dann eine zweite und schließlich eine dritte. Es wurde Juni und Juli. Für Aage und Meta waren es qualvolle Monate. Immer häufiger standen sie in der offenen Tür zu Karens Zimmer. Es war ein reizendes Jungmädchenzimmer. Ihre Schlittschuhe standen da, ihre Ballettschuhe, an der Wand hingen Bilder von Klassenkameradinnen und von Primaballerinen. Auch das Foto eines jungen Mannes, des Sohnes der Familie Petersen, für den sie schwärmte.

Schließlich wurden Hansens aufgefordert, in das Büro der Flüchtlingsorganisation zu kommen.

»Wir stehen vor der Tatsache«, sagte die Sachbearbeiterin, »daß alle von uns angestellten Nachforschungen bisher ergebnislos gewesen sind. Das bedeutet aber nichts Endgültiges. Die Sache ist eben schwierig und braucht Zeit. Wenn ich zu entscheiden hätte, so wurde ich Karen davon abraten, allein nach Deutschland zu reisen, ja, nicht einmal in Begleitung von Herrn Hansen. In Deutschland herrscht ein völliges Chaos, und Sie würden auch dort nichts ausfindig machen, was wir nicht ebensogut von hier aus ermitteln könnten.« Die Dame machte eine Pause, warf den Hansens und Karen einen scheuen Blick von der Seite zu und sagte dann zögernd: »Ich muß Sie vorsorglich auf etwas aufmerksam machen. Wir bekommen täglich mehr und mehr Meldungen, aus denen hervorgeht, daß etwas ganz Schreckliches geschehen ist. Eine große Anzahl von Juden ist umgebracht worden. Es hat allmählich den Anschein, daß es sich um Millionen handelt.«

Das war für die Hansens ein nochmaliger Aufschub. Doch welch entsetzlicher Aufschub! Sollten sie Karen nur deshalb behalten dürfen, weil mehr als fünfzig ihrer nächsten Angehörigen umgebracht worden waren? Die Hansens wurden unschlüssig hin-und hergerissen. Die Entscheidung kam von Karen selbst.

Bei aller Liebe und Zuneigung, die sie für Aage und Meta Hansen empfunden und von ihnen empfangen hatte, war zwischen ihnen immer eine seltsame, unsichtbare Barriere gewesen. Im Anfang der deutschen Besatzung, als Karen erst acht Jahre alt gewesen war, hatte Aage ihr gesagt, sie dürfe nie darüber sprechen, daß sie Jüdin sei, weil sie dadurch ihr Leben gefährden würde. Karen hatte sich daran gehalten, genau wie sie auch sonst Aage in allem gehorchte, da sie ihn liebte und ihm vertraute. Dennoch aber mußte sie immer wieder darüber nachdenken, wieso sie eigentlich anders war als andere Leute, und wieso sie durch diese ihr nicht verständliche Andersartigkeit ihr Leben gefährde. Da sie nie danach fragen konnte, hatte sie auch niemals Aufschluß darüber bekommen. Dazu kam, daß Karen keinen Kontakt mit anderen Juden gehabt hatte. Sie fühlte sich nicht anders als andere Dänen, und sie wußte, daß sie auch nicht anders aussah als sie. Dennoch gab es eine unsichtbare, trennende Schranke.

Vielleicht hätte dieses Problem eines Tages von selbst aufgehört, sie zu beschäftigen, doch Aage und Meta erinnerten Karen, ohne es zu wissen und wollen, immer wieder daran. Sie waren gläubige und eifrige Lutheraner, gingen jeden Sonntag mit Karen zur Kirche, und jeden Abend vorm Zubettgehen las Aage aus dem Buch der Psalmen vor. Karen hütete die kleine, in Schweinsleder gebundene Bibel, die sie zu ihrem zehnten Geburtstag von den Hansens geschenkt bekommen hatte, wie einen Schatz, und sie las begeistert die wunderbaren und märchenhaften Geschichten, besonders die aus dem Buch der Richter, dem Buch Samuel und dem Buch der Könige. In der Bibel zu lesen, das war genauso aufregend und wunderbar, wie in Andersens Märchen.

Doch in der Bibel war so vieles, was Karen nicht verstand, was sie beunruhigte. Oftmals wünschte sie sich, mit Aage über alles sprechen zu können. Jesus war ja auch Jude gewesen und seine Mutter und alle seine Jünger waren Juden. Das ganze Alte Testament, das Karen besonders faszinierend fand, handelte ausschließlich von den Juden. Und hieß es nicht immer wieder, daß die Juden das Volk waren, das Gott auserwählt hatte?

Wenn das wahr war, wie konnte es dann so gefährlich sein, Jude zu sein, und woher kam es dann, daß die Juden so gehaßt wurden? Je älter Karen wurde, desto intensiver suchte sie nach einer Antwort auf diese Fragen. Als sie vierzehn war, konnte sie sich schon vieles von dem, was in der Bibel stand, zurechtlegen und ausdeuten. Fast alles, was Jesus gelehrt hatte, war schon im Alten Testament niedergelegt. Und das war das größte von allen Rätseln: sollte Jesus erneut auf die Erde kommen, so würde er, das stand für Karen fest, bestimmt lieber in eine Synagoge gehen als in eine Kirche. Wie konnten Menschen Jesus verehren und Gottes auserwähltes Volk hassen?

An ihrem vierzehnten Geburtstag ereignete sich noch etwas anderes, was Karen aufmerksam und nachdenklich machte. In diesem Alter wurden die dänischen Mädchen konfirmiert, und die Konfirmation war eine feierliche und festliche Sache. Karen war als Dänin und als Christin herangewachsen, dennoch hatten die Hansens wegen der Konfirmation Bedenken. Sie sprachen darüber, und Aage und Meta waren sich einig, daß sie keine Entscheidung fällen könnten in einer Frage, die bereits durch Gott entschieden war. So sagten sie Karen eines Abends, daß sie die Konfirmation mit Rücksicht auf den Krieg und die Unsicherheit der Verhältnisse lieber verschieben wollten. Doch Karen ahnte den wahren Grund.

Als sie damals zu den Hansens gekommen war, hatte sie nach Liebe und nach Schutz verlangt. Jetzt aber hatte sie ein größeres Verlangen: sie wollte wissen, woher sie kam und wer sie war. Und sie wollte wissen, was es eigentlich bedeutete, Jude zu sein. All diese brennenden Fragen hatte sie bisher verdrängt, um für immer als Dänin unter Dänen leben zu können. Jetzt war ihr das nicht mehr möglich.

Als sich der Krieg seinem Ende näherte, begriff Karen, daß sie nicht bei den Hansens bleiben konnte, und sie bereitete sich innerlich auf den Schock der unvermeidlichen Trennung vor. Karen Hansen zu sein, das war nur eine Rolle, die sie gespielt hatte. Jetzt wurde es für sie eine Sache von höchster Wichtigkeit, Karen Clement zu werden. Sie versuchte, Einzelheiten ihrer Vergangenheit zu rekonstruieren, sich an ihren Vater zu erinnern, an ihre Mutter und an ihre Brüder. Erinnerungen tauchten wieder vor ihr auf, undeutlich und ohne Zusammenhang. Immer wieder stellte sie sich vor, wie es sein würde, wenn sie wieder mit ihren Eltern und Geschwistern vereint wäre.

Als dann das Ende des Krieges kam, war Karen vorbereitet und gefaßt. Einige Monate nach Kriegsende eröffnete sie eines Abends den Hansens, daß sie sich aufmachen wolle, um ihre Eltern zu suchen. Sie sagte ihnen, daß sie mit der Dame im Büro der Flüchtlingsorganisation gesprochen habe, und daß die Aussichten, ihre Familie zu finden, größer seien, wenn sie sich in ein Lager für Zwangsverschleppte in Schweden begäbe. In Wirklichkeit waren die Aussichten nicht größer, als wenn sie in Kopenhagen geblieben wäre, doch sie ertrug es nicht, den Abschiedsschmerz der Hansens zu verlängern.

Karen blutete das Herz. Sie hatte mehr Mitleid mit Aage und Meta als mit sich selbst. Mit dem Versprechen, ihnen zu schreiben, und mit der schwachen Hoffnung, sie irgendwann einmal wiederzusehen, überließ sich Karen Hansen-Clement, vierzehn Jahre alt, dem endlosen Strom der Menschen, die der Krieg von Heim und Herd vertrieben hatte.

XIV.

Die ersten Monate fern von Dänemark waren wie ein böser Traum. Bisher war sie immer behütet und beschützt gewesen, jetzt erschrak sie vor der rauhen Wirklichkeit. Doch eine unbeugsame Entschlossenheit trieb sie auf ihrem Weg voran.

Dieser Weg führte sie zunächst in ein Lager in Schweden, und von dort auf ein Schloß in Belgien, wo es von Menschen ohne Heim, Habe und Ziel wimmelte. Es waren Menschen, die in Konzentrationslagern gesessen hatten, Menschen, die geflohen und untergetaucht waren, die sich verborgen gehalten hatten, die als Partisanen gekämpft und in den Wäldern und auf den Bergen gelebt hatten, es waren Angehörige aus dem zahllosen Heer der Zwangsarbeiter. Jeder Tag brachte ungewisse Gerüchte und neue schreckliche Gewißheiten. Jeder Tag brachte für Karen immer neue erschütternde Nachrichten. Fünfundzwanzig Millionen Tote — das war die grauenhafte Ernte des Krieges.

Von Belgien führte sie der Weg nach Frankreich, nach La Ciotat, einem Lager für Zwangsverschleppte am Golfe du Lion, einige Meilen von Marseille entfernt. Das Lager war ein freudloser Ort. Auf engem Raum standen düstere Zementbaracken, die in einem Meer von Schlamm zu versinken schienen. Von Tag zu Tag stieg die Zahl der Flüchtlinge, die sich hier ansammelten. Das Lager war überfüllt, es fehlte an allem, und die Lagerinsassen schienen auch hier vom Schreckgespenst des Todes verfolgt zu sein. Für diese Menschen war ganz Europa zu einem einzigen Sarg geworden.

Massenmord! Ausrottung! Ein Totentanz von sechs Millionen! Hier hörte Karen die Namen Himmler und Frank, sie hörte von Streicher, von Kaltenbrunner und von Heydrich. Sie hörte von Ilse Koch, die Lampenschirme aus tätowierter Menschenhaut hergestellt hatte, von Dieter Wisliczeny, der als Leithammel die Schafe zur Schlachtbank geführt hatte. Sie hörte von Krämer, der Spezialist im Auspeitschen nackter Frauen gewesen war, und sie erfuhr den Namen des größten Verbrechers: Eichmann, dem Meister im Massenmord.

Sie hörte die Namen all der anderen, die sich an unmenschlicher Grausamkeit gegenseitig zu überbieten versucht hatten.

Karen verwünschte den Tag, an dem sie die verschlossene Tür mit der Inschrift »Jude« geöffnet hatte, denn hinter dieser Tür war der Tod. Es verging kaum ein Tag ohne eine weitere Bestätigung, daß noch einer ihrer Verwandten umgekommen war.

Massenmord — ausgeführt mit der Präzision einer Maschine. Anfangs waren die Methoden noch primitiv. Die Opfer wurden erschossen. Dann entwickelte man Wagen, in denen die Häftlinge auf der Fahrt zum Massengrab vergast wurden. Doch auch diese Gaswagen arbeiteten nicht schnell genug. Als nächstes erdachte man Verbrennungsöfen und Gaskammern, in denen innerhalb einer halben Stunde zweitausend Menschen umgebracht werden konnten; das ergab in einem der größten Lager an »guten« Tagen zehntausend Tote. Die Organisation und die Methode erwiesen sich als wirkungsvoll, und die Ausrottung nahm planmäßig und in großem Maßstab ihren Verlauf.

Karen hörte von Tausenden von Gefangenen, die sich selbst in den elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun geworfen hatten, um so den Gaskammern zu entgehen.

Karen hörte von Hunderten, ja Tausenden, die von Hunger und Seuche angefallen wurden und deren ausgemergelte Körper, zwischen die man Holzscheite gelegt hatte, dann in Gräben geworfen und mit Benzin begossen worden waren.

Karen hörte von dem Täuschungsmanöver, das man veranstaltete, um kleine Kinder ihren Müttern zu entreißen, indem man eine Umordnung des Lagers vorschützte. Sie hörte von Zügen, in die Alte und Schwache, eng aneinandergedrängt, geworfen wurden. Karen hörte von den Entlausungskammern, in denen man den Gefangenen Seifenstücke in die Hand gegeben hatte. Die Räume waren Gaskammern und die Seife war aus Stein.

Karen hörte von Müttern, die ihre Kinder in den Kleidern versteckten, die sie an Haken hängen mußten, ehe man sie in die Gaskammern führte. Aber die Deutschen kannten den Trick und fanden die Kleinen immer.

Karen hörte von Tausenden, die nackt neben den Gräbern knieten, die sie selbst gegraben hatten, von Vätern, die ihre Hände über die Augen der Söhne legen mußten, wenn Deutsche ihnen mit Pistolen den Genickschuß gaben.

Sie hörte von SS-Hauptsturmführer Fritz Gebauer, der sich auf das Erdrosseln von Frauen spezialisiert hatte und der gern zusah, wenn Kinder in Fässern mit Eiswasser erfroren.

Sie hörte von Heinen, der eine Methode erfand, wie man mehrere Leute in eine Reihe aufstellen und durch eine einzige Kugel umbringen konnte. Er versuchte von Mal zu Mal, seinen eigenen Rekord zu überbieten.

Sie hörte von Franz Warzok, der Wetten darüber abschloß, wie lange ein menschliches Wesen am Leben bleibt, wenn man es an den Füßen aufhing.

Sie hörte von Obersturmbannführer Rokita, der Körper in einzelne Teile zerriß.

Sie hörte von Steiner, der die Köpfe und Bäuche von Gefangenen durchbohrte, ihnen die Fingernägel herausriß und die Augen herausdrückte und der gern nackte Frauen bei den Haaren faßte und sie im Kreis herumschleuderte.

Sie hörte von General Franz Jächeln, der das Massaker von Babi Yar geleitet hatte. Babi Yar war ein Vorort von Kiew, in dem innerhalb von zwei Tagen 33 000 Juden zusammengetrieben und erschossen wurden. Jubelnde Ukrainer hatten dabei zugesehen.

Sie hörte vom anatomischen Institut Professor Hirts in Straßburg und von seinen Assistenten, und sie sah verstümmelte Frauen, die ihnen als Versuchsobjekte gedient hatten.

Dachau war das größte »wissenschaftliche« Zentrum gewesen. Sie hörte, daß Dr. Heisskeyer dort Kindern Tb-Bazillen einimpfte und ihren Tod beobachtete. Dr. Schütz interessierte sich für Blutvergiftungen. Dr. Rascher wollte das Leben der deutschen Fliegermannschaften retten, und bei seinen Experimenten mit hohem Luftdruck erfroren menschliche Versuchskaninchen, während man sie sorgfältig hinter Spezialfenstern beobachtete. Es gab noch weitere Versuche, die die Deutschen in ihrer Reihe »Wahrheit in der Wissenschaft« unternommen hatten. Sie erreichten den Höhepunkt mit dem Versuch der künstlichen Befruchtung mit Tiersamen bei Frauen.

Karen hörte von Wilhaus, dem Lagerkommandanten von Janowka, der den Komponisten Muno beauftragte, den »Todestango« zu schreiben. Diese Musik war für 200 000 Juden in Janowka die letzte ihres Lebens. Sie hörte mehr über Wilhaus. Sie hörte, daß sein Steckenpferd darin bestand, kleine Kinder in die Luft zu werfen, um zu sehen, wie oft man den Körper mit der Pistole treffen konnte, ehe er am Boden aufschlug. Seine Frau Ottilie war ebenfalls ein ausgezeichneter Schütze.

Karen weinte fassungslos. Sie wurde verfolgt von Visionen des Schrecklichen, das sie erfuhr. Sie lag in den Nächten schlaflos, und die Namen aus dem Land des Grauens marterten ihr Gehirn. Hatte man ihren Vater, ihre Mutter und ihre Brüder nach Buchenwald gebracht, oder waren sie in Dachau umgekommen? Vielleicht waren sie in Chelmno, mit einer Million Opfer, oder in Majdanek, mit siebenhundertundfünfzigtausend Menschen umgekommen. Oder in Belzec oder in Treblinka, in Sobibor oder Trawniki, in Poniatow oder Krivoj Rog. Hatte man sie in den Gräben von Krasnik erschossen oder auf dem Scheiterhaufen von Klooga verbrannt oder ihre Körper von Hunden in Diedzyn zerreißen lassen oder in Stutthof zu Tode gefoltert?

Die Peitschenhiebe! Die Eisbäder! Der elektrische Stuhl!

Die Lötkolben! Massenmord!

Waren sie im Lager von Choisel oder Dora gewesen, in Groß-Rosen oder Neuengamme, oder hatten sie den »Todestango« in Janowka hören müssen?

War ihre Familie unter den Toten, deren Körper in Danzig zu Seife verarbeitet wurden?

Der Tod verfolgte die »displaced persons« im Lager von La Ciotat in der Nähe von Marseille in Frankreich.

Karen konnte weder essen noch schlafen. Immer neue Namen hörte sie aus dem Land des Grauens. Kivioli, Warka, Magdeburg, Plaszow, Trzebynia, Mauthausen, Sachsenhausen, Oranienburg, Landsberg, Bergen-Belsen, Rensdorf, Blizin.

Flossenburg! Ravensbrück! Natzweiler!

Doch alle diese Namen waren harmlos, verglichen mit Auschwitz! Auschwitz, mit seinen drei Millionen Toten! Mit seinen Magazinen, die bis unter die Decke mit Brillen angefüllt waren, mit Schuhen, mit Kleidung, mit Puppen und mit riesigen Ballen menschlichen Haares zur Herstellung von Matratzen! Auschwitz, wo die Goldzähne der Toten sorgfältig gesammelt und eingeschmolzen wurden. Auschwitz, wo besonders wohlgeformte Totenschädel präpariert und als Briefbeschwerer verwendet wurden; Auschwitz, über dessen Eingangstor ein Schild hing mit der Inschrift: ARBEIT MACHT FREI.

Karen Hansen-Clement versank in tiefe Melancholie. Sie hörte und sah, bis sie nichts mehr sehen und nichts mehr hören konnte. Sie war erschöpft und verwirrt, und willenlos. Und dann, wie so oft, wenn man am Ende zu sein glaubt, kam die Wendung, und es ging aufwärts.

Es begann damit, daß sie einem elternlosen Kind zulächelte und über das Haar strich, und das Kind die Wärme ihres Mitgefühls spürte. Karen vermochte Kindern das zu geben, wonach sie am meisten verlangten: Zärtlichkeit. Sie flogen ihr zu. Karen schien instinktiv zu wissen, wie man eine Nase putzt, ein Wehweh heilt oder eine Träne trocknet, und sie konnte in vielen Sprachen Geschichten erzählen und Lieder am Klavier singen.

Sie stürzte sich mit einem Eifer in die Arbeit, nahm sich der kleineren Kinder so völlig an, daß sie darüber sogar den eigenen Schmerz ein wenig vergaß. Ihre Geduld war unermüdlich, und immer hatte sie Zeit und Kraft für andere.

In La Ciotat verlebte sie ihren fünfzehnten Geburtstag. Gewiß, Karen war halsstarrig, aber sie klammerte sich voller Zuversicht an zwei große Hoffnungen. Ihr Vater war ein prominenter Mann, und die Nazis hatten ein Lager gehabt, in dem die Häftlinge weder gequält noch umgebracht wurden. Das war das Lager Theresienstadt in der Tschechoslowakei. Falls man ihn dorthin gebracht hatte, was durchaus möglich war, dann konnte er noch am Leben sein. Die andere, allerdings schwächere Hoffnung war, daß man viele Wissenschaftler heimlich aus dem Land herausgebracht hatte, auch nachdem sie bereits in Konzentrationslager gekommen waren. Diesen vagen Hoffnungen stand die bestätigte Gewißheit gegenüber, daß mehr als die Hälfte ihrer Verwandten ums Leben gekommen war.

Eines Tages kamen mehrere Dutzend Neuzugänge, und das ganze Lager schien über Nacht völlig verwandelt. Diese Neuen, Mitglieder der Organisation Mossad Aliyah Bet und Palmach, kamen aus Palästina, um die innere Organisation des Lagers in die Hand zu nehmen.

Einige Tage nach ihrer Ankunft tanzte Karen für ihre kleinen Schützlinge, zum erstenmal wieder seit dem Sommer. Von diesem Augenblick an wurde sie immer wieder aufgefordert, zu tanzen, und bald gehörte sie zu den populärsten Insassen des ganzen Lagers. Ihr Ruhm drang sogar bis nach Marseille, wohin sie fahren mußte, als sie aufgefordert wurde, in der Weihnachtsaufführung die Nußknacker-Suite zu tanzen.

WEIHNACHTEN 1945

Die Einsamkeit des ersten Weihnachtsfestes fern von den Hansens war schrecklich. Die Hälfte der Kinder von La Ciotat waren nach Marseille gekommen, um Karen tanzen zu sehen, und Karen tanzte an diesem Abend, wie sie noch nie getanzt hatte.

Nach der Vorstellung kam ein Mädchen aus Palästina, eine Palmach-Angehörige namens Galila, die in La Ciotat Gruppenführerin war, zu Karen und bat sie, zu warten, bis alle gegangen waren. Galila liefen die Tränen über die Wangen, während sie sagte:

»Karen — wir haben soeben die Bestätigung bekommen, daß deine Mutter und deine beiden Brüder in Dachau umgebracht worden sind.«

Karen versank in noch tieferen Gram als zuvor. Der unerschütterliche Mut, der sie bisher aufrechterhalten hatte, verließ sie. Es war ein Fluch, als Jüdin geboren zu sein, und nur dieser Fluch, so schien es ihr, hatte sie den wahnsinnigen Entschluß fassen lassen, aus Dänemark wegzugehen.

Allen Kindern in La Ciotat war eines gemeinsam. Sie alle glaubten daran, daß ihre Eltern noch lebten. Und alle warteten auf ein Wunder, das sich aber nie ereignete. Was für ein Narr war sie gewesen, an dieses Wunder zu glauben!

Als sie nach mehreren Tagen wieder einigermaßen zu sich kam, schüttete sie Galila ihr Herz aus. Sie meinte, es würde über ihre Kraft gehen, untätig dazusitzen und auf die Nachricht zu warten, daß auch ihr Vater tot sei.

Galila, das Mädchen aus Palästina und ihre einzige Vertraute im Lager, war der Meinung, daß Karen, wie alle Juden, nach Palästina gehen sollte. Palästina sei der einzige Ort, wo man als Jude ein menschenwürdiges Leben führen könne, erklärte Galila. Doch Karen, deren Hoffnung vernichtet war, wollte vom ganzen Judentum nichts mehr wissen; denn es hatte ihr nur Unglück gebracht, und von ihr übriggeblieben war einzig eine Dänin, Karen Hansen. Nachts schlug sich Karen mit der gleichen Frage herum wie jeder Jude, seit vor zweitausend Jahren der Tempel in Jerusalem zerstört und die Juden in alle vier Winde zerstreut worden waren, um seitdem ruhelos über die Erde zu wandern. Sie fragte sich: »Warum gerade ich?«

Mit jedem Tag kam sie dem Augenblick näher, da sie den Hansens schreiben wollte, um sie zu bitten, für immer zu ihnen zurückkehren zu dürfen.

Dann aber kam eines Morgens Galila in Karens Baracke gestürzt und zerrte sie zum Verwaltungsgebäude, wo Karen mit einem Mann namens Dr. Brenner bekannt gemacht wurde, einem Flüchtling, der neu nach La Ciotat gekommen war.

»O mein Gott!« rief Karen, als sie die Nachricht erfuhr. »Sind Sie sicher?«

»Ja«, sagte Dr. Brenner, »ich bin völlig sicher. Sehen Sie, Ihr Vater ist ein alter Bekannter von mir. Ich hatte einen Lehrstuhl in Berlin. Wir haben häufig miteinander korrespondiert, und wir haben uns auf Tagungen getroffen. Ja, Sie können mir glauben, wir waren zusammen in Theresienstadt, und ich habe ihn noch kurz vor Kriegsende dort gesehen.«

XV.

Eine Woche später bekam Karen einen Brief von den Hansens, mit der Mitteilung, daß die Flüchtlingsorganisation um Auskunft über Karens Aufenthalt gebeten und außerdem angefragt habe, ob das Ehepaar Hansen irgend etwas über Karens Mutter oder ihre Brüder wüßte.

Man nahm an, daß die Anfrage von Johann Clement kam oder von jemandem, der in seinem Auftrag handelte. Karen schloß daraus, daß ihr Vater und ihre Mutter voneinander getrennt worden waren, und ihr Vater keine Kenntnis vom Tod ihrer Mutter und ihrer Brüder hatte. Der nächste Brief von den Hansens teilte mit, daß sie zwar geantwortet hätten, die Flüchtlingsorganisation aber den Kontakt mit Clement verloren habe.

Er lebte! Die vielen und langen Monate, die sie in den Lagern in Schweden, in Belgien und in La Ciotat zugebracht hatte, hatten sich also doch gelohnt! Noch einmal fand sie den Mut, nach ihrer Vergangenheit zu forschen.

Karen wunderte sich, wieso La Ciotat durch Geldspenden von Juden, die in Amerika lebten, finanziert wurde. Alle Nationen waren im Lager vertreten, aber keine Amerikaner. Sie fragte Galila, die aber zuckte nur die Achseln und sagte »Zionismus, das ist, wenn jemand einen anderen um Geld bittet, um es einem dritten zu geben, damit ein vierter nach Palästina kann«.

»Wie schön«, meinte Karen, »daß wir Freunde haben, die zusammenhalten.«

»Wir haben allerdings auch Feinde, die zusammenhalten«, antwortete Galila.

Die Insassen des Lagers La Ciotat waren ihrem Aussehen und ihrem Verhalten nach wahrhaftig nicht anders als andere Menschen, stellte Karen fest. Die meisten von ihnen waren durch die Tatsache, daß sie Juden waren, genauso verwirrt wie sie selbst.

Als sie genügend Hebräisch gelernt hatte, um sich allein zurechtzufinden, wagte sie sich in den Teil des Lagers, in dem die orthodoxen Juden untergebracht waren, und beobachtete dort die für sie seltsamen rituellen Handlungen, die Gebete und die Kleidung dieser Leute. Das Judentum war unabsehbar wie ein Meer, und ein fünfzehnjähriges Mädchen konnte darin wahrhaftig ertrinken. Die jüdische Religion beruhte auf einem umfassenden System von Gesetzen. Einige davon waren schriftlich festgelegt, und einige nur mündlich überliefert. Sie erstreckten sich bis in die kleinsten Kleinigkeiten, so zum Beispiel gab es eine Vorschrift, wie man auf einem Kamel zu beten habe. Der heilige Kern dieser Religion waren die fünf Bücher Moses, die Thora.

Von neuem versuchte Karen, in der Bibel Antwort auf ihre Fragen zu finden, und von neuem geriet sie dabei in Verwirrung. Wie konnte es Gott zulassen, daß man sechs Millionen seines auserwählten Volkes umbrachte? Karen kam zu dem Schluß, daß nur die Erfahrung, das Leben selbst, ihr eines Tages die Antwort auf diese Fragen geben würde.

Die Insassen des Lagers La Ciotat brannten vor Begierde, Europa hinter sich zu lassen und nach Palästina zu kommen. Das einzige, was sie daran hinderte, sich in einen wilden Mob zu verwandeln, war die Anwesenheit der Palmach-Angehörigen aus Palästina.

Vor einem Jahr hatten alle vorübergehend neue Hoffnung geschöpft, als die Labour-Partei ans Ruder gekommen war und England versprochen hatte, aus Palästina ein Mustermandat ohne Einwanderungsbeschränkung zu machen. Es war sogar die Rede davon gewesen, Palästina zu einem Bestandteil des Britischen Commonwealth zu machen. Doch diese Versprechungen platzten, als die Labour-Regierung ihr Ohr der Stimme des schwarzen Goldes lieh, das unter den Wüsten Arabiens lag. Wie schon einmal vor fünfundzwanzig Jahren wurde die Entscheidung verschoben, und anstelle einer Entscheidung gab es Kommissionen, Untersuchungen und Palaver.

Doch das änderte nichts an dem brennenden Verlangen der Juden von La Ciotat, nach Palästina zu kommen. Agenten von Mossad Aliyah Bet fuhren überall in Europa herum, sammelten die jüdischen Überlebenden und brachten sie über die Grenzen, mit Bestechung, mit gefälschten oder gestohlenen Papieren, mit List und notfalls auch mit Gewalt.

Frankreich und Italien hatten sich von Anfang an auf die Seite der Flüchtlinge gestellt und arbeiteten mit den Mossad-Leuten Hand in Hand. Sie öffneten dem Flüchtlingsstrom ihre Grenzen und errichteten Lager. Italien war darin allerdings sehr behindert, weil es von den Engländern besetzt war. Daher verlagerte sich das Schwergewicht nach Frankreich.

Bald konnten die Lager wie das bei La Ciotat die Massen der Flüchtlinge kaum noch fassen. Mossad Aliyah Bet befürwortete deshalb die illegale Einwanderung. In allen europäischen Häfen waren Mossad-Agenten am Werk, die mit dem Geld, das ihnen von amerikanischen Juden zur Verfügung gestellt worden war, Schiffe kauften und reparieren ließen, um die britische Blockade zu durchbrechen. Die Engländer sperrten mit ihrer Flotte nicht nur den Seeweg nach Palästina; sie bedienten sich auch ihrer Gesandtschaften und Konsulate, um Gegenspionage gegen Mossad Aliyah Bet zu treiben.

Kleine, kümmerliche Schiffe, bis an die Grenze der Tragfähigkeit mit verzweifelten Menschen beladen, stachen mit Kurs auf Palästina in See, um zumeist von den Engländern aufgebracht zu werden, sobald sie die Drei-Meilen-Zone erreicht hatten. Die illegalen Einwanderer wurden interniert, wieder einmal waren die Flüchtlinge in einem Lager gelandet. Diesmal war es ein Lager in Palästina, bei Atlit.

Nachdem Karen erfahren hatte, daß ihr Vater lebte, brannte auch sie darauf, nach Palästina zu gelangen. Denn es schien ihr selbstverständlich, daß ihr Vater gleichfalls dorthin kommen werde. Obwohl sie erst fünfzehn war, wurde sie zu den Zusammenkünften des Palmach hinzugezogen, die nachts am Lagerfeuer stattfanden und bei denen wunderbare Geschichten von Erez Israel erzählt wurden. Sie wurde zur Abschnittsleiterin ernannt und bekam die Aufsicht über hundert Kinder, die sie für den Augenblick vorzubereiten hatte, da sie sich an Bord eines Mossad-Schiffes begeben sollten, um die Blockade zu durchbrechen und Palästina zu erreichen. Die britische Einwanderungsquote für Palästina betrug monatlich nur fünfzehnhundert, und die Engländer wählten immer Leute aus, die entweder zu alt oder noch zu jung waren, um zu kämpfen. Die Männer ließen sich Bärte wachsen und färbten sich die Haare grau, um alt auszusehen, doch darauf fielen die Engländer nur selten herein.

Eines Tages im April des Jahres 1946, neun Monate, nachdem Karen aus Dänemark fortgegangen war, teilte ihr Galila die große Neuigkeit mit.

»In den nächsten Tagen kommt ein Aliyah-Bet-Schiff, und du und deine Kinder fahren mit.«

Karens Herz schlug.

»Und wie heißt das Schiff?« fragte sie.

»Es heißt Stern Davids«, antwortete Galila.

XVI.

Bei der britischen CID war man über den ägäischen Trampdampfer Karpathos sehr genau im Bilde. Man wußte, wann die Karpathos in Saloniki von Mossad Aliyah Bet erworben worden war. Man hatte den Weg des fünfundvierzig Jahre alten Schiffes von achthundert Tonnen zum Piräus, dem Hafen von Athen, verfolgt, wo eine amerikanische Aliyah-Bet-Crew an Bord kam und mit der Karpathos nach Genua gelangte. Man hatte beobachtet, wie die Karpathos dort ausgebessert und zum Blockadebrecher umgebaut wurde, und man wußte den genauen Zeitpunkt, an dem das Schiff von Genua ausgelaufen war und sich auf den Weg zum Golfe du Lion begeben hatte.

An der ganzen südfranzösischen Küste wimmelte es von Agenten der CID. Rund um das Lager von La Ciotat waren Posten verteilt, die Tag und Nacht Ausschau hielten, um Anzeichen irgendeiner Bewegung größeren Ausmaßes zu entdecken. Ein Dutzend wichtiger und unwichtiger französischer Beamter wurde bestochen. Whitehall versuchte Druck auf Paris auszuüben, um zu verhindern, daß die Karpathos in französische Gewässer hineingelangte. Doch der politische Druck und die Bestechungsgelder der Engländer vermochten die Zusammenarbeit zwischen den Franzosen und Mossad Aliyah Bet nicht zu stören. Die Karpathos erreichte die Drei-Meilen-Zone.

Die nächste Phase des Spiels bestand aus einer Reihe von Täuschungsmanövern, die das Ziel hatten, die Engländer hinters Licht zu führen und abzulenken. Wagenkolonnen, von französischen Fuhrunternehmern zur Verfügung gestellt und von französischen Fahrern gesteuert, verließen mehrfach in verschiedenen Richtungen das Lager. Als die Engländer schließlich völlig verwirrt waren, erfolgte der eigentliche Ausbruch. Sechzehnhundert Flüchtlinge, darunter Karen mit ihren hundert Kindern, wurden eilig aus dem Lager heraus und zu einem geheimen Treffpunkt an der Küste gebracht. Das gesamte Gebiet war nach außen hin in weitem Umkreis durch französisches Militär abgeriegelt. An einer unbeobachteten Stelle der Küste wurden die Flüchtlinge aus den Lastwagen ausgeladen und in Schlauchbooten zu der alten Karpathos hinausgebracht, die draußen vor der Küste vor Anker lag.

Die ganze Nacht fuhren die Schlauchboote zwischen der Küste und dem Schiff hin und her. Die amerikanischen Besatzungsmitglieder holten die ängstlichen Flüchtlinge mit kräftigen Armen an Bord, und Palmach-Männer brachten sie rasch an die für die einzelnen Gruppen vorgesehenen Plätze. Die Flüchtlinge hatten nichts bei sich als einen Rucksack, eine Feldflasche voll Wasser, und den brennenden Wunsch, Europa hinter sich zu lassen.

Karens Schützlinge, die Kleinsten, wurden als erste an Bord gebracht und bekamen eine Ecke im Laderaum zugewiesen, in der Nähe der Leiter, die zum Deck hinaufführte. Karen beeilte sich, die Kleinen zur Ruhe zu bringen. Glücklicherweise waren die meisten durch die Aufregung so mitgenommen, daß sie sofort einschliefen. Ein paar weinten, doch Karen war sofort zur Stelle, um sie zu trösten und zu beruhigen.

Es verging eine Stunde, dann eine zweite und eine dritte, und der Laderaum wurde allmählich zu eng. Mehr und mehr Flüchtlinge kamen, bis der Laderaum so vollgepackt war, daß man sich kaum noch rühren konnte.

Dann wurde das Deck mit Flüchtlingen belegt, und als auch hier alles voll war, ergoß sich der Strom bis auf die Brücke.

Bill Fry, der amerikanische Kapitän des Schiffes, kam die Leiter herunter und warf einen Blick auf die zusammengepferchte Masse in dem Laderaum. Er stieß einen leisen Pfiff aus. Er war ein stämmiger, untersetzter Mann mit einem Stoppelbart und einem kalten Zigarrenstummel zwischen den Zähnen.

»Junge, Junge, so was müßte die Bostoner Feuerpolizei mal sehen«, brummte er. »Die würde einen Heidenspektakel machen.«

Er verstummte und lauschte. Aus der Dunkelheit war eine sehr süße Stimme zu hören, die ein Wiegenlied sang. Er stieg die letzten Stufen der Leiter hinunter, trat über die Menschen hinweg, die unten im Raum lagen, und ließ den Schein seiner Taschenlampe auf Karen fallen, die einen kleinen Jungen in ihren Armen hielt und ihn in Schlaf sang. Einen Augenblick lang meinte er, eine Madonna vor sich zu sehen, und blinzelte verblüfft. Karen hob den Kopf und gab ihm einen Wink, den Schein der Taschenlampe von ihrem Gesicht zu nehmen.

»He, Kleine«, sagte Bill mit seiner polternden Stimme, »sprichst du Englisch?«

»Ja.« »Wer hat denn die Aufsicht hier bei den Kindern?«

»Die Aufsicht habe ich, und ich möchte Sie bitten, ein bißchen leiser zu sprechen. Ich habe Mühe genug gehabt, die Kinder zur Ruhe zu bringen.«

»Ich rede so laut, wie's mir paßt. Ich bin der Käpt'n. Du bist ja kaum älter als die meisten von deinen Kindern.«

»Wenn Sie Ihre Sache als Kapitän so gut machen wie ich meine hier bei den Kindern«, antwortete Karen ärgerlich, »dann sind wir morgen früh in Palästina.«

Bill Fry kraulte sich sein bärtiges Kinn und lächelte. Er sah wahrhaftig nicht aus wie einer der würdigen dänischen Schiffskapitäne, mußte Karen denken, und seine Grobheit war mit Sicherheit nur gespielt.

»Du gefällst mir. Kleine. Wenn du irgendwas brauchst, dann komm auf die Brücke und sag mir Bescheid. Und sei ein bißchen respektvoller.«

»Besten Dank, Herr Kapitän.«

»Nicht nötig. Nenn mich einfach Bill. Wir sind alle vom gleichen Stamm.«

Karen sah ihm nach, wie er die Leiter wieder hinaufstieg. Am Himmel konnte sie das erste schwache Morgenlicht erkennen. Die Karpathos war bis auf den letzten Zentimeter vollgepackt mit Menschen — sechzehnhundert Flüchtlinge. Knarrend und ächzend kam der halbverrostete Anker herauf und schlug gegen den hölzernen Rumpf. Die fünfundvierzig Jahre alten Maschinen kamen langsam auf Touren. Eine Nebelwand hüllte das Schiff ein, als hielte Gott selbst seine schützende Hand darüber, und der alte Kasten entfernte sich knatternd von der französischen Küste, mit der Höchstgeschwindigkeit von sieben Knoten. Nach kurzer Zeit hatte das Schiff die Drei-Meilen-Grenze hinter sich gelassen — Mossad Aliyah Bet hatte die erste Runde gewonnen! Am Mast wurde eine blauweiße jüdische Flagge gehißt, und an Stelle des Namens Karpathos erschien der neue Name des Schiffes: Stern Davids.

Das Schiff schlingerte jämmerlich. In den überfüllten Laderäumen, in denen es keinerlei Ventilation gab, wurden alle Passagiere blaß. Gemeinsam mit den anderen Palmach-Angehörigen war Karen eifrig beschäftigt, ihre Schützlinge mit Obst zu füttern und ihnen kalte Umschläge zu machen, um ein stärkeres Ausbreiten der Seekrankheit zu verhüten. Wo die Zitronen nicht halfen, war sie rasch mit dem Waschlappen zur Hand. Doch das wirksamste Mittel zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung war, gemeinsam Lieder zu singen, Spiele zu erfinden und viele lustige Geschichten zu erzählen.

Sie behielt die Kinder gut in der Hand. Gegen Mittag wurde die Hitze schlimmer und die Luft immer stickiger, und in dem engen, dunklen Laderaum, der mit schwitzenden und sich übergebenden Menschen überfüllt war, entwickelte sich bald unerträglicher Gestank. Es dauerte nicht lange, bis die ersten ohnmächtig wurden. Nur die Bewußtlosen wurden nach oben an Deck gebracht. Für die anderen war einfach kein Platz.

Drei Ärzte und vier Schwestern, alles Flüchtlinge aus La Ciotat, waren fieberhaft tätig. »Gebt den Leuten zu essen, damit sie was im Magen haben«, verordneten sie. Karen redete den Kleinen gut zu und schob ihnen den Löffel in den Mund. Gegen Abend verteilte sie Beruhigungsmittel und wusch den Kindern Hände und Gesicht mit einem Lappen. Sie mußte sparsam mit dem Wasser umgehen, denn es war sehr knapp.

Endlich ging die Sonne unter, und in den Laderaum kam ein Hauch frischer Luft. Karen hatte gearbeitet, bis sie nicht mehr konnte, und ihr Kopf war schwer und benommen. Sie fiel in einen Halbschlaf, aus dem sie jedesmal erwachte, sobald eines ihrer Kinder zu weinen begann. Sie hörte jedes Knarren und Ächzen des alten Schiffes, das mühsam seinen Weg nach Palästina machte. Erst gegen Morgen fiel sie in einen tiefen Schlaf voll seltsamer und verworrener Träume.

Ein plötzliches dröhnendes Geräusch ließ sie erschreckt hochfahren. Es war heller Tag. Alle zeigten hinauf zum Himmel, wo ein riesiger viermotoriger Bomber erschienen war.

»Ein Engländer! Ein Lancester-Bomber!«

»Alles an den Plätzen bleiben«, dröhnte es aus dem Lautsprecher. »Kein Grund zur Aufregung, es besteht keine Gefahr.«

Gegen Mittag erschien am Horizont ein englischer Kreuzer, HMS Defiance, und näherte sich drohend dem Stern Davids, während seine Morselampen eifrig blinkten. Ein kleiner, geschmeidiger Zerstörer, HMS Blakely, stieß zu der Defiance, und die beiden Kriegsschiffe zogen neben dem alten Trampdampfer einher, der langsam und knatternd seine Reise fortsetzte.

»Unser königlicher Geleitschutz ist eingetroffen«, verkündete Bill Fry über die Lautsprecheranlage.

Nach allen Spielregeln war der Streit mit Worten nunmehr vorbei. Wieder einmal war es Mossad Aliyah Bet gelungen, mit einem Schiff Europa zu verlassen und das offene Meer zu erreichen. Die Engländer hatten das Fahrzeug gesichtet und folgten ihm. In dem Augenblick, da das Schiff mit den illegalen Einwanderern in die Drei-Meilen-Zone vor Palästina hineinfuhr, würden die Engländer an Bord kommen und das Einwandererschiff nach Haifa abschleppen. Die Flüchtlinge an Bord der Stern Davids riefen wütend zu den englischen Schiffen hinüber und verwünschten Bevin. Sie entrollten ein großes Transparent mit der Inschrift: HITLER HAT UNS UMGEBRACHT, UND DIE ENGLÄNDER WOLLEN UNS NICHT LEBEN LASSEN! Die Defiance und die Blakely reagierten nicht darauf, dampften aber auch nicht weiter, wie mancher, der noch an Wunder glaubte, vielleicht im stillen bei sich gehofft hatte. Die Kinder waren im Augenblick zwar ruhig, doch Karen machte sich Sorgen. Viele der Kleinen wurden durch den Mangel an frischer Luft ernstlich krank. Sie ging nach oben an Deck, arbeitete sich mühsam durch das Gewirr von Armen, Beinen und Rucksäcken und stieg hinauf zur Brücke. Im Ruderhaus saß Bill Fry, der eine Tasse Kaffee trank und dabei die Menschen beobachtete, die in drangvoller Enge das Deck bevölkerten. Bei ihm stand der Palmach-Chef, der irgendwelche Wünsche hatte. »Herrgott noch mal!« brummte Bill. »Dieses ewige Gerede. Befehle sind nicht dazu da, um darüber zu diskutieren. Sie sind dazu da, um befolgt zu werden. Wie zum Teufel wollt ihr Burschen eigentlich irgendwas erreichen, wenn ihr über jede Sache so lange redet? Hier an Bord bin ich der Kapitän!«

Der Palmach-Chef, der Bills Ausbruch kaum zur Kenntnis nahm, führte ungerührt zu Ende, was er auf dem Herzen hatte, und ging. Bill brummte in seinen Bart und steckte sich einen Zigarrenstummel an. Dann fiel sein Blick auf Karen, die ziemlich blaß in der Tür stand.

»Hallo, Kleine«, sagte er lächelnd. »Kaffee?«

»Sehr gern.«

»Du siehst schlecht aus.«

»Ich komme bei den Kindern nicht allzuviel zum Schlafen.«

»Hm — wie kommst du denn mit ihnen zurecht?«

»Deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen. Es geht ihnen zum Teil gar nicht gut, und da unten in dem Laderaum sind auch eine ganze Reihe schwangerer Frauen.«

»Weiß ich, weiß ich.«

»Ich finde, die Kleinen sollten für eine Weile nach oben an Deck gebracht werden.«

Er zeigte nach unten auf das übervölkerte Deck. »Wohin denn?«

»Sie müssen eben ein paar hundert Freiwillige finden, die mit uns tauschen.«

»Also, hör mal zu, Kleine, ich mag dir nicht gern einen Korb geben, aber ich habe eine ganze Masse anderer Sorgen. Und so einfach ist die Sache nicht. Wir können auf dieser Nußschale nicht anfangen, die Leute hin und her zu schicken.«

Karens Gesicht blieb sanft, und auch ihre Stimme klang unverändert freundlich, als sie sagte: »Ich gehe jetzt wieder nach unten und bringe meine Kinder an Deck.« Damit wandte sie sich zum Gehen. »Komm mal her, du. Wie kann ein Mädchen, das so nett aussieht, bloß so eklig sein?« Bill strich sich über das Kinn. »Also gut! Wir werden deine Bälger an Deck unterbringen. Herrgott noch mal, dauernd kommt einer und will was!«

Am Abend brachte Karen ihre Kinder zu einer Stelle auf dem Achterdeck. In der wunderbar frischen und kühlen Luft fielen sie in einen tiefen, ruhigen Schlaf.

Am nächsten Tag war das Meer spiegelglatt. Mit der Morgendämmerung erschienen weitere englische Aufklärer, und der inzwischen bereits vertraute Geleitschutz, die Defiance und die Blakely, folgten dem Schiff noch immer. Eine Welle der Erregung lief durch das Schiff, als Bill über Lautsprecher mitteilte, daß sie nur noch knappe vierundzwanzig Stunden von Erez Israel entfernt seien — dem Lande Israel. Alle hielten den Atem an. Die Spannung stieg, und es entstand eine seltsame Stille, die viele Stunden lang anhielt. Gegen Abend kam die Blakely nahe an die Stern Davids heran.

Aus dem Lautsprecher der Blakely dröhnte eine Stimme in englischer Sprache über das Wasser. »Hallo, Einwandererschiff — hier spricht Captain Cunningham von der Blakely. Ich möchte Ihren Kapitän sprechen.«

»Hello, Blakely«, rief Bill Fry zurück. »Was gibt's?«

»Wir wollen einen Unterhändler zu Ihnen an Bord schicken, um mit Ihnen zu reden.«

»Das können Sie auch so. Wir sind hier ganz unter uns und haben keine Geheimnisse voreinander.«

»Also gut. Irgendwann nach Mitternacht werden Sie die Gewässer von Palästina erreichen. Wir haben die Absicht, dann bei Ihnen an Bord zu kommen und Sie nach Haifa abzuschleppen. Wir möchten gern wissen, ob Sie bereit sind, dies ohne Widerstand geschehen zu lassen.« »Hello, Cunningham. Wir haben einige schwangere Frauen und kranke Leute an Bord, und wir wollten fragen, ob Sie bereit wären, die zu übernehmen.«

»Wir haben keine dahingehenden Anweisungen. Werden Sie sich von uns abschleppen lassen oder nicht?«

»Wohin hatten Sie gesagt?«

»Nach Haifa.«

»Teufel auch — wir müssen vollkommen vom Kurs abgekommen sein. Das hier ist nämlich ein Vergnügungsdampfer vom Eriesee.« »Dann werden wir gezwungen sein, mit Gewalt bei Ihnen an Bord zu gehen!«

»Cunningham!«

»Ja?«

»Sagen Sie es Ihren Offizieren und Mannschaften: Ihr könnt euch alle zum Teufel scheren!«

Die Nacht kam, doch niemand schlief. Alles starrte durch die Dunkelheit, um die Küste zu erspähen, den ersten Blick auf Erez Israel zu tun. Nichts war zu sehen. Die Nacht war neblig. Kein Mond, kein Stern, und die Stern Davids schlingerte in der unruhigen See.

Gegen Mitternacht klopfte ein Palmach-Gruppenleiter Karen auf die Schulter. »Komm mit auf die Brücke«, sagte er.

Mühsam bahnten sie sich über die an Deck ausgestreckten Leiber den Weg zum Ruderhaus, wo sich zwanzig Mann der Besatzung und die Palmach-Gruppenleiter drängten. Es war stockdunkel; nur das bläuliche Licht, das vom Kompaß kam, leuchtete. In der Nähe des Ruders erkannte Karen als dunklen Umriß die gedrungene Gestalt von Bill Fry.

»Sind alle da?«

»Alles vollzählig zur Stelle.«

»Also, hört mal zu«, ertönte Bills Stimme aus der Dunkelheit. »Ich habe die Sache mit den Palmach-Chefs und meiner Mannschaft durchgesprochen, und wir sind zu einem Entschluß gelangt. An der ganzen Küste ist dicker Nebel. Wir haben einen Hilfsmotor an Bord, mit dem wir eine Geschwindigkeit von fünfzehn Knoten erreichen können. In zwei Stunden kommen wir in die Gewässer von Palästina. Falls es so neblig bleibt, wollen wir versuchen, durchzubrechen und das Schiff südlich von Cäsarea auf Strand zu setzen.«

Durch den Raum ging ein erregtes Gemurmel.

»Können wir denn diesen Kriegsschiffen entkommen?« »Die werden unseren Äppelkahn für die Thunderbird halten müssen, ehe ich bis drei gezählt habe«, gab Bill Fry zurück.

»Aber werden sie uns nicht auf ihrem Radargerät sehen!«

»Das schon — aber bis ganz an die Küste werden sie uns nicht nachkommen. Die riskieren nicht, einen Kreuzer auf Strand zu setzen.«

»Und was ist mit der britischen Garnison in Palästina?«

»Wir haben uns mit dem Palmach an Land in Verbindung gesetzt. Man erwartet uns. Ich bin überzeugt, daß man den Engländern einen interessanten Abend veranstalten wird. Also, ihr habt ja alle in La Ciotat eine Spezialausbildung durchgemacht, wie man sich bei einer Landung zu verhalten hat. Ihr wißt, womit zu rechnen ist und was ihr zu tun habt. Karen und die beiden anderen, die eine Kindergruppe haben — bleibt mal lieber noch einen Augenblick hier, damit ich euch spezielle Anweisungen geben kann. Noch irgendwelche Fragen?«

Keine Fragen.

»Irgendwelche Beanstandungen?« Keine Beanstandungen.

»Mist, verdammter; also: Hals- und Beinbruch — und Gott mit euch.«

XVII.

Der Wind trieb den Nebel in Schwaden durch die alte, verfallene Hafenstadt Cäsarea mit ihren Ruinen, ihren geborstenen Mauern und dem zerfallenen Hafen, der schon seit vierhundert Jahren vor der Zeitenwende nicht mehr in Gebrauch war.

Fünf Jahrhunderte lang war Cäsarea, von Herodes zu Ehren Cäsars erbaut, die Hauptstadt der römischen Provinz Palästina gewesen. Von dieser einstigen Hauptstadt waren nur noch Ruinen übrig. Der Wind fuhr über das Wasser, wühlte es auf und warf es schäumend gegen die Felsen, die sich bis weit vor der Küste aus dem Meer erhoben.

Hier hatte der Aufstand gegen die Römer geendet, mit dem Blutbad, bei dem zwanzigtausend Hebräer niedergemetzelt wurden, und hier hatte der weise Rabbi Akiba, der sein Volk aufgerufen hatte, mit Bar Kochba für die Freiheit zu kämpfen, sein Martyrium erlitten. Noch immer mündete hier der Krokodilfluß ins Meer, an dessen Ufer man Akiba bei lebendigem Leibe die Haut heruntergezogen hatte.

Einige Meter südlich der Ruinen erhoben sich die ersten Gebäude eines jüdischen Fischerkollektivs namens Sdot Yam — Meeresacker. Keiner in dieser Siedlung schlief diese Nacht, alle Fischer und ihre Frauen waren wach.

Sie alle saßen geduckt in den Ruinen und spähten schweigend und in atemloser Spannung hinaus auf das Meer. Es waren zweihundert Männer und Frauen, und bei ihnen waren weitere zweihundert Männer des Palmach.

Von dem alten Drususturm, der sich aus der Brandung erhob, kam ein Blinkzeichen, und alle machten sich sprungbereit.

Draußen, an Bord des Stern Davids, biß Bill Fry auf seinen Zigarrenstummel und umklammerte mit den Händen das Steuerruder des alten Schiffes. Langsam und vorsichtig steuerte er es näher an den Strand, vorbei an heimtückischen Riffen und Untiefen. An Deck standen die Flüchtlinge dicht beieinander und preßten sich an die Reling. Die Stern Davids zitterte und ächzte, als ihr hölzerner Rumpf krachend auf eine zerklüftete Klippe aufsetzte. Eine einzelne Leuchtrakete stieg in die Luft. Es ging los!

Alle sprangen über Bord, versanken bis zum Hals im Wasser und kämpften sich schrittweise durch die Brandung auf die Küste zu.

Als die Rakete aufleuchtete, sprangen die Fischer und PalmachTruppen aus ihrer Deckung und wateten hinaus, den Flüchtlingen entgegen. Dabei glitten viele aus und versanken in tiefen Löchern, oder sie wurden von einer plötzlichen Welle erfaßt und gegen die Felsen geworfen, doch nichts vermochte sie aufzuhalten. Die beiden Menschenströme, der vom Land und der von draußen, trafen aufeinander. Kräftige Arme ergriffen die Flüchtlinge und schleppten sie an Land.

»Rasch, rasch!« rief man den Flüchtlingen zu. »Zieht euer Zeug aus, schnell, und zieht diese Sachen hier an!«

»Sämtliche Ausweispapiere wegwerfen!«

»Alle, die umgezogen sind, mitkommen — los, los — macht zu!« »Leise! Keinen Lärm machen!«

»Kein Licht machen!«

Die Flüchtlinge rissen sich ihre nassen Sachen vom Leibe und zogen die blaue Fischerkleidung an.

»Nicht zusammenbleiben — verteilt euch!«

Karen stand an der Reling und reichte die Kinder eins nach dem anderen den Palmach-Helfern hinunter, die sie an Land brachten und dann so rasch wie möglich wieder zum Schiff zurück wateten. Es waren kräftige, standfeste Männer dazu nötig, die Kinder durch die Brandung zu tragen.

»Beeilt euch — schneller, schneller!«

Einzelne Flüchtlinge fielen ergriffen auf die Knie, um den heiligen Boden zu küssen.

»Dazu werdet ihr später noch Zeit genug haben, nicht jetzt!« »Weiter, Leute, macht weiter!«

Bill Fry stand auf der Brücke und brüllte Befehle durch ein Sprachrohr. Innerhalb einer Stunde waren fast alle von Bord, bis auf einige Dutzend Kinder und die Gruppenleiter.

Dreißig Kilometer weiter nördlich inszenierte ein Palmach-Kommando einen Überfall auf britische Nachschublager bei Haifa, um die Aufmerksamkeit der britischen Truppen von dem Landungsmanöver bei Cäsarea abzulenken.

An Land waren die Fischer und der Palmach fieberhaft tätig. Die Flüchtlinge wurden teils in die Siedlung gebracht, teils auf Lastwagen verladen, die eilig mit ihnen davonfuhren.

Als das letzte Kind über die Reling gehoben wurde, kam Bill Fry die Treppe zum Deck herunter und befahl den Gruppenleitern, von Bord zu gehen.

Karen fühlte, wie das eiskalte Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug. Sie ruderte und paddelte mit den Füßen, orientierte sich, und schwamm auf die Küste zu, bis sie Grund unter den Füßen hatte. Vom Land her hörte sie erschreckte Ausrufe auf Hebräisch und Deutsch. Sie kam an einen großen Felsblock und kroch auf allen vieren darüber. Eine Woge spülte sie herunter ins Meer. Sie hatte jedoch Boden unter den Füßen und arbeitete sich Schritt für Schritt gegen die zurückflutende Brandung ans Land. Ein zweitesmal wurde sie umgerissen und kroch auf allen vieren näher an die Küste heran.

Plötzlich heulten Sirenen! Schüsse krachten! An Land stürmte alles auseinander!

Karen erhob sich aus dem Wasser, das ihr jetzt nur noch bis an die Knie ging, und schnappte nach Luft. Unmittelbar vor ihr standen ein halbes Dutzend englische Soldaten in Khaki Uniformen und mit Gummiknüppeln in den Händen.

»Nein!« schrie sie. »Nein, nein, nein!«

Sie warf sich in die Postenkette, schreiend, kratzend und wütend mit den Füßen um sich stoßend. Ein Arm ergriff sie von hinten und drückte sie in die Brandung. Ihre Zähne gruben sich in die Hand des Soldaten, der vor Schmerz aufschrie und sie losließ. Karen griff von neuem an und schlug wie rasend um sich. Einer der Soldaten hob seinen Gummiknüppel und ließ ihn auf ihren Kopf heruntersausen. Karen brach stöhnend zusammen und fiel bewußtlos ins Wasser.

Sie machte die Augen auf. In ihrem Kopf spürte sie einen heftigen, klopfenden Schmerz. Doch sie lächelte, als sie den Blick hob und vor sich das stoppelbärtige Gesicht und die milden Augen von Bill Fry sah.

»Die Kinder!« rief sie im nächsten Augenblick und kam mit einem Ruck hoch von der Koje, auf der sie lag. Bill hielt sie an den Schultern fest.

»Reg dich nicht auf«, sagte er. »Die meisten Kinder haben es geschafft. Und ein paar, die man geschnappt hat, sind hier.«

Karen schloß seufzend die Augen und ließ sich wieder auf die Koje sinken. »Wo sind wir denn?«

»In Atlit — einem englischen Internierungslager. Es hat wunder= bar geklappt. Über die Hälfte der Leute sind durch die Lappen gegangen. Die Engländer hatten eine solche Wut, daß sie jeden, den sie zu fassen kriegten, kurzerhand mitgeschleppt haben. Meine Crew, Fischer, Flüchtlinge, alles wild durcheinander. Wie fühlst du dich denn?«

»Ganz scheußlich. Was ist eigentlich passiert?« »Du hast im Alleingang versucht, die britische Armee in die Flucht zu schlagen.«

Karen schob die Decke beiseite, kam mit dem Oberkörper hoch und befühlte die Schwellung an ihrem Kopf. Ihre Sachen waren noch feucht. Sie stand auf und ging, ein bißchen unsicher, an den Zelteingang. Sie sah Hunderte von Zelten und eine hohe Wand aus Stacheldraht. Draußen vor dem Stacheldraht standen englische Wachtposten.

»Ich verstehe gar nicht, was mit mir los war«, sagte Karen. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden geschlagen. Ich sah diese Soldaten, die dastanden — und mich nicht vorbeilassen wollten. Wie es kam, weiß ich auch nicht, aber auf einmal war es für mich ungeheuer wichtig — ich mußte meinen Fuß auf die Erde Palästinas setzen. Ich meinte, ich müßte sterben, wenn es mir nicht gelang. Ich begreife selbst nicht, wie das über mich kam.« Sie setzte sich neben ihn auf die Koje. »Möchtest du etwas essen, Kleine?«

»Ich habe keinen Hunger. Was werden sie jetzt mit uns machen?«

Bill zog die Schultern hoch. »In ein paar Stunden wird es hell sein. Dann werden sie uns einzeln vernehmen und einen Haufen blöder Fragen an uns richten, aber du weißt ja genau, was du zu antworten hast.«

»Ja — ich bleibe dabei, daß dies hier meine Heimat ist, ganz gleich, was man mich fragt.«

»Trotzdem wird man dich zwei oder drei Monate dabehalten, aber dann werden sie dich laufen lassen. Jedenfalls bist du in Palästina.«

»Und was wird mit Ihnen?«

»Mit mir? Man wird mich aus Palästina hinauswerfen, genau wie letztes Mal. Ich werde ein neues Mossad Schiff bekommen — und erneut versuchen, die Blockade zu durchbrechen.«

Ihr Schädel begann zu brummen. Karen streckte sich auf der Koje aus, doch sie machte kein Auge zu. Lange studierte sie Bills Gesicht, das vor Müdigkeit grau war.

»Sagen Sie, Bill — weshalb sind Sie eigentlich hier?«

»Was meinst du denn damit?«

»Sie sind Amerikaner. Mit den Juden in Amerika ist es doch etwas anderes.«

»Alle denken immer, sie müßten irgendwas Großartiges aus mir machen.« Er wühlte in seinen Taschen und brachte ein paar Zigarren zum Vorschein. Sie waren naß und unbrauchbar. »Die Leute von Aliyah Bet kamen eines Tages zu mir. Sie sagten, sie brauchten Seeleute. Und ich bin Seemann — bin mein ganzes Leben lang einer gewesen. Habe mich heraufgearbeitet, vom Schiffsjungen bis zum Ersten Offizier. Das ist alles. Ich werde für meine Arbeit bezahlt.« »Bill!«

»Hm?«

»Ich glaube Ihnen nicht ganz.«

Bill Fry schien selbst nicht sonderlich überzeugt von dem, was er gesagt hatte. Er stand auf. »Das ist schwer zu erklären, Karen. Ich liebe Amerika. Ich würde für fünfzig Palästina nicht das eintauschen, was ich dort drüben habe.«

Karen stützte den Kopf in die Hand. Bill ging im Zelt auf und ab und versuchte, nachzudenken. »Sicher, wir sind Amerikaner, aber wir sind eine besondere Art von Amerikanern. Wir sind ein bißchen anders. Vielleicht liegt das an uns selbst — vielleicht aber auch an den andern; ich bin nicht schlau genug, um herauszubekommen, wie es eigentlich ist. Mein ganzes Leben lang habe ich zu hören bekommen, daß man mich für einen Feigling hält, weil ich Jude bin. Ich will dir mal was sagen, Kleine: jedesmal, wenn die Palmach-Leute ein britisches Depot in die Luft sprengen oder irgendwelche Araber zum Teufel jagen, dann verschaffen sie mir damit Respekt. Sie stempeln jeden, der mir erzählen will, die Juden seien feige, zum Lügner. Die Jungens hier kämpfen meinen Kampf, den Kampf um Anerkennung und Respekt — verstehst du das?«

»Ich glaube, ja.«

»Also, der Teufel soll mich holen, wenn ich es selber verstehe.«

Er setzte sich zu Karen und besah sich die Schwellung an ihrem Kopf. »Es sieht nicht allzu schlimm aus. Ich habe diesen verdammten Tommys gesagt, sie sollten dich ins Lazarett bringen.« »Das heilt schon wieder«, sagte sie.

Im Lauf der Nacht unternahm der Palmach einen Überfall auf das Lager und sprengte ein großes Loch in den Stacheldrahtzaun, durch das weitere zweihundert Flüchtlinge entkamen. Karen und Bill Fry gehörten nicht dazu.

Als der genaue Bericht über den Zwischenfall mit der Stern Davids Whitehall erreichte, wurde den Engländern klar, daß sie ihre Einwanderungspolitik ändern mußten. Bisher hatten die Blockadebrecher jedesmal nur einige hundert Leute nach Palästina gebracht. Dieses Schiff aber hatte annähernd zweitausend Flüchtlinge an Bord gehabt, und der größere Teil davon war bei der Landung in Cäsarea und dem darauffolgenden Überfall auf das Lager bei Atlit entkommen. Die Engländer sahen sich der Tatsache gegenüber, daß die französische Regierung die Juden ganz offen unterstützte, und daß von den Juden in Palästina jeder siebente illegal eingewandert war.

Daraus ergab sich für die Engländer eine schwierige Situation. Von einer endgültigen Lösung des Palästina-Problems waren sie nach wie vor weit entfernt, und so kam man zu dem Entschluß, die Juden nicht mehr bei Atlit zu internieren, sondern aus Palästina wegzubringen. Der Druck der illegalen Einwanderung und besonders der Erfolg der Stern Davids hatte zu Folge, daß Internierungslager auf Zypern errichtet wurden.

Karen Hansen-Clement wurde mit einem britischen Gefangenenschiff auf die Insel Zypern gebracht und im Lager Caraolos interniert. Doch noch während die Karpathos alias Stern Davids vor der Küste von Cäsarea lag, festgeklemmt zwischen den Felsen, und die Brandung allmählich Kleinholz aus ihr machte, war Mossad Aliyah Bet mit beschleunigtem Tempo weiter am Werk und organisierte neue Schiffe, die immer größere Flüchtlingsgruppen nach Palästina bringen sollten.

Sechs Monate lang blieb Karen im wirbelnden Staub von Caraolos und arbeitete bei den Kindern. Die lange Zeit, in der sie von einem Lager zum anderen gewandert war, hatte nicht vermocht, sie hart zu machen oder zu verbittern. Sie lebte in der Hoffnung auf den Augenblick, da sie Palästina von neuem sehen würde — Israel.

Bis Karen die Geschichte ihres Lebens zu Ende erzählt hatte, waren viele Stunden vergangen. In diesen Stunden war zwischen Karen und Kitty Fremont ein innerer Kontakt entstanden. Beide entdeckten die Einsamkeit des anderen und sein Verlangen nach menschlicher Nähe.

»Hast du noch irgend etwas von deinem Vater gehört?« fragte Kitty. »Nein, seit La Ciotat nicht mehr — und das ist schon sehr lange her.«

Kitty sah auf die Uhr. »Du lieber Gott — es ist nach Mitternacht.« »Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist«, sagte Karen.

»Ich auch nicht. Gute Nacht, Karen.«

»Gute Nacht, Kitty. Sehen wir uns wieder?«

»Ich weiß nicht — vielleicht.«

Kitty ging hinaus und wandte sich dem Ausgang zu. Die endlosen Zeltreihen lagen still da. Vom Wachtturm fiel der Kegel des Scheinwerfers darüber hin. Der Staub wirbelte hoch, während sie die Zeltstraße entlangging. Kitty nahm ihre Jacke fester zusammen. Ari ben Kanaan kam heran und blieb vor ihr stehen. Er gab ihr eine Zigarette, beide verließen schweigend das Kinderlager und gingen über die Brücke. Kitty blieb einen Augenblick stehen und sah zurück, dann ging sie weiter, durch die Sektion der Alten zum Hauptausgang.

»Ich bin bereit, für Sie zu arbeiten«, sagte Kitty, »unter einer Bedingung. Dieses Mädchen geht nicht mit auf das Schiff, sondern bleibt hier bei mir im Lager.«

»Einverstanden.«

Kitty wandte sich um und ging mit raschen Schritten zur Wache.

XVIII.

Der Plan, den David romantischerweise »Unternehmen Gideon« benannt hatte, lief an. Dov Landau stellte bündelweise gefälschte Ladescheine und englische Militärpapiere her, die Kitty Fremont aus dem Lager herausbrachte und Ari ben Kanaan übergab.

Die Ladescheine ermöglichten es Ben Kanaan, die erste Phase seines Planes abzuwickeln. Bei seinen Erkundungsfahrten durch Zypern hatte er nicht weit von Caraolos an der Straße nach Famagusta ein großes britisches Nachschublager entdeckt. Es war von einem hohen Gitter umgeben und enthielt große Mengen von Lastwagen und anderen Transportmitteln und rund ein Dutzend riesiger Magazine. Während des Krieges hatte dieses Lager als Nachschubbasis für die Alliierten im Nahen Osten gedient, und auch jetzt noch ging ein Teil der hier lagernden Bestände auf dem Seeweg an britische Streitkräfte, die in dieser Ecke der Welt stationiert waren. Andere Lagerbestände waren als nicht mehr benötigt freigegeben und von Privathand aufgekauft worden. Daher fand ein beständiger, wenn auch nicht allzu umfangreicher Warenverkehr von diesem Depot zum Hafen von Famagusta statt.

Mandrias Schiffahrtsgesellschaft war die Maklerfirma für die britische Armee in Zypern. In dieser Eigenschaft verfügte Mandria über eine Liste, auf der Art und Menge aller im Depot lagernden Bestände aufgeführt waren. Außerdem verfügte er über eine ausreichende Menge von Ladescheinen.

Dienstag morgen Punkt acht Uhr fuhren Ari ben Kanaan und dreizehn Palmach-Angehörige, alle in englischer Uniform und mit englischen Dienstausweisen, in einem englischen Lastwagen vor dem Depot vor und hielten beim Haupteingang an. Das »Arbeitskommando« bestand aus Seew Gilboa, Joab Yarkoni und David ben Ami.

Ari, dessen Papiere ihn als »Captain Caleb Moore« auswiesen, präsentierte dem Depotchef eine Anforderungsliste. Aris

»Arbeitskommando« hatte den Auftrag, alle auf der Liste verzeichneten Gegenstände zusammenzuholen und zum Hafen von Famagusta zu bringen, wo sie auf der SS Achab verladen werden sollten.

Die Papiere waren so hervorragend gefälscht, daß es dem Depotchef überhaupt nicht einfiel, an den Caleb der Bibel zu denken, der als Spion für Moses gearbeitet hatte, oder daß die Achab, ein imaginäres Schiff, den Namen des Mannes trug, der in Jericho die Bundeslade gestohlen hatte.

Als erster Posten waren zwölf Lastwagen und zwei Jeeps aufgeführt. Sie wurden vom Parkplatz herangerollt und »Captain Caleb Moore« übergeben. Danach setzte sich das »Arbeitskommando« in Bewegung, ging von Magazin zu Magazin und belud die zwölf neuen Lastwagen mit allem, was man auf der Aphrodite/Exodus brauchen würde, um mit dreihundert Kindern nach Palästina zu fahren.

Joab Yarkoni, der für die Ausrüstung des Schiffes verantwortlich war, hatte eine Liste zusammengestellt, auf der unter anderem ein Funkgerät neuester Bauart verzeichnet war, außerdem alle möglichen Konserven, Medikamente, Blinklampen, leichte Waffen, Wasserkannen, Decken, Frischluftanlagen, eine Lautsprecheranlage, und hundert andere Posten. Joab war wütend, weil Ari darauf bestanden hatte, daß er sich seinen mächtigen schwarzen Schnurrbart abnehme. Auch Seew hatte seinen Schnurrbart opfern müssen, weil Ari befürchtete, die Schnurrbärte könnten sie zu leicht als Leute aus Palästina verraten.

David lud außer den Sachen, die für die Exodus bestimmt waren, noch einige Tonnen anderer Dinge auf, die in Caraolos dringend benötigt wurden.

Seew Gilboa wäre beinahe geplatzt, als er das britische Waffenarsenal sah. All die Jahre, seit er beim Palmach war, hatte es ihnen immer an Waffen gefehlt, und der Anblick dieser Massen wunderschöner Maschinengewehre, Granatwerfer und Karabiner zerriß ihm schier das Herz.

Das »Arbeitskommando« arbeitete mit der Präzision eines Uhrwerks. Ari wußte aus Mandrias Liste genau, wo die einzelnen Dinge lagerten. Als sie am Nachmittag alles beisammen hatten, lud Joab Yarkoni zum Schluß noch einige Kisten mit Whisky, Brandy und Gin und ein paar Flaschen Wein auf — für medizinische Zwecke.

Zwölf funkelnagelneue Lastwagen verließen das Depot, vollgepackt bis an den Rand, angeblich in Richtung Famagusta, wo die Waren und die Lastwagen auf die SS Achab verladen werden sollten. Ari bedankte sich bei dem Depotchef für die ausgezeichnete Zusammenarbeit, und das »Arbeitskommando« fuhr sechs Stunden nach seiner Ankunft wieder ab.

Die Palmach-Männer waren begeistert, mit welcher Leichtigkeit sie ihren ersten Sieg errungen hatten, doch Ari ließ ihnen keine Zeit, um sich auszuruhen oder stolz zu sein. Dies war nur der Anfang.

Der nächste Schritt des Unternehmens Gideon bestand darin, eine Stelle ausfindig zu machen, wo sie mit den Lastwagen und allem anderen, was sie gestohlen hatten, bleiben konnten. Ari hatte auch hierfür einen Vorschlag bereit. Er hatte am Stadtrand von Famagusta ein britisches Camp entdeckt, das nicht mehr benutzt wurde. Offensichtlich war früher einmal eine kleinere Einheit dort stationiert gewesen. Die Abzäunung, zwei Dienstbaracken und die Nebengebäude standen noch. Auch die elektrische Zuleitung war intakt geblieben.

In den folgenden drei Nächten kamen alle Palmach-Angehörigen von Caraolos zu diesem Camp. Sie waren fieberhaft damit beschäftigt, Zelte aufzustellen, das Lager in Ordnung zu bringen und dem Ganzen den Anstrich zu geben, das Camp sei wieder in Betrieb genommen.

Die zwölf Lastwagen und die zwei Jeeps wurden in der Khaki-Farbe der britischen Armee angestrichen. Auf die Türen der Fahrzeuge malte Joab Yarkoni ein Zeichen, das man für eines der tausend Abzeichen der Army halten konnte, und darunter stand: 23. Transportkompanie SMJSZ.

Im Dienstraum der »Kompanie« lagen auf den Schreibtischen echte und gefälschte britische Dienstpapiere herum, um dem Ganzen authentisches Aussehen zu verleihen.

Nach vier Tagen sah das kleine Camp mit den zwölf Lastwagen ganz normal und unauffällig aus. Sie hatten aus dem Depot eine genügende Anzahl britischer Uniformen mitgenommen, um den Palmach in angemessener Weise einkleiden zu können, und auch sonst war genug von allem da, um das Camp vollständig auszustatten.

Als Krönung des Ganzen befestigte Joab Yarkoni über dem Tor ein Schild mit der Inschrift: 23. Transportkompanie SMJSZ. Alles seufzte erleichtert auf, als das Schild hing und das Lager seinen offiziellen Namen hatte.

Seew sah die Tafel an und kratzte sich am Kopf. »Was soll das eigentlich heißen — SMJSZ?« »Das heißt: Seiner Majestät jüdische Streitkräfte auf Zypern — was denn sonst?« antwortete Joab.

Die Fassade zur Durchführung des Unternehmens Gideon stand. Ari ben Kanaan hatte die Stirn gehabt, seine Gruppe als Einheit der britischen Armee zu tarnen. In der Uniform eines englischen Offiziers hatte er selbst das Hauptquartier von Mossad Aliyah Bet in aller Öffentlichkeit an der Straße nach Famagusta aufgeschlagen, und er war entschlossen, für die Endphasen seines Planes ausschließlich britische Heeresausrüstung zu benützen. Das war ein gewagtes Spiel, doch er hielt sich an den einfachen Grundsatz: Die beste Tarnung für einen Geheimagenten ist, sich so normal wie möglich zu benehmen.

Die nächste Phase des Unternehmens Gideon lief an, als drei amerikanische Seeleute von der Crew eines Frachtdampfers in Famagusta ihr Schiff verließen. Es waren Mossad-Leute, die im Krieg bei der amerikanischen Flotte gedient hatten. Von einem anderen Schiff kamen zwei Spanier, die nach der Machtübernahme durch Franco ins Exil gegangen waren. Es kam häufig vor, daß rotspanische Seeleute auf Aliyah-Bet-Schiffen arbeiteten. Damit hatte die Exodus eine Besatzung, die durch Ari, David, Joab und Seew vervollständigt wurde.

Hank Schlosberg, der amerikanische Skipper, und Joab gingen ans Werk, die Exodus als Blockadebrecher umzubauen. Larnaca war ein kleiner Hafen, und Mandria wußte es zu bewerkstelligen, daß nichts über eine ungewöhnliche Aktivität an Bord der Aphrodite bekannt wurde, die am Ende der Pier lag.

Zunächst wurden auf und unter Deck sämtliche Schränke, Fächer, Bretter und Borde abgebaut. Das ganze Schiff wurde von vorn bis achtern ein leerer Raum.

Dann wurden an Deck zwei hölzerne Häuschen errichtet, eins für die Jungen und eins für die Mädchen. Die Mannschaftsmesse wurde zum Lazarettraum umgestaltet. Man würde auf der Exodus weder Messe noch Kombüse brauchen. Die gesamte Verpflegung würde aus Konserven bestehen, und essen würde man aus der Büchse. Die Kombüse wurde zu Waffenkammer und Lagerraum umgebaut. Auch die Mannschaftskajüten wurden ausgebaut. Die Crew sollte oben auf der kleinen Brücke schlafen. Die Lautsprecheranlage wurde eingebaut, die uralte Schiffsmaschine sorgfältig überholt. Ein Mast wurde aufgerichtet und ein Segel vorbereitet für den Fall, daß die Maschine ausfallen sollte.

Unter den dreihundert ausgesuchten Jugendlichen waren auch Kinder strenggläubiger Juden, und daraus ergab sich ein Problem besonderer Art. Yarkoni mußte das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde von Zypern mit der Bitte aufsuchen, für diese Strenggläubigen »koscheres« Büchsenfleisch herstellen zu lassen. Dann wurde der Raum unter Deck und über Deck genau ausgemessen. Trennungswände wurden eingebaut, mit einem Zwischenraum von jeweils fünfundvierzig Zentimetern. Diese fünfundvierzig Zentimeter sollten als Kojen dienen und es jedem Kind gestatten, entweder auf dem Rücken oder auf dem Bauch zu liegen — allerdings nicht den Luxus, sich von einer Seite auf die andere zu drehen.

Die Rettungsboote wurden repariert. In die Bordwand wurden große Löcher geschnitten und Windfänge mit Ventilatoren eingebaut, damit Luft in den Raum unter Deck komme. Auch die aus dem britischen Depot gestohlenen Frischluftanlagen wurden eingebaut. Die Arbeit ging glatt vonstatten. Daß auf einem alten SeelenVerkäufer wie der Aphrodite ein halbes Dutzend Leute beschäftigt waren, war im Hafen von Larnaca ein ganz normaler Anblick. Schwieriger war schon die Frage, wie man die Verpflegung und die übrige Ausrüstung an Bord bringen sollte. Ari fand es zu riskant, mit den khakifarbenen Lastwagen an den Hafen zu fahren, weil das bestimmt einiges Aufsehen erregt hätte. Daher lief die Exodus, als der Umbau im wesentlichen beendet war, Nacht für Nacht heimlich aus Larnaca aus und begab sich zu einem unbeobachteten Treffpunkt in der Südbucht, einige Meilen von Larnaca entfernt. Dorthin kamen die Lastwagen der 23. Transportkompanie SMJSZ, mit all den guten Dingen beladen, die man in dem britischen Depot geklaut hatte. Die ganze Nacht hindurch fuhren die Schlauchboote zwischen der Küste und dem Schiff hin und her, bis die Exodus so beladen war, daß nichts mehr in ihre Vorratskammern hineinging.

Inzwischen führte Seew Gilboa in der Jugendsektion des Lagers Caraolos die Aufgabe aus, die er im Rahmen des Unternehmens Gideon hatte. Er wählte sorgfältig dreihundert der kräftigsten Jungen und Mädchen aus und führte sie in Gruppen auf den Spielplatz, wo sie fit gemacht wurden durch gymnastische Übungen, Unterricht bekamen im Kampf mit Messern und Stöcken, wo sie lernten, wie man mit einem Gewehr umgeht und wie man Handgranaten wirft. Rings um den Spielplatz standen Aufpasser; sobald ein englischer Wachtposten auftauchte, ertönte ein Warnungs-Signal, aus dem kriegerischen Spiel wurde ein friedliches Spiel. Die Kinder, die eben noch geschossen hatten, sangen drei Sekunden später Kinderlieder. Bei dem Unternehmen Gideon ergab sich eine gewisse Schwierigkeit, die jedoch nur Aris engste Mitarbeiter betraf: David, Seew und Joab.

David war zwar ein feinfühliger junger Mann und ein Mann der Wissenschaften, doch wenn er einmal in Fahrt war, fürchtete er sich vor nichts, und jetzt war er in Fahrt. Bei dem englischen Depot war die Sache das erstemal so glatt gegangen, daß David, Seew und Joab meinten, es sei geradezu Sünde, auch nur einen Schnürsenkel dort zu lassen. David war dafür, von früh bis spät mit den Lastwagen der 23. Transportkompanie in das Depot zu fahren und alles mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest war. Seew wollte sogar Kanonen mitnehmen. Sie hatten so lange mit so wenig Waffen auskommen müssen, daß diese günstige Gelegenheit eine allzu große Versuchung darstellte.

Ari war dagegen und meinte, diese Habgier könnte das Gelingen des ganzen Planes gefährden. Die Engländer schliefen zwar, aber so fest schliefen sie nun auch wieder nicht. Die Wagen der 23. Transportkompanie sollten lediglich von Zeit zu Zeit beim Depot aufkreuzen, schon damit die Sache normal aussähe, doch der Versuch, das ganze Lager leerzumachen, könnte ihnen allen das Genick brechen.

Dennoch gelang es Ari nicht, seine jungen Mitarbeiter im Zaum zu halten. Sie machten immer wildere Pläne. Joab ging in seiner Frechheit soweit, einige englische Offiziere zum Essen in die Messe der 23. Transportkompanie einzuladen. Aris Geduld war zu Ende. Er drohte, sie alle miteinander nach Palästina zu schicken, um sie dort auf Vordermann bringen zu lassen.

Rund zwei Wochen nach dem Anlaufen des Unternehmens Gideon war alles soweit vorbereitet, daß die entscheidende Phase ablaufen konnte — die Überführung der dreihundert Kinder nach Kyrenia und das Erscheinen von Parkers Bericht in der Presse. Das Stichwort hierfür mußten die Engländer selbst geben. Dieses entscheidende Manöver sollte anlaufen, sobald die Engländer das neue Internierungslager an der Straße von Larnaca in Betrieb nahmen und anfingen, Insassen des Lagers bei Caraolos dorthin zu verlegen.

XIX.

Caldwell, Sutherlands Adjutant, kam in das Büro von Major Allan Alistair, Chef des Intelligence Service auf Zypern. Alistair, ein Mann von etwas über Vierzig, der ein leises Organ hatte und einen etwas scheuen Eindruck machte, nahm ein Aktenbündel von seinem Schreibtisch und ging mit Caldwell den Flur entlang zu Sutherlands Büro.

Der Brigadier bat Caldwell und Alistair, Platz zu nehmen, und forderte den Mann vom Intelligence Service durch ein kurzes Nicken auf, mit seinem Vortrag zu beginnen. Alistair strich sich mit dem Finger über die Nase und blätterte in seinen Akten. »Wir haben in Caraolos eine auffällige Zunahme der jüdischen Aktivität in der Jugendsektion beobachtet«, sagte er fast flüsternd. »Wir vermuten, daß man einen Aufruhr oder einen Ausbruchsversuch vorbereitet.« Sutherland trommelte ungeduldig auf der Schreibtischplatte. Mit seiner leisen Stimme und seiner Heimlichtuerei machte ihn Alistair jedesmal nervös, und jetzt ging das im gleichen Ton pausenlos so weiter.

»Mein lieber Allan Alistair«, sagte Sutherland schließlich, »ich habe Ihnen jetzt eine Viertelstunde lang zugehört. Sie vermuten also, daß die Juden irgendeinen finsteren Anschlag planen. In den letzten vierzehn Tagen haben Sie versucht, drei Vertrauensleute in der Jugendsektion und fünf an anderen Stellen im Lager anzusetzen. Jeder Ihrer Meisterspione ist innerhalb einer Stunde entlarvt und von den Juden hinausgeworfen worden. Sie haben mir zwei Seiten Funksprüche vorgelesen, die Sie aufgefangen haben, und die Sie nicht entschlüsseln konnten, und diese Funksprüche stammen Ihrer Meinung nach von einem Geheimsender, dessen Standort Sie nicht feststellen können.«

Alistair und Caldwell warfen sich einen raschen Blick zu, als ob sie sagen wollten: »Das wird heute mal wieder schwierig mit dem Alten.«

»Verzeihung, Sir«, sagte Alistair, »wir sind bei unserer Arbeit notwendigerweise zu einem großen Teil auf Vermutungen angewiesen. Andererseits haben wir aber auch einwandfreie Tatsachen festgestellt und mitgeteilt, ohne daß daraufhin irgend etwas unternommen worden ist. Es ist uns bekannt, daß es in Caraolos von Palmach-Leuten aus Palästina wimmelt, und daß diese Leute auf dem Spielplatz militärische Ausbildungskurse durchführen. Es ist uns außerdem bekannt, daß die Organisationen in Palästina ihre Agenten, die sie nach Zypern schicken, an einer bestimmten Stelle in der Nähe der Ruinen von Salamis an Land bringen. Und wir haben allen Grund zu der Annahme, daß dieser Grieche, Mandria, mit ihnen zusammenarbeitet.«

»Herrgott noch mal!« sagte Sutherland ärgerlich. »Das weiß ich auch. Sie scheinen zu vergessen, meine Herren, daß es nur der Anwesenheit dieser Leute aus Palästina zu verdanken ist, wenn sich die Lagerinsassen noch nicht in eine wilde Horde verwandelt haben. Sie sind es, die die Schulen leiten, die Lazarette, die Küchen und überhaupt alles, was es sonst noch im Lager gibt. Außerdem sorgen sie für Disziplin und verhindern Massenausbrüche, indem sie immer nur bestimmte Leute ins Lager hinein- und aus dem Lager herauslassen. Wenn wir diese Männer aus Palästina 'rauswerfen, werden wir uns die schönsten Schwierigkeiten einhandeln.«

»Dann sollte man sich ein paar von diesen Burschen kaufen«, meinte Caldwell, »damit wir wenigstens wissen, was sie vorhaben.« »Man kann diese Leute nicht kaufen«, sagte Alistair. »Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel. Jedesmal, wenn wir denken, wir hätten einen, der uns was erzählt, dann bindet er uns irgendeinen Bären auf.«

»Dann muß man den Kerlen eben die Hölle heiß machen«, sagte Caldwell mit aller Heftigkeit. »Man muß ihnen die Furcht Gottes einbleuen.«

»Freddy, Freddy!« sagte Sutherland tadelnd und brannte sich seine Pfeife an. »Man kann diesen Leuten keine Angst einjagen. Es sind Überlebende aus den Konzentrationslagern. Wissen Sie noch, wie es in Bergen-Belsen aussah, Freddy? Meinen Sie, wir könnten diesen Leuten irgend etwas antun, was noch schlimmer wäre?«

Major Alistair begann zu bedauern, daß er Caldwell gebeten hatte, mitzukommen. Er war so schrecklich engstirnig. »Herr General«, sagte Alistair rasch, »wir alle hier sind Soldaten. Dennoch wäre es unverantwortlich von mir, wenn ich Ihnen berichten wollte, in Caraolos sei alles friedlich, und meiner Meinung nach sei es das Beste, weiterhin nichts zu unternehmen und einfach abzuwarten, bis es irgendwo knallt.«

Sutherland stand auf, verschränkte die Hände auf dem Rücken und begann nachdenklich auf und ab zu gehen. Er zog ein paarmal an seiner Pfeife und klopfte sich mit dem Pfeifenstiel gegen die Zähne. »Ich habe hier in Zypern den Auftrag, dafür zu sorgen, daß es in diesen Lagern ruhig bleibt, bis sich unsere Regierung darüber klar wird, was sie in der Frage des Palästina-Mandats zu tun gedenkt. Wir müssen deshalb unbedingt alles vermeiden, was in der Öffentlichkeit unnötigen Staub aufwirbeln könnte.«

Fred Caldwell war wütend. Er begriff einfach nicht, wieso Sutherland dafür sein konnte, nichts zu unternehmen und die Juden machen zu lassen, was sie wollten. Das war zu hoch für ihn, wirklich völlig unbegreiflich.

Allan Alistair verstand es zwar, war damit aber nicht einverstanden. Er war dafür, irgendwelche jüdischen Pläne in Caraolos durch rasche Gegenmaßnahmen zu durchkreuzen. Aber er konnte schließlich nichts weiter tun, als Sutherland das Ergebnis seiner Ermittlungen vorzulegen; die Entscheidung darüber, wie man darauf reagieren sollte, lag bei dem Brigadier. Seiner Meinung nach war der Brigadier viel zu milde.

»War sonst noch etwas?« fragte Sutherland.

»Ja, Sir«, sagte Alistair, »es gibt noch ein weiteres Problem.« Er blätterte in seinen Akten. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie meinen Bericht über diese Amerikanerin, Katherine Fremont, und den Korrespondenten Parker gelesen haben?«

»Was ist mit den beiden?«

»Also, wir wissen nicht genau, ob sie seine Geliebte ist, jedenfalls aber steht fest, daß Mrs. Fremont kurze Zeit nach Parkers Ankunft in Zypern angefangen hat, im Lager Caraolos zu arbeiten. Es ist uns von früher her bekannt, daß Parker den Engländern nicht gerade freundlich gesinnt ist.«

»Unsinn. Er ist ein hervorragender Reporter. Seine Berichte über die Nürnberger Prozesse waren großartig. Wir haben damals in Holland einen Fehler gemacht, der uns teuer zu stehen kam, und dieser Mann fand ihn heraus und berichtete darüber. Schließlich war er Kriegsberichterstatter.«

»Scheint es Ihnen richtig, Sir, wenn wir es für durchaus möglich halten, die Tatsache, daß Mrs. Fremont in Caraolos arbeitet, könnte etwas damit zu tun haben, daß Parker einen Bericht über das Lager vorbereitet?«

»Major Alistair — sollten Sie jemals angeklagt werden, einen Mord begangen zu haben, so möchte ich Ihnen wünschen, daß man Sie nicht auf Grund von Beweisen verurteilt, wie Sie mir sie soeben erbracht haben.«

Auf den Wangen des Majors erschienen vor Erregung kleine rote Flecken.

»Diese Fremont ist nun einmal eine der fähigsten Kinderpflegerinnen im ganzen Nahen Osten. Die griechische Regierung hat sie nach Saloniki geholt, wo sie ein Waisenheim geleitet hat, und zwar hervorragend. Das steht auch in Ihrem Bericht. Mrs. Fremont und Mark Parker sind seit ihrer Kindheit miteinander befreundet. Das steht gleichfalls in Ihrem Bericht. Und es steht ferner in Ihrem Bericht, daß es die jüdische Wohlfahrt war, die sich wegen der Arbeit im Lager an sie gewandt hatte. Sie lesen doch Ihre Berichte, Major Alistair, oder?«

»Verzeihung, Sir ...«

»Ich bin noch nicht zu Ende. Nehmen wir einmal an, unser schlimmster Verdacht sei begründet. Nehmen wir also an, daß Mrs. Fremont tatsächlich Material für Mark Parker sammelt. Nehmen wir weiter an, daß Mark Parker eine Artikelserie über Caraolos schreibt. Ich bitte Sie, meine Herren, wir haben jetzt Ende 1946; der Krieg ist seit mehr als anderthalb Jahren vorbei. Die Leute wollen nichts mehr von Flüchtlingen hören, und wenn sie etwas darüber lesen, dann macht es auf sie sehr wenig Eindruck. Wenn wir aber eine amerikanische Kinderpflegerin und einen amerikanischen Pressemann aus Zypern hinauswerfen, ist das sicherlich eine Sensation für die Leute. Meine Herren, die Sitzung ist beendet.«

Alistair nahm rasch seine Akten zusammen. Fred Caldwell, der kochend vor Wut dagesessen hatte, sprang auf. »Und ich sage, wir sollten ein paar von diesen Dreckjuden aufhängen, damit sie sehen, wer eigentlich der Herr im Hause ist.« Damit wollte er hinaus.

»Freddy!« rief Sutherland hinter ihm her. Caldwell, schon in der Tür, blieb stehen und drehte sich um. »Wenn Sie den Juden unbedingt an den Kragen wollen, kann ich veranlassen, daß Sie nach Palästina versetzt werden. Die Juden dort sind nicht hinter Stacheldraht, und sie sind bewaffnet. Solche Männlein wie Sie essen sie gern zum Frühstück.«

Caldwell ging rasch mit Alistair den Flur entlang und brummte wütend in sich hinein. »Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte Alistair. Caldwell ließ sich in einen Stuhl fallen und fuchtelte mit den Händen herum. Alistair nahm einen Brieföffner von seinem Schreibtisch und spielte nervös damit, während er im Büro auf und ab ging.

»Also, wenn Sie mich fragen«, sagte Caldwell, »man sollte den Alten adeln und in den Ruhestand versetzen.«

Alistair kam zurück zum Schreibtisch und biß sich unschlüssig auf die Lippe. »Hören Sie, Freddy, ich habe mir die Sache schon seit mehreren Wochen überlegt. Sutherland verhält sich wirklich ganz unmöglich. Ich werde General Tevor-Browne einen persönlichen Brief schreiben.«

Caldwell zog die Augenbrauen in die Höhe. »Das ist ein bißchen riskant, alter Junge.«

»Wir müssen irgend etwas unternehmen, ehe uns diese verdammte Insel eines Tages um die Ohren fliegt. Sie sind Sutherlands Adjutant. Wenn Sie mich dabei unterstützen, dann garantiere ich Ihnen, daß nichts ins Auge geht.«

Caldwell hatte es satt mit Sutherland. Und Alistair war ein angeheirateter Verwandter von Tevor-Browne. Er nickte zustimmend.

»Dann könnten Sie bei der Gelegenheit bei Tevor-Browne auch gleich ein gutes Wort für mich einlegen.«

Es klopfte, und herein kam ein Korporal mit einem Bündel neuer Informationen. Er übergab Alistair das Bündel und ging wieder hinaus. Alistair blätterte die Meldungen durch und seufzte. »Als ob ich nicht schon genug Sorgen hätte. Auf der Insel ist eine organisierte Bande von Dieben tätig. Die Burschen sind so gerissen, daß wir nicht einmal herausbekommen, was sie eigentlich klauen.« Einige Tage später traf Major Alistairs dringender und vertraulicher Bericht bei General Tevor-Browne ein. Seine erste Reaktion war, Alistair und Caldwell nach London kommen zu lassen und ihnen eine gewaltige Standpauke für diesen Bericht zu halten, der an Meuterei grenzte. Doch dann machte er sich klar, daß Alistair es nicht riskiert hätte, ihm einen solchen Brief zu schicken, wenn er nicht ernstlich beunruhigt wäre.

Falls sich Tevor-Browne dafür entschied, Alistairs Rat zu befolgen und in Caraolos rasch durchzugreifen, um eventuelle Pläne der Juden zu durchkreuzen oder zu vereiteln, mußte er sich beeilen. Denn Ari ben Kanaan hatte bereits den genauen Zeitpunkt festgesetzt, zu dem die Kinder mit Sicherheit aus Caraolos fortgebracht werden sollten. Die Engländer hatten bekanntgegeben, daß die neuen Lager in der Nähe von Larnaca fertiggestellt seien, und daß man in den nächsten Tagen damit beginnen würde, einen großen Teil der Insassen aus den überfüllten Lagern bei Caraolos dorthin zu überführen. Die Flüchtlinge sollten mit Lastwagen hingebracht werden, und zwar zehn Tage lang täglich jeweils drei- bis fünfhundert. Ari setzte den sechsten Tag als Zeitpunkt X des Unternehmens Gideon fest.

XX.

PERSÖNLICH ZU ÜBERBRINGEN AN MR. KENNETH BRADBURY AMERICAN NEWS SYNDICATE, LONDON Lieber Brad, der Überbringer dieses Briefes und des beiliegenden Berichtes aus Zypern ist F. F. Whitman, ein Pilot der British Intercontinental Airways.

Der Tag X des Unternehmens Gideon ist in fünf Tagen. Telegrafieren Sie mir sofort, ob Sie meinen Bericht bekommen haben. Ich habe mich auf eigene Faust eingeschaltet, glaube aber, daß eine ganz dicke Sache daraus werden könnte.

Am Tage X werde ich Ihnen ein Telegramm schicken. Wenn die Unterschrift MARK ist, so bedeutet das, daß alles planmäßig verlaufen ist und daß Sie die Story loslassen können. Wenn es mit PARKER unterschrieben ist, dann halten Sie die Story noch zurück, denn das bedeutet, daß irgend etwas schiefgegangen ist. Ich habe F. F. Whitman als Belohnung für sichere Überbringung 500 Dollar, versprochen. Seien Sie so gut und geben Sie ihm das Geld, ja?

Mark Parker

MARK PARKER

DOM-HOTEL

KYRENIA/ZYPERN

TANTE DOROTHEA WOHLBEHALTEN IN LONDON GELANDET STOP HABEN UNS ALLE SEHR GEFREUT SIE ZU SEHEN STOP HOFFEN BALD VON DIR ZU HÖREN.

BRAD

Marks Bericht lag also im Londoner Büro von ANS vor, um auf ein verabredetes Stichwort hin in den Zeitungen zu erscheinen.

Kitty zog, als sie in Caraolos zu arbeiten anfing, vom Dom-Hotel in das King-George-Hotel in Famagusta um. Mark beschloß, im DomHotel wohnen zu bleiben, um an Ort und Stelle zu sein, wenn die Exodus in den Hafen von Kyrenia kam.

Er war zweimal im Wagen nach Famagusta gefahren, um Kitty zu besuchen. Beide Male hatte er sie nicht angetroffen, da sie im Lager gewesen war. Was Mark schon befürchtet hatte, wurde ihm von Mandria bestätigt: dieses junge Mädchen im Lager arbeitete als Kittys Assistentin, und die beiden waren den ganzen Tag zusammen. Mark machte sich Sorgen. Kitty schien die unsinnige Idee zu haben, ihre tote Tochter sei in diesem Mädchen wieder lebendig geworden. Das Ganze war nicht normal, war irgendwie überspannt. Dazu kam noch, daß Kitty sich darauf eingelassen hatte, gefälschte Papiere aus dem Lager herauszuschmuggeln.

Bis zu der entscheidenden Phase des Unternehmens Gideon waren es nur noch wenige Tage. Die Spannung machte Mark nervös, und Kittys sonderbares Betragen machte ihn noch nervöser. Er verabredete sich mit ihr im King George.

Auf der Fahrt nach Famagusta waren seine Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Es war alles allzu glatt gegangen. Ben Kanaan und seine Räuberbande hatten die Engländer völlig in die Irre geführt. Die Engländer waren sich darüber klar, daß irgend etwas im Gange war, aber es schien ihnen einfach nicht möglich, dahinten zukommen, wo die Drahtzieher saßen. Mark war voller Bewunderung für die Klugheit Ben Kanaans und den Mut des Palmach. Die Ausrüstung der Exodus und die Ausbildung der dreihundert Jugendlichen waren mustergültig. Diese Sache würde tatsächlich die sensationellste Story ergeben, die er jemals in die Finger bekommen hatte, doch er machte sich zur gleichen Zeit auch sehr große Sorgen über seine Beteiligung an der ganzen Angelegenheit.

Im King George, das wie das Dom-Hotel direkt am Meer lag, sah er Kitty an einem Tisch auf der Terrasse sitzen, die zum Meer ging.

»Hallo, Mark«, sagte sie lächelnd und gab ihm, als er neben ihr Platz nahm, einen Kuß auf die Wange.

Er bestellte etwas zu trinken, gab Kitty eine Zigarette und zündete sich selbst eine an. Kitty sah großartig aus; sie schien um zehn Jahre jünger.

Die Cocktails kamen.

»Du machst keinen besonders glücklichen Eindruck«, sagte Kitty. »Ist es die Spannung?«

»Natürlich«, sagte er ärgerlich. »Meinst du vielleicht, ich wäre nicht gespannt?«

Sie erhoben die Gläser und sahen sich an. Kitty stellte ihr Glas rasch wieder hin. »Hören Sie, Mr. Parker — Sie funkeln ja wie ein Warnungsschild vor einer Kurve. Mach deinem Herzen Luft, ehe du explodierst.«

»Was hast du denn? Bist du böse? Magst du mich nicht mehr?« »Mein Gott, Mark — ich wußte gar nicht, daß du so empfindlich bist. Ich habe viel Arbeit gehabt. Außerdem waren wir uns doch einig, daß wir uns in diesen zwei Wochen lieber nicht so oft sehen wollten, nicht wahr?«

»Gestatten Sie: mein Name ist Mark Parker. Wir haben uns früher mal ziemlich gut gekannt. Es war bei uns üblich, daß wir über alles miteinander sprachen.«

»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«

»Ich meine Karen — Karen Clement-Hansen. Ein kleines Flüchtlingsmädchen aus Deutschland, via Dänemark.«

»Ich wüßte nicht, was es darüber zu reden gäbe.«

»Ich glaube doch.«

»Sie ist einfach ein reizendes Mädchen, und ich habe sie gern. Sie mag mich, und ich mag sie.«

»Lügen war nie deine Stärke.«

»Ich mag nicht darüber reden!«

»Du läßt dich da auf etwas ein, was zwangsläufig schiefgehen muß. Das letztemal bist du nackt im Bett eines Matrosen gelandet. Diesmal wirst du vermutlich draufgehen.«

Sie sah zur Seite und sagte: »Dabei bin ich immer so vernünftig gewesen, mein ganzes Leben lang.«

»Willst du etwa versuchen, alles, was du in dieser Beziehung versäumt hast, jetzt auf einmal nachzuholen?«

Sie legte die Hand auf seine Hand. »Ich verstehe es auch nicht — aber mir ist, als wäre ich neu geboren. Sie ist ein so ungewöhnliches Mädchen, Mark.«

»Und was machst du, wenn sie auf die Exodus geht? Hast du vor, sie nach Palästina zu begleiten?«

Kitty zerdrückte ihre Zigarette im Aschenbecher und trank ihren Cocktail aus. Ihre Augen wurden schmal, und ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck, den Mark an ihr kannte. »Was hast du getan?« fragte er.

»Karen geht nicht mit auf die Exodus. Das war die Bedingung, unter der ich mich bereit erklärte, für Ari ben Kanaan zu arbeiten.«

»Was für ein Blödsinn, Kitty — was für ein verdammter Blödsinn!« »Hör auf!« sagte sie. »Hör auf, so zu tun, als ob irgend etwas dabei nicht in Ordnung wäre. Ich bin einsam gewesen, habe gehungert nach einer Zuneigung, einer Liebe, wie sie dieses Mädchen mir geben kann. Und ich kann für sie der Mensch sein, nach dem sie verlangt.«

»Du willst gar nicht ,ein Mensch' sein — du möchtest ihre Mutter sein.«

»Na, und wenn? Auch das wäre ganz in Ordnung.«

»Also, hör mal, wir wollen uns hier nicht weiter anschreien. Wir wollen in aller Ruhe darüber reden. Ich weiß nicht, was du dir da ausgedacht hast, aber ihr Vater ist vermutlich noch am Leben. Und wenn nicht, dann hat sie die Hansens in Dänemark. Und drittens: dieses Mädchen ist von den Leuten aus Palästina genauso verrückt gemacht worden wie alle anderen auch. Sie will unbedingt nach Palästina.«

Kittys Augen bekamen einen traurigen Ausdruck, und Mark bereute, was er gesagt hatte.

»Es war falsch von mir«, sagte Kitty, »daß ich sie nicht auf die Exodus gehen lassen will. Ich wollte sie ein paar Monate um mich haben, wollte ihr Vertrauen gewinnen, wollte ihr allmählich beibringen, wie wunderbar es wäre, wenn sie mit mir nach Amerika käme. Ich dachte, wenn ich ein paar Monate mit ihr zusammen sein könnte, dann wüßte ich genau —.«

»Kitty, Kitty! Karen ist nicht Sandra. Du hast die ganze Zeit nach Sandra gesucht, von dem Augenblick an, als der Krieg zu Ende war. Du hast nach ihr gesucht in diesem Waisenheim in Saloniki. Vielleicht war das der Grund, weshalb du Ben Kanaans Herausforderung annehmen mußtest; denn in Caraolos waren Kinder, und du dachtest, eins von diesen Kindern könnte vielleicht Sandra sein.«

»Bitte, Mark — hör auf.«

»Schon gut. Und was kann ich für dich tun?«

»Versuche festzustellen, ob ihr Vater am Leben ist. Wenn er nicht lebt, möchte ich Karen adoptieren und sie nach Amerika mitnehmen.«

»Ich werde mein möglichstes tun«, sagte er. Er sah Ari ben Kanaan, der, als Captain Caleb Moore verkleidet, rasch herankam und bei ihnen am Tisch Platz nahm. Sein Gesicht war kühl und beherrscht wie immer. Kittys Gesicht leuchtete, als sie ihn sah.

»Ich habe eben eine Nachricht von David aus Caraolos bekommen. Ich muß sofort hin. Und es scheint mir das Beste, Sie kommen mit«, sagte er zu Kitty.

»Was ist los?« fragten Mark und Kitty voller Aufregung im gleichen Atemzug.

»Genau weiß ich es auch nicht. Dieser Landau, der Junge, der die gefälschten Papiere für uns herstellt — er arbeitet im Augenblick an den Listen für die Überführung der dreihundert Kinder. Er weigert sich, weiterzumachen, ehe er nicht mit mir gesprochen hat.«

»Und was soll ich dabei?« fragte Kitty.

»Ihre Freundin Karen ist so ziemlich der einzige Mensch, der mit ihm reden kann.«

Kitty wurde blaß.

»Diese Papiere müssen innerhalb der nächsten sechsunddreißig Stunden fertig sein«, sagte Ari. »Es könnte notwendig werden, daß Sie Karen veranlassen, mit dem Jungen zu reden.«

Kitty stand schwankend auf und folgte Ari widerstandslos. Mark schüttelte bekümmert den Kopf und sah noch lange zu der Tür, durch die sie verschwunden waren.

XXI.

Karen stand in dem Klassenzimmer, das als Palmach-Hauptquartier diente. Wütend starrte sie auf den Jungen mit dem sanften Gesicht und dem blonden Haar. Er war etwas klein für einen Siebzehnjährigen, und sein sanftes Äußeres war eine Täuschung. In seinen kalten blauen Augen brannten Qual, Verwirrung und Haß. Er stand bei einer kleinen Nische, die die Papiere und Instrumente enthielt, die er für seine Fälschungen verwendete. Karen ging zu ihm hin und fuhr ihm mit dem Finger unter der Nase hin und her. »Dov? Was hast du wieder angestellt?« Er schob die Unterlippe vor und brummte. »Hör auf, mich anzuknurren wie einen Hund«, sagte sie. »Ich will wissen, was du angestellt hast.«

Er blinzelte nervös. Es hatte keinen Sinn, mit Karen streiten zu wollen, wenn sie wütend war. »Ich habe ihnen gesagt, daß ich mit Ben Kanaan sprechen will.«

»Und warum?«

»Weißt du, was das da ist? Das sind gefälschte englische Formulare. Ben Kanaan hat mir eine Liste mit den Namen von dreihundert Jungens und Mädchen aus unserer Sektion gegeben, die auf diesen Papieren hier aufgeführt werden — und dann in das neue Lager bei Larnaca verlegt werden sollen. In Wirklichkeit kommen sie aber gar nicht in das neue Lager. Sie sollen auf ein Mossad-Schiff, das irgendwo liegt. Und dieses Schiff fährt nach Palästina.«

»Na und? Du weißt doch, wir fragen die Leute von Mossad oder Palmach nicht danach, was sie vorhaben.«

»Doch, diesmal frage ich danach. Unsere beiden Namen stehen nicht auf der Liste. Ich mache diese Papiere nicht fertig, wenn sie nicht auch uns mitnehmen.«

»Du weißt ja gar nicht, ob wirklich ein Schiff da ist. Und sollte ein Schiff da sein und wir nicht mitfahren, dann wird das seine Gründe haben. Wir beide haben eine ganz bestimmte Arbeit hier in Caraolos zu tun.«

»Ich frage nicht danach, ob sie mich hier brauchen oder nicht. Man hat mir versprochen, daß man mich nach Palästina bringt, und ich fahre mit.«

»Denkst du denn gar nicht daran, daß wir diesen Männern von Palmach auch etwas schuldig sind für all das, was sie für uns getan haben?«

»Für uns getan, für uns getan! Weißt du eigentlich gar nicht, weshalb die so darauf versessen sind, Juden nach Palästina zu schmuggeln? Meinst du wirklich, sie täten das nur, weil sie uns so lieben? Nein, das machen sie, weil sie Leute brauchen, die gegen die Araber kämpfen.«

»Und was ist mit den amerikanischen Juden und all den andern, die nicht gegen die Araber kämpfen? Warum helfen die uns?«

»Das will ich dir sagen. Die geben Geld, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Sie fühlen sich schuldig, weil man sie nicht auch in die Gaskammern gesteckt hat.«

Karen biß die Zähne aufeinander und schloß die Augen, um ihre Fassung nicht zu verlieren. »Dov, Dov! Gibt es für dich nichts anderes als Haß?« Sie drehte sich um und wollte zur Tür.

Dov lief ihr nach und versperrte ihr den Ausgang. »Jetzt bist du wieder wütend auf mich«, sagte er.

»Ja, das bin ich.«

»Karen, du bist der einzige Freund, den ich habe.«

»Du willst ja nur nach Palästina, damit du dich den Terroristen anschließen und Menschen töten kannst.«

Karen ging zurück, setzte sich in eine Schulbank und seufzte. An der Wandtafel vor ihr stand in Blockschrift der Satz: DIE BALFOUR-DEKLARATION VOM JAHRE 1917 ENTHÄLT DAS VERSPRECHEN ENGLANDS, DEN JUDEN EINE HEIMAT IN PALÄSTINA ZU GEBEN. »Ich möchte auch nach Palästina«, sagte sie leise. »Ich wünsche es mir so sehr, daß es mich fast umbringt. Mein Vater erwartet mich dort — das weiß ich bestimmt.«

»Geh jetzt wieder in dein Zelt und warte dort auf mich«, sagte Dov. »Ben Kanaan wird gleich hier sein.«

Als Karen gegangen war, lief Dov zehn Minuten lang nervös hin und her durch das Klassenzimmer und steigerte sich in immer größere Wut hinein.

Endlich öffnete sich die Tür und die hohe, breite Gestalt Ari ben Kanaans kam herein, gefolgt von David ben Ami und Kitty Fremont. David machte die Tür zu und schloß ab.

Dov kniff mißtrauisch die Augen zusammen. »Die da will ich nicht dabeihaben«, sagte er.

»Aber ich«, sagte Ari. »Also rede.«

Dov blinzelte und zögerte unschlüssig. Er wußte, daß er gegen Ben Kanaan nicht aufkam. Er ging zu der Nische und schnappte sich die Vordrucke der Überführungsliste. »Ich nehme an, daß Sie hier in Zypern ein Aliyah-Bet-Schiff haben, und daß die dreihundert, die auf dieser Liste stehen, auf dieses Schiff gebracht werden sollen.«

»Gar keine schlechte Idee«, sagte Ari. »Weiter.«

»Wir haben eine Abmachung getroffen, Ben Kanaan. Ich mache diese Liste für Sie nicht fertig, wenn nicht auch mein Name und der von Karen Clement draufkommt. Noch irgendwelche Fragen?«

Ari warf Kitty von der Seite einen raschen Blick zu.

»Hast du eigentlich schon mal daran gedacht, Dov, daß du der einzige Spezialist hier bist, und daß wir dich deshalb hier brauchen?« sagte David ben Ami. »Und hast du auch schon mal daran gedacht, daß ihr beiden, du und Karen, hier wertvoller seid als in Palästina?« »Haben Sie eigentlich schon mal daran gedacht, daß mir das verdammt gleichgültig ist?« antwortete Dov.

Ari senkte den Blick, um ein Lächeln zu verbergen. Dov war ein schlauer Bursche und mit allen Wassern gewaschen. Es waren ausgekochte Jungens, die die Konzentrationslager überleben konnten.

»Es scheint, du hast die Trümpfe in der Hand«, sagte Ari. »Setz deinen Namen mit auf die Liste.«

»Und was ist mit Karen?«

»Davon war bei unserer Abmachung nicht die Rede.«

»Aber ich mache es jetzt zur Bedingung.«

Ari ging zu ihm hin, baute sich dicht vor ihm auf und sagte: »Das paßt mir nicht, Dov.«

Dov begehrte auf. »Schlagen Sie mich doch! Ich bin von Spezialisten geschlagen worden! Bringen Sie mich um! Ich habe keine Angst. Nach dem, was ich bei den Deutschen erlebt habe, kann mich nichts mehr einschüchtern.«

»Hör auf, zionistische Propaganda herzubeten«, sagte Ari. »Geh in dein Zelt und warte dort. Du bekommst in zehn Minuten Antwort von uns.«

Dov schloß die Tür auf und rannte hinaus.

»Dieses kleine Biest!« sagte David.

Ari gab David einen Wink, und David ging hinaus. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, als Kitty wie von Sinnen auf Ari losstürzte und rief: »Karen geht nicht auf dieses Schiff! Das haben Sie mir fest zugesagt! Sie geht nicht auf die Exodus!«

Ari packte sie bei den Handgelenken. »Ich rede kein Wort mit Ihnen, wenn Sie sich jetzt nicht zusammennehmen. Wir haben genug auf dem Hals, auch ohne eine hysterische Frau.«

Kitty riß sich heftig los.

»Hören Sie zu«, sagte Ari. »Mit dieser Möglichkeit hatte ich wirklich nicht gerechnet. In weniger als vier Tagen ist es soweit. Dieser Bursche hat uns in der Hand, und er weiß es. Wenn er die Papiere nicht fertigmacht, sind wir aufgeschmissen.«

»Reden Sie mit ihm — versprechen Sie ihm alles, was er will, aber lassen Sie Karen hier!«

»Ich würde mit ihm reden, bis ich heiser bin, wenn ich meinte, daß damit irgend etwas zu erreichen wäre.«

»Ben Kanaan, bitte — er wird nachgeben. Er wird nicht darauf bestehen, daß Karen mitkommt.«

Ari schüttelte den Kopf. »Ich habe Jungens wie ihn zu Hunderten gesehen. Es ist nicht viel in ihnen heil geblieben. Karen ist für Dov das einzige, was ihn noch mit der Welt der anderen verbindet. Sie wissen genausogut wie ich, daß er zu diesem Mädchen halten wird.« Kitty lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wandtafel, ihr Kleid streifte über die Kreide, mit der dort angeschrieben war: DIE BALFOUR-DEKLARATION VON 1917 ENTHÄLT DAS VERSPRECHEN ENGLANDS ...

Ben Kanaan hatte recht, und sie wußte es. Und Mark hatte auch recht gehabt.

»Es gibt nur einen Weg«, sagte Ari. »Gehen Sie zu diesem Mädchen und sagen Sie ihm, wie es in Ihnen aussieht. Erklären Sie Karen, weshalb Sie möchten, daß sie hierbleibt.«

»Das kann ich nicht«, sagte Kitty mit leiser Stimme. »Ich kann nicht.« Sie hob den Blick und sah Ben Kanaan verzweifelt und hilflos an.

»Mit so was hatte ich wirklich nicht gerechnet«, sagte er. »Tut mir leid, Kitty.« Es war das erstemal, daß er sie Kitty nannte.

»Bringen Sie mich zu Mark zurück«, sagte sie.

Sie gingen hinaus. Draußen stand David. »Geh zu Dov«, sagte Ari, »und sag ihm, daß wir mit seinen Bedingungen einverstanden sind.« Dov rannte los, als er es erfahren hatte. Atemlos und aufgeregt kam er in Karens Zelt gestürzt. »Wir fahren nach Palästina!« rief er.

»O Gott«, sagte Karen. »O Gott!«

»Wir dürfen nicht darüber reden. Die anderen wissen nichts davon, nur du und ich.«

»Und wann?«

»In den allernächsten Tagen. Ben Kanaan und seine Leute werden mit Lastwagen und in englischen Uniformen kommen. Angeblich, um uns in das neue Lager bei Larnaca zu bringen.«

»O mein Gott.«

Hand in Hand verließen sie das Zelt. Langsam gingen sie durch die langen Reihen der Zelte unter den Akazien zu dem Spielplatz, wo Seew mit einer Schulklasse Messerfechten übte.

Dov Landau ging weiter, allein, an der Wand aus Stacheldraht entlang. Er sah draußen die englischen Wachtposten auf und ab gehen. Am Ende der langen Wand aus Stacheldraht stand ein Wachtturm, ausgerüstet mit Maschinengewehr und Scheinwerfer. Stacheldraht — Maschinengewehre — Wachtposten —.

Wann in seinem Leben war er einmal nicht hinter Stacheldraht gewesen? Gab es das wirklich, ein Leben ohne Stacheldraht, Maschinengewehre und Wachtposten? Es fiel ihm schwer, sich daran zu erinnern. Es lag so weit zurück, zu weit. ..

XXII.

WARSCHAU, SOMMER 1939

Mendel Landau war ein kleiner Warschauer Bäcker. Verglichen mit Professor Johann Clement lebte er am anderen Ende der Welt. Mendel Landau und Johann Clement hatten in der Tat absolut nichts gemeinsam. Aber beide waren Juden.

Deswegen mußte jeder von ihnen auf die Frage nach der Einstellung zu seiner Umwelt seine eigene Antwort finden. Professor Clement hatte sich bis zuletzt an die Idee der Assimilation geklammert. Mendel Landau war zwar ein schlichter, einfacher Mann, hatte aber gleichfalls über dieses Problem nachgedacht. Er war allerdings zu einem völlig anderen Ergebnis gelangt.

Im Gegensatz zu Clement hatte Mendel Landau in einer Umgebung gelebt, die ihm das Bewußtsein eingeprägt hatte, ein Fremder zu sein, ein Eindringling. Siebenhundert Jahre lang waren die Juden in Polen allen möglichen Formen der Verfolgung ausgesetzt gewesen, angefangen von Mißhandlungen bis zum Massenmord. Sie hatten im Ghetto gelebt, hinter hohen Mauern, die sie von der Umwelt trennten.

In diesem Ghetto aber war etwas Sonderbares geschehen. Dort hatte sich das religiöse und kulturelle Eigenleben der Juden vertieft, statt zu erlöschen, und ihre Zahl war ständig größer geworden. Da sie gewaltsam von der Außenwelt isoliert waren, hielten sich die Juden immer strenger an die mosaischen Gesetze, und diese Gesetze waren zu einem mächtigen Band geworden, das sie untereinander fest zusammenhielt. In den jüdischen Gemeinden, die im Ghetto ganz auf sich selbst gestellt waren, entwickelte sich ein besonders fester familiärer und kommunaler Zusammenhalt, der auch nach der Abschaffung des Ghettos bestehenblieb.

Die jahrhundertelangen Verfolgungen hatten ihren grausigen Höhepunkt im Jahre 1648 erreicht, als bei einem Kosakenaufstand eine halbe Million Juden umgebracht wurde. Das finstere Mittelalter, das im westlichen Europa sein Ende gefunden hatte, schien im polnischen Ghetto weiterzuleben.

Zu allen Zeiten der jüdischen Geschichte hatte es immer dann, wenn es besonders bedrohlich und hoffnungslos aussah, Männer unter den Juden gegeben, die mit dem Anspruch auftraten, der neue »Messias« zu sein. Gleichzeitig entwickelte sich die jüdische Mystik, die sich bemühte, biblische Erklärungen für die jahrhundertelangen Leidenszeiten zu finden. Mit ihrer verwickelten Geheimlehre, der Kabbala, versuchten die jüdischen Mystiker, den heiligen Schriften einen verborgenen Sinn entreißen und einen Weg zu finden, auf dem Gott sie aus der Wüstenei des Todes erretten könne.

Während die »Erlöser« ihre messianische Botschaft verkündeten und die Mystiker die Schriften erforschten, erwuchs im Ghetto noch eine weitere Glaubensbewegung: Die Chassidim, die die unerträgliche Wirklichkeit durch religiöse Inbrunst zu überwinden suchten.

Die Kabbala, der Chassidismus — Mendel Landau waren sie bekannt, diese Ausgeburten der Verzweiflung. Er wußte auch, daß es aufgeklärtere Zeiten gegeben hatte, in denen das Los der Juden leichter gewesen war. Und er wußte von den vielen Freiheitskriegen der Polen, bei denen die Juden zu den Waffen gegriffen und an der Seite der Polen gekämpft hatten.

Vieles von dem, was Mendel Landau wußte, war alte Geschichte, längst versunkene Vergangenheit. Jetzt aber schrieb man das Jahr 1939, und Polen war eine Republik. Er und seine Familie lebten nicht mehr in einem Ghetto. Es gab in Polen über drei Millionen Juden, und die Juden spielten eine wichtige Rolle im Leben der Nation. Freilich war ihre Unterdrückung mit dem Entstehen der Republik nicht beendet, nur der Grad war ein anderer geworden. Noch immer gab es für die Juden Sondersteuern und wirtschaftliche Beschränkungen. Und noch immer gaben die meisten Polen für eine Überschwemmung oder eine Dürre den Juden die Schuld.

Gewiß, das Ghetto war verschwunden, doch für Mendel Landau war ganz Polen ein Ghetto, ganz gleich, wo er wohnte. Gewiß, Polen war eine Republik, doch Mendel Landau hatte auch in den Jahren nach 1936 Pogrome erlebt. Es hatte antisemitische Ausschreitungen gegeben, in Brzesc, Czenstochau, Brzytyk, Minsk Mazowiecki; und er hatte die höhnischen Stimmen des Gesindels im Ohr, das sich einen Spaß daraus gemacht hatte, jüdische Läden zu demolieren und den Juden die Bärte abzuschneiden.

Deshalb war Mendel Landau zu einer anderen Schlußfolgerung gekommen als Johann Clement. Nach siebenhundert Jahren jüdischer Ansässigkeit war Mendel Landau in Polen noch immer ein Fremder, ein Eindringling, und er war sich darüber klar.

Er war ein einfacher und sehr bescheidener Mann. Seine Frau Lea war ein treues, biederes Weib, eine gute Mutter und eine schwer arbeitende Hausfrau.

Mendel Landau hatte den Wunsch, seinen Kindern irgend etwas mitzugeben. Doch die gläubige Inbrunst der Chassidim und ihr Gebetseifer sagten ihm nicht zu, und er hielt auch nichts von irgendeinem neuen Messias oder der Geheimwissenschaft der Kabbala. Er war nur noch bedingt ein Anhänger der jüdischen Religion. Er hielt die jüdischen Feste ein, ungefähr so, wie die meisten Christen Ostern und Weihnachten feiern. Er schätzte die Bibel, in der die Geschichte seines Volkes berichtet wurde, doch sie war für ihn mehr eine historische Quelle als ein Gegenstand der Verehrung. Er konnte also seinen Kindern keinen tief verwurzelten Glauben überliefern. Was Mendel Landau seinen Kindern mitgab, war eine Idee. Diese Idee lag in weiter Ferne, sie war ein Traum, und sie war unrealistisch. Sein Vermächtnis an seine Kinder war die Idee, daß die Juden eines Tages nach Palästina zurückkehren und den alten jüdischen Staat wieder errichten sollten. Nur als Nation würden die Juden jemals ihre Gleichberechtigung erreichen können. Mendel Landau, der Bäcker, mußte schwer arbeiten. Er hatte vollauf genug zu tun und zu denken, um seine Familie durchzubringen und seinen Kindern ein Heim zu geben, eine Erziehung und seine Liebe. In seinen kühnsten Träumen dachte er nicht daran, daß er selbst jemals Palästina sehen würde, und er glaubte auch nicht wirklich, daß seine Kinder jemals dorthin kommen würden. Doch er glaubte an die Idee.

Mendel war mit diesem Glauben unter den polnischen Juden nicht allein. Unter den dreieinhalb Millionen Juden, die in Polen lebten, gab es Hunderttausende, die dem gleichen Stern folgten, und diese Hunderttausende bildeten die Keimzelle der zionistischen Bewegung. Es gab orthodoxe Zionisten, sozialistische Zionisten, bürgerliche Zionisten, und es gab sogar auch kleine militante zionistische Gruppen.

Da Mendel Gewerkschaftsmitglied war, gehörten er und seine Familie einer Gruppe sozialistischer Zionisten an, die sich Habonim, die »Bauleute«, nannten. Diese »Bauleute« bildeten den Mittelpunkt, um den sich das ganze Leben der Landaus bewegte. Von Zeit zu Zeit kamen Männer aus Palästina, die Reden hielten und Anhänger warben; es gab Bücher und Schriften und Diskussionen, und es gab Abende, an denen man zusammenkam und Lieder sang und tanzte, um die Idee wachzuhalten.

Die Landaus waren eine sechsköpfige Familie. Der älteste Sohn, Mundek, war ein stämmiger Bursche von achtzehn Jahren und gleichfalls Bäcker. Mundek war der geborene Führer und Gruppenleiter bei den »Bauleuten«. Ruth, die ältere Tochter, war siebzehn und genauso schüchtern, wie es ihre Mutter als junges Mädchen gewesen war. Sie liebte Jan, der gleichfalls einen führenden Posten bei den Bauleuten bekleidete, und Jan liebte sie. Dann kam Rebekka, vierzehnjährig, und schließlich der jüngste, der kleine Dov. Er war zehn Jahre alt, hatte blonde Haare und große blaue Augen, und er war noch zu jung, um Mitglied der Bauleute zu sein. Er liebte und bewunderte seinen großen Bruder Murvdek, der ihm wohlwollend gestattete, zu den Versammlungen der Bauleute mitzukommen.

Am 1. September 1939 marschierten die Deutschen, nachdem sie eine Reihe von Grenzzwischenfällen inszeniert hatten, in Polen ein. Mendel Landau und sein ältester Sohn Mundek gingen zum Heer.

Die deutsche Wehrmacht zerschlug Polen in einem Blitzkrieg, der nur sechsundzwanzig Tage dauerte. Mendel Landau blieb auf dem Schlachtfeld, und mit ihm mehr als dreißigtausend Juden, die wie er auf polnischer Seite gekämpft hatten.

Die Landaus konnten sich nicht den Luxus leisten, den Gefallenen lange zu betrauern, denn für sie bestand drohende Gefahr. Mundek, der an der todesmutigen, aber vergeblichen Verteidigung von Warschau teilgenommen hatte, kehrte als Oberhaupt der Familie heim.

In dem Augenblick, da die Deutschen in Warschau einrückten, versammelten sich die Bauleute, um zu überlegen, was nun zu tun sei. Die meisten polnischen Juden meinten, es würde ihnen nichts geschehen und nahmen eine abwartende Haltung ein. Die Bauleute und andere zionistische Gruppen in allen Teilen des Landes waren nicht so naiv. Sie waren sich dessen bewußt, daß die deutsche Besatzung eine schwere Gefahr bedeutete.

Die Bauleute beschlossen, in Warschau zu bleiben, den Widerstand innerhalb der Stadt zu organisieren und mit den anderen BauleuteGruppen im übrigen Polen Verbindung zu halten. Mundek wurde, obwohl er noch nicht neunzehn war, zum militärischen Führer der Warschauer Gruppe gewählt. Jan, Ruths heimliche Liebe, wurde Mundeks Stellvertreter.

Sofort nach der Machtübernahme durch die Deutschen erließ der neuernannte Generalgouverneur Hans Frank eine ganze Reihe von Verordnungen, die sich gegen die Juden richteten. Das Abhalten von Gottesdiensten wurde ihnen verboten, ihre Bewegungsfreiheit wurde beschränkt und ihre Besteuerung enorm erhöht. Die Juden wurden aus allen öffentlichen Ämtern entfernt; das Betreten öffentlicher Gebäude oder Anlagen war ihnen untersagt, jüdische Kinder durften die öffentlichen Schulen nicht mehr besuchen. Es gab sogar Gerüchte, wonach das Ghetto wieder eingerichtet werden sollte. Gleichzeitig mit diesen einschränkenden Maßnahmen eröffneten die Deutschen eine »Aufklärungskampagne« für die polnische Bevölkerung. Dieser propagandistische Feldzug unterstützte die bereits weitverbreitete Meinung, daß die Juden den Krieg verschuldet hätten. Die Deutschen erklärten, daß die Juden verantwortlich seien für die deutsche Invasion, deren Ziel es gewesen sei, Polen vor der »jüdisch-bolschewistischen« Gefahr zu schützen.

In Berlin suchten inzwischen die Nazi-Größen krampfhaft nach einer »Lösung des jüdischen Problems«. Die verschiedensten Vorschlage wurden ventiliert. Die alte Idee, sämtliche Juden nach Madagaskar zu bringen, kam erneut zur Sprache.

Zwar hätte man es vorgezogen, die Juden nach Palästina zu schicken, doch das war durch die britische Blockade unmöglich. SS-Obersturmbannführer Eichmann hatte schon lange »Umsiedlungsarbeit« unter den Juden geleistet. Er schien den NaziGrößen also der geeignete Mann zu sein, um die »Endlösung« der Judenfrage in die Hand zu nehmen.

Soviel war jedenfalls klar: solange man noch keine endgültige Lösung gefunden hatte, mußte man ein Programm der Massenaussiedlung der Juden in Angriff nehmen. Die meisten Nazis waren sich darin einig, daß Polen hierfür am besten geeignet sei. Denn erstens einmal gab es dort bereits dreieinhalb Millionen Juden, und zweitens würde man dort, im Gegensatz zu Westeuropa, auf nur geringen oder gar keinen öffentlichen Widerstand stoßen. Generalgouverneur Frank war dagegen, daß noch mehr Juden in Polen abgeladen werden sollten. Er hatte versucht, die polnischen Juden verhungern zu lassen, und er hatte so viele von ihnen erschossen oder erhängt, wie er nur konnte. Doch Frank wurde von den Planungschefs in Berlin überstimmt.

Die Deutschen überzogen Polen mit einem engmaschigen Netz, aus dem kein Jude entschlüpfen sollte. Einsatzgruppen drangen in Dörfer und kleinere Städte ein und trieben die jüdischen Bewohner zusammen. Sie wurden in Viehwaggons verladen und in die größeren Städte umgesiedelt, ohne daß sie von ihrer Habe etwas mitnehmen durften.

Einige Juden, die rechtzeitig von den Razzien erfahren hatten, flüchteten oder versuchten, mit Hilfe von Geld und Wertgegenständen bei christlichen Familien unterzutauchen. Doch nur wenige Polen riskierten es, Juden bei sich zu verstecken. Andere preßten aus den Juden den letzten Pfennig heraus, um sie dann gegen die von den Deutschen ausgesetzte Belohnung auszuliefern.

Sofort nach der Umsiedlung der Juden in die größeren Städte wurde eine Regierungsverordnung erlassen, die den Juden auferlegte, ein weißes Armband zu tragen, auf dem sich in genau vorgeschriebener Größe ein gelber Davidstern befinden mußte.

Der Winter in Warschau war nicht leicht für die Landaus. Der Tod von Mendel Landau, die zunehmenden Gerüchte vom Wiederaufleben des Ghettos, das Aussiedlungsprogramm der Deutschen und die Verknappung der Lebensmittel, das alles machte das Leben sehr schwierig.

Mitte Oktober 1940 klopfte es eines Morgens an der Wohnungstür. Draußen standen ein paar »Blaue« — polnische Polizisten, die mit den Deutschen zusammenarbeiteten. Sie eröffneten Lea Landau, daß sie zwei Stunden Zeit habe, um ihre Sachen zu packen und umzuziehen. Die Landaus und alle Warschauer Juden wurden in ein Viertel im Zentrum der Stadt, in der Nähe der Eisenbahnstation, umgesiedelt.

Es gelang Mundek und Jan, ein ganzes dreistöckiges Haus als Wohnung und Hauptquartier für mehr als hundert Mitglieder der Bauleute zu bekommen. Die fünf Mitglieder der Familie Landau hatten einen einzigen Raum zur Verfügung, der mit Matratzen und ein paar Stühlen möbliert war. Das Bad und die Küche teilten sie mit zehn anderen Familien.

Die Juden wurden auf einem engen Raum zusammengedrängt, der sich, nur sechs Querstraßen breit und zwölf Querstraßen lang, von der Jerozolimska zum Friedhof erstreckte. Das Haus der Bauleute lag im Besenbinderviertel, auf der Leszno-Straße. Lea hatte etwas Schmuck und einige Wertgegenstände gerettet, die später vielleicht einmal nützlich werden konnten, wenn sie auch im Augenblick noch keine finanziellen Sorgen hatten, da Mundek weiterhin als Bäcker arbeitete. Außerdem brachten die Bauleute alles, was sie an Nahrungsmitteln auftreiben konnten, in die gemeinsame Küche, in der für alle gekocht wurde.

Aus allen Provinzen strömten die Juden nach Warschau. Sie kamen in endlosen Reihen, mit Säcken, Karren oder Kinderwagen, die alles enthielten, was sie hatten mitnehmen dürfen. Sie entstiegen einem vollbeladenen Zug nach dem anderen, der auf einem Rangiergleis in der Nähe des Judenviertels hielt. Immer mehr Menschen drängten sich auf dem engen Raum. Jan und seine Familie zogen um in das Zimmer, in dem die Landaus wohnten. Es waren jetzt neun Menschen in einem Raum. Die heimliche Liebe zwischen Ruth und Jan wurde zum offenen Geheimnis.

Die Deutschen veranlaßten die Juden, zur Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten eine Gemeindeverwaltung einzurichten. Dieser »Judenrat« war ein Werkzeug für den Vollzug deutscher Anordnungen. Es gab auch eine ganze Reihe von Juden, die meinten, es sei besser, gemeinsame Sache mit den Deutschen zu machen, und die daher einer von den Deutschen aufgestellten jüdischen Polizei beitraten. Die Zahl der Menschen, die zusammengedrängt auf dem engen Raum des jüdischen Viertels lebte, stieg auf mehr als eine halbe Million an.

Gegen Ende des Jahres 1940, ein Jahr nach der Eroberung Polens, steckten die Deutschen viele Tausende von Juden in Arbeitsbataillone. Rund um das jüdische Viertel von Warschau mußten sie eine drei Meter hohe Mauer bauen. Auf der Mauer wurde Stacheldraht gespannt. Die Mauer hatte fünfzehn Tore, die von polnischen »Blauen« und litauischen Posten bewacht wurden. Das Ghetto in Polen war wieder erstanden! Der Verkehr mit der Welt außerhalb des Ghettos hörte fast vollständig auf. Mundek, der bisher außerhalb des Ghettos gearbeitet hatte, wurde arbeitslos. Die Lebensmittelrationen innerhalb des Ghettos wurden sosehr gesenkt, daß kaum die Hälfte der Insassen davon leben konnte. Die einzigen Familien, bei denen eine gewisse Chance bestand, daß sie sich einigermaßen ernähren konnten, waren die, deren Mitglieder im Besitz von »Arbeitskarten« waren. Sie arbeiteten in irgendeinem der Zwangsarbeitsbataillone oder in Fabriken.

Unter den Bewohnern des Ghettos brach eine Panik aus. Einzelne Juden gaben ihr ganzes Vermögen, um Nahrungsmittel dafür einzutauschen. Andere versuchten zu fliehen und sich in den Häusern von Christen zu verbergen; doch die meisten dieser Versuche endeten entweder mit dem Tod oder damit, daß die Juden von den Menschen außerhalb des Ghettos betrogen und verraten wurden. Innerhalb des Ghettos entwickelte sich das Leben mit jedem Tag mehr und mehr zu einem Kampf um die nackte Existenz.

Die Zwangslage wies Mundek Landau eine Führerrolle zu. Durch seinen Einfluß bei den Bauleuten erhielt er vom »Judenrat« die Konzession zum Betrieb einer der wenigen Bäckereien des Ghettos. So konnte seine Gruppe einigermaßen verpflegt werden und am Leben bleiben.

Doch auch im Ghetto gab es vereinzelte Lichtblicke. Ein sehr gutes Sinfonieorchester veranstaltete wöchentlich Konzerte, es gab Schulen mit regelmäßigem Stundenplan, kleine Theatergruppen bildeten sich. Es gab Vorträge und Diskussionen über alle möglichen Themen, eine Ghetto-Zeitung wurde gedruckt, und das Ghetto-Geld wurde legales Zahlungsmittel. Heimlich wurden Gottesdienste abgehalten. Es waren vorwiegend die Bauleute, die diese vielseitige Aktivität in Gang setzten. Der kleine Dov hätte am liebsten von früh bis spät bei den Bauleuten gesessen, doch die Familie drang darauf, daß er zur Schule ging und möglichst viel lernte.

Im Frühjahr 1941 beschloß Adolf Hitler, das jüdische Problem endgültig zu lösen. In einer Geheimsitzung am Großen Wannsee verkündete Heydrich den führenden Männern des SD, der SS und anderen Nazi-Größen den Geheimbefehl des Führers. Die Endlösung hieß: Ausrottung! Mit dieser Aufgabe wurde der Siedlungsexperte SS-Obersturmbannführer Eichmann betraut.

Innerhalb weniger Monate wurden aus den »Einsatzkommandos« — den Liquidationskommandos des SD — »Sondereinsatzgruppen« formiert und nach Polen, in das Baltikum und das besetzte russische Gebiet in Marsch gesetzt, um dort den Führerbefehl zu vollziehen und die Massenliquidierung zu organisieren. Zunächst gingen die Einsatzgruppen nach einem feststehenden Schema vor. Sie trieben die Juden zusammen und brachten sie in irgendein abgelegenes, unbeobachtetes Gebiet. Dort wurden die Juden gezwungen, ihr eigenes Grab zu graben, sich auszuziehen und nackt an ihrem Grab hinzuknien. Sie bekamen den Genickschuß.

Einen besonderen Höhepunkt erreichte die Aktivität der Einsatzgruppen in Kiew, vor allem in einem Vorort namens Babi Yar, wo innerhalb von zwei Tagen am Rande riesiger Massengräber dreiunddreißigtausend Juden erschossen wurden.

Daß die Einsatzgruppen so »erfolgreich« arbeiten konnten, lag zum Teil auch daran, daß sie auf keinerlei Widerstand seitens der Bevölkerung stießen, die annähernd ebenso judenfeindlich war wie die Deutschen. Das Massaker von Babi Yar fand vor den Augen zahlreicher Ukrainer statt, die laut ihre Zustimmung bekundeten. Doch es zeigte sich bald, daß die Methoden der Einsatzgruppen für den großen Plan der Ausrottung sämtlicher Juden unzureichend waren. Das Erschießen war umständlich und ging zu langsam. Außerdem taten die Juden den Nazis nicht den Gefallen, in ausreichenden Mengen zu verhungern.

Daher arbeiteten die Nazis einen grandiosen Plan aus. Er erforderte die sorgfältigste Auswahl unauffälliger, abgelegener Plätze mit Eisenbahnanschluß und in der Nähe größerer Orte. Hochqualifizierte Fachleute wurden beauftragt, Vernichtungslager zu entwerfen, die an geeigneten Punkten errichtet werden sollten, um die Massenliquidierungen mit möglichst geringen Unkosten durchzuführen. Aus dem Personal der schon seit langem bestehenden Konzentrationslager innerhalb von Deutschland wählte man die besten Leute aus, die die neu zu errichtenden Lager übernehmen sollten.

Es wurde Winter. Im Warschauer Ghetto hielt der Tod eine Ernte, die sogar die Zahl der Toten überstieg, die in den Gruben von Babi Yar lagen. Hunderte und Tausende von Menschen verhungerten oder erfroren. Es starben Kinder, die zu schwach waren, um zu weinen, und alte Menschen, die keine Kraft mehr hatten, um zu beten. Jede Nacht starben Hunderte; die Straßen waren morgens mit Toten besät. Sanitätskommandos zogen durch die Straßen und schaufelten die Leichen auf Karren. Säuglinge, Kinder, Frauen, Männer wurden aufgeladen und zu den Krematorien gefahren, wo man die Leichen verbrannte.

Dov war inzwischen elf Jahre alt. Als Mundeks Bäckerei geschlossen wurde, ging Dov nicht mehr in die Schule, sondern lungerte auf der Suche nach Nahrung herum. Selbst Gruppen wie die Bauleute, die fest zusammenhielten, waren in schwerer Bedrängnis. Dov lernte es, sich mit List und Schläue im Ghetto am Leben zu erhalten. Er hielt Augen und Ohren offen und entwickelte die scharfe Witterung und den Instinkt, mit der sich ein Tier im Kampf ums Dasein behauptet. Es gab viele Tage, an denen der Kochtopf der Familie Landau leer war. Wenn es keinem der Familie oder der Bauleute gelungen war, eine Mahlzeit zusammenzubekommen, trennte sich Lea von einem ihrer letzten Schmuckstücke, um es gegen Nahrung einzutauschen.

Es war ein langer, harter Winter. Einmal, als sie fünf Tage lang nichts zu essen gehabt hatten, gab es bei den Landaus endlich wieder eine Mahlzeit; doch Leas Hand war ohne Ehering. Dann ging es ihnen wieder besser, denn die Bauleute hatten ein Pferd organisiert. Es war ein alter, magerer Klepper, und der Genuß von Pferdefleisch war den Juden verboten; doch es schmeckte wunderbar.

Ruth war jetzt neunzehn. Als sie in diesem Winter Jan heiratete, war sie so mager, daß man sie eigentlich nicht hübsch nennen konnte. Sie verlebten ihre Flitterwochen in dem einen Zimmer, das sie mit den vier anderen Landaus und den drei Mitgliedern von Jans Familie teilten. Offenbar aber hatte das junge Paar es doch fertiggebracht, irgendwann und irgendwo allein zu sein, denn im Frühling erwartete Ruth ein Kind.

Als Führer der Bauleute war es eine der wichtigsten Aufgaben Mundeks, den Kontakt mit der Welt außerhalb des Ghettos aufrechtzuerhalten. Das konnte man machen, indem man die polnischen und die litauischen Posten an den Toren bestach. Mundek war jedoch der Ansicht, das Geld müsse für wichtigere Dinge gespart werden. Daher erkundete man die Möglichkeiten, »unter der Mauer hindurch« aus dem Ghetto hinaus und ins Ghetto hereinzukommen: durch die Abwasserkanäle.

Es war höchst gefährlich, die Stadt zu betreten. Es gab ganze Banden polnischer Strolche, die beständig nach Juden Ausschau hielten, die sich aus dem Ghetto herausgeschlichen hatten, um sie zu erpressen oder der Polizei zu übergeben und die dafür ausgesetzte Belohnung einzustreichen. Die Bauleute hatten auf diese Weise schon fünf ihrer Mitglieder verloren. Der letzte, der von polnischen Gangstern dem SD ausgeliefert und gehängt worden war, war Jan gewesen, Ruths Mann.

Der kleine Dov war schlau und kannte die Schliche, die man kennen mußte, um sich am Leben zu erhalten. Er ging zu seinem Bruder Mundek und bat ihn, man möge doch ihn mit der Aufgabe betreuen, als Kurier durch den Kanal zu gehen. Mundek wollte zunächst nichts davon hören, doch Dov ließ nicht locker. Mit seinen blonden Haaren und blauen Augen sah er von ihnen allen am wenigsten wie ein Jude aus. Er war noch so jung, daß man bei ihm kaum Verdacht schöpfen würde. Mundek wußte, daß Dov das Zeug dazu hatte, doch er brachte es nicht übers Herz, seinen kleinen Bruder einer solchen Gefahr auszusetzen. Als Mundek dann aber innerhalb weniger Tage auch noch den sechsten und siebenten Kurier einbüßte, beschloß er, es mit Dov zu versuchen. Mundek sagte sich außerdem, daß sie alle miteinander ohnehin Tag für Tag in Lebensgefahr waren. Lea verstand ihn. Dov erwies sich als der beste Kurier des ganzen Ghettos. Er erkundete ein Dutzend verschiedener Wege, um »unter der Mauer« in die Stadt und von der Stadt ins Ghetto zu gelangen. Er wurde heimisch in den unterirdischen Gängen und in dem schlammigen, stinkenden, fauligen Wasser, das unterhalb von Warschau floß. Jede Woche machte Dov den Weg durch die schwarze Nacht des Kanals und den schlammigen Dreck, der ihm bis an die Schultern ging. War er erst einmal »unter der Mauer« aus dem Ghetto heraus, so begab er sich auf die Zabrowska 99, wo eine Frau wohnte, von der er nur wußte, daß sie Wanda hieß. Nachdem er sich bei ihr sattgegessen hatte, machte er sich auf den Rückweg und stieg wieder hinunter in den Kanal, beladen mit Pistolen, Munition, Geld, Radioteilen, mit Nachrichten aus anderen Ghettos und von den Partisanen.

In der Zwischenzeit hielt sich Dov am liebsten im Hauptquartier der Bauleute auf, wo Mundek und Rebekka den größten Teil ihrer Zeit verbrachten. Rebekka war damit beschäftigt, Ausweise und Pässe zu fälschen. Dov sah ihr dabei zu und fing bald an, ihr bei der Arbeit zu helfen. Es dauerte nicht lange, bis sich herausstellte, daß Dov eine außerordentliche Begabung für Nachahmungen besaß. Er hatte scharfe Augen und eine sichere Hand, und im Alter von zwölf Jahren entwickelte er sich rasch zu dem besten Fälscher, den die Bauleute hatten.

Im Juni 1942 unternahmen die Deutschen einen entscheidenden Schritt zur »Endlösung« des jüdischen Problems. Sie errichteten mehrere Lager zur Liquidierung der jüdischen Bevölkerung. Um mit den Juden im Gebiet von Warschau fertigzuwerden, errichtete man an einer abgelegenen Stelle, einem Ort namens Treblinka, auf einem abgegrenzten Gelände von dreiunddreißig Morgen ein Lager, dessen zwei Hauptgebäude dreizehn Gaskammern enthielten. Außerdem gab es dort Unterkünfte für Arbeiter und das deutsche Lagerpersonal, und riesige Flächen, die für das Verbrennen der Leichen vorgesehen waren. Treblinka, eines der ersten dieser Lager, war nur ein Vorläufer späterer Lager größeren Umfangs.

Der Juli bringt einen Tag der Trauer für alle Juden. Vielleicht war an diesem Tag des Jahres 1942 die Trauer der Juden, die im Warschauer Ghetto oder einem anderen Ghetto in Polen lebten, noch tiefer als die Trauer der Juden in anderen Ländern. Es war Tischa Be'Aw, der Tag, an dem die Juden der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Babylonier und die Römer gedenken. Es war ein Tag der Trauer, denn die Eroberung Jerusalems durch die Römer vor fast zweitausend Jahren hatte das Ende der jüdischen Nation bedeutet. Seitdem waren die Juden in alle vier Winde zerstreut. Seit jenem Tage lebten sie in der Diaspora.

1942 fiel Tischa Be'Aw zeitlich mit beschleunigten Maßnahmen zur »Endlösung« des jüdischen Problems zusammen.

Während die Warschauer Juden sowohl ihres damaligen als auch ihres gegenwärtigen Unglücks in Trauer gedachten, kamen deutsche Dienstwagen ins Ghetto gefahren und hielten vor dem Haus, in dem der »Judenrat« seinen Sitz hatte. Allem Anschein nach handelte es sich um eine weitere Razzia. Man wollte neue Leute in die Zwangsarbeitsbataillone stecken. Doch diesmal lag irgendein Unheil in der Luft. Die Deutschen wollten nur sehr alte und sehr junge Leute haben. Panik verbreitete sich im Ghetto, als die alten Leute zusammengetrieben wurden und die Deutschen sich Kinder herausgriffen, sie den ängstlichen Müttern entrissen.

Die Alten und die Kinder mußten sich auf dem »Umschlagplatz« in Reih und Glied aufstellen und wurden dann durch die Stawki-Straße zu dem Rangiergleis geführt, wo ein langer Güterwagenzug bereitstand. Eine erschrockene und bestürzte Menschenmenge drängte hinzu, verzweifelte Eltern wurden mit vorgehaltener Pistole von ihren Kindern ferngehalten, und mehrere wurden auch erschossen.

Die Kinder lachten und sangen. Die deutschen Wachtposten hatten ihnen einen Ausflug aufs Land versprochen. Das war eine herrliche Sache! Viele von den Kindern konnten sich kaum noch erinnern, jemals außerhalb des Ghettos gewesen zu sein.

Der Zug setzte sich in Richtung auf Treblinka in Bewegung. Das Ziel der Reise war die »Endlösung«. Tischa Be'Aw — 23. Juli 1942. Zwei Wochen später kam Dov Landau von Wandas Wohnung auf der Zabrowska 99 mit einem grauenhaften Bericht zurück. Er besagte, daß alle, die man am Tischa Be'Aw und bei fünf darauffolgenden Razzien zusammengetrieben hatte, nach Treblinka gebracht und dort in Gaskammern getötet worden waren. Nach Mitteilungen aus anderen Ghettos gab es in Polen mehrere derartige Lager: Belzec, im Gebiet von Krakau, Chelmno bei Lodz, und Majdanek, in der Nähe von Lublin, waren bereits in Betrieb oder kurz vor der Fertigstellung. Allem Anschein nach, so hieß es in dem Bericht, seien ein Dutzend weiterer Lager dieser Art im Bau.

Massenmord in Gaskammern? Es schien unfaßbar! Mundek, als Oberhaupt der Bauleute, traf sich mit den Führern eines halben Dutzend anderer zionistischer Gruppen innerhalb des Ghettos, und sie erließen gemeinsam einen Aufruf an alle, sich zu erheben und aus dem Ghetto auszubrechen.

Dieser Appell hatte mehr moralische als praktische Bedeutung. Die Juden hatten keine Waffen. Hinzu kam, daß jeder, der einen Ausweis als Zwangsarbeiter hatte, fest davon überzeugt war, dieser Ausweis stelle für ihn eine Lebensversicherung dar.

Doch der entscheidende Grund dafür, daß die Juden keinen Aufstand machen konnten, war die Tatsache, daß in Polen für einen solchen Aufstand keine Unterstützung von außerhalb des Ghettos zu erwarten war. In Frankreich hatte die Vichy-Regierung das Ansinnen der Deutschen auf Auslieferung der französischen Juden glatt abgelehnt. In Holland war die Bevölkerung einmütig entschlossen, die dort lebenden Juden versteckt zu halten. In Dänemark setzte sich nicht nur der König über die Anordnungen der Deutschen hinweg, sondern die Dänen brachten ihre gesamte jüdische Bevölkerung nach Schweden in Sicherheit.

Wenn die Polen vielleicht auch nicht unbedingt für die Ausrottung ihrer Juden waren, so waren sie jedenfalls nicht dagegen. Und soweit manche vielleicht dagegen waren, unternahmen sie nichts, um dieser Ablehnung Ausdruck zu verleihen. Nur eine sehr kleine Minorität des polnischen Volkes war bereit, einen Juden, der unterzutauchen versuchte, aufzunehmen und zu verbergen.

Im Innern des Ghettos verfolgte jede der verschiedenen Gruppen und Organisationen völlig verschiedene Ziele. Die strenggläubigen Juden waren mit den sozialistischen Juden nicht einig, und die konservativen stritten mit den linksradikalen.

Die Juden lieben das Debattieren; in der Eintönigkeit des Ghettos war Argumentieren und Debattieren ein wunderbarer Zeitvertreib geworden. Doch jetzt war höchste Gefahr entstanden. Die von Mundek geführten Bauleute vereinigten die unterschiedlichen Gruppen unter einem gemeinsamen Kommando, das sich abgekürzt als ZOB bezeichnete und die Aufgabe hatte, das Leben derjenigen Juden zu retten, die im Ghetto noch am Leben waren.

Immer wieder machte Dov den Weg durch die Kanäle zu Wandas Wohnung auf der Zabrowska 99. Dabei nahm er jedesmal ein Schreiben des ZOB an die polnische Widerstandsbewegung mit, worin diese um Unterstützung und um Waffen gebeten wurde. Die meisten dieser Appelle blieben unbeantwortet. In den wenigen Fällen, in denen eine Antwort kam, war sie ausweichend. Diesen ganzen schrecklichen Sommer hindurch, während die Deutschen immer wieder Juden zusammentrieben und nach Treblinka abtransportierten, machte der ZOB verzweifelte Anstrengungen, die völlige Vernichtung zu verhindern.

Als Dov Anfang September wieder einmal den Weg nach Warschau machte, wurde es für ihn außerordentlich gefährlich. Als er aus dem Haus, in dem Wanda wohnte, wieder herauskam, verfolgten ihn vier finstere Burschen, die ihn in einer Sackgasse stellten und von ihm verlangten, er solle seinen Ausweis zeigen, um zu beweisen, daß er kein Jude sei. Der Junge stand mit dem Rücken gegen die Wand. Seine Peiniger drangen auf ihn ein, um ihm die Hosen herunterzuziehen und nachzusehen, ob er beschnitten sei. Da zog Dov eine Pistole heraus, die man ihm für das Ghetto mitgegeben hatte, erschoß damit den einen der Angreifer und trieb die andern drei in die Flucht. Dann rannte er los, so rasch er konnte, bis er wieder unter der Erde und in der Sicherheit des Kanals war.

Als er schließlich im Hauptquartier der Bauleute angelangt war, brach er zusammen. Mundek versuchte, ihn zu beruhigen. Dov fühlte sich immer in Sicherheit, wenn sein großer Bruder bei ihm war. Mundek war inzwischen schon fast einundzwanzig, doch er war hager und sah immer müde aus. Er hatte seine Aufgabe als Führer ernst genommen und seine Kräfte rücksichtslos eingesetzt. Es war ihm gelungen, fast die ganze Bauleute-Gruppe beisammenzuhalten; er hatte dafür gesorgt, daß ihr Mut nie erlahmte.

Die beiden Brüder redeten leise miteinander. Dov wurde allmählich wieder ruhig. Mundek legte ihm den Arm um die Schulter, und gemeinsam gingen sie vom Hauptquartier zu dem Zimmer, in dem die Familie wohnte. Unterwegs sprach Mundek von dem Baby, das Ruth in wenigen Wochen erwartete, und wie wunderbar es für Dov sein würde, Onkel zu werden. Natürlich wären alle Mitglieder der Bauleute Tanten und Onkel von dem Baby, aber Dov werde ein richtiger Onkel sein. Innerhalb der Gruppe hatte es mehrere Eheschließungen gegeben, und es gab bereits drei Babys — drei neue Bauleute. Aber Ruths Baby werde das prächtigste von allen sein. Außerdem berichtete Mundek als große Neuigkeit, daß es den Bauleuten wieder gelungen war, ein Pferd zu organisieren, und es bald ein richtiges Festmahl geben werde. Allmählich hörte Dov zu zittern auf. Als sie sich dem Ende der Treppe näherten, sah Dov seinen Bruder Mundek lächelnd an und sagte ihm, er habe ihn sehr lieb.

Als sie aber die Tür zu ihrem Zimmer öffneten und das Gesicht von Rebekka sahen, begriffen sie augenblicklich, daß Schreckliches geschehen sein mußte. Mundek gelang es schließlich, seine Schwester dazu zu bringen, einigermaßen zusammenhängend zu berichten.

»Mutter und Ruth«, rief sie weinend. »Man hat sie aus der Fabrik herausgeholt. Ihre Arbeitskarten wurden ungültig gemacht, und man hat sie zum Umschlagplatz geschafft.«

Dov fuhr herum und wollte zur Tür. Mundek hielt ihn fest. Dov schrie und stieß mit den Füßen um sich.

»Dov — Dov! Wir können doch nichts dagegen tun!«

»Mama! Ich will zu Mama!«

»Dov! Dov! Wir können doch nicht zusehen, wie man sie wegbringt!«

Ruth, die im achten Monat war, machte den Gaskammern von Treblinka einen Strich durch die Rechnung. Sie starb bei der Geburt, und ihr Baby starb mit ihr, in einem Viehwagen, in den so viele Menschen gepreßt waren, daß es der Gebärenden nicht möglich war, sich hinzulegen.

Der Kommandant von Treblinka tobte vor Wut. Wieder einmal hatte es bei den Gaskammern eine technische Störung gegeben, und dabei war bereits ein neuer Güterzug mit Juden aus dem Warschauer Ghetto im Anrollen. Der Kommandierende SS-Brigadeführer war stolz darauf gewesen, daß Treblinka bisher gegenüber allen anderen Vernichtungslagern in Polen den Rekord gehalten hatte. Und jetzt meldeten ihm seine Techniker, daß es unmöglich war, die Anlage bis zur Ankunft des Zuges aus Warschau wieder betriebsfähig zu machen. Und was die Sache noch schlimmer machte: Himmler persönlich hatte sich zu einer Besichtigung angesagt.

So blieb ihm nichts anderes übrig, als sämtliche altmodischen, ausrangierten Gaswagen, die er in der Gegend auftreiben konnte, zu dem Nebengleis zu schicken, wo der Zug ankommen sollte. Normalerweise gingen in diese Gaswagen jeweils nur zwanzig Leute, doch das würde diesmal nicht reichen. Schließlich herrschte ja Notstand. Wenn man die Opfer aber zwang, die Hände über den Köpfen zu halten, gingen in jeden Wagen sechs bis acht Juden mehr hinein. Außerdem blieb dann zwischen den Köpfen und der Decke noch ein schmaler Zwischenraum, in dem man zusätzlich acht bis zehn Kinder unterbringen konnte.

Lea Landau war betäubt vom Schmerz um Ruths Tod, als der Zug in der Nähe von Treblinka hielt. Sie und dreißig andere wurden aus dem Viehwagen herausgeholt und von Wachmannschaften, die mit Peitschen und Knüppeln ausgerüstet waren und Hunde bei sich hatten, gezwungen, in einen der wartenden Gaswagen zu steigen und die Hände über die Köpfe zu halten. Als der Wagen so vollgestopft war, daß nichts mehr hineinging, wurden die eisernen Türen geschlossen. Der Wagen fuhr los, und innerhalb von Sekunden füllte sich der eiserne Käfig mit Kohlenstoffmonoxyd. Von den Insassen war keiner mehr am Leben, als die Wagen das Lager Treblinka erreichten und vor den Massengräbern hielten, wo die Leichen ausgeladen und den Toten die Goldzähne gezogen wurden. Um diesen Gewinn jedoch hatte Lea Landau die Deutschen betrogen; denn sie hatte sich ihre Goldzähne schon längst ziehen lassen, um Nahrungsmittel dafür einzutauschen.

Das Jahr 1942 näherte sich seinem Ende. Wieder einmal wurde es Winter, und die Razzien der Gestapo wurden immer häufiger. Sämtliche Bewohner des Ghettos zogen in die Keller um und nahmen alles mit, was wertvoll war. Die Keller wurden erweitert und verwandelten sich teilweise, wie bei den Bauleuten, in regelrechte Bunker. Es entstanden Dutzende und schließlich Hunderte solcher Bunker, und man trieb unterirdische Gänge durch die Erde, die die verschiedenen Bunker untereinander verbanden.

Die Razzien der Deutschen und der mit ihnen arbeitenden polnischen und litauischen Kommandos ergaben eine immer geringere Ausbeute für Treblinka. Die Deutschen wurden böse. Die Bunker waren so gut getarnt, daß es fast unmöglich war, sie zu finden. Schließlich begab sich der Kommandant von Warschau persönlich in das Ghetto, um mit dem Vorstand des Judenrates zu reden. Er war sehr böse und verlangte, daß die jüdische Gemeindeverwaltung die Deutschen bei der raschen Abwicklung des Umsiedlungsprogramms unterstützen sollte, indem sie die Feiglinge ermittelte, die sich vor »ehrlicher Arbeit« drückten. Seit mehr als drei Jahren hatte der Judenrat in einer üblen Klemme gesessen, hin-und hergerissen zwischen der Notwendigkeit, Anordnungen der Deutschen auszuführen, und dem Versuch, die eigenen Leute zu retten. Kurz nach dem Besuch des Kommandanten und der Aufforderung zur Mitarbeit beging der Leiter des Judenrates Selbstmord.

Mundek und die Bauleute hatten die Aufgabe, die Verteidigung eines Abschnitts des Besenbinderviertels vorzubereiten. Dov verbrachte seine Zeit entweder im Kanal oder im Bunker, wo er Ausweise und Pässe fälschte. Er machte jetzt wöchentlich zweimal den Weg »unterhalb der Mauer« nach Warschau, und das bedeutete für ihn immerhin die Möglichkeit, sich zweimal in der Woche bei Wanda satt zu essen. Bei seinen Gängen aus dem Ghetto nach Warschau nahm er jetzt Leute mit, die zu alt oder aus anderen Gründen nicht imstande waren, zu kämpfen. Wenn er zurückkam, brachte er Waffen und Radioeinzelteile mit.

Im Lauf des Winters 1942/43 erreichte die Anzahl der Todesopfer ein erschreckendes Maß. Von den ursprünglich fünfhunderttausend Juden, die man in das Ghetto gebracht hatte, waren um die Jahreswende nur noch fünfzigtausend am Leben.

Eines Tages, um die Mitte des Januar, als es gerade wieder soweit war, daß Dov in den Kanal hinuntersteigen sollte, nahmen ihn Mundek und Rebekka beiseite.

»Man kommt in diesen Tagen gar nicht so recht dazu, einmal in Ruhe dazusitzen und miteinander zu reden«, sagte Mundek einleitend.

»Hör mal, Dov«, sagte Rebekka. »Wir haben uns alle darüber unterhalten, während du das letztemal in Warschau warst, und haben dann abgestimmt. Wir haben beschlossen, daß du auf der anderen Seite der Mauer bleiben sollst.«

»Habt ihr irgendeinen Sonderauftrag für mich?« fragte Dov.

»Nein — du verstehst uns nicht.«

»Was meint ihr denn?«

»Wir haben beschlossen«, sagte Rebekka, »daß ein paar von uns draußen bleiben sollen.«

Dov verstand noch immer nicht. Er wußte, daß ihn die Bauleute brauchten. Beim ganzen ZOB war keiner, der die verschiedenen Wege durch den Kanal so genau kannte wie er. Wenn der ZOB sich jetzt ernstlich auf die Verteidigung einrichten wollte, dann hatte er ihn doch noch nötiger als bisher. Außerdem war es durch die Ausweise und Reisepässe, die er gefälscht hatte, möglich gewesen, mehr als hundert Leute aus Polen herauszubekommen. Er sah seine Schwester und seinen Bruder fragend an.

Rebekka drückte ihm einen Briefumschlag in die Hand. »Da hast du Geld und Ausweise. Bleib so lange bei Wanda, bis sie eine Familie gefunden hat, die dich aufnimmt.« »Ihr habt gar nicht darüber abgestimmt. Das habt ihr beiden euch nur ausgedacht. Ich gehe nicht.«

»Du gehst«, sagte Mundek. »Das ist ein Befehl.«

»Das ist kein Befehl«, sagte Dov.

»Doch — ich befehle es dir als Oberhaupt der Familie Landau!« Sie standen zu dritt in einer Ecke des Bunkers. Es war sehr still in dem unterirdischen Raum. »Es ist ein Befehl«, wiederholte Mundek. Rebekka nahm Dov am Arm und strich ihm über das blonde Haar. »Du bist ein großer Junge geworden, Dov«, sagte sie. »Wir haben nicht viel Gelegenheit gehabt, dich zu verwöhnen, nicht wahr? Ich habe gesehen, wie du hundertmal in den Kanal hinunter gestiegen bist, und ich habe erlebt, wie du uns etwas zu essen gebracht hast, was du irgendwo gestohlen hattest. Du hast eigentlich kaum eine richtige Kindheit gehabt.«

»Das ist doch nicht eure Schuld.«

»Hör zu, Dov«, sagte Mundek. »Du darfst Rebekka und mir diesen einen Wunsch nicht abschlagen. Wir haben dir nicht viel geben können. Du mußt uns den Versuch erlauben, dir wenigstens dein Leben zu geben.«

»Mir liegt aber gar nichts an meinem Leben, wenn ich nicht bei euch sein darf.«

»Bitte, Dov — bitte verstehe uns doch. Einer von der Familie Landau soll am Leben bleiben. Wir möchten, daß wenigstens du am Leben bleibst — für uns alle.«

Dov sah seinen Bruder an, den er liebte und verehrte.

»Ich verstehe«, sagte er mit leiser Stimme. »Ja — ich werde leben.« Er sah auf das Päckchen und schlug es in ein Stück Segeltuch ein, damit es im Kanal nicht naß werden sollte. Rebekka drückte seinen Kopf an ihre Brust.

»In Erez Israel werden wir uns wiedersehen«, sagte sie.

»Ja, im Lande Israel.«

»Du warst ein guter Soldat«, ergänzte Mundek. »Ich bin stolz auf dich. Schalom Lehitraoth.«

»Schalom Lehitraoth«, wiederholte Dov.

Seinen dreizehnten Geburtstag verbrachte Dov Landau in den Kanälen unterhalb der Stadt Warschau, durch die er zu Wandas Wohnung watete, mit so schwerem Herzen, daß es beinahe brechen wollte. Zu einer anderen Zeit und in einer anderen Welt hätte er heute seine Bar Mizwah gefeiert und damit das Mitspracherecht des Mannes in der jüdischen Gemeinschaft erhalten.

XXIII.

Am 18. Januar 1943, drei Tage nachdem Dov das Ghetto verlassen und sich zu Wanda begeben hatte, wo er zunächst einmal sicher war, kamen die Deutschen, die polnischen Blauen und die litauischen Büttel in Massen in das Ghetto geströmt. Jetzt, da nur noch fünfzigtausend Juden übrig waren, sollte die »Endlösung« beschleunigt und mit Gewalt vollzogen werden. Doch die Deutschen und ihre Polen und Litauer liefen in einen Geschoßhagel, der ihnen aus den Verteidigungsstellungen des ZOB entgegenschlug. Sie erlitten schwere Verluste und mußten fliehen.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch Warschau! Die Juden machten einen Aufstand!

Am Abend dieses Tages lauschte in Warschau alles gespannt auf die Stimme des Geheimsenders des ZOB, der immer von neuem diesen Appell wiederholte: »Kameraden, Landsleute! Wir haben heute einen Schlag gegen die Tyrannei geführt. Wir fordern alle unsere polnischen Brüder außerhalb des Ghettos auf, sich zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind zu erheben! Vereinigt euch mit uns!«

Dieser Appell stieß auf taube Ohren. Doch am Hauptquartier des ZOB auf der Mila-Straße wurde die Flagge mit dem Davidstern gehißt, und daneben flatterte die polnische Fahne. Die Juden des Ghettos hatten beschlossen, unter dem Banner zu kämpfen und zu sterben, unter dem zu leben man ihnen verwehrt hatte.

Die Männer des ZOB übernahmen die Macht im Ghetto. Sie setzten den Judenrat ab, machten mit allen, die als Kollaborateure bekannt waren, kurzen Prozeß, und bezogen dann die vorbereiteten Verteidigungsstellungen.

Generalgouverneur Frank beschloß, lieber keinen Angriff auf das Ghetto zu machen, um dem ZOB nicht die Trümpfe zuzuspielen. Die Deutschen beschränkten sich darauf, die Sache zu bagatellisieren. Sie eröffneten einen Propagandakrieg, indem sie mit Lautsprecherwagen die Insassen des Ghettos aufforderten, herauszukommen und sich freiwillig zur Umsiedlung zu melden, wobei sie ihnen als Lohn für »ehrliche Arbeit« gute Behandlung zusicherten. Der ZOB erließ einen Tagesbefehl, durch den die noch im Ghetto befindlichen Juden darüber unterrichtet wurden, daß jeder, der die Aufforderung der Deutschen befolgte, von ihnen nicht evakuiert, sondern sofort erschossen werden würde.

Nach zwei Wochen, in denen es ruhig geblieben war, schickten die Deutschen erneut Patrouillen ins Ghetto, um Juden herauszuholen. Diesmal kamen sie schwerbewaffnet und bewegten sich mit äußerster Vorsicht. Die Männer vom ZOB ließen die Deutschen herankommen und eröffneten dann aus sorgfältig vorbereiteten Verteidigungsstellungen das Feuer. Wieder mußten die Deutschen aus dem Ghetto fliehen.

Während die Deutschen in der Presse und im Radio die jüdischen Bolschewisten beschimpften, die an allem schuld seien, bauten die Männer vom ZOB ihre Abwehrstellungen weiter aus, und ihr Geheimsender richtete an die polnische Widerstandsbewegung immer wieder die verzweifelte Bitte, den Juden im Ghetto zu Hilfe zu kommen. Doch es kamen keine Waffen, es kam keine Hilfe der Widerstandsbewegung, und nur ein paar Dutzend Freiwillige wagten den Weg durch den Kanal, um im Ghetto zu kämpfen.

Die Deutschen faßten den Plan, jeglichen Widerstand im Ghetto durch einen vernichtenden Schlag zu beseitigen. Sie wählten einen besonderen Tag für den Angriff: den Vortag des Pessach-Festes, das die Juden zur Erinnerung an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten begehen und das im Jahre 1943 auf den 20. April fiel. Die SS hatte den Vorabend des Pessach-Festes gewählt, weil sie hoffte, den vernichtenden Schlag innerhalb eines Tages führen und Hitler am 20. April als Geburtstagsgeschenk die Ausradierung des Warschauer Ghettos melden zu können.

Gegen drei Uhr morgens bildeten dreitausend SS-Leute, ausgesuchte Elitetruppen, verstärkt durch Polen und Litauer, einen dichten Ring um das gesamte Ghetto. Dutzende von Scheinwerfern suchten im Ghetto nach Zielen für die Granatwerfer und die leichte Artillerie der Deutschen. Das vorbereitende Artilleriefeuer dauerte an, bis es hell wurde. Dann begann die SS ihren Angriff über die Mauer. Von mehreren Seiten aus vorrückend, drangen die Deutschen tief in das Innere des Ghettos ein, ohne Widerstand zu finden. Plötzlich aber eröffneten die Kämpfer des ZOB, Männer und Frauen, von den Dächern der Häuser, aus den Fenstern und aus getarnten Feuerstellungen auf kurze Distanz das Feuer auf die überraschten und umzingelten Deutschen. Zum drittenmal mußten die Deutschen aus dem Ghetto fliehen.

Rasend vor Wut kamen sie zurück mit Tanks, doch die Tanks wurden empfangen mit einem Hagel von Flaschen, die mit Benzin gefüllt waren und die die eisernen Ungeheuer in brennende Särge verwandelten. Als die Tanks manövrierunfähig liegenblieben, mußte die SS erneut fliehen, diesmal unter Hinterlassung Hunderter von Toten, die die Straßen des Ghettos bedeckten.

Die Kämpfer des ZOB kamen aus ihren getarnten Stellungen herausgestürzt, um die Waffen und die Uniformen der Deutschen an sich zu nehmen.

Konrad, der für die Sicherheit im Ghetto verantwortliche Mann, wurde seines Postens enthoben, und SS-General Stroop bekam den Befehl, das Ghetto so gründlich zu vernichten, daß nie wieder irgend jemand es wagen würde, sich der Macht der Nazis zu widersetzen. Stroop unternahm einen Angriff nach dem andern. Jeder neue Angriff erfolgte nach einem anderen Plan und aus einer anderen Richtung. Doch jeder Angriff und jede Patrouille erlitten das gleiche Schicksal. Sie wurden vom ZOB abgeschlagen, dessen Angehörige wie die Rasenden kämpften und jedes Haus, jeden Raum und jeden Fußbreit erbittert verteidigten. Nicht einer dieser Kämpfer fiel lebend in die Hand des Feindes. Sooft die Deutschen in das Ghetto eindrangen, jedesmal wurden sie von den Juden durch selbstgebaute Landminen, durch Fallen, durch wütende Gegenangriffe und mit dem Mut der Verzweiflung wieder hinausgeworfen.

Zehn Tage waren vergangen, und noch immer hatten die Deutschen keinen Erfolg erzielt. Daraufhin unternahmen sie einen konzentrischen Angriff auf das Ghetto-Krankenhaus, wo sie keinen Widerstand vorfanden, erschossen alle Patienten, sprengten das Gebäude in die Luft und gaben dann lautstark bekannt, daß es ihnen gelungen sei, das Hauptquartier des ZOB zu zerstören.

Doch die Deutschen setzten ihre Angriffe fort, und bald machte sich ihre zahlenmäßige und materialmäßige Überlegenheit bemerkbar. Der ZOB konnte einen gefallenen Kämpfer nicht ersetzen; war eine Stellung zerstört, so blieb nichts weiter übrig, als die Front zurückzunehmen; es war nicht möglich, die Munition so rasch zu ersetzen, wie sie verschossen wurde. Und doch gelang es den Deutschen trotz aller Überlegenheit nicht, festen Fuß innerhalb des Ghettos zu fassen. Der ZOB richtete an viele Juden, die nicht den Kampfgruppen angehörten, die Aufforderung, durch den Kanal nach Warschau zu entweichen, da die Gewehre nicht mehr ausreichten, um alle zu bewaffnen.

Aus den drei Tagen, die Konrad für die Niederwerfung des GhettoAufstandes geringschätzig veranschlagt hatte, waren bereits zwei Wochen geworden. Am fünfzehnten Tag kämpfte Rebekka Landau in einem Gebäude im Besenbinderviertel, kaum ein paar Straßen vom Hauptquartier der Bauleute entfernt. Eine Granate, die in das Haus einschlug, tötete alle Kämpfer bis auf Rebekka, die durch die einstürzenden Wände gezwungen wurde, auf die Straße zu fliehen. Die Deutschen versuchten, ihr den Rückweg abzuschneiden. Als Rebekka erkannte, daß sie nicht entkommen konnte, griff sie in ihr Kleid, holte eine Handgranate hervor, lief auf drei deutsche Soldaten zu, zog die Granate ab und tötete sich und ihre drei Feinde.

Nach drei Wochen war Stroop gezwungen, seine Taktik zu andern. Seine Leute hatten schwere Verluste erlitten, und die Nazis waren nicht mehr in der Lage, den heldenhaften Kampf der Juden durch Propaganda zu vertuschen. Stroop zog seine Leute zurück, verstärkte den Ring um das Ghetto und erklärte den Belagerungszustand. Er holte schwere Artillerie heran, die aus nächster Nähe das Feuer eröffnete, um alle Gebäude, deren sich die Juden so erfolgreich als Abwehrstellungen bedient hatten, dem Erdboden gleichzumachen. Nachts kamen Heinkel-Bomber, die das Ghetto mit einem Regen von Brandbomben belegten.

Mundek, der zu einer Besprechung der Gruppenführer im ZOB-Hauptquartier gewesen war, kam in den Bunker der Bauleute zurück. Er selbst und seine Leute waren halbtot vor Erschöpfung, Hunger und Durst. Viele hatten schlimme Brandwunden. Sie sammelten sich um ihn.

»Die deutsche Artillerie hat so gut wie alle Häuser zusammengeschossen«, sagte er. »Was noch steht, brennt.«

»Ist es gelungen, Verbindung mit dem polnischen Widerstand aufzunehmen?«

»Doch, wir haben Verbindung mit ihnen aufgenommen, aber sie werden uns nicht helfen. Wir können keinerlei Nahrung, Munition oder irgendwelchen sonstigen Nachschub von ihnen erwarten. Wir müssen mit dem auskommen, was wir haben. Unser Meldewesen ist so gut wie ruiniert. Das, Freunde, aber bedeutet, daß wir nicht mehr nach einem gemeinsamen Plan vorgehen können. Jeder Bunker ist auf sich selbst gestellt. Wir werden versuchen, die Verbindung zum ZOB durch Melder aufrechtzuerhalten. Doch wenn die Deutschen das nächstemal kommen, wird jede Gruppe auf eigene Faust handeln müssen.«

»Wie lange können wir uns auf diese Weise noch halten, Mundek? Wir haben nur noch dreißig Leute, zehn Pistolen und sechs Gewehre.«

Mundek lächelte. »Ganz Polen hat sich nur sechsundzwanzig Tage halten können. Das haben wir bereits geschafft.« Mundek teilte die Wachen ein, gab den kleinen Rest Verpflegung aus, der noch vorhanden war, und legte den Weg des Spähtrupps fest.

Rywka, eines der Mädchen, nahm ein arg mitgenommenes Akkordeon und begann eine langsame, wehmütige Weise zu spielen. Und in dem feuchten, stickigen Bunker, drei Meter unter der Erde, vereinigten die Bauleute, die noch am Leben waren, ihre Stimmen zu einem sehnsüchtigen Gesang. Sie sangen ein Lied, das sie als Kinder gelernt und auf den Versammlungen der Bauleute gesungen hatten. Der Text des Liedes erzählte davon, wie schön es in Galiläa war, im Lande Israel, und daß dort auf den Feldern der Weizen wuchs, dessen Ähren sanft im Winde schwankten. In einem Bunker unter der Erde des Warschauer Ghettos sangen sie von den Feldern in Galiläa, die sie, wie sie wußten, niemals sehen würden.

»Achtung!« rief der Posten nach unten, als er eine einsame Gestalt erspähte, die durch die Flammen und Trümmer langsam herankam. Das Licht ging aus, und im Bunker wurde es dunkel und still. Dann klopfte jemand an die Tür. Es war das verabredete Zeichen. Die Tür wurde geöffnet und geschlossen, und im Bunker wurde es wieder hell.

»Dov! Um Himmels willen! Was willst du denn hier?«

»Schick mich nicht wieder fort, Mundek!«

Die beiden Brüder umarmten sich, und Dov weinte. Er war glücklich, daß er wieder bei Mundek war. Alle drängten sich um Dov, der die schlimme Botschaft brachte: Es sei endgültig entschieden, daß die polnische Widerstandsbewegung den Juden nicht zu Hilfe kommen würde und daß draußen alle Leute den Aufstand des Ghettos zu verschweigen trachteten.

»Als ich jetzt zurückkam«, sagte Dov, »war der Kanal voll von Menschen, die einfach im Schlamm liegen. Sie sind so schwach, daß sie nicht mehr weiterkönnen. Sie wissen auch nicht, wohin. Niemand in Warschau ist bereit, sie aufzunehmen.«

So kam also der kleine Dov in das Ghetto zurück — und nicht nur er. Es geschah etwas sehr Merkwürdiges. Aus ganz Warschau und den umliegenden Dörfern kamen jetzt Juden, denen es gelungen war, unterzutauchen und als Christen zu leben, wieder ins Ghetto zurück, um an der letzten Phase des Kampfes teilzunehmen. Sie hielten es für ein Privileg, ehrenvoll zu sterben.

Das Bombardement hörte endlich auf. Die Häuser brannten nieder, das Feuer erlosch.

Von neuem schickte Stroop seine SS in das Ghetto, und diesmal hatte sie gewonnenes Spiel. Die Juden hatten keinerlei AbwehrStellungen mehr, keine Verbindung untereinander, kaum noch Waffen und fast nichts mehr zu essen und zu trinken. Die Deutschen gingen systematisch vor, riegelten jeweils einen Abschnitt des Ghettos ab und knackten mit Artillerie und Flammenwerfern einen Bunker nach dem andern, bis in dem ganzen Abschnitt nichts mehr lebte.

Sie bemühten sich, Gefangene zu machen, um aus ihnen die genaue Lage der anderen Bunker herauszufoltern, doch die Kämpfer des ZOB verbrannten lieber bei lebendigem Leibe, als sich zu ergeben. Die Deutschen öffneten die Schleusendeckel und pumpten Giftgas in die Kanäle. Bald war das schlammige Wasser voller Leichen. Doch der ZOB kämpfte noch immer. Wenn die Besatzung eines Bunkers eine deutsche Patrouille entdeckte, kam sie hervor und schlug rasch und tödlich zu. Selbstmörderkommandos stürzten sich in den sicheren Tod. Die Verluste der Deutschen stiegen in die Tausende.

Am 14. Mai 1943 versammelte Mundek die zwölf Überlebenden seiner Gruppe. Er sagte ihnen, sie hätten die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: entweder dazubleiben und zu kämpfen bis zum letzten Mann, oder aber die Flucht durch den Kanal zu versuchen. Vielleicht gelang es Dov, sie aus dem Ghetto heraus und in Sicherheit zu bringen. Dann bestand die freilich sehr geringe Chance, eine Gruppe der Widerstandskämpfer zu erreichen und sich ihr anzuschließen. Dov versicherte Mundek, es sei möglich, das vergaste Gebiet des Kanalsystems zu umgehen.

Er machte sich zunächst allein auf den Weg, und es gelang ihm wirklich in die Stadt zu kommen. Doch als er sich dem Haus Zabrowska 99 näherte, sagte ihm sein Instinkt, daß dort irgend etwas nicht stimmte. Ohne stehenzubleiben ging er an dem Haus vorbei. Seine scharfen Augen entdeckten ein Dutzend Leute, die von verschiedenen Beobachtungsposten aus das Haus Zabrowska 99 überwachten. Dov wußte nicht, ob Wanda von der Gestapo gefaßt worden war oder nicht, aber er wußte jedenfalls, daß das Haus nicht mehr sicher war.

Spät am Abend kam er ins Ghetto zurück. Es war selbst für ihn nicht leicht, den Bunker zu finden, denn es gab keine Straßen, keine Häuser mehr, nur noch Trümmer. Als er näher kam, roch er den vertrauten Geruch verbrannten Fleisches. Er stieg hinunter und zündete die Kerze einer kleinen Lampe an, die er immer bei seinen Gängen durch den Kanal benutzte. Bei ihrem flackernden Licht ging Dov von einem Ende des Bunkers zum anderen, kniete sich bei jedem, der am Boden lag, hin und leuchtete ihm mit seiner Kerze ins Gesicht. Die noch rauchenden Toten waren durch Flammenwerferstöße aus nächster Nähe bis zur völligen Unkenntlichkeit entstellt. Dov Landau wußte nicht, welche der verkohlten Leichen die seines geliebten Bruders Mundek war.

Am 15. Mai 1943 brachte der Sender des ZOB seinen letzten Aufruf: »Hier spricht das Warschauer Ghetto! Wir bitten euch, helft uns!«

Am nächsten Tag, nachdem bereits sechs volle Wochen seit dem ersten deutschen Angriff vergangen waren, ließ SS-General Stroop die große Synagoge in der Tlamatzka sprengen, die seit vielen Jahrzehnten ein Symbol des Judentums in Polen gewesen war. Am gleichen Tag verkündeten die Deutschen, das Problem des Warschauer Ghettos sei nunmehr endgültig gelöst. Stroop meldete seiner vorgesetzten Dienststelle die Eroberung von sechzehn Pistolen und vier Gewehren. Außerdem teilte er mit, daß die Trümmer der Gebäude brauchbares Baumaterial ergäben. Gefangene seien nicht gemacht worden.

Selbst nach dieser mit so außerordentlicher Gründlichkeit vollzogenen Vernichtung gab es noch einzelne Kämpfer des ZOB, die sich weigerten, zu sterben. Auch in den Trümmern ging der Kampf weiter. Die Juden, die auf irgendwelche Weise mit dem Leben davongekommen waren, fanden einander, bildeten zu zweien und dreien kleine »Rudel« und überfielen bei Nacht deutsche Patrouillen. Die SS-Leute und die polnischen Blauen glaubten steif und fest, im Ghetto gingen Gespenster um.

Dov fand sechs andere Juden. Sie gingen von Bunker zu Bunker, bis alle bewaffnet waren. Sie zogen hierhin und dorthin, doch der Anblick und der Gestank des Todes war überall. Bei Nacht führte Dov sie durch den Kanal in die Stadt, wo sie rasche Überfälle auf Lebensmittelgeschäfte unternahmen.

Den ganzen Tag über blieben Dov und die sechs anderen unter der Erde, in einem frisch ausgehobenen Bunker. Fünf schreckliche Monate lang erblickten weder Dov Landau noch einer seiner Kameraden jemals das Licht des Tages. Sie starben einer nach dem anderen — drei bei einem Überfall in Warschau, zwei begingen Selbstmord, und einer verhungerte.

Schließlich war nur noch Dov allein am Leben. Gegen Ende des fünften Monates wurde er von einer deutschen Patrouille gefunden. Er war dem Tode nahe und hatte kaum noch Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen. Man schleppte ihn zur Gestapo, um ihn zu vernehmen.

Jede Vernehmung endete damit, daß Dov Landau geschlagen wurde. Man glaubte ihm einfach nicht, daß er ohne jede Hilfe von außen so lange in den Trümmern des Warschauer Ghettos am Leben geblieben sei.

XXIV.

Dov Landau, dreizehn Jahre alt, Ghettoratte, Kanalratte, Trümmerratte und Spezialist für Fälschungen, wurde einem Aussiedlungstransport zugeteilt. Zusammen mit sechzig anderen Juden wurde er in einen offenen Güterwagen verfrachtet. Der Zug setzte sich in Bewegung und rollte durch die einsame Landschaft und die eisige Kälte nach Süden — Richtung Auschwitz!

BERLIN 1940

SS-Brigadeführer Höß erschien im Dienstzimmer des SS-Obersturmbannführers Eichmann, dem man die Aufgabe übertragen hatte, die »Endlösung« des jüdischen Problems zu vollziehen. Eichmann zeigte Höß den Plan, die Gemeinschaftsarbeit aller NaziGrößen. Höß war von dem ausgeklügelten Plan des Massenmordes sehr beeindruckt.

Der ganze europäische Kontinent war mit Konzentrationslagern und Gefängnissen für politische Häftlinge wie mit einem feinmaschigen Geflecht überzogen. In jedem besetzten Land befanden sich Gestapo-Dienststellen. Ein weiteres Netz von dreihundert Nebenlagern umspannte Europa. Die Hälfte davon war für Juden reserviert.

Trotz aller Konzentrationslager und ihrer sorgfältig ausgewählten Lage wußten die Nazis, daß außerordentliche Schwierigkeiten entstehen würden, falls sie versuchten, in Westeuropa Vernichtungslager einzurichten. Man hatte Höß nach Berlin gerufen, weil Polen sowohl in bezug auf die Balkanländer als auch in bezug auf Westeuropa verkehrstechnisch am günstigsten gelegen war. Ein solches Lager, das als Modell dienen konnte, brauchte ein ausgedehntes Gelände. Schließlich gab es außer den Juden, deren man sich entledigen wollte, auch noch Russen, Franzosen, verschiedene Kategorien von Kriegsgefangenen, Partisanen, politische Gegner in den besetzten Ländern, strenggläubige Katholiken, Zigeuner, Freimaurer, Marxisten, Bolschewiken, gemeine Verbrecher, und nicht zuletzt Deutsche, die sich für den Frieden einsetzten, für Liberalismus, Gewerkschaften, oder solche, die ganz schlicht Defätisten waren. Es gab Personen, die verdächtig waren, feindliche Agenten zu sein, Prostituierte, Homosexuelle und manche anderen »unerwünschten Elemente«. Sie alle sollten ausgerottet werden, um Europa für die »arische Rasse« zu säubern. Ein solches Lager, wie es Eichmann vor Augen hatte, würde alle diese Leute aufnehmen können. Eichmann teilte Höß mit, daß man ihm in Anerkennung seiner langjährigen treuen Dienste die Leitung dieses neu zu errichtenden Lagers übergeben wolle. Er ging an die Karte und zeigte mit dem Finger auf eine kleine polnische Stadt in der Nähe der tschechischen Grenze. Eine Stadt namens Auschwitz. Der Zug, der mit Dov Landau nach Auschwitz unterwegs war, hielt bei dem Eisenbahnknotenpunkt Krakau auf einem Rangiergleis. Eine ganze Reihe weiterer Wagen wurde angehängt. Viehwagen mit Juden aus Frankreich und Griechenland, Kohlenwagen mit Juden aus Jugoslawien und Holland, geschlossene Güterwagen mit Juden aus der Tschechoslowakei, und offene Güterwagen mit Juden aus Italien, alle zur Aussiedlung bestimmt. Es war bitter kalt. Dov, der auf einem offenen Güterwagen stand, besaß keinerlei Schutz gegen den eisigen Wind und den treibenden Schnee als sein zerfetztes Hemd und das bißchen Körperwärme der eng zusammengepferchten Menschen.

Als die Nazis Höß dazu auswählten, Kommandant des Lagers Auschwitz zu werden, der größten Todesfabrik und Vernichtungszentrale, schätzten sie den Mann, dem sie diese Aufgabe übertrugen, richtig ein. Höß konnte auf eine lange Erfahrung im System der Konzentrationslager zurückblicken, bis zum Jahre 1934, kurz nachdem Hitler an die Macht gekommen war. Zuletzt war er stellvertretender Kommandant des Lagers Sachsenhausen gewesen. Höß war ein Pedant, systematisch; Befehle führte er aus, ohne sie jemals als bedenklich zu empfinden, und auch die härteste Arbeit hatte ihn nie gestört.

Im Gebiet von Auschwitz wurden auf einem Gelände von zwanzigtausend Morgen alle Gehöfte abgerissen und das Ganze mit einem hohen Stacheldrahtzaun abgegrenzt. Ein Stab ausgesuchter Konstrukteure, Techniker, Transportfachleute und Elitetruppen der SS machten sich ans Werk, um das riesige Projekt zu verwirklichen. Drei Kilometer vom Hauptlager Auschwitz entfernt, wurde ein gesondertes Lager errichtet, Birkenau, das zur Aufnahme der Gaskammern bestimmt war. Birkenau war ein abgelegener Ort mit eigenem Gleisanschluß. Man hatte diese Stelle gewählt, weil sie vom westlichen, östlichen und südlichen Europa aus mit der Eisenbahn gut zu erreichen war. Auschwitz war eine kleine Stadt ohne jede Bedeutung. Bei der Errichtung dieser Konzentrationslager hatten die Nazis allerdings wesentliche Einwände ihrer eigenen Wehrmacht zu überwinden.

Die deutsche Wehrmacht brauchte alle Eisenbahnen und alles rollende Material für den Krieg an der Ostfront. Das Oberkommando sah es als Unsinn an, wertvollen Frachtraum dafür zu mißbrauchen, um Juden durch ganz Europa zu transportieren. Doch die Nazis blieben hartnäckig bei ihrer Meinung, daß die Endlösung der Judenfrage ebenso wichtig war wie die Kriegführung. Die Gegensätze prallten so hart aufeinander, daß Hitler persönlich entscheiden mußte. Und Hitler entschied zugunsten von SS, SD, Gestapo und der übrigen Nazi-Größen gegen seine Generalität.

Höß übernahm die Leitung des neuen Lagers bei Auschwitz und fuhr nach Treblinka, um die dortigen Ausrottungsmethoden zu studieren. Er stellte fest, daß der Leiter des Lagers Treblinka, SS Brigadeführer Wirth, ein dilettantischer Anfänger war. Die Vergasungen in Treblinka wurden mit Kohlenmonoxyd durchgeführt, dessen Wirkungsgrad unzureichend war; die technische Anlage versagte häufig und verbrauchte außerdem wertvolles Benzin. Wirth arbeitete außerdem nicht systematisch und ohne die geringste Tarnung, so daß es immer wieder zu Meutereien der Juden kam. Und schließlich fand Höß es kümmerlich, daß in Treblinka nur dreihundert Leute auf einmal vergast werden konnten. Als die Gaskammern von Birkenau bei Auschwitz in Betrieb genommen wurden, führte Höß mit den ersten Ankömmlingen umfangreiche Versuchsreihen durch. Er und sein technischwissenschaftlicher Stab kamen zu dem Schluß, daß Zyklon B, ein Blausäuregas, das brauchbarste Material für ihre Zwecke war.

Die Gaskammern von Birkenau waren so konstruiert, daß jeweils dreitausend Leute hineingingen, und bei voller Ausnützung der Kapazität konnten hier, je nach den Wetterverhältnissen, bis zu zehntausend Menschen pro Tag vergast werden.

Der Zug, in dem sich Dov Landau befand, bestand inzwischen aus fast fünfzig Wagen. Er hielt bei Chrzanow, der letzten Station vor Auschwitz. Von den Insassen war bereits jeder fünfte tot. Hunderte waren an den Seiten der Güterwagen festgefroren und konnten sich nicht bewegen, ohne sich die Haut von den Armen oder Beinen herunterzureißen. Viele Frauen warfen ihre Kinder aus den Wagen heraus und flehten die neugierig zusehenden Bauern an, sie möchten sie zu sich nehmen und verbergen. Die Toten wurden aus den Wagen geholt und in sechs neuen Wagen gestapelt, die am Ende des Zuges angehängt wurden. Dov befand sich in sehr schlechter körperlicher Verfassung, doch er war wach und auf der Hut. Er wußte genau, was ihm bevorstand, und er war sich klar darüber, daß es jetzt mehr als je zuvor darauf ankam, schlau zu sein und richtig zu reagieren. Der Zug rollte weiter. Es war noch eine Stunde bis Auschwitz.

Höß war eifrig bemüht, die Arbeit in Birkenau zu perfektionieren. Zunächst entwickelte er ein System der Tarnung und Täuschung, damit die Opfer bis zum letzten Augenblick nichts ahnten und ruhig blieben. Die Gebäude, die die Gaskammern enthielten, wurden mit schönen Anlagen umgeben, mit Blumenbeeten, Ziersträuchern und Rasenflächen. Überall standen Tafeln, auf denen in vielen Sprachen geschrieben stand: SANITÄTSBLOCK. Die Täuschung bestand im wesentlichen darin, daß man den Opfern sagte, sie kämen zu einer ärztlichen Untersuchung und sollten entlaust und geduscht werden, bevor man sie neu einkleiden und in eins der Arbeitslager in oder bei Auschwitz bringen würde.

Rings um die Gaskammern waren saubere Umkleideräume mit numerierten Haken zum Aufhängen der Kleidung. Allen wurde eingeschärft, sich seine Nummer zu merken. Die Haare wurden für die »Entlausung« geschnitten, und die Opfer wurden aufgefordert, vor Betreten des »Duschraums« die Brillen abzulegen. Dann bekam jeder ein Stück Seife mit einer Nummer. Jeweils dreitausend Menschen wurden nackt durch lange Korridore geführt. Rechts und links waren große Türen. Die Türen öffneten sich, und dahinter wurden riesige »Duschräume« sichtbar.

Von den Opfern waren die meisten viel zu betäubt, um wirklich zu begreifen, was mit ihnen geschah. Sie begaben sich widerstandslos in die Duschräume. Manche aber untersuchten die Seife, die man ihnen gegeben hatte, und stellten fest, daß es ein Stück Stein war. Anderen fiel auf, daß die Brausen an der Decke Attrappen waren und die Duschräume keinen Wasserabfluß hatten.

Oft entstand im letzten Augenblick eine Panik, doch an Stelle der Sanitäter erschienen jetzt SS-Leute, die jeden, der zögerte, mit Knüppeln und Knuten in die »Duschräume« hineintrieben.

Die eisernen Türen wurden hermetisch geschlossen, aus einer Öffnung an der Decke strömte Blausäuregas, und in zehn oder fünfzehn Minuten, je nach der Menge des Gases, war alles vorbei.

Dann kamen die Sonderkommandos. Sie bestanden aus Insassen des Lagers Auschwitz und hatten die Aufgabe, die Leichen aus den Gaskammern herauszuholen und zu den Verbrennungsöfen zu bringen. Vor der Verbrennung wurden Ringe und Goldzähne entfernt. Sie wurden eingeschmolzen. Das Gold wurde nach Berlin geschickt.

Um Familienbilder oder Liebesbriefe, die man in den abgelegten Kleidern fand, kümmerte sich keiner. Die SS-Leute durchsuchten lieber das Futter, in dem häufig Schmuck versteckt war. Oft fand man auch einen Säugling, den die Mutter in den Kleidern versteckt hatte; er wanderte dann mit zur nächsten »Dusche«.

Zu seinen SS-Männern war Höß wie ein Vater. Bei jedem Transport, der nach Birkenau kam, hatten sie zwar hart zu schuften. Dafür aber gab es dann Sonderrationen, und vor allem Schnaps. Sein System funktionierte reibungslos; nichts vermochte ihn zu irritieren. Er war nicht einmal aus der Fassung gebracht, als Eichmann eine Viertelmillion Juden aus Ungarn praktisch ohne jede Vorbereitung bei ihm ablud.

Das größte Problem in Birkenau war die Beseitigung der Leichen. Anfangs wurden sie direkt von den Gaskammern in offene Massengräber gebracht und mit Kalk überschüttet. Doch der Gestank wurde bald unerträglich. Die SS-Leute zwangen die jüdischen Sonderkommandos, alle Leichen wieder herauszuholen. Sie wurden verbrannt und die Knochen anschließend zerkleinert. Doch auch das Verbrennen im Freien ergab einen zu üblen Gestank. Daher ging man zum Bau geschlossener Verbrennungsöfen über.

Höß forderte von seinen Wissenschaftlern und Technikern eine noch größere Vergasungskapazität und weitere Senkung der Kosten. Seine Ingenieure entwarfen daraufhin ausgedehnte Erweiterungspläne, die sorgfältig kalkuliert waren. Einer dieser Pläne sah die Konstruktion einer hydraulisch nach oben und unten bewegbaren Gaskammer vor, ähnlich einem Fahrstuhl, die ihren Inhalt im nächsten Stockwerk abladen sollte, das als Krematorium gedacht war. Weitere Entwürfe befaßten sich damit, die Kapazität von Birkenau auf vierzigtausend Vergasungen pro Tag zu steigern. Der Zug, in dem sich Dov Landau befand, fuhr durch Auschwitz hindurch und hielt auf dem Abstellgleis von Birkenau.

XXV.

Dov war halb verhungert und blau vor Kälte. Doch die Jahre des beständigen Umgangs mit der Gefahr und dem Tod hatten seinen Instinkt so geschärft, daß er selbst in diesem Zustand hellwach und auf der Hut war. Er wußte, die nächste Stunde würde über Leben und Tod entscheiden.

Die Türen der Viehwagen wurden aufgerissen, und alle, die wie er auf offenem Güterwagen standen, wurden mit rauhen Kommandos angewiesen, herunterzuspringen. Mühsam kletterten die armen Opfer aus dem Wagen heraus. Auf einem langen Bahnsteig sahen sie sich einer Kette von SS-Leuten gegenüber, die mit Knüppeln, Peitschen und Pistolen und mit Hunden, die bösartig knurrend an ihren Leinen zerrten, bereitstanden. Die Peitschen pfiffen durch die kalte Luft, und wo sie trafen, schrien Menschen vor Schmerz auf. Gummiknüppel schlugen mit dumpfem Knall auf Köpfe, und Pistolenschüsse streckten diejenigen nieder, die zu schwach zum Gehen waren.

Die Opfer mußten in Viererreihen antreten, und die endlose Menschenschlange bewegte sich langsam und gleichmäßig auf ein großes Gebäude am Ende des Bahnsteiges zu.

Dov sah sich um. Links standen die Züge. Hinter den Zügen sah er auf der Straße vor dem Bahnhof eine Reihe wartender Lastwagen stehen. Es waren keine geschlossenen Wagen, konnten daher, so folgerte Dov, keine Gaswagen sein. Rechts, hinter der Sperrkette der Wachmannschaften sah Dov die gepflegten Grünanlagen und die Bäume, die die Ziegelbauten von Birkenau umgaben. Er musterte die Form der Gebäude mit ihren hohen Schornsteinen und ihm war klar, daß sich dort rechts Gaskammern und Verbrennungsöfen befinden mußten.

Dov wurde übel vor Angst. Er glaubte, sich erbrechen zu müssen. Doch er unterdrückte es und bemühte sich krampfhaft, Haltung zu bewahren.

Die Viererreihe, in der sich Dov befand, war am Ende des Bahnsteigs angelangt und betrat den Raum. Sie teilte sich in vier Einzelreihen, und jede Reihe bewegte sich auf einen Tisch zu, der am Ende des Raumes stand. An jedem dieser Tische saß ein SS-Arzt, und hinter jedem dieser Ärzte stand ein Dutzend SS-Leute. Dov konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Tisch vor sich und versuchte, dahinterzukommen, was hier vorging. Der Arzt musterte jeden, der bei seinem Tisch ankam, mit einem flüchtigen Blick und schickte ihn dann in eine von drei Richtungen.

Der erste dieser drei Wege führte durch eine Tür rechts. Dov begann zu zählen: auf je zehn Menschen kamen sieben, die durch diese Tür rechts geschickt wurden. Das waren alte Leute, Kinder oder Kranke. Da Dov vermutete, daß die Gebäude auf der rechten Seite die Gaskammern enthielten, folgerte er, daß diejenigen, die durch die rechte Tür geschickt wurden, sofort vergast werden sollten.

Der zweite Weg führte durch eine Tür links. Durch diese Tür ging es nach draußen auf die Straße, wo die Wagenkolonnen warteten. Auf jeweils zehn kamen etwa zwei, die dort hinausgeschickt wurden, und das waren alles Leute, die noch einigermaßen bei Kräften zu sein schienen. Dov schloß daraus, daß diese Leute in ein Arbeitslager kamen.

Die Tür rechts bedeutete also Tod, die Tür links das Leben! Es gab auch noch eine dritte Gruppe. Diese Leute, auf jeweils zehn oder auch zwanzig kam höchstens einer, waren meistens schöne junge Frauen und Mädchen. Auch einige hübsche Jungens, so um die fünfzehn, wurden dieser Gruppe zugeteilt.

Dov holte ein paarmal tief Luft, während die Reihe, in der er stand, sich langsam vorwärtsbewegte. Er war nur noch Haut und Knochen, und es war ihm klar, daß er kaum Aussicht hatte, durch den Ausgang links in ein Arbeitslager geschickt zu werden.

Der Arzt besah sich ein Opfer nach dem anderen und wiederholte monoton: »Rechts — rechts — rechts — rechts.«

Dov Landau kam an den Tisch und blieb davor stehen. Der Arzt sah Dov flüchtig an und sagte: »Rechts!«

Dov lächelte und sagte seelenruhig: »Ich glaube, Herr Doktor, Sie irren sich. Ich bin nämlich Spezialarbeiter — Fachmann für Fälschungen. Schreiben Sie Ihren Namen da auf das Stück Papier, dann werde ich es Ihnen beweisen.«

Der Arzt lehnte sich verblüfft in seinem Stuhl zurück. Dovs Kaltblütigkeit imponierte ihm. Der Knabe wußte offensichtlich genau, was ihm bevorstand. Der monotone Todesmarsch stockte plötzlich. Dann faßte sich der Arzt und lächelte höhnisch. Zwei SS-Männer ergriffen Dov und schleppten ihn fort.

»Halt!« rief der Arzt. Er sah Dov noch einmal an und befahl ihm, wieder an den Tisch zu kommen. Sicher versuchte der Junge nur zu bluffen. Der Arzt war schon entschlossen, Dov durch die Tür nach rechts zu schicken, doch dann gewann seine Neugier die Oberhand. Er nahm einen Block und kritzelte seinen Namen darauf.

Dov schrieb sechs Wiederholungen des Namenszuges auf den Block und gab ihn zurück. »Können Sie mir sagen, welche davon Ihre Unterschrift ist?« fragte er.

Ein halbes Dutzend SS-Leute sah dem Arzt über die Schulter und machte erstaunte Augen. Der Arzt warf nochmals einen Blick auf Dov und sagte dann leise etwas zu einem der SS-Leute, der sich daraufhin entfernte.

»Bleib da an der Seite stehen«, sagte der Arzt.

Dov blieb neben dem Tisch stehen und sah die Reihe der Menschen herankommen, von denen pro Minute vier zum Tode verurteilt wurden.

Fünf Minuten vergingen. Zehn Minuten vergingen. Die Schlange, die sich vom Bahnsteig hereinwand, schien ohne Ende.

Der SS-Mann kam mit einem anderen zurück, der ein hohes Tier zu sein schien, denn seine Brust war bedeckt mit Orden und Ehrenzeichen. Der Arzt übergab dem Offizier den Block mit den Unterschriften, die dieser sich fast eine Minute lang aufmerksam ansah.

»Wo hast du das gelernt?« fragte er.

»Im Warschauer Ghetto.«

»Was kannst du?«

»Ich kann Pässe fälschen, Ausweise, Formulare, Banknoten — alle Arten von Dokumenten.«

»Komm mit.«

Dov ging durch die linke Tür hinaus. Als er in dem Lastwagen saß, der zum Lager Auschwitz fuhr, erinnerte er sich daran, was sein Bruder Mundek gesagt hatte. »Wenigstens einer von der Familie Landau muß mit dem Leben davonkommen.« Kurz darauf fuhr der Lastwagen durch den Haupteingang des Lagers Auschwitz. Über dem Eingang hing ein Schild: ARBEIT MACHT FREI.

Meilenweit erstreckten sich die hölzernen Baracken des Hauptlagers durch das schlammige Gelände, Block neben Block, voneinander getrennt durch hohe Wände aus elektrisch geladenem Stacheldraht. In diesen Baracken hausten die Arbeitskräfte, mit denen an die dreißig zusätzliche Zwangsarbeitslager versorgt wurden. Alle Lagerinsassen trugen einen blau-weiß gestreiften Sträflingsanzug und auf der linken Brustseite und am rechten Hosenbein ein farbiges Dreieck: bei den Homosexuellen war das Dreieck rosa, bei den »Asozialen« war es schwarz, bei den Kriminellen grün, bei den Bibelforschern violett, bei allen »Politischen« rot, und bei den Juden war es der traditionelle Davidstern. Außerdem bekam Dov, genau wie alle anderen in Auschwitz, noch ein weiteres Erkennungszeichen: eine Nummer, die auf seinen linken Unterarm tätowiert wurde. Dov Landau war jetzt ein blau-weiß gestreifter Jude mit der Nummer 359195.

ARBEIT MACHT FREI.

Dov Landau beging in Auschwitz seinen vierzehnten Geburtstag, und sein Geburtstagsgeschenk war die Tatsache, daß er noch lebte. Verglichen mit den vielen Tausenden der anderen Häftlinge war sein Los nicht einmal das schlechteste, denn er und die paar anderen Fälscher gehörten sozusagen zur Elite. Seine Arbeit bestand darin, Ein- und Fünf-Dollar-Noten zu fälschen, die für Agenten der deutschen Spionage im Westen gebraucht wurden. Und doch fragte sich Dov nach einiger Zeit, ob es nicht besser gewesen wäre, in Birkenau zu sterben.

Hier in Auschwitz war die Ernährung völlig unzureichend. Die zu Skeletten abgemagerten Häftlinge wurden unbarmherzig an die Arbeit getrieben. Fünf Stunden Schlaf, die man ihnen zugestand, mußten sie eng zusammengepfercht auf Brettern verbringen. Epidemien brachen aus. Die Lagerinsassen wurden gequält, geschlagen, gefoltert, in den Wahnsinn getrieben, erniedrigt. Sie waren allen überhaupt nur denkbaren Grausamkeiten ausgesetzt. Jeden Morgen fand man Dutzende, die sich erhängt oder ihrer Qual ein Ende gemacht hatten, indem sie in den elektrisch geladenen Stacheldraht gerannt waren. Die Strafkompanie lebte in dunklen Einzelzellen und wurde mit versalzenem Gemüse überfüttert, das einen unstillbaren Durst hervorrief.

Hier in Block X benutzte Dr. Wirth Frauen als Versuchskaninchen und Dr. Schumann sterilisierte sie durch Kastration und Röntgenstrahlen. Clauberg entfernte Eierstöcke und Dr. Dehring machte 17 000 chirurgische Experimente ohne Betäubung.

Das war Auschwitz, und so sah das Leben aus, das man Dov Landau geschenkt hatte. ARBEIT MACHT FREI.

»Einer von der Familie Landau muß überleben«, hatte Mundek gesagt. Wie hatte Mundek überhaupt ausgesehen? Er konnte sich kaum noch erinnern. Oder Ruth oder Rebekka, oder seine Mutter, sein Vater? An seinen Vater hatte er gar keine Erinnerung mehr. Sein Gedächtnis wurde von Tag zu Tag schwächer, ganz nebelhaft wußte er nur noch um seine Vergangenheit. Für ihn gab es jetzt nur Todesfurcht und Schrecken, und ein Leben ohne diese ständige Angst vor Tod und Mißhandlung lag bereits außerhalb seines Vorstellungsvermögens.

So verging ein Jahr. In Birkenau kamen und gingen die Züge. Die Zahl derer, die in den Arbeitslagern rund um Auschwitz ums Leben kam, zu Tode gequält wurde, verhungerte oder einer Seuche erlag, war fast genauso erschreckend hoch wie die Rekordzahlen von Birkenau. Doch irgendwie gelang es Dov, seinen Verstand nicht zu verlieren und sich mit der instinktiven Wachheit eines wilden Tieres am Leben zu erhalten.

Selbst in der Finsternis dieser Hölle gab es gewisse Lichtblicke. Es gab ein Lagerorchester. Es gab eine illegale Organisation, und diese Organisation verfügte über einen Radioempfänger.

Im Sommer des Jahres 1944 wurde das gesamte Lager von einer seltsamen Unruhe erfaßt. Immer häufiger waren russische Bomber am Himmel zu sehen, und Geheimsender meldeten deutsche Niederlagen. Das Dunkel und die Qual wurden von einem ersten schwachen Hoffnungsschimmer erhellt. Jeder neue Sieg der Alliierten versetzte die SS-Leute in wütende Mordlust, so daß sich die Häftlinge stets vor neuen Meldungen deutscher Niederlagen fürchteten. In Birkenau wurde noch fieberhafter gearbeitet, bis die Gaskammern schließlich fast Tag und Nacht in Betrieb waren.

Im Herbst wurde es immer klarer, daß die Deutschen den Krieg verloren hatten. Sie wurden an allen Fronten geschlagen. Doch je mehr Niederlagen sie einstecken mußten, um so größer wurde ihr Eifer auf dem Gebiet der Massenliquidierung.

Im Oktober 1944 unternahmen die Sonderkommandos von Birkenau einen verzweifelten Aufstand, bei dem eines der Krematorien in die Luft gesprengt wurde. Immer wieder kam es vor, daß sich die Sonderkommandos auf SS-Leute stürzten und sie mitsamt ihren Hunden in die Verbrennungsöfen warfen. Schließlich wurden sämtliche Angehörige der Sonderkommandos erschossen und das Lager forderte in Auschwitz neue Sonderkommandos an.

Eichmann unternahm noch eine letzte Anstrengung. Zwanzigtausend Juden, die Creme des europäischen Judentums, die sich bisher auf tschechischem Boden im Lager Theresienstadt »unter garantiertem Schutz« befunden hatten, wurden jetzt ebenfalls nach Birkenau in Marsch gesetzt. Zur Vernichtung.

Die Zahl der in Birkenau umgebrachten Juden stieg immer mehr an und erreichte schließlich die unvorstellbare Höhe von einer Million aus Polen, fünfzigtausend aus Deutschland, hunderttausend aus Holland, hundertfünfzigtausend aus Frankreich, fünfzigtausend aus Österreich und der Tschechoslowakei, fünfzigtausend aus Griechenland, zweihundertfünfzigtausend aus Bulgarien, Italien, Jugoslawien und Rumänien und dazu schließlich noch eine Viertelmillion aus Ungarn.

Und Tag für Tag während dieses makabren Vernichtungsfeldzuges ertönte der Ruf nach weiteren Sonderkommandos.

Im November wurde die Fälscherwerkstätte in Auschwitz plötzlich geschlossen, und alle, die darin gearbeitet hatten, wurden nach Birkenau geschickt und dort als Sonderkommando verwendet.

Dovs neue Tätigkeit bestand darin, auf dem Korridor vor den Gaskammern zu warten, bis die Menschen vergast worden waren. Zusammen mit den anderen, die als Sonderkommando eingesetzt waren, wartete er, bis die Schreie der Sterbenden und das irre Hämmern gegen die eisernen Türen aufgehört hatten. Sie warteten weitere fünfzehn Minuten, bis das Gas abgezogen war. Dann öffneten sie die Türen der Gaskammern. Zusammen mit den anderen mußte Dov das grauenhafte Gewirr ineinander verkrampfter Arme und Beine mit Stricken und Haken entwirren, die Toten herausholen und auf Karren laden, mit denen sie zu den Verbrennungsöfen gebracht wurden. Waren die Leichen entfernt, mußte er in die Gaskammern hineingehen, den Boden mit einem Wasserschlauch abspritzen und den »Duschraum« für die nächsten Opfer herrichten, die bereits in den Auskleideräumen warteten. Drei Tage lang war Dov mit dieser grauenhaften Arbeit beschäftigt. Sie verschlang den letzten Rest seiner Kraft, und der unbeugsame, zähe Lebenswille, der ihn bis hierher aufrechterhalten hatte, schien zu erlöschen. Er fürchtete sich stets vor dem Augenblick, da sich die eiserne Tür öffnete. Der Gedanke daran war schrecklicher als die Erinnerung an das Ghetto oder den Kanal. Er wußte, daß er nicht imstande war, diesen grauenhaften Anblick noch oft zu ertragen.

Doch dann geschah etwas völlig Unerwartetes! Die Deutschen gaben Befehl, die Verbrennungsöfen abzubrechen und die Gaskammern zu sprengen! Die Alliierten rückten vom Westen und die Russen vom Osten immer näher. Die Nazis machten verzweifelte Anstrengungen, um die Spuren ihrer Verbrechen zu beseitigen. Überall in Polen wurden die Massengräber geöffnet und die Knochen der Leichen zerstückelt und zerstreut. Von der deutschen Wehrmacht dringend benötigte Transportmittel wurden dazu verwendet, die Juden nach Deutschland zu bringen.

Am 22. Januar 1945 erreichten Truppenteile der russischen Armee die Lager Auschwitz und Birkenau und befreiten die Häftlinge. Die Orgie des Mordens war zu Ende. Dov Landau, fünfzehnjährig, war einer der fünfzigtausend, die von den dreieinhalb Millionen polnischer Juden am Leben geblieben waren. Er hatte das Versprechen gehalten, das er seinem Bruder gegeben hatte.

XXVI.

Die russischen Militärärzte, die Dov untersuchten, waren erstaunt, daß der Junge die Jahre der Entbehrungen und Leiden überstanden hatte, ohne dauernden Schaden davongetragen zu haben. Er war schwächlich und unterentwickelt, zu klein für sein Alter, und er würde nie längere Zeit körperlich schwer arbeiten können, doch durch entsprechende Pflege konnte er einigermaßen in eine normale körperliche Verfassung gebracht werden.

Etwas anderes war es mit dem psychischen Schaden, den man ihm zugefügt hatte. Der Junge hatte sich durch all die Jahre mit geradezu übermenschlicher Energie am Leben erhalten. Jetzt aber, da die beständige Anspannung nachließ, schoß ihm bei Tag und bei Nacht ein Strom quälender Bilder durch den Kopf. Er versank in tiefe Depression, und sein geistiger Zustand näherte sich bedrohlich der dünnen Grenze, die den Normalen von dem nicht mehr Normalen trennt.

Die Wände aus Stacheldraht waren niedergerissen, die Gaskammern und die Verbrennungsöfen waren verschwunden, doch die Erinnerung an das Schreckliche war in ihm wach geblieben und noch immer schien der grauenhafte Geruch in der Luft zu hängen. Jedesmal, wenn er sich die blaue Nummer ansah, die man ihm auf den linken Unterarm tätowiert hatte, durchlebte er von neuem den schaurigen Augenblick, wenn sich die Türen der Gaskammern öffneten. Und immer wieder sah er im Geiste das Bild, wie aus einer Gaskammer in Treblinka die Leiche seiner Mutter herausgeholt wurde. Und wieder und wieder kniete er in dem Bunker im Warschauer Ghetto, hielt seine flackernde Kerze dicht über die Gesichter der Toten und fragte sich, welcher davon wohl sein Bruder Mundek sei.

Die Juden, die in Auschwitz am Leben geblieben waren, hockten dort in mehreren Baracken zusammen. Dov konnte sich nicht vorstellen, daß es eine Welt gab, in der das Leben nicht aus Elend, Niedertracht und Qual bestand. Eine Welt, in der man nicht hungerte und fror, überstieg seine Begriffe. Selbst die Nachricht, daß die Deutschen kapituliert hätten, löste bei den Menschen in Auschwitz keine Freude aus.

Dov Landaus Denken war vergiftet vom Haß. Er fand es schade, daß die Gaskammern verschwunden waren, denn er malte sich in Gedanken aus, wie man reihenweise deutsche SS-Leute mit ihren Hunden hineintrieb.

Der Krieg war zu Ende, doch keiner wußte recht, was er anfangen und wohin er gehen sollte. Nach Warschau? Warschau war zweihundert Kilometer entfernt, und die Straßen waren verstopft von Flüchtlingsströmen. Und selbst wenn er es schaffen sollte, nach Warschau zu kommen, was dann?

Das Ghetto lag völlig in Trümmern, und seine Mutter und sein Vater und seine Schwester und Mundek waren nicht mehr da, sie waren alle tot. Tagein tagaus saß Dov am Fenster und starrte stumm auf den düsteren Himmel, der wie ein Leichentuch über der Landschaft lag. Allmählich wagten sich die Juden in Auschwitz, einer nach dem andern, aus dem Lager hinaus und machten sich auf den Weg nach Haus. Und einer nach dem andern kamen sie enttäuscht und verzweifelt wieder nach Auschwitz zurück. Die Deutschen waren zwar nicht mehr da, doch die Polen machten ganz in ihrem Sinne weiter. Sie waren weder erschüttert noch entrüstet, daß man dreieinhalb Millionen Juden umgebracht hatte. Ganz im Gegenteil, überall in den Städten und Ortschaften stand es an den Wänden und schrien es die Leute: Die Juden sind am Krieg schuld! Die Juden haben den Krieg angefangen, um daran zu verdienen! An unserem ganzen Unglück sind die Juden schuld!

Es gab nicht eine Träne für die, die umgekommen waren, doch eine Fülle von Haß gegen diejenigen, die am Leben geblieben waren. Der Mob zertrümmerte jüdische Geschäfte und verprügelte Juden, die versuchten, zu ihrem Heim und Eigentum zurückzukehren. Und so kamen alle, die sich aus dem Lager herausgewagt hatten, wieder nach Auschwitz zurück. Sie hockten in den dreckigen Baracken, verzweifelt und halb von Sinnen, und erwarteten mutlos ihr Ende. Das Schreckgespenst des Todes blieb in ihrer Mitte, und der Geruch von Birkenau hing noch immer in der Luft.

Im Sommer 1945 kam ein Mann in das Lager, der von den Überlebenden mit Mißtrauen und Knurren empfangen wurde. Es war ein hochgewachsener, stattlicher Mann, etwas über zwanzig, mit einem mächtigen schwarzen Schnurrbart. Er hatte ein schneeweißes Hemd an, dessen Ärmel er bis über die Ellbogen aufgekrempelt hatte, und er ging durch das Lager in der ungewohnten, wunderbaren Gangart eines freien Menschen. Eine Versammlung unter freiem Himmel wurde einberufen, und die Juden kamen aus den Baracken heraus und scharten sich um ihn.

»Mein Name ist Bar Dror, Schimschon Bar Dror«, rief der junge Mann. »Ich bin aus Palästina hierher geschickt worden, um euch alle in die Heimat zu holen!«

Seine Worte lösten Jubelrufe und Freudentränen aus. Bar Dror wurde mit zahllosen Fragen überschüttet. Viele fielen auf ihre Knie und küßten ihm die Hände, andere wollten ihn nur einmal berühren, ihn hören, ihn sehen. Ein freier Jude, aus Palästina! Schimschon Bar Dror — Samson, Künder der Freiheit — war gekommen, um sie nach Hause zu bringen.

Bar Dror übernahm die Leitung des Lagers und stürzte sich mit Eifer an die Arbeit. Er erklärte ihnen, daß es noch einige Zeit dauern werde, bis sie sich auf den Weg machen könnten, doch in der Zwischenzeit, bis Mossad Aliyah Bet die erforderlichen Vorbereitungen getroffen hätte, täten sie besser daran, ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Das Lager, dessen Insassen neue Hoffnung schöpften, bekam ein völlig verändertes Gesicht. Bar Dror organisierte Lagerausschüsse, die für Sauberkeit und Ordnung sorgten, eine Schule wurde eingerichtet, eine Theatergruppe gebildet, ein kleines Orchester gegründet und Tanzabende veranstaltet, eine Lagerzeitung wurde gedruckt, und man hielt Zusammenkünfte ab, in denen endlos über Palästina diskutiert wurde. Schimschon begann, in der Nähe des Lagers sogar eine Musterfarm einzurichten, um die Insassen landwirtschaftlich auszubilden. Als die Selbstverwaltung des Lagers endlich funktionierte, ging er daran, aus den Flüchtlingstrecks weitere Juden herauszuholen und sie gleichfalls zum Sammelplatz in Auschwitz zu bringen.

Doch während Bar Dror und andere Mitglieder des Mossad Aliyah Bet unermüdlich tätig waren, um die Juden zu sammeln und sie aus Polen herauszuschleusen, waren andere Kräfte ebenso eifrig am Werke, sie in Polen festzuhalten. Überall in Europa übten die englischen Botschaften und Konsulate Druck auf die Regierungen aus, um sie zu veranlassen, ihre Grenzen für diese Flüchtlinge zu sperren. Denn, so argumentierten die Engländer, das Ganze sei ein Komplott der Zionisten aller Länder, um in der Frage des PalästinaMandats eine Lösung in ihrem Sinne zu erzwingen.

Während dieser unterirdische Kampf zwischen den Engländern und Mossad Aliyah Bet im Gange war, erließ die polnische Regierung eine staunenerregende Verordnung. Darin hieß es, daß alle Juden in Polen zu bleiben hätten. Die polnische Regierung begründete diesen Schritt mit der Befürchtung, eine Auswanderung von Juden aus Polen könnte in der übrigen Welt den — im übrigen durchaus zutreffenden — Eindruck hervorrufen, daß Polen die Juden auch weiterhin verfolge.

So wurden die Juden in einem Lande festgehalten, in dem man sie nicht haben wollte, und daran gehindert, in ein Land zu gehen, in dem sie willkommen waren.

Es wurde Winter in Auschwitz, und die Zuversicht im Lager sank allmählich. Alle Anstrengungen, die Bar Dror gemacht hatte, waren vergeblich gewesen. Die Männer aus Palästina versuchten, den Lagerinsassen den politischen Kampf zu erklären, der im Gange war, doch die Überlebenden wollten sie nicht anhören. Sie interessierten sich nicht für Politik.

Mitten im tiefen Winter kam ein zweiter Mann von Aliyah Bet ins Lager, und gemeinsam mit Bar Dror faßte er einen gewagten Entschluß. Die Gruppenleiter wurden zusammengerufen und bekamen den Auftrag, alles für den Abmarsch aus dem Lager vorzubereiten.

»Wir müssen die tschechische Grenze erreichen«, sagte Bar Dror. »Das ist zwar nicht sehr weit, doch der Weg dahin wird schwierig. Wir können uns nicht schneller bewegen als der Langsamste von uns, und wir müssen die Straße vermeiden.« Bar Dror entfaltete eine Karte und zeichnete eine Marschroute von rund hundert Kilometern ein, durch die Karpaten und den Jablonka-Paß.

»Und was wird, wenn wir an die Grenze kommen?« fragte einer. »Wir haben Leute von Aliyah Bet hingeschickt, die die polnischen Grenzwachen bestechen. Wenn wir in die Tschechoslowakei durchkommen, sind wir fürs erste sicher. Jan Masaryk ist unser Freund. Er wird es nicht zulassen, daß man uns wieder zurückschickt.«

Sie brachen mitten in der Nacht von Auschwitz auf, vermieden die Straße und schleppten sich mühsam querfeldein durch den hohen Schnee — ein mitleiderregender Zug von Überlebenden, bei dem die Starken die Schwachen stützten und die Kinder trugen. Sechs schreckliche Tage lang schleppten sie ihre entkräfteten Körper durch die Winterkälte und kämpften sich gegen den schneidenden Wind hinauf ins Gebirge. Wie durch ein Wunder gelang es den Männern von Aliyah Bet, alle am Leben zu erhalten und sie näher und näher an die Grenze heranzuführen.

Längs der Grenze waren andere Männer von Aliyah Bet fieberhaft damit beschäftigt, Bestechungsgelder unter den polnischen Grenzposten zu verteilen, und als sich die abgerissene Karawane der Grenze näherte, kehrten ihr die bestochenen Posten den Rücken, und die Juden waren in der Tschechoslowakei.

Weiter ging der Marsch durch die Kälte, über den Jablonka-Paß hinüber und jenseits ins Tal hinunter, wo sie völlig erschöpft anlangten, ausgehungert, mit wundgelaufenen Füßen und ärztlicher Hilfe bedürftig. Ein Sonderzug stand bereit, organisiert von Mossad Aliyah Bet. Die Flüchtlinge bestiegen die geheizten Wagen und bekamen Nahrung und Pflege. Die erste Etappe der gefährlichen Reise war geglückt.

Jeder Jude, der legal nach Palästina eingewandert war, stellte seinen Paß Mossad Aliyah Bet zur Verfügung, damit ihn ein anderer Einwanderer benutzen konnte. An die Flüchtlinge aus Auschwitz wurden fünfhundert solcher Pässe verteilt, die vorsorglich auch noch mit Einreisevisen für Venezuela, Ekuador, Paraguay und andere südamerikanische Staaten versehen waren. Diese »Dokumente« würden die Engländer zunächst einmal in Schach halten. Die britische CID bekam Wind von den fünfhundert Juden, die von Polen in die Tschechoslowakei gekommen waren und meldete den Fall dem Auswärtigen Amt in London. Whitehall gab dem britischen Botschafter in Prag telegrafisch Anweisung, sich sofort mit dem tschechischen Außenminister Masaryk in Verbindung zu setzen und dafür zu sorgen, daß der Zug angehalten und nach Polen zurückgeschickt werde. Der britische Botschafter, der im Sinne seiner Instruktionen bei Jan Masaryk vorstellig wurde, führte aus, die Aktion des Mossad sei illegal, widerspreche den polnischen Gesetzen und sei von den Zionisten nur unternommen worden, um eine Entscheidung über Palästina zu erzwingen.

Masaryk lächelte. »Ich verstehe zwar nicht viel von den Wegen des Öls, dafür aber sehr viel von den Wegen der Menschen.«

In der diskreten Sprache der Diplomatie deutete der Botschafter indigniert an, daß die Mißachtung britischer Interessen unerfreuliche Auswirkungen für die Tschechoslowakei haben könnte.

»Herr Botschafter«, sagte Masaryk in verändertem Tonfall, »ich werde mich weder dieser noch einer anderen britischen Drohung beugen. So lange ich Außenminister der Tschechoslowakei bin, werden die Grenzen meines Landes für jeden Juden offen sein, gleichgültig ob mit oder ohne Paß und Visum.«

Die Unterredung war beendet, und der Botschafter mußte Whitehall davon unterrichten, daß es nicht möglich gewesen sei, den Zug anzuhalten. Er rollte nach Preßburg weiter und näherte sich der österreichischen Grenze.

Die Engländer unternahmen erneut den Versuch, den Zug anzuhalten, doch diesmal überquerte er unter dem Schutz eines hohen amerikanischen Offiziers die Grenze.

In Wien gab es einen Aufenthalt, den die Überlebenden von Auschwitz dringend nötig hatten. In einem riesigen Ausrüstungslager, das von amerikanischen Juden zur Unterstützung der überlebenden europäischen Juden eingerichtet worden war, wurden sie neu eingekleidet.

Von Österreich ging es nach Italien, und dort genoß Mossad Aliyah Bet die uneingeschränkte Unterstützung der Öffentlichkeit und der amtlichen Stellen. Die Freizügigkeit war nur dadurch behindert, daß das Land von den Engländern besetzt war.

Paradoxerweise bestanden die britischen Besatzungstruppen zum Teil aus Einheiten palästinischer Juden. Die Palästina-Brigade der britischen Armee, deren Einheiten überall im besetzten Italien verteilt waren, hatte beim britischen Oberkommando lange Zeit als Elitetruppe gegolten. Doch dann gingen Agenten von Aliyah Bet zur Palästina-Brigade, und es dauerte nicht lange, da waren die palästinischen Soldaten eifrig damit beschäftigt, Flüchtlingslager zu errichten, die Flüchtlinge auf illegale Einwanderungsschiffe zu schmuggeln und dergleichen mehr. Theoretisch unterstanden die Einheiten britischen Offizieren, praktisch aber unterstanden sie dem Kommando des Palmach und der Aliyah Bet. Schimschon Bar Dror war Sergeant in einer dieser Einheiten und seine britischen Armeepapiere dienten ihm zur Einreise nach Polen und zur Rückkehr von dort, nachdem er die Flüchtlinge in Marsch gesetzt hatte. Es war Frühling, als der Zug mit den Flüchtlingen aus Auschwitz, unter denen sich auch Dov befand, in der Nähe des Comersees auf einem sehr abgelegenen Nebengleis außerhalb von Mailand anhielt. Man hatte den Flüchtlingen zwar vorsorglich mitgeteilt, daß sie von Leuten in Empfang genommen würden, die englische Uniformen trugen, doch es hätte nicht viel gefehlt, daß trotzdem eine Panik ausgebrochen wäre. Soldaten, Männer in Uniform, mit dem Judenstern am Ärmel? Das war für die Überlebenden aus Auschwitz nicht zu fassen. Der Judenstern war immer das Abzeichen des Ghettos gewesen. Mit Ausnahme der Aufstände in den Ghetti hatte seit annähernd zweitausend Jahren kein Jude mehr unter diesem Zeichen gekämpft.

Die polnischen Juden stiegen zögernd und mißtrauisch aus. Die Soldaten, die sie in Empfang nahmen, waren freundlich, sprachen hebräisch, einige von ihnen sogar jiddisch. Doch sie schienen eine ganz andere Art von Juden zu sein.

Eine Woche nach der Ankunft in Mailand wurde eine Gruppe von hundert Leuten, darunter auch Dov, mitten in der Nacht aus dem Lager geholt und auf englische Lastwagen verladen, die von Angehörigen der Palästina-Brigade gefahren wurden. Die Wagenkolonne begab sich in rascher Fahrt zu einem geheimen Treffpunkt an der Küste, wo weitere dreihundert Flüchtlinge aus anderen Lagern dazustießen.

Aus dem nahegelegenen Hafen von Spezia kam ein kleines Fahrzeug heran, das vor der Küste Anker warf. Die Flüchtlinge wurden in Schlauchbooten an Bord gebracht, das Schiff lichtete Anker, ließ die Drei-Meilen-Zone hinter sich und wurde alsbald von der englischen Flotte gesichtet, die beständig auf der Lauer lag.

Doch mit diesem Schiff, der Zinnen von Zion, ging irgend etwas Ungewöhnliches vor. Im Gegensatz zu allen anderen Flüchtlingsschiffen nahm dieses Schiff nicht Kurs auf Palästina, sondern auf den Golfe du Lion. Weder die Engländer noch die Flüchtlinge an Bord der Zinnen von Zion hatten die leiseste Ahnung, daß dieses kleine Fahrzeug nur ein Rädchen in einem gigantischen Plan war.

XXVII.

Bill Fry saß an einem Tisch des Restaurants von Miller Brothers in Baltimore, Maryland, und stocherte in seinem Essen. Er hatte keinen rechten Appetit. Mein Gott, dachte er, ich möchte wirklich wissen, ob ich mit diesem Krautdampfer über den Atlantik komme. Bill Fry galt als der fähigste Kapitän von Mossad Aliyah Bet. Durch seine Landung mit der Stern Davids bei Cäsarea, war die illegale Einwanderung in ein neues Stadium eingetreten. Die Engländer hatten sich gezwungen gesehen, die Internierungslager auf Zypern zu errichten. Das war ein Wendepunkt geworden, denn Mossad Aliyah Bet hatte ein Flüchtlingsschiff nach dem andern nach Palästina fahren lassen, und die Engländer hatten einen Transport Flüchtlinge nach dem andern nach Zypern gebracht. Jetzt war ein neues kritisches Stadium erreicht: die Internierungslager auf Zypern konnten die Massen der illegalen Einwanderer nicht mehr fassen. Mossad Aliyah Bet, stolz auf diesen Erfolg und wild entschlossen, die englische Politik der Einwanderungsbeschränkung zu boykottieren, hatte einen abenteuerlichen Plan gefaßt und Bill Fry dazu ausersehen, ihn durchzuführen.

Das bisher größte Schiff der illegalen Flotte war die Stern Davids gewesen, die fast zweitausend Passagiere befördert hatte. Die anderen Schiffe hatten höchstens tausend Passagiere an Bord gehabt. Die Leute von Mossad Aliyah Bet meinten nun, daß es für die Engländer ein Schlag sein müßte, wenn es gelänge, die Blockade mit einem Schiff zu durchbrechen, das mehr als fünftausend Flüchtlinge an Bord hatte.

Bill wurde beauftragt, hierfür ein geeignetes Schiff ausfindig zu machen und es zum Einwandererschiff umbauen zu lassen. Damit sollte er fünftausend Flüchtlinge aus dem Sammellager La Ciotat in Südfrankreich abholen und nach Palästina bringen. Man fand, es sei das beste, ein solches Schiff in den Vereinigten Staaten oder in Südamerika zu kaufen, wo die Engländer nicht alle Häfen so genau überwachten, wie dies in Europa der Fall war.

Agenten von Mossad Aliyah Bet bereisten Südamerika, während Bill in den Häfen im Golf von Mexiko und an der Ostküste auf die Suche ging. Es zeigte sich bald, daß für das Geld, das zur Verfügung stand, kein brauchbares Schiff zu haben war. Deshalb hatte Bill ein gewagtes Spiel gespielt, und jetzt machte er sich Sorgen. Er hatte einen uralten, altmodischen Dampfer gekauft, der nie den Ozean zu sehen bekommen hatte, sondern immer nur durch die Chesapeake Bay zwischen Baltimore und Norfolk gefahren war. Der einzige Vorzug, den Bill an diesem Schiff, der General Stonewall Jackson, entdecken konnte, war der niedrige Preis, den man für den Dampfer verlangt hatte.

Ein Ober in weißer Jacke kam an den Tisch und fragte Bill: »Ist mit dem Essen irgend etwas nicht in Ordnung, mein Herr?«

»Hm? Nein, nein — das Essen ist prima«, brummte Bill und schob sich einen Löffel voll in den Mund.

War es ein Fehler gewesen, den alten Kasten zu kaufen? Im Augenblick befand er sich auf einer Werft in Newport News, Virginia, und wurde umgebaut, um 6850 Flüchtlinge aufnehmen zu können.

Bill seufzte. Er dachte an die andere Seite der Sache. Angenommen, es gelang ihm, siebentausend Flüchtlinge auf einen Schlag aus Europa wegzubringen! Das würde die bisherige britische Politik praktisch auffliegen lassen!

Bill schob den Teller zurück und verlangte die Rechnung. Er fischte sich den ausgegangenen Zigarrenstummel aus dem Aschenbecher, brannte ihn an und las zum soundsovielten Male das Telegramm aus Newport News: JACKSON FERTIGGESTELLT. In Newport News versammelte Bill am nächsten Tag seine Crew, die aus Palmach- und Aliyah-Bet-Leuten, amerikanischen Juden, sympathisierenden spanischen Loyalsten, Italienern und Franzosen bestand. Er besichtigte das Schiff und machte eine kurze Probefahrt durch die Bucht, dann stellte er den Hebel auf »Volle Kraft voraus« und steuerte auf den Atlantischen Ozean hinaus.

Schon nach drei Stunden hatte die Jackson Maschinenschaden und mußte nach Newport News zurück.

Im Verlauf der nächsten vierzehn Tage unternahm Bill drei weitere Versuche. Sobald sich der alte Kasten etwas weiter aus den ruhigen Gewässern entfernte, an die er gewöhnt war, streikte er, und Bill mußte in den Hafen zurücksteuern.

Schließlich gestand Bill den Leuten von Aliyah Bet, daß er einen Fehler gemacht habe. Mit der Jackson sei einfach nichts zu machen. Doch sie beschworen ihn, das Schiff nochmals gründlich überholen zu lassen und nach einer weiteren Woche einen letzten Versuch zu unternehmen.

Bei diesem fünften Versuch hielt die ganze Crew den Atem an, als der alte Kasten an Cap Henry vorbeidampfte, auf den hohen Ozean hinausfuhr — und nicht streikte, sondern weiterdampfte. Zweiundzwanzig Tage später keuchte die Stonewall Jackson durch den Golfe du Lion und näherte sich dem Hafen von Toulon, der vierzig Meilen von Marseille und nur zwanzig Meilen von dem Flüchtlingssammellager La Ciotat entfernt war. In Frankreich war gerade ein Streik der Lastwagenfahrer im Gange, und die Leute der CID, die mit der Überwachung des Lagers La Ciotat betraut waren, atmeten für einen Augenblick erleichtert auf. Denn solange keine Lastwagen fuhren, war auch nicht mit Flüchtlingsbewegungen zu rechnen. Außerdem war, seit vor mehreren Wochen die Zinnen von Zion in Port-de-Bouc gelandet war, keinerlei Meldung mehr gekommen, daß aus irgendeinem europäischen Hafen ein illegales Schiff unterwegs sei. So überraschte man die Engländer gerade zu dem Zeitpunkt, als sie sich ein Nickerchen gönnten.

Über die Jackson war bei der CID keine Vorwarnung eingegangen, da sie in den Staaten gekauft und umgebaut worden war. Ferner war bisher kein Aliyah-Bet-Schiff so groß gewesen, daß es den Atlantik hätte überqueren können. Kurze Zeit vor dem Eintreffen der Jackson im Hafen von Toulon setzte sich Aliyah Bet mit der Leitung der französischen Transportarbeitergewerkschaft in Verbindung und erklärte den Leuten, worum es sich hier handelte. Die Gewerkschaft organisierte in aller Stille Fahrer und Lastwagen, und während der Streik der Lastwagenfahrer noch überall anhielt, wurden aus dem Lager La Ciotat 6500 Flüchtlinge nach Toulon gebracht. Unter ihnen war auch Dov Landau.

Die CID kam im letzten Augenblick dahinter und eilte nach Toulon. Angehörige des Hafenamtes wurden mit enormen Summen geschmiert, damit sie das Auslaufen der Jackson wenigstens so lange verzögerten, bis die CID Instruktionen aus London erhalten hatte. Mossad Aliyah Bet bestach gleichfalls Beamte des Hafenamtes, um zu erreichen, daß das Schiff auslaufen dürfe, das jetzt nicht mehr Stonewall Jackson, sondern Gelobtes Land hieß und öffentlich die blauweiße Flagge mit dem Davidstern gehißt hatte. Bei der Admiralität, Chatham House, und im Auswärtigen Amt, Whitehall, fanden eilige Besprechungen statt. Es lag auf der Hand, welche Folgen aus einem so großen illegalen Flüchtlingstransport für die englische Politik zu erwarten waren. Die Gelobtes Land mußte unter allen Umständen zurückgehalten werden. London versuchte Paris unter Druck zu setzen. Außerhalb von Toulon erschienen britische Kriegsschiffe. Die Franzosen reagierten auf die Drohungen der Engländer, indem sie der Gelobtes Land die Genehmigung zum Auslaufen erteilten.

Unter dem Jubel der an Bord befindlichen Flüchtlinge lief die Gelobtes Land von Toulon aus. In dem Augenblick, als sie die Drei-Meilen-Zone hinter sich gelassen hatte, wurde sie von den britischen Kreuzern Apex und Dunston Hill in Empfang genommen und begleitet.

Dreieinhalb Tage lang steuerte Bill Fry die Gelobtes Land mit Kurs auf Palästina. Ihr hoher, schmaler Schornstein qualmte, ihre Maschinen ächzten, ihr Deck bog sich unter der Menschenfülle, und ihre Wachhunde, die beiden Kreuzer, hielten Wache.

Die Apex und die Dunston Hill blieben in ständiger Funkverbindung mit der Admiralität in London. Als sich die Gelobtes Land auf rund fünfzig Meilen der Küste von Palästina genähert hatte, durchbrachen die Engländer die Spielregeln der illegalen Einwanderungsblockade. Die Apex kam dicht an den alten Dampfer heran, schoß ihm eine Salve vor den Bug und forderte ihn über Lautsprecher auf, sich bereit zu halten, ein englisches Prisenkommando an Bord zu nehmen.

Bill Fry biß auf seine Zigarre. Er schnappte sich ein Megaphon und ging auf die Brücke. »Wir befinden uns auf hoher See«, rief er zu der Apex hinüber. »Wenn ihr bei uns an Bord kommt, ist das Piraterie!« »Tut mir leid, Jungens, aber Befehl ist Befehl. Seid ihr bereit, unser Prisenkommando ohne Widerstand an Bord zu lassen?«

Bill drehte sich zu dem Palmach-Chef um, der hinter ihm stand und sagte: »Diesen Himmelhunden wollen wir einen Empfang bereiten, der sich gewaschen hat.«

Die Gelobtes Land versuchte, sich mit Volldampf von den Kreuzern zu entfernen. Die Apex ging längsseits, machte eine scharfe Wendung und rammte mit einem starken Stoß ihres stählernen Bugs den alten Kasten mittschiffs. Die Bugspitze drang oberhalb der Wasserlinie tief in die Bordwand und ließ den Dampfer unter dem Anprall erzittern. Dann eröffnete die Apex Maschinengewehrfeuer, um die Flüchtlinge von Deck zu vertreiben und den Weg für das Prisenkommando freizumachen.

Englische Marinesoldaten, ausgerüstet mit Gasmasken und leichten Waffen, sprangen über die Reling der Gelobtes Land und gingen über das Deck in Richtung auf die Aufbauten mittschiffs vor. Die Palmach-Männer versperrten ihnen mit Stacheldraht den Weg und empfingen sie mit einem Steinhagel und Wasserstrahlen aus Hochdruckschläuchen.

Die Engländer wurden dadurch zum Bug zurückgedrängt. Sie hielten sich den Palmach mit Maschinenpistolen vom Leibe und forderten Verstärkung an. Weitere Soldaten kamen an Bord, diesmal mit Drahtscheren. Die Engländer griffen zum zweitenmal an. Abermals wurden sie durch heftige Wasserstrahlen zurückgetrieben, doch erneut gingen sie unter dem Feuerschutz von Maschinengewehren der Apex zum Angriff vor. Sie erreichten die Stacheldrahtbarrikade und wollten sie zerschneiden. Aber der Palmach trieb sie mit Strahlen brühend heißen Dampfes zurück. Jetzt ging der Palmach zum Angriff über. Er überwältigte die Engländer und warf sie einen nach dem andern ins Meer.

Die Apex stellte den Angriff ein, um ihre Männer aus dem Wasser zu fischen, und die Gelobtes Land dampfte noch einmal davon, wenn auch mit einem riesigen Loch in der Flanke. Doch die Dunston Hill setzte ihr nach und holte sie ein. Man überlegte sich an Bord des Kreuzers, ob es ratsam sei, den Dampfer nochmals zu rammen. Das war riskant. Ein zweiter Stoß konnte den alten Kasten zum Sinken bringen. Statt dessen eröffnete die Dunston Hill mit schweren Maschinengewehren das Feuer, bis kein Palmach-Angehöriger und kein Flüchtling mehr an Deck war. Dann kam das Prisenkommando der Dunston Hill mittschiffs mit Strickleitern an Bord. Ein wildes Handgemenge entstand. Die Engländer drängten, mit Gummiknüppeln um sich schlagend und gelegentlich auch einen Schuß abgebend, auf die Leiter zu, die zur Kommandobrücke hinaufführte.

Jetzt erschien auch die Apex wieder auf der Bildfläche, und die beiden Kreuzer nahmen den Dampfer in die Mitte. Das Prisenkommando der Apex kam, geschützt durch einen Vorhang aus Tränengas, erneut an Bord; die Matrosen der Dunston Hill drängten von der anderen Seite, und der Palmach mußte zurückweichen.

Dov Landau kämpfte auch mit. Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen verteidigte er die Leiter zur Brücke. Immer wieder stießen sie die Engländer die Leiter hinunter, bis sie durch Tränengas und Schüsse vertrieben wurden.

Die Engländer, die jetzt die Herrschaft an Bord hatten, holten Verstärkung heran und hielten die Flüchtlinge und den Palmach mit ihren Schußwaffen in Schach, während einige von ihnen das Ruderhaus erstürmten, um das Schiff in ihre Gewalt zu bekommen. Bill Fry und fünf von seiner Crew empfingen die ersten drei Engländer, die in das Ruderhaus eindrangen, mit Pistolen und wütenden Fäusten. Bill, der vollkommen abgeschnitten war, kämpfte trotzdem weiter, bis ihn englische Matrosen aus dem Ruderhaus zerrten und mit Gummiknüppeln erschlugen. Nach einem vierstündigen Kampf, bei dem acht ihrer Leute getötet und an die zwanzig schwer verwundet worden waren, hatten die Engländer das Schiff in ihre Hand bekommen. Von den Juden waren fünfzehn getötet worden, darunter der amerikanische Kapitän Bill Fry.

Im Hafen von Haifa wurden umfassende Maßnahmen zur Absperrung und Geheimhaltung ergriffen, als die Dunston Hill, mit der Gelobtes Land im Schlepptau, herankam. Der alte Dampfer hatte schwere Schlagseite. Das ganze Hafengebiet wimmelte von britischen Truppen. Die sechste Fallschirmdivision war zur Stelle, und die Fallschirmjäger waren bis an die Zähne bewaffnet. Doch das alles nutzte den Engländern nichts. Die Juden hatten bereits einen genauen Bericht der gewaltsamen Aufbringung der Gelobtes Land nach Palästina gefunkt, und der jüdische Rundfunk hatte die Nachricht verbreitet.

Als sich die Schiffe der Bucht von Haifa näherten, riefen die Juden in Palästina den Generalstreik aus. Die Engländer mußten rings um den Hafen Truppen und sogar Tanks einsetzen, um eine trennende Schranke zwischen den Flüchtlingen und den erbitterten PalästinaJuden zu errichten.

Vier britische Schiffe für den Transport von Gefangenen, die Empire Monitor, die Empire Renown, die Empire Guardian und die Magna Charta lagen bereit, um die Flüchtlinge der Gelobtes Land unverzüglich abzutransportieren. Doch in dem Augenblick, in dem der alte amerikanische Küstendampfer in den Hafen geschleppt wurde, erschütterte eine gewaltige Detonation Stadt und Hafen: die Empire Monitor war in die Luft geflogen. Froschmänner des Palmach waren unter Wasser herangeschwommen und hatten eine Haftmine angebracht.

Die Gelobtes Land machte fest, und die Engländer begannen sofort, die Flüchtlinge von Bord zu bringen. Die meisten dieser Flüchtlinge hatten zu Schweres hinter sich, um noch Kampfgeist zu besitzen. Widerstandslos ließen sie sich in die Entlausungsbaracken führen, wo sie nackt ausgezogen, geduscht, nach Waffen durchsucht und auf die drei Transportschiffe gebracht wurden.

Dov Landau und fünfundzwanzig andere hatten sich an Bord der Gelobtes Land in einem Laderaum verbarrikadiert und sich bis zuallerletzt gegen die Briten zur Wehr gesetzt. Die Engländer pumpten den Raum mit Tränengas voll, und Dov, der sich noch immer wehrte, wurde durch vier Soldaten von der Gelobtes Land heruntergeholt, an Bord der Magna Charta gebracht und dort in eine vergitterte Zelle gesperrt.

Die englischen Transportschiffe, auf denen die Flüchtlinge noch enger als auf der Gelobtes Land zusammengepfercht waren, liefen noch in der gleichen Nacht von Haifa aus, begleitet von den beiden Kreuzern, der Dunston Hill und der Apex.

Brachte man die Flüchtlinge in die bereits überfüllten Lager auf Zypern, so hatten die Juden ihr Spiel gewonnen. Weitere sechstausendfünfhundert Juden wären auf diese Weise aus Europa geschafft und der Zahl der Juden hinzugefügt worden, die in Zypern saßen und darauf warteten, nach Palästina zu kommen.

Daher ordneten die Engländer an: »Die Flüchtlinge von der sogenannten Gelobtes Land, die sich an Bord der Empire Guardian, der Empire Renown und der Magna Charta befinden, sind nach Toulon zurückzubringen, dem Hafen, in dem sie sich eingeschifft haben. Von jetzt an werden alle Blockadebrecher, die aufgebracht werden, in die Häfen zurückgebracht, aus denen sie ausgelaufen sind.« Die Männer des Palmach und von Mossad Aliyah Bet, die sich bei den Flüchtlingen an Bord der drei Schiffe befanden, wußten, was sie zu tun hatten. Wenn sich die Flüchtlinge jetzt zurückschicken ließen und in Toulon von Bord gingen, bedeutete das das Ende der illegalen Einwanderung.

Als die drei Transportschiffe in den Golfe du Lion hineinfuhren und nahe der Küste vor Anker gingen, wurden in Toulon von den Engländern vorsorgliche Maßnahmen zum Zweck der Geheimhaltung getroffen. Gleichzeitig teilten die Palmach-Chefs der drei Schiffe den englischen Kapitänen mit: »Wir werden uns nur mit Gewalt an Land bringen lassen.«

Der englische Kommandant, dem die drei Schiffe unterstanden, erbat von der Admiralität in London durch Funkspruch Anweisungen, wie er sich verhalten solle. Whitehall setzte Paris sofort unter Druck und ging beinahe so weit, mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu drohen. Die Franzosen wurden ernstlich gewarnt, Partei für die Juden zu ergreifen oder die Engländer daran zu hindern, die Ausschiffung mit Gewalt vorzunehmen. Vier Tage lang gingen Funksprüche und Instruktionen zwischen London und den Transportschiffen und zwischen Paris und London hin und her. Schließlich verkündete die französische Regierung den Engländern ihren dramatischen Entschluß:

»Die französische Regierung wird eine gewaltsame Ausschiffung der Flüchtlinge weder zulassen noch sich daran beteiligen. Falls die Flüchtlinge wünschen sollten, freiwillig nach Frankreich zurückzukehren, sind sie uns jederzeit willkommen.«

Nachdem sich die Engländer von dem Schock erholt hatten, teilten sie den Flüchtlingen mit, daß sie die Wahl hätten, im Hafen von Toulon von Bord zu gehen oder so lange im Golfe du Lion an Bord zu bleiben, bis sie verreckt wären.

Die Juden an Bord der Empire Guardian, der Empire Renown und der Magna Charta verschanzten sich. Der Palmach organisierte Schulen, gab hebräischen Unterricht, druckte eine Zeitung, gründete ein Theater und versuchte auf alle Weise, die Stimmung aufrechtzuerhalten. Die französische Regierung schickte Tag für Tag von Toulon aus lange Reihen von Barkassen zu den Schiffen hinaus, um die Flüchtlinge mit guten Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen. An Bord der Schiffe kam ein Dutzend Babys zur Welt. Am Ende der ersten Woche hielten die Flüchtlinge unerschütterlich an ihrem Entschluß fest.

An Land erschienen Reporter, die sich für die drei Schiffe zu interessieren begannen und erbittert über die eiserne Geheimhaltung der Engländer waren. Eines Nachts schwamm ein Aliyah-Bet-Mann von Bord der Empire Guardian an Land und teilte der französischen Presse die ganze Story in allen Einzelheiten mit.

Berichte über das Schicksal der Gelobtes Land gingen durch die Presse von Frankreich, Italien, Holland und Dänemark. In allen vier Ländern erschienen Leitartikel, in denen den Engländern heftige Vorwürfe gemacht wurden. Diese Vorwürfe vom Kontinent kamen für die Engländer nicht unerwartet. Man war in London darauf vorbereitet gewesen. Ja, man hatte sich sogar auf noch mehr vorbereitet, hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit der Hartnäckigkeit der Flüchtlinge.

Die Lebensbedingungen auf den Transportschiffen waren miserabel. Es war stickend heiß, und viele der Flüchtlinge waren krank. Dennoch weigerten sie sich an Land zu gehen. Die Angehörigen der britischen Schiffsbesatzungen, die sich nicht in die abgesperrten Unterbringungsräume hineintrauten, wurden allmählich nervös. Am Ende der zweiten Woche waren die Juden unverändert standhaft, und die Aufregung in der Presse nahm zu.

Es verging eine dritte und auch noch eine vierte Woche. Die Entrüstung in der Öffentlichkeit begann sich allmählich zu legen. Doch dann kam der erste Jude freiwillig und ohne Gewaltanwendung an Land. Er war tot. Die Empörung flammte erneut auf. Die Kapitäne der drei Schiffe meldeten nach London, daß die Flüchtlinge entschlossener zu sein schienen denn je. Whitehall geriet von Stunde zu Stunde mehr in Druck. Weitere Leichen mußten in der Öffentlichkeit böses Blut erregen.

Die politischen Drahtzieher beschlossen, einen neuen Dreh zu versuchen. Sie forderten die Flüchtlinge auf, Delegationen zu entsenden, um die Lage zu besprechen und zu verhandeln. Sie wollten eine Kompromißlösung finden, die es ihnen gestattete, aus der ganzen Geschichte herauszukommen, ohne das Gesicht zu verlieren. Doch von allen drei Schiffen bekamen sie die gleichlautende Antwort: »Wir fordern nicht mehr und nicht weniger als Palästina.«

Als in der sechsten Woche der zweite Tote an Land gebracht wurde, stellten die Engländer den Juden ein Ultimatum: Entweder sie sollten an Land kommen oder die Folgen tragen. Es blieb unklar, worin diese Folgen bestehen sollten. Doch als sich die Flüchtlinge auch durch dieses Ultimatum nicht einschüchtern ließen, mußten die Engländer etwas unternehmen: »Die Empire Guardian und die Empire Renown laufen unverzüglich aus. Ziel dieser beiden Schiffe ist Hamburg. Die Passagiere werden dort von Bord gehen oder notfalls von Bord gebracht werden und so lange in einem Internierungslager in der britischen Besatzungszone verbleiben, bis weitere Weisung erfolgt.«

Um das Gesicht nicht ganz zu verlieren, gestatteten die Engländer dem letzten der drei Transportschiffe, der Magna Charta, die an Bord befindlichen Flüchtlinge in Zypern auszuladen, wo sie nach Caraolos gebracht wurden. Dov Landau hatte das Glück, seinen sechzehnten Geburtstag nicht in einem Lager in Deutschland, sondern in Caraolos zu verbringen; doch der Junge bestand nur noch aus Haß.

XXVIII.

Auch seinen siebzehnten Geburtstag erlebte Dov Landau im Lager und hinter Stacheldraht. Er verbrachte ihn genau wie alle Tage. Er lag auf seiner Koje, starrte ins Leere und sprach kein Wort. Er hatte mit keinem Menschen mehr gesprochen, seit man ihn mit Gewalt von Bord der Gelobtes Land heruntergeholt hatte. Während der langen Wochen im Hafen von Toulon war sein Haß immer bitterer geworden.

Hier in Caraolos hatten alle möglichen Leute, Palmach-Angehörige, Wohlfahrtspfleger, Ärzte und Lehrer versucht, durch die Wand seiner Verbitterung an ihn heranzukommen; doch Dov traute keinem und wollte niemanden in seiner Nähe haben. Tagsüber lag er schweigend auf seiner Koje. Nachts wehrte er sich dagegen, einzuschlafen, denn im Schlaf kamen stets die furchtbaren Träume. Er träumte immer wieder davon, wie sich die Türen der Gaskammern von Birkenau geöffnet hatten. Stundenlang konnte Dov dasitzen und auf die Nummer starren, die auf seinem linken Unterarm eintätowiert war: 359195.

Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Zeltstraße, wohnte ein Mädchen. Es war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Das war auch weiter kein Wunder, denn dort, wo er bisher gelebt hatte, konnten die Frauen nicht schön sein. Sie arbeitete als Kindergärtnerin und betreute eine Menge kleinerer Kinder. Sie lächelte ihm jedesmal zu, wenn sie ihn sah, und sie schien gar nicht böse auf ihn zu sein, ihn nicht abzulehnen, wie es alle anderen taten. Dieses Mädchen hieß Karen Hansen-Clement.

Karen erkundigte sich, was mit Dov eigentlich los war und weshalb er nicht am Unterricht oder am Spiel teilnahm. Man warnte sie vor ihm und riet ihr, sich nicht mit ihm einzulassen. Er sei ein »hoffnungsloser Fall«, vielleicht sogar ein gefährlicher Bursche. Diese Warnung hatte auf Karen genau die gegenteilige Wirkung. Sie wußte, daß Dov in Auschwitz gewesen war, und sie hatte grenzenloses Mitleid mit ihm. Schon mehrfach war es ihr gelungen, das Vertrauen Jugendlicher zu gewinnen, mit denen andere nichts hatten anfangen können, und obwohl sie sich sagte, daß es vielleicht besser war, Dov in Ruhe zu lassen, begann sie sich doch immer mehr für ihn zu interessieren, je öfter sie zu seinem Zelt hinübersah.

Eines heißen Tages lag Dov wie üblich auf seiner Koje, starrte vor sich hin und schwitzte. Plötzlich fuhr er hoch. Er spürte, daß jemand zugegen war. Als er Karen vor sich stehen sah, erstarrte er.

»Ich wollte dich fragen, ob du mir deinen Wassereimer borgst«, sagte sie. »Meiner ist undicht, und der Wasserwagen wird gleich kommen.«

Dov starrte sie an und blinzelte nervös.

»Ich hatte dich gefragt, ob ich mir einmal deinen Wassereimer ausleihen darf.«

Dovs Antwort bestand in einem Knurren.

»Was soll das heißen—ja oder nein? Kannst du denn nicht reden?« Sie sahen sich an wie zwei Kampfhähne. Karen tat es schon leid, daß sie überhaupt gekommen war. Sie holte tief Luft. »Ich heiße Karen«, sagte sie. »Ich wohne schräg gegenüber.«

Dov sagte noch immer nichts. Er starrte sie nur schweigend an.

»Also — darf ich deinen Eimer nehmen oder nicht?«

»Was willst du eigentlich hier? Bist du auch hergekommen, um große Worte zu machen?«

»Nein«, sagte Karen, »ich bin hergekommen, weil ich mir deinen Eimer ausleihen wollte. Du bist wirklich niemand, über den man große Worte machen könnte.«

Er wandte sich ab, setzte sich auf die Kante seiner Koje und kaute an den Nägeln. Ihre Direktheit entwaffnete ihn. Er deutete mit der Hand auf den Wassereimer, der auf der Erde stand. Karen hob ihn auf. Dov warf ihr von der Seite einen kurzen Blick zu.

»Sag mal, wie heißt denn du? Ich wüßte gern, wie ich dich nennen soll, wenn ich dir den Eimer wiederbringe.«

Dov blieb stumm.

»Nun sag schon — na?«

»Dov!«

»Und ich heiße Karen. Vielleicht kannst du das nächstemal, wenn wir uns sehen, Tag, Karen, zu mir sagen. Das wär' doch schon was —, wenn du auch ein finsteres Gesicht dabei machst.«

Sehr langsam wandte er sich wieder zu ihr herum, doch sie war nicht mehr da. Er ging zum Ausgang des Zeltes und sah ihr nach, wie sie zu dem Wasserwagen ging, der eben vorbeigekommen war. Er fand sie sehr schön.

Es war das erstemal seit vielen Monaten, daß von außen irgend etwas an Dov Landau herangekommen war. Diese Karen war so ganz und gar anders als alle anderen, die mit ihm zu reden versuchten. Sie war kurz angebunden und schnippisch und ein bißchen scheu, gleichzeitig strahlte etwas von ihr aus, etwas Zärtliches. Sie hielt keine großen Reden, betete nicht irgend etwas her, was sie nicht meinte. Sie war genau wie er in Caraolos eingesperrt, doch sie beklagte sich nicht darüber und schien auch nicht verbittert zu sein wie all die anderen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, die aber auch sehr energisch sein konnte.

»Da hast du deinen Eimer wieder«, sagte Karen, »und vielen Dank auch. — Auf Wiedersehen, Dov.«

Dov brummte vor sich hin.

»Ach, richtig, du bist ja der, der nicht redet, sondern brummt. In meinem Kindergarten habe ich einen kleinen Jungen, der ist genauso. Allerdings behauptet er, er wäre ein Löwe.«

»Auf Wiedersehen!« brüllte Dov, so laut er konnte.

Die Tage verstrichen in der Gleichförmigkeit des Lagers, und doch war irgend etwas anders geworden. Dov war nach wie vor stumm, mürrisch und in sich gekehrt, aber immer häufiger kam es vor, daß er nicht an den Tod dachte und an seinen Haß. Er hörte die Stimmen der Kinder vom Spielplatz, und er hörte, wie Karen mit den Kindern sprach. Das erschien Dov ganz sonderbar. In der ganzen Zeit in Caraolos hatte er noch nie die Stimmen der spielenden Kinder gehört. Er hörte sie erst, seit er Karen kennengelernt hatte.

Eines Nachts stand Dov am Stacheldraht und sah zu, wie der Kegel des Scheinwerfers über die Reihen der Zelte glitt. Er stand oft nachts am Stacheldraht und sah den Scheinwerfern zu. Er hatte noch immer Angst vor dem Einschlafen. Auf dem Spielplatz hatte die Palmach-Gruppe ein Feuer gemacht, saß darum herum und sang und tanzte. Dov hatte diese Lieder früher auch einmal gesungen, bei den Zusammenkünften der Bauleute. Doch er mochte sie jetzt nicht mehr hören. Damals waren Mundek und Ruth und Rebekka dabeigewesen. »Hallo, Dov!«

Er fuhr herum und sah Karen in der Dunkelheit vor sich stehen. »Hast du keine Lust, zum Feuer mitzukommen?« fragte Karen. Sie kam näher an ihn heran, doch er wandte ihr den Rücken zu.

»Du magst mich doch, nicht wahr? Mit mir kannst du doch reden. Warum willst du nicht mitmachen, wenn wir zusammenkommen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Dov —«, sagte sie mit leiser Stimme.

Er fuhr herum und sah sie wütend an. »Armer Dov!« rief er. »Der arme Irre! Du bist genau wie alle anderen! Du redest bloß sanfter!« Dov griff nach ihr, legte die Hände um ihren Hals und drückte ihr die Kehle zu. »Laß mich in Ruhe — hörst du — laß mich in Ruhe!« Karen sah ihm fest in die Augen. »Nimm deine Hände von meinem Hals, augenblicklich.«

Er ließ die Arme sinken. »Ich wollte dir nichts tun«, sagte er. »Ich wollte dich nur erschrecken.«

»Erschreckt hast du mich nicht«, sagte sie und ging.

Eine Woche lang sah ihn Karen weder an, noch sprach sie mit ihm. Dov plagte die Unruhe. Es war ihm unmöglich, wie früher stundenlang dazuliegen und vor sich hinzustarren. Den ganzen Tag ging er ruhelos im Zelt auf und ab. Früher war er mit seinen Gedanken allein gewesen. Jetzt konnte er überhaupt nicht mehr denken!

Eines Abends war Karen mit ihren Kindern auf dem Spielplatz. Ein kleiner Junge fiel beim Spielen hin und fing an zu weinen. Sie kniete sich zu ihm nieder, legte die Arme um ihn und tröstete ihn. Irgend etwas veranlaßte sie, den Blick zu heben. Vor ihr stand Dov. »Tag, Karen«, sagte er kurz und ging rasch wieder davon.

Die anderen hatten Karen zwar davor gewarnt, sich mit Dov einzulassen. Doch Karen wußte es besser. Sie wußte, daß er verzweifelt war, daß er einen Menschen brauchte, und daß dieses kurze »Tag, Karen« seine Form dafür war, sie um Verzeihung zu bitten.

Ein paar Tage später fand sie abends auf ihrem Bett eine Zeichnung: sie stellte ein kniendes Mädchen dar, das einen kleinen Jungen im Arm hielt. Dahinter war Stacheldraht. Sie ging hinüber zu Dovs Zelt, aber Dov drehte ihr den Rücken zu, als er sie kommen sah.

»Du bist ein sehr guter Zeichner«, sagte Karen.

»Muß ich ja wohl«, sagte er bissig. »Hab' ja viel Übung gehabt. Meine Spezialität sind George Washington und Abraham Lincoln.« Er saß unbehaglich auf seiner Koje und biß sich auf die Lippe. Karen setzte sich neben ihn. Ihm war sonderbar zumute, denn er hatte, seine Schwestern ausgenommen, noch nie so nahe neben einem Mädchen gesessen. Sie berührte mit dem Finger die blaue Nummer, die auf seinem linken Unterarm eintätowiert war, und fragte: »Auschwitz?«

»Warum gibst du dich eigentlich mit mir ab?«

»Bist du noch nie auf den Gedanken gekommen, ich könnte dich vielleicht gern haben?«

»Mich gern haben?«

»Du siehst sehr nett aus, wenn du nicht gerade eine finstere Miene machst — was allerdings, das muß ich zugeben, meistens der Fall ist, und du hast eine sehr nette Stimme, wenn du mal nicht brummst oder knurrst.«

Seine Lippen zitterten. »Ich — ich mag dich auch gern. Du bist nicht so wie all die andern. Du verstehst mich. Mundek, mein Bruder, der verstand mich auch.«

»Wie alt bist du?«

»Siebzehn«, sagte Dov. Dann sprang er plötzlich auf, fuhr herum und fauchte: »Wie ich sie hasse, diese gottverdammten Engländer. Sie sind nicht besser als die Deutschen.«

»Dov!«

Der heftige Ausbruch war so schnell vorbei, wie er gekommen war. Und doch, es war ein Anfang. Er hatte seinem Herzen Luft gemacht. Es war seit einem Jahr das erstemal, daß er mehr als ein oder zwei Worte hintereinander gesprochen hatte.

Dov war gern mit Karen zusammen. Er freute sich, wenn sie zu ihm kam, weil sie zuhören konnte und weil sie ihn verstand. Er konnte ihr manchmal eine Weile ganz ruhig irgend etwas erzählen. Dann auf einmal brachen die Erbitterung und der Haß aus ihm heraus. Hinterher zog er sich wieder in sich selbst zurück und versank in düsteres Schweigen.

Karen faßte allmählich Zutrauen zu ihm und erzählte ihm, wie es wäre, wenn sie ihren Vater in Palästina wiedersähe. In der ganzen Zeit, seit Karen von den Hansens weggegangen war, hatte sie immer soviel Arbeit mit den Kleinen gehabt, daß sie nie die Zeit gefunden hatte, sich mit einem Menschen wirklich anzufreunden. Dov schien stolz zu sein, daß sie gern mit ihm über all diese Dinge redete, und sie — ja, das war sonderbar, aber sie fand es auch sehr schön, sie ihm erzählen zu können.

Eines Tages geschah etwas sehr Bedeutsames: Dov Landau lächelte, zum erstenmal, nach langer, langer Zeit.

XXIX.

Es waren nur noch vierundzwanzig Stunden bis zu der letzten, der entscheidenden Phase des Unternehmens Gideon. Ari ben Kanaan versammelte seine Leute im Haus von Mandria.

David ben Ami übergab Ari die Listen und die Papiere für die Verlegung, die Dov Landau soeben fertiggestellt hatte. Ari prüfte sie und meinte, der Junge sei ein wahrer Künstler. Niemand konnte die Echtheit dieser Dokumente bezweifeln. David erstattete Meldung über den Umbau und die Ausrüstung der Exodus, wobei man an alles gedacht hatte, angefangen von allgemeinen Sicherheitsmaßnahmen bis zu koscherem Konservenfleisch für die strenggläubigen Kinder. Joab Yarkoni, der Marokkaner, meldete, daß alle Lastwagen fahrbereit seien und innerhalb von zwanzig Minuten vom Lager der 23. Transportkompanie aus in Caraolos sein könnten. Er gab ferner die genauen Zeiten für die Fahrt von Caraolos nach Kyrenia auf den einzelnen Strecken an.

Seew Gilboa sagte, daß die dreihundertundzwei Kinder innerhalb von Minuten auf den Wagen verladen sein könnten, und daß er den Kindern erst unmittelbar vor der Abfahrt bekanntgeben werde, wohin die Reise gehe.

Hank Schlosberg, der amerikanische Skipper der Exodus, sagte, er werde bei Morgengrauen in Larnaca abfahren und Kurs auf Kyrenia nehmen, um mindestens ein bis zwei Stunden vor der voraussichtlichen Ankunft der Wagenkolonne im Hafen einzutreffen. Mandria meldete, daß er längs der ganzen Fluchtstrecke Späher postiert habe, die die Wagenkolonne auf jede auffällige Aktivität der Engländer aufmerksam machen könne. Desgleichen habe er Späher auf einem halben Dutzend Ausweichstrecken postiert. Mandria sagte, er werde, wie befohlen, hier in seinem Haus in Famagusta warten. Wenn die Wagenkolonne vorbeigekommen sei, werde er augenblicklich Mark Parker in Kyrenia anrufen.

Ari stand auf und sah seine Leute an. Sie waren nervös, alle miteinander. Sogar Yarkoni, der sonst die Ruhe selbst war, starrte auf den Fußboden. Ari lobte seine Mitarbeiter nicht, und er wünschte ihnen auch nicht Hals- und Beinbruch. Für anerkennende Worte war im Augenblick keine Zeit, und daß alles gut ging, dafür würden sie schon selber sorgen.

»Ich hatte ursprünglich die Absicht, die Kinder erst in drei Tagen nach Kyrenia zu bringen«, sagte er. »Ich wollte warten, bis die Engländer selbst angefangen hätten, Kinder aus dem Lager von Caraolos in das neue Lager zu überführen. Inzwischen haben wir jedoch erfahren, daß Major Alistair Verdacht geschöpft hat. Es besteht sogar Grund zu der Annahme, daß er sich über Brigadier Sutherlands Kopf hinweg mit London in Verbindung gesetzt und um Anweisungen gebeten hat. Deshalb müssen wir sofort handeln. Unsere Lastwagen sind morgen früh neun Uhr in Caraolos. Ich hoffe, Herr Mandria, daß wir bis gegen zehn Uhr die Kinder verladen haben und mit unserer Wagenkolonne hier an Ihrem Haus vorbeikommen werden. Von dem Augenblick an, da wir von der Straße nach Larnaca abbiegen, haben wir zwei kritische Stunden vor uns. Wir haben absolut keinen Grund anzunehmen, daß man unsere Kolonne anhalten wird. Die Wagen der 23. Transportkolonne sind in ganz Zypern bekannt. Dennoch, wir müssen damit rechnen, daß wir verdächtigt werden könnten. Gibt es noch irgendwelche Fragen?« Keine Fragen.

David ben Ami, sentimental wie er nun einmal war, konnte die Gelegenheit ohne einen Trinkspruch nicht vorbeigehen lassen. Diesmal hatte auch Ari nichts gegen die Unbekümmertheit seines Freundes einzuwenden.

»Le Chajim«, sagte David, indem er sein Glas hob.

»Le Chajim«, fielen die anderen ein.

»Ich habe dieses ,Le Chajim' von euch schon so oft gehört«, sagte Mandria. »Was bedeutet es?«

»Es heißt ,Zum Leben'!« antwortete David, »und für Juden ist das wahrhaftig keine geringe Forderung.«

»Zum Leben!« wiederholte Mandria. »Ein gutes Wort!«

Ari ging zu Mandria und umarmte ihn, so wie es beim Palmach üblich war. »Sie waren uns ein guter Freund«, sagte er. »So, und jetzt muß ich zu Parker.«

Mandria strahlte, und die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Daß Ari ihn umarmt hatte, wie sich sonst nur die Männer des Palmach untereinander umarmten, bedeutete, daß man ihn als einen der ihren anerkannt hatte.

Eine halbe Stunde später traf sich Ari, nunmehr als Captain Caleb Moore, mit Mark auf der Terrasse des King George. Mark war ein Nervenbündel. Ari nahm Platz.

»Nun?« fragte Mark ungeduldig.

»Morgen. Um neun sind wir in Caraolos.«

»Ich dachte, Sie wollten warten, bis die Engländer angefangen hätten, die Kinder zu verlegen?«

»Ja, das wäre auch besser gewesen, aber wir können nicht länger warten. Einer unserer Vertrauensleute bei der CID hat uns mitgeteilt, daß Alistair Lunte gerochen hat.« Mark machte ein besorgtes Gesicht. »Kein Grund zur Aufregung«, sagte Ari, »die Sache ist schon so gut wie vorbei. Die Engländer haben zwar Verdacht geschöpft, aber sie wissen noch nicht, auf was. Also, jetzt sind Sie im Bilde.«

Mark nickte. Er werde ein Telegramm nach London schicken, mit der Bitte, seinen Urlaub zu verlängern. Durch die Unterschrift »Mark« wisse Bradbury, daß das Unternehmen Gideon geglückt sei, und könne Parkers Bericht an die Presse weitergeben.

»Und was, wenn ich bis zehn keinen Anruf von Mandria habe?«

Ari lächelte. »Dann würde ich Ihnen vorschlagen, schleunigst aus Zypern abzuhauen; es sei denn, Sie wollen als Berichterstatter meiner Hinrichtung beiwohnen.«

»Könnte eine nette Story ergeben«, antwortete Mark.

»Übrigens«, sagte Ari und sah beiläufig auf das Meer hinaus, »Kitty ist gar nicht mehr im Lager gewesen, seit wir Karen auf die Liste für die Exodus setzen mußten.«

»Stimmt. Sie ist bei mir, im Dom-Hotel.«

»Und wie geht es ihr?«

»Wie soll es ihr gehen? Natürlich miserabel. Sie möchte nicht, daß Karen auf die Exodus mitgeht. Können Sie ihr das verübeln?«

»Ich mache ihr keinen Vorwurf. Sie tut mir leid.«

»Nett von Ihnen. Ich wußte gar nicht, daß Ihnen jemand leid tun kann.«

»Ich bedauere es, daß sie ihrem Gefühl erlaubt hat, mit ihr durchzugehen.«

»Ach, richtig, für Sie existieren doch keine menschlichen Gefühle. Das hatte ich ganz vergessen.«

»Sie sind nervös, Mark.«

Aris kühle Gelassenheit machte Mark wütend. Er mußte daran denken, wie verzweifelt Kitty gewesen war, als sie ihm erzählt hatte, Karen würde auf das Schiff mitgehen. »Was wollen Sie eigentlich? Kitty hat in ihrem Leben mehr gelitten, als ein Mensch überhaupt leiden darf.«

»Gelitten?« sagte Ari. »Ich bezweifle, daß Kitty Fremont überhaupt weiß, was dieses Wort bedeutet.«

»Zum Teufel mit Ihnen, Ben Kanaan, hol Sie der Teufel! Glauben Sie, daß die Juden das Recht zu leiden gepachtet haben?«

Mark stand auf und wollte gehen. Ari ergriff ihn am Arm und hielt ihn fest. Zum erstenmal erlebte Mark bei Ben Kanaan, daß ihn seine ruhige Gelassenheit verließ. Es blitzte zornig in Aris Augen. »Verdammt noch mal — begreifen Sie denn gar nicht, um was es hier geht? Denken Sie vielleicht, das wäre eine Landpartie? Wir nehmen es morgen mit dem britischen Empire auf, und es geht hart auf hart!«

Er ließ Marks Arm los und beherrschte sich sofort wieder. Fast tat er Mark im Augenblick ein kleines bißchen leid. Ari verstand sich vielleicht besser zu beherrschen, doch auch bei ihm machte sich die Spannung allmählich bemerkbar.

Einige Stunden später war Mark wieder im Dom-Hotel in Kyrenia. Er klopfte an Kittys Tür. Sie zwang sich zu einem matten Lächeln, doch Mark sah ihren Augen an, daß sie geweint hatte.

»Morgen geht es los«, sagte er.

Kitty erstarrte. »Schon so bald?«

»Ja, sie fürchten, die Engländer könnten irgendwas gemerkt haben.« Kitty ging ans Fenster und sah hinaus. Es war ein strahlend klarer Abend. Sogar der schwache Streifen der türkischen Küste war zu sehen. »Ich habe versucht, meinen ganzen Mut zusammenzunehmen, wollte meine Koffer packen und abreisen«, sagte sie. »Aber ich kann nicht.«

»Hör zu«, sagte Mark. »Sobald die Sache hier vorbei ist, fahren wir beide zusammen für ein paar Wochen an die Riviera.«

»Ich dachte, du müßtest nach Palästina?«

»Ich weiß nicht, ob die Engländer mich nach dieser Geschichte dort noch hineinlassen. Kitty, ich habe ein scheußlich schlechtes Gewissen, daß ich dich in die ganze Sache mit hineingezogen habe.« »Es ist nicht deine Schuld, Mark.«

»Das hast du schön gesagt, aber es stimmt nicht. Wirst du damit fertigwerden?«

»Doch, ich glaube schon. Ich hätte es wissen müssen. Du hattest mich gewarnt. Und mir war von Anfang an klar, daß ich mich auf sehr schwankendem Boden bewegte. Weißt du, Mark — es ist sonderbar, wir haben noch darüber gestritten, an dem Abend, an dem ich Ben Kanaan kennenlernte. Ich hatte damals zu dir gesagt, mit den Juden sei irgend etwas eigenartig. Sie sind eben doch anders als wir.«

»Jedenfalls haben sie eine unwahrscheinliche Fähigkeit, in Schwierigkeiten zu geraten«, sagte Mark. »Das scheint geradezu ihr Hobby zu sein.« Mark stand auf und rieb sich die Stirn. »Also — es mag sein, wie es will, essen könnten wir eigentlich trotzdem. Ich bin hungrig.«

Kitty lehnte in der Tür, während Mark das Gesicht in kaltes Wasser tauchte. Er suchte nach dem Handtuch, und sie reichte es ihm.

»Mark — es wird sehr gefährlich sein auf der Exodus, nicht wahr?« Er zögerte einen Augenblick. Es hat keinen Sinn, ihr jetzt noch etwas vorzumachen. »Die Exodus ist eine schwimmende Bombe«, sagte er.

»Sag mir die Wahrheit, Mark. Kann diese Sache überhaupt gutgehen?«

»Da dieses gefühllose Monstrum, dieser Ari ben Kanaan, das Unternehmen leitet, besteht immerhin eine gewisse Chance.«

Die Sonne ging unter, und es war Nacht. Mark saß in Kittys Zimmer, und beide schwiegen.

»Es hat keinen Sinn, die ganze Nacht aufzubleiben«, sagte er schließlich.

»Bitte bleib da«, sagte Kitty. »Ich lege mich nur aufs Bett.« Sie griff in den Nachttischkasten und holte zwei Schlaftabletten heraus. Dann machte sie das Licht aus, wandte sich um und versuchte Schlaf zu finden.

Mark setzte sich ans Fenster und sah der Brandung zu, die an den Strand schlug. So vergingen zwanzig Minuten. Mark drehte sich um und sah zu Kitty hinüber. Sie schien eingeschlafen zu sein, wälzte sich aber unruhig hin und her. Er ging an ihr Bett, blieb eine Weile bei ihr stehen und sah sie an. Dann deckte er sie mit einer Decke zu und ging wieder zu seinem Stuhl zurück.

In Caraolos saß Karen mit Dov in einer Koje. Beide waren zu aufgeregt, um schlafen zu können. Sie sprachen leise miteinander. Von allen Kindern wußten nur sie allein, was der morgige Tag bringen würde.

Schließlich gelang es Karen, Dov zu überreden, sich auszustrecken. Als ihm die Augen zufielen, stand sie auf. Eine seltsame Empfindung ging durch ihren Körper. Etwas, was sie nicht verstand und wovor sie fast ein wenig erschrak. Dov bedeutete ihr mehr, als ihr bisher bewußt gewesen war. Es war nicht nur Mitleid, was sie für ihn empfand. Es war noch etwas anderes, etwas Unverständliches.

Sie wäre gern zu Kitty gegangen, um mit ihr darüber zu reden. Doch Kitty war nicht da.

Bei der 23. Transportkompanie SMJSZ lagen drei Männer auf ihren Feldbetten, mit offenen Augen, hellwach.

Seew Gilboa wagte zum erstenmal seit fast einem Jahr wieder an den Frühling in Galiläa zu denken, an die Felder seines Dorfes, an seine Frau und sein Kind. Joab Yarkoni dachte an Sdot Yam, das Fischerdorf, und wie schön es wäre, wieder mit seinem Trawler hinaus zum Fischen fahren zu können. Er stellte sich das Wiedersehen mit seinem Bruder und seiner Schwester vor.

Und David ben Ami dachte an Jerusalem, das er fast ebenso heiß liebte wie Jordana, Aris Schwester.

Die drei Männer waren sich darüber klar, daß sie vielleicht nur kurze Zeit in Palästina bleiben würden; denn sie waren Palmach- und Aliyah-Bet-Angehörige und konnten jederzeit an irgendeiner anderen Stelle gebraucht werden. Doch in dieser Nacht dachten sie alle an ihr Zuhause.

Brigadier Bruce Sutherland erwachte wieder einmal aus einem seiner quälenden Träume. Er zog sich an, verließ das Haus und ging einsam durch das nächtliche Famagusta. Er war müde, sehr müde und erschöpft, und er fragte sich, ob es für ihn jemals wieder eine Nacht geben würde, in der er ruhig schlafen konnte.

Mandria lief unruhig hin und her in dem Raum, in dem sich die Männer von Mossad Aliyah Bet so oft versammelt hatten. Mandria und andere Griechen auf Zypern, die gleich ihm mit den Juden zusammenarbeiteten, begannen allmählich an die Möglichkeit einer Widerstandsbewegung der Griechen gegen die Herrschaft der Engländer auf Zypern zu denken.

Ein Mann aber schlief fest und tief. Ari ben Kanaan schlief wie ein satter Säugling, so als ob auf der ganzen Welt Frieden herrschte. Zwanzig Minuten vor neun Uhr morgens bestieg Ari ben Kanaan, in seiner Verkleidung als Captain Calep Moore, den Jeep an der Spitze der Kolonne von zwölf Lastwagen der 23. Transportkompanie. Am Steuer eines jeden Wagens saß ein Palmach-Mitglied in englischer Uniform. Die Kolonne setzte sich in Bewegung und hielt zwanzig Minuten später vor dem Verwaltungsgebäude des Lagers Caraolos. Ari ging hinein und klopfte bei dem Lagerkommandanten an, dessen Bekanntschaft er in den letzten drei Wochen gemacht und sorgsam gepflegt hatte.

»Guten Morgen, Sir«, sagte Ari.

»Guten Morgen, Captain Moore. Was führt Sie zu mir?«

»Wir haben von der Kommandantur einen eiligen Sonderauftrag bekommen, Sir. Das Lager in Larnaca scheint schneller fertigzuwerden, als man erwartet hatte. Ich soll schon heute einen Teil der Kinder hinüberbringen.« Ari legte die gefälschten Papiere auf den Schreibtisch des Lagerkommandanten.

Der CO blätterte die Listen durch. »Davon steht nichts auf unserem Verlegungsplan«, sagte er. »Die Verlegung der Kinder sollte erst in drei Tagen beginnen.«

»Kommt aber von der Kommandantur, Sir«, sagte Ari.

Der CO biß sich nachdenklich auf die Lippe, sah Ari an, prüfte nochmals die Papiere und hob dann den Hörer ab. »Hallo — hier Potter. Captain Moore hat Anweisung, dreihundert Kinder aus Sektion 50 in das neue Lager zu bringen. Weisen Sie ein ArbeitsKommando an, den Transport schleunigst zusammenzustellen.« Der CO nahm seinen Füller und zeichnete die Verlegungspapiere ab. »Mhm, was ich noch sagen wollte, Moore — besten Dank für den Whisky, den Sie uns geschickt haben.«

»War mir ein Vergnügen, Sir.«

Ari nahm die Papiere wieder an sich. Der CO seufzte. »Juden kommen und Juden gehen«, sagte er.

»Ja, Sir«, sagte Ari. »Sie kommen — und sie gehen.«

Im Zimmer von Mark war der Frühstückstisch am Fenster gedeckt. Kitty und Mark hatten kaum etwas gegessen, und in Marks Aschenbecher häuften sich die Kippen.

»Wie spät ist es?« fragte Kitty zum fünfzehntenmal.

»Gleich halb zehn«, sagte Mark. Dann zeigte er aufs Meer hinaus und sagte: »Da, sieh doch mal.«

Draußen erschien die altehrwürdige Aphrodite/Exodus und näherte sich langsam dem Hafeneingang.

»Großer Gott!« sagte Kitty. »Ist das die Exodus?«

»Ja, das ist sie.«

»Mein Gott, Mark — das Schiff sieht aus, als würde es im nächsten Augenblick auseinanderfallen.«

»Allerdings.«

»Aber wie um alles in der Welt wollen sie denn auf diesem Schiff dreihundert Kinder unterbringen?«

Mark brannte sich eine neue Zigarette an. Er wäre gern aufgestanden und im Zimmer umhergegangen, doch er wollte Kitty nicht merken lassen, wie unruhig er war.

Neun Uhr dreißig.

Neun Uhr vierzig.

Die Exodus passierte den Leuchtturm und gelangte durch die schmale Einfahrt in den Hafen von Kyrenia.

Neun Uhr fünfzig.

»Mark, bitte setz dich hin. Du machst mich ganz nervös.«

»Wir müßten eigentlich bald einen Anruf von Mandria haben. Es kann jetzt jede Minute soweit sein.«

Zehn Uhr.

Zehn Uhr fünf.

Sechs Minuten nach zehn. Sieben Minuten nach zehn.

»Verdammt! Wo bleibt denn der Kaffee, den ich bestellt hatte? Kitty, geh doch mal in dein Zimmer und ruf unten an, ja? Sag ihnen, sie sollen endlich den Kaffee herauf bringen.«

Zehn Uhr fünfzehn.

Der Kaffee wurde gebracht.

Zehn Uhr siebzehn. Marks Nervosität ließ nach. Er wußte: wenn er in den nächsten zehn Minuten nichts von Mandria hörte, dann war irgendwas schiefgegangen.

Zehn Uhr zwanzig. Das Telefon klingelte!

Mark und Kitty sahen sich einen Augenblick an. Mark wischte sich den Schweiß von der Handfläche, holte tief Luft und nahm den Hörer ab.

»Hallo.«

»Mr. Parker.«

»Am Apparat.«

»Einen Augenblick bitte, Sie werden aus Famagusta verlangt.« »Hallo — hallo — hallo.«

»Parker?«

»Am Apparat.«

»Hier ist Mandria.«

»Ja?«

»Sie sind soeben hier durchgekommen.«

Mark legte langsam den Hörer auf. »Er hat sie also tatsächlich aus dem Lager herausbekommen. Sie fahren jetzt auf der Straße nach Larnaca. In rund fünfzehn Minuten werden sie abbiegen und in nördlicher Richtung davonbrausen. Es ist eine Strecke von rund fünfzig Meilen, größtenteils durch flaches Land. Nur einmal müssen sie über einen Paß, falls sie nicht einen Umweg machen müssen. Sie müßten also kurz nach zwölf hier sein, wenn alles klargeht. Komm,

Kitty, jetzt brauchen wir ja nicht mehr hier zu warten.«

Er nahm seinen Feldstecher, ging mit Kitty nach unten zum Empfang und verlangte ein Telegrammformular.

KENNETH BRADBURY AMERICAN NEWS SYNDICATE LONDON

NETTE BEKANNTSCHAFT GEMACHT STOP ERBITTE ZWEI WOCHEN URLAUBSVERLÄNGERUNG. MARK »Geben Sie das bitte auf, als dringendes Telegramm. Wie lange wird das dauern?«

Der Portier sah auf das Formular und sagte: »Es wird in ein paar Stunden in London sein.«

Mark und Kitty verließen das Hotel und gingen zum Hafen.

»Was war das für ein Telegramm?« fragte Kitty.

»Das war das verabredete Signal, daß mein Bericht heute abend an die Presse gehen soll.«

Am Kai blieben sie eine Weile stehen und sahen zu, wie der gebrechliche Kahn im Hafen festmachte. Dann nahm Mark Kittys Arm. Sie gingen hinüber auf die andere Seite des Hafens und stiegen auf den Turm des Kastells. Von hier oben konnten sie sowohl den Hafen sehen als auch weit die Küstenstraße hinunter, auf der die Wagenkolonne ankommen mußte.

Gegen elf Uhr fünfzehn richtete Mark seinen Feldstecher auf diese Straße, die sich am Meer entlangzog, in Windungen hinter den Hügeln verschwand und wieder hervorkam. Der Paß über das Gebirge war zu weit entfernt, um ihn von hier aus sehen zu können. Plötzlich erstarrte er: er hatte einen Staubschleier gesichtet und jetzt erkannte er eine Reihe von Lastwagen, klein wie Ameisen. Er stieß Kitty an und gab ihr das Glas. Sie hielt es auf die Wagen gerichtet, die auf der sich schlängelnden Straße auftauchten, verschwanden, von neuem sichtbar wurden und sich langsam auf Kyrenia zu bewegten.

»Sie sind ungefähr noch eine halbe Stunde entfernt.«

Sie stiegen von dem Turm wieder herunter, gingen wieder auf die andere Seite des Hafens und blieben am Ende des Kais stehen. Von hier waren es nur fünf Minuten zum Dom-Hotel. Als die Wagenkolonne das Krankenhaus am Stadtrand passierte, nahm Mark Kitty bei der Hand und ging mit ihr zum Hotel zurück.

Dort begab sich Mark in eine Telefonzelle und ließ sich dringend mit dem Britischen Intelligence Service in Famagusta verbinden.

»Ich hätte gern Major Alistair gesprochen«, sagte Mark. Er hielt ein Taschentuch über die Sprechöffnung und sprach mit englischem Akzent.

»Verzeihung, wer spricht dort, und um was handelt es sich, bitte?« »Hören Sie mal«, sagte Mark, »dreihundert Juden sind aus Caraolos entflohen. Also stellen Sie jetzt gefälligst keine dummen Fragen, sondern verbinden Sie mich mit Alistair.«

Der Apparat auf Major Alistairs Schreibtisch läutete.

»Hier Alistair«, sagte er mit seiner leisen Stimme.

»Hier ist ein guter Freund«, sagte Mark. »Ich wollte Ihnen nur melden, daß mehrere hundert Juden aus Caraolos ausgebrochen sind und sich in diesem Augenblick im Hafen von Kyrenia an Bord eines Schiffes begeben.«

Dann legte er auf.

Alistair drückte mehrfach rasch auf die Gabel. »Hallo, wer spricht denn da? Hallo — hallo!« Er legte den Hörer hin und nahm ihn sofort wieder ab. »Hier Alistair. Ich habe soeben eine Meldung über die Flucht von dreihundert Juden bekommen. Sie sollen sich in Kyrenia an Bord eines Schiffes begeben. Geben Sie Alarmstufe blau. Sagen Sie dem Ortskommandanten von Kyrenia, er solle sofort feststellen, was los ist. Falls die Meldung stimmt, müssen sofort einige Einheiten unserer Flotte dorthin dirigiert werden.«

Alistair legte den Hörer hin und machte sich eiligst auf den Weg zu Sutherlands Büro.

Die Wagenkolonne kam in den Hafen gerollt und hielt auf dem Kai. Ari ben Kanaan entstieg dem Jeep an der Spitze der Kolonne, und der Fahrer fuhr mit dem Jeep davon. Die Lastwagen kamen herangefahren und hielten bei der Exodus. Jungens und Mädchen stiegen aus und begaben sich rasch und ohne jeden Lärm an Bord. Alles vollzog sich, dank der Ausbildung durch Seew Gilboa, in mustergültiger Disziplin. An Bord schleusten Joab, David und Hank Schlosberg, der Kapitän, die Jugendlichen an ihre Plätze im Raum und an Deck.

Am Kai blieben ein paar Neugierige stehen und staunten. Einige englische Soldaten zuckten die Achseln und kratzten sich am Kopf. Sobald einer der Lastwagen leer war, fuhr der Fahrer damit in die Berge davon und ließ ihn in der Nähe der Ruinen von St. Hilarion stehen. Die 23. Transportkompanie, die in diesem Augenblick ihre Aufgabe erfüllt hatte, hörte zu existieren auf. Joab hinterließ in seinem Lastwagen einen Zettel, auf dem er sich bei den Engländern für die Überlassung des Fahrzeuges bedankte. Ari ging an Bord und begab sich in das Ruderhaus. Nach zwanzig Minuten war der letzte Lastwagen entladen und alle an Bord. Ari übergab Hank das Kommando.

Der Kapitän lichtete den Anker und ließ die Maschinen auf Touren laufen.

»Geht zu den Kindern«, sagte Ari zu Seew, David und Joab, »und erklärt ihnen genau, was wir vorhaben und was wir von ihnen erwarten. Jedes Kind, das meint, es könne die Sache nicht durchstehen, soll hierher ins Ruderhaus kommen, mir Bescheid sagen; dann wird es nach Caraolos zurückgebracht werden. Macht den Kindern klar, daß ihr Leben in Gefahr ist, wenn sie bleiben. Weder von euch noch von den Kindern soll auf diejenigen, die lieber von Bord gehen wollen, irgendein Druck ausgeübt werden, um sie zum Bleiben zu veranlassen.«

Während die Palmach-Angehörigen von der Brücke nach unten gingen, um die Kinder zu unterweisen, begab sich die Exodus in die Mitte des Hafens und ging dort vor Anker.

Im nächsten Augenblick tönte ganz Kyrenia wider vom Schrillen der Sirenen. Ari richtete sein Fernglas auf die Hügel und die Küstenstraße und sah Dutzende englischer Lastwagen und Jeeps, die sich Kyrenia näherten. Er mußte laut lachen, als er sah, wie die Lastwagen der einstmaligen 23. Transportkompanie, die von Kyrenia aus in die Berge gebracht wurden, den Wagenkolonnen mit englischen Soldaten begegneten, die in entgegengesetzter Richtung herangebraust kamen.

Dann sah Ari nach unten. Die Kinder an Deck waren ruhig.

Die Engländer kamen heran und strömten in den Hafen! Ein Wagen nach dem andern hielt auf dem Kai und entlud Soldaten. Offiziere zeigten aufgeregt zu der Exodus hin und brüllten Befehle. Soldaten rannten im Galopp auf beiden Seiten die Mole entlang und brachten bei der engen Hafeneinfahrt Maschinengewehre und Granatwerfer in Stellung, um die Exodus am Auslaufen zu hindern.

Immer mehr Wagen kamen heran. Der Kai wurde abgesperrt, neugierige Zuschauer wurden zurückgedrängt. Innerhalb einer Stunde wimmelte es im Hafen von fünfhundert schwerbewaffneten Soldaten. Vor der Hafeneinfahrt nahmen zwei Torpedoboote Aufstellung. Am Horizont sah Ari drei Zerstörer, die eilig herankamen. Das Sirenengeheul nahm kein Ende! Der kleine verschlafene Ort verwandelte sich in ein Aufmarschgebiet! Dann kamen Tanks herangerollt, und die Maschinengewehre und Granatwerfer wurden durch Artillerie ersetzt.

Unter erneutem Sirenengeheul erschien am Kai ein Wagen, dem Brigadier Sutherland, Caldwell und Alistair entstiegen. Major Cooke, der Ortskommandant von Kyrenia, begab sich zu Sutherland und erstattete Meldung.

»Das Schiff da draußen, Sir, das ist es. Und es ist tatsächlich vollgeladen mit Juden. Aber es kann unter gar keinen Umständen entkommen.«

Sutherland sah sich im Hafen um. »Was ihr hier aufgebaut habt, genügt, um eine Panzerdivision zu bekämpfen«, sagte er. »Die auf dem Schiff da müssen wahnsinnig geworden sein. Lassen Sie sofort eine Lautsprecheranlage installieren.«

»Jawohl, Sir.«

»Also, wenn Sie mich fragen«, sagte Caldwell, »wir sollten den Kahn in die Luft jagen.«

»Ich habe Sie aber nicht gefragt«, sagte Sutherland scharf. »Cooke! Lassen Sie das ganze Hafengebiet absperren. Organisieren Sie ein Prisenkommando — Tränengas, leichte Waffen, für den Fall, daß sie nicht freiwillig zurückkommen wollen. Freddy, laufen Sie doch eben mal 'rüber zum Dom-Hotel und sagen Sie auf der Kommandantur Bescheid, daß ich eine allgemeine Nachrichtensperre wünsche.« Alistair musterte schweigend die Exodus.

»Was halten Sie von der Sache, Alistair?«

»Gefällt mir nicht, Sir«, sagte er. »Die würden so etwas nicht am hellichten Tage inszenieren, wenn sie nicht irgend etwas anderes im Schilde führten.«

»Nun beruhigen Sie sich schon, Alistair. Sie vermuten hinter allem irgendeinen finsteren Anschlag.«

Mark Parker drängte sich durch die Absperrung und näherte sich den beiden Offizieren.

»Was bedeutet die ganze Aufregung eigentlich?« fragte er Alistair. Als Alistair Mark sah, wußte er sofort, daß sein Verdacht richtig gewesen war. »Nun seien Sie mal nett, Parker«, sagte er, »und sagen Sie uns, was los ist. Wirklich, alter Junge, wenn Sie das nächstemal mit mir telefonieren, sollten Sie vorher Ihren britischen Akzent auffrischen.«

»Ich verstehe nicht, wovon Sie reden, Major Alistair.«

Sutherland ging allmählich ein Licht auf. Er sah von der Exodus zu Parker und Alistair, und ihm wurde klar, daß Mossad Aliyah Bet ihn überrumpelt hatte.

Die Röte stieg ihm ins Gesicht.

Major Cooke, der Ortskommandant von Kyrenia, kam und meldete: »Das Prisenkommando wird in zehn Minuten bereitstehen, Sir. Zweihundert Mann, die auf Fischerbooten zu dem Schiff hinausfahren.«

Sutherland hatte kaum hingehört. »Wo bleibt denn der Lautsprecher, verdammt noch mal!«

Zehn Minuten später hob Sutherland das Mikrophon an den Mund. Im Hafen wurde es still. Das Prisenkommando stand bereit, um an Bord der Exodus zu gehen, die in der Mitte des Hafenbeckens vor Anker lag.

»Hallo, da draußen! Hier spricht Brigadier Bruce Sutherland, der Inselkommandant von Zypern«, hallte es mit vielfältigem Echo durch den Hafen. »Können Sie mich hören?«

Im Ruderhaus der Exodus schaltete Ari ben Kanaan seine Lautsprecher-Anlage ein. »Hallo, Sutherland!« rief er. »Hier spricht Capain Caleb Moore von der 23. Transportkompanie Seiner Majestät Jüdischer Streitkräfte auf Zypern. Wenn Sie Ihre Lastwagen suchen, sie stehen oben bei St. Hilarion.«

Sutherland wurde blaß. Alistair fiel der Unterkiefer herunter.

»Hallo, da draußen!« rief Sutherland zurück. »Wir geben Ihnen zehn Minuten Zeit, an den Kai zurückzukommen. Wenn Sie nicht freiwillig kommen, sind wir gezwungen, Ihnen ein schwerbewaffnetes Prisenkommando zu schicken, das Sie mit Gewalt zurückbringt.«

»Hallo, Sutherland! Hier spricht die Exodus. Wir haben dreihundertundzwei Kinder an Bord. Unser Maschinenraum ist mit Dynamit gefüllt. Wenn einer Ihrer Männer bei uns an Bord kommen sollte, oder wenn auch nur ein Schuß auf uns abgegeben wird, dann sprengen wir uns in die Luft!«

In diesem Augenblick ging Mark Parkers Bericht von London aus über Fernschreiber in alle Welt.

Sutherland, Alistair und die fünfhundert englischen Soldaten auf dem Kai waren sprachlos, als jetzt am Mast der Exodus eine Flagge gehißt wurde. Es war der Britische Union Jack, mit einem riesigen Hakenkreuz in der Mitte.

Der Kampf der Exodus hatte begonnen!

XXX.

ANS-SONDERBERICHT

DAVID GEGEN GOLIATH, MODELL 1946

VON UNSEREM SONDERBERICHTERSTATTER

MARK PARKER

KYRENIA, ZYPERN

Ich schreibe diesen Bericht in Kyrenia, einer kleinen, zauberhaft schönen Hafenstadt an der Nordküste der Britischen Kronkolonie Zypern.

Zypern hatte eine reichbewegte Geschichte. Die Insel ist voll von Denkmälern einer großen Vergangenheit, angefangen von den Ruinen der Stadt Salamis bis zu den Kathedralen von Famagusta und Nikosia und den zahlreichen Schlössern aus der Zeit der Kreuzritter. Doch diese bewegte Vergangenheit kann es nicht an Dramatik mit dem aufnehmen, was sich in diesem Augenblick in dieser kleinen, abgelegenen und unbekannten Stadt abspielt. Seit einigen Monaten ist Zypern ein Internierungszentrum für jüdische Flüchtlinge, die versuchen, die englische Einwanderungsblockade zu durchbrechen und nach Palästina zu gelangen.

Auf bisher noch ungeklärte Weise sind heute dreihundert Kinder im Alter zwischen zehn und siebzehn aus dem Internierungslager bei Caraolos entkommen und quer über die Insel nach Kyrenia geflohen, wo sie ein umgebautes Transportschiff von rund zweihundert Tonnen erwartete, um sie nach Palästina zu bringen. Die Flüchtlinge sind fast alle Überlebende aus deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Das Bergungsschiff, das man passenderweise in Exodus umbenannt hat, wurde, bevor es den Hafen verlassen konnte, vom Britischen Intelligence Service entdeckt.

Das Schiff mit den dreihundert Flüchtlingskindern an Bord liegt vor Anker in der Mitte des Hafens, der einen Durchmesser von knapp dreihundert Metern hat.

Ein Sprecher der Exodus hat mitgeteilt, daß der Raum des Schiffes mit Dynamit gefüllt ist. Die Kinder sind entschlossen, gemeinsam Selbstmord zu begehen, und man wird das Schiff in die Luft sprengen, wenn die Engländer versuchen sollten, an Bord zu gehen.

LONDON

General Sir Clarence Tevor-Browne, der an seinem Schreibtisch in London saß, legte die Zeitung mit Parkers Bericht beiseite, brannte sich eine Zigarre an und beschäftigte sich mit den inzwischen eingegangenen letzten Meldungen. Mark Parkers Bericht hatte nicht nur in Europa, sondern auch in den Vereinigten Staaten wie eine Bombe eingeschlagen. Sutherland hatte es abgelehnt, die Verantwortung für den Befehl zu übernehmen, an Bord der Exodus zu gehen, und Tevor-Browne um Anweisung gebeten, was er tun solle.

Tevor-Browne war sich darüber klar, daß er die Ereignisse zum Teil verschuldet hatte. Er selbst hatte Bruce Sutherland für den Posten in Zypern vorgeschlagen, und er hatte auf den Brief von Alistair nicht reagiert, obwohl dieser Brief die Warnung enthalten hatte, daß irgend etwas passieren würde, wenn man Sutherland nicht abberiefe. Humphrey Crawford betrat das Büro von Tevor-Browne. Crawford, ein bleichgesichtiger, ehrgeiziger Beamter der nahöstlichen Abteilung des Kolonialministeriums, diente als Verbindungsmann zwischen der Armee und den politischen Drahtziehern von Whitehall und Chatham House.

»Tag, Sir Clarence«, sagte Crawford nervös. »Es wird Zeit, daß wir zu Bradshaw gehen.«

Tevor-Browne stand auf und nahm einige Unterlagen vom Schreibtisch. »Wollen den alten Cecil Bradshaw nicht warten lassen«, sagte er.

Cecil Bradshaws Büro befand sich im Institute of International Relations im Chatham House. Bradshaw war seit dreißig Jahren einer der tonangebenden Leute in allen Fragen der nahöstlichen Politik.

Als General Sir Clarence Tevor-Browne und Humphrey Crawford das Büro von Cecil Bradshaw betraten, stand dieser beleibte Mann in den Sechzigern mit dem Rücken zu ihnen und sah die Wand an. Humphrey Crawford nahm nervös auf einer Stuhlkante Platz. Tevor-Browne machte es sich in einem Ledersessel bequem und zündete sich eine Zigarre an.

»Gratuliere, meine Herren«, sagte Bradshaw, das Gesicht noch immer zur Wand gerichtet, ironisch und mit vor Ärger bebender Stimme. »Wie ich aus der Presse sehe, haben wir heute das Rennen an allererster Stelle gemacht.« Dann drehte er sich herum, klopfte sich auf seinen Schmerbauch und lächelte. »Sie haben vermutlich angenommen, daß ich vor Wut schäume. Aber nein, keineswegs. Ich bekam heute vormittag einen Anruf von Whitehall. Wie zu erwarten war, hat der Minister diese Exodus-Affäre mir zugeschoben.« Bradshaw setzte sich an seinen Schreibtisch, warf einen Blick auf die dort liegenden Berichte und nahm mit einer raschen Bewegung seine dicke Hornbrille ab. »Sagen Sie, Sir Clarence — waren Ihre Leute vom Intelligence Service da in Zypern eigentlich tot, oder waren sie nur gerade beim Tennisspielen? Und außerdem scheint mir, daß Sie uns einige Erklärungen über diesen Sutherland schuldig sind. Es war ja Ihre Idee, Sutherland nach Zypern zu schicken.«

Tevor-Browne ließ sich nicht einschüchtern. »Mir scheint, die Einrichtung von Internierungslagern auf Zypern war Ihre Idee. Was haben Sie dazu zu erklären?«

»Meine Herren«, sagte Crawford rasch, um einem Zusammenstoß vorzubeugen, »wir sind durch diese Exodus in eine sehr heikle Situation gekommen. Es ist das erstemal, daß die amerikanische Presse in solcher Form davon Notiz nimmt.«

Bradshaw lachte, daß sich seine Apfelbäckchen röteten. »Trotz allem Gerede von Truman haben die Amerikaner seit Kriegsende nicht mehr als zehntausend jüdische Flüchtlinge in ihr Land hineingelassen. Gewiß, Truman ist ein Förderer des Zionismus — solange Palästina nicht in Pennsylvanien liegt. Alle Leute reden große Töne, doch wir sind nach wie vor die einzigen, die eine Million Juden auf dem Hals haben, eine Million, die unsere ganze Position im Nahen Osten ruinieren könnte.« Bradshaw setzte seine Brille wieder auf. »Stern Davids, Moses, Palmach, Zinnen von Zion, Tor der Hoffnung, und jetzt die Exodus. Die Zionisten sind sehr kluge Leute. Seit fünfundzwanzig Jahren haben sie uns in Palästina den Schwarzen Peter zugeschoben. Sie lesen aus den Mandatsbestimmungen und der Balfour-Deklaration Sachen heraus, die gar nicht drinstehen. Sie sind imstande, solange auf ein Kamel einzureden, bis es überzeugt ist, es sei ein Muli. Bei Gott — zwei Stunden mit Chaim Weizmann, und ich bin drauf und dran, selbst Zionist zu werden.« Cecil Bradshaw nahm seine Brille wieder ab.

»Es ist bekannt, Tevor-Browne, wo Ihre Sympathien liegen.«

»Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, Bradshaw, und ich muß Ihre Unterstellung ablehnen. Es mag sein, daß ich einer der wenigen bin, die immer wieder sagen, die einzige Möglichkeit, unsere Stellung im Nahen Osten zu halten, sei die Schaffung eines starken jüdischen Palästinas. Doch wenn ich das sage, so habe ich damit nicht das jüdische Interesse im Auge, sondern das Interesse Englands.«

»Kommen wir lieber zu dieser Exodus-Affäre«, unterbrach ihn Bradshaw. »Es ist völlig klar, worum es dabei geht. Im Falle der Gelobtes Land haben wir nachgegeben, diesmal aber werden wir nicht nachgeben. Die Exodus befindet sich in britischen und nicht in französischen Gewässern. Wir werden nicht an Bord gehen, wir werden das Schiff auch nicht nach Deutschland schicken, und wir werden es nicht versenken. Die sollen da in Kyrenia auf dem Schiff sitzen bleiben, bis sie schwarz werden. Haben Sie gehört, Tevor-Browne? Bis sie schwarz werden!« Er redete sich so in Wut, daß seine Hand zu zittern begann.

Tevor-Browne schloß die Augen und sagte: »Wir haben kein Recht, dreihundert Kinder, die in Konzentrationslagern aufgewachsen sind, daran zu hindern, nach Palästina zu gehen. Erdöl, Suez-Kanal, Araber — zum Teufel damit! Wir haben kein Recht dazu! Wir haben uns schon lächerlich genug gemacht, als wir die Flüchtlinge von der Gelobtes Land nach Deutschland geschickt haben.«

»Ihre Einstellung ist mir bekannt!«

»Meine Herren!«

Tevor-Browne stand auf und trat an Bradshaws Schreibtisch. »Es gibt für uns nur eine Möglichkeit, wie wir in dieser Sache gewinnen können. Die Juden haben den ganzen Vorfall planmäßig inszeniert, um für sich Propaganda zu machen. Machen Sie ihnen einen Strich durch die Rechnung. Geben Sie der Exodus noch in dieser Minute die Erlaubnis zum Auslaufen. Das ist genau das, was sie nicht wollen.«

»Nie und nimmer!«

»Sehen Sie denn nicht ein, daß wir den Juden die Trümpfe zuspielen?«

»Solange ich hier in diesem Amt sitze, wird die Exodus nicht auslaufen!«

XXXI.

MARK PARKER DOM-HOTEL KYRENIA, ZYPERN

STORY MACHT WIND STOP SCHICKEN SIE FORTSETZUNGEN KEN BRADBURY, ANS LONDON

ANS-BERICHT AUS KYRENIA, ZYPERN VON MARK PARKER

Es ist ein grotesker Anblick: eintausend schwerbewaffnete Soldaten, Tanks, Artillerie und Einheiten der Flotte stehen hilflos einem unbewaffneten Bergungsschiff gegenüber.

In dem Kampf um die Exodus steht es am Ende der ersten Woche unentschieden. Weder die Engländer noch die Flüchtlinge sind bereit, nachzugeben. Bisher hat noch niemand versucht, an Bord des Blockadebrechers zu gehen, der damit gedroht hat, sich in die Luft zu sprengen. Das Schiff liegt nur ein paar hundert Meter vom Kai entfernt, und mit dem Fernglas kann man es auf Armeslänge heranholen.

Die Stimmung der dreihundert Kinder an Bord der Exodus ist allem Anschein nach äußerst gut.

Tag für Tag gingen Marks Berichte hinaus, und jeder neue Bericht enthielt neue und interessante Einzelheiten.

Als Cecil Bradshaw beschloß, aus der Exodus einen Präzedenzfall zu machen, war er sich darüber klar, daß es Ablehnung und Kritik hageln würde. Die französische Presse reagierte mit der üblichen Aufregung, wobei sie sich eines so heftigen Tons bediente, wie er in der Geschichte der englisch-französischen Freundschaft noch nie angeschlagen worden war. Die gesamte europäische Presse befaßte sich mit dem Fall; sogar in England waren die Meinungen geteilt, und einige Zeitungen warfen die Frage auf, ob Whitehall weise daran getan habe, der Exodus zu verbieten, nach Palästina auszulaufen. Bradshaw war ein erfahrener Politiker, der schon manchen Sturm durchgemacht hatte. Dies hier war ein Sturm im Wasserglas, und Bradshaw war überzeugt, daß er abflauen würde. Er schickte drei freundlich gesinnte Journalisten nach Kyrenia, um Parkers Berichten entgegentreten zu können, und ein halbes Dutzend Fachleute waren fieberhaft damit beschäftigt, die englische Haltung zu erklären und zu untermauern.

Die Engländer hatten durchaus gute Gründe und sie argumentierten sehr geschickt, doch es war nicht leicht, über das natürliche Mitleid, das selbstverständlich jedermann für ein Häufchen von Flüchtlingskindern hatte, hinwegzukommen.

»Wenn die Absichten der Zionisten wirklich so lauter sind, weshalb gefährden sie dann das Leben von dreihundert unschuldigen Kindern? Das Ganze ist ein bösartiges und kaltblütig inszeniertes Komplott, um Sympathie in der Öffentlichkeit zu gewinnen und das wirkliche Problem des Palästina-Mandats zu vernebeln. Wir haben es hier ganz offensichtlich mit Fanatikern zu tun. Ari ben Kanaan ist ein professioneller zionistischer Agitator, der schon jahrelang in der illegalen Arbeit tätig ist.«

Reporter aus einem halben Dutzend Länder landeten auf dem Flugplatz von Nikosia und baten um die Erlaubnis, das Gebiet von Kyrenia zu betreten. Auch mehrere große Zeitschriften entsandten Wort- und Bildberichter. Das Dom-Hotel begann allmählich dem Tagungsbüro eines politischen Kongresses zu gleichen.

In Pariser Cafés wurden die Engländer beschimpft.

In Lokalen in London wurden die Engländer verteidigt.

In Stockholm wurde gebetet.

In Rom wurde debattiert.

Bei den Buchmachern in New York wurden Wetten abgeschlossen, vier zu eins, daß die Exodus nicht auslaufen würde.

Gegen Ende der zweiten Woche bekam Mark von Ari die Erlaubnis, an Bord zu kommen. Da er der erste war, der Zugang zur Exodus erhielt, erschienen seine folgenden drei Berichte in allen Zeitungen auf der ersten Seite.

ANS-SONDERBERICHT

ERSTES INTERVIEW MIT ARI BEN KANAAN, DEM SPRECHER DER EXODUS, KYRENIA, ZYPERN Heute hatte ich als erster Korrespondent Gelegenheit, Ari ben Kanaan, den Sprecher der Kinder an Bord der Exodus, zu interviewen. Ich unterrichtete Ben Kanaan über die Kritik der englischen Presse, die behauptet, er sei ein professioneller zionistischer Quertreiber, und über die anderen Vorwürfe, die von Whitehall gegen ihn erhoben wurden. Unsere Unterredung fand in dem Ruderhaus der Exodus statt, der einzigen Stelle an Bord des Schiffes, wo nicht qualvolle Enge herrscht. Auch heute noch schienen die Kinder entschlossen und begeistert zu sein, doch machen sich bei ihnen die physischen Auswirkungen der vierzehntägigen Belagerung allmählich bemerkbar.

Ben Kanaan, dreißig, ein stämmiger Bursche von über einsachtzig, mit schwarzen Haaren und hellblauen Augen, den man für einen erfolgreichen Filmproduzenten halten könnte, bat mich, den Menschen in aller Welt, die mit guten Wünschen an die Exodus dächten, seinen Dank zu übermitteln. Er versicherte mir, daß sich die Kinder großartig hielten.

Auf meine Fragen antwortete er mir: »Die persönlichen Angriffe gegen mich lassen mich kalt. Es interessiert mich übrigens, ob die Engländer auch erwähnt haben, daß ich im zweiten Weltkrieg als Hauptmann in der englischen Armee gedient habe. Ich gebe zu, daß ich ein zionistischer Querulant bin, und ich werde so lange einer bleiben, bis die Engländer ihre Versprechungen in Bezug auf Palästina einlösen. Ob meine Arbeit legal oder illegal ist, das ist Ansichtssache.«

Auf meine weiteren Fragen hinsichtlich der englischen Argumentation und der Bedeutung der Exodus sagte er: »Man wirft uns Juden alles mögliche vor, und wir sind daran gewöhnt. Bei jedem Problem, das mit dem Palästina-Mandat zusammenhängt und das mit logischen Erklärungen und vernünftigen Begründungen nicht aus der Welt zu schaffen ist, kommen die Engländer mit der alten Ausrede, es handle sich um irgendein finsteres Komplott des Zionismus. Ich bin wirklich erstaunt, daß sie den Zionisten noch nicht vorgeworfen haben, sie seien schuld an den Schwierigkeiten, die sie in Indien haben. Zum Glück für uns ist Ghandi kein Jude.« »Whitehall bedient sich der geheimnisvollen Zionisten, dieser strapazierten Prügelknaben, um drei Jahrzehnte übler Machenschaften im Mandatsgebiet zu vertuschen, drei Jahrzehnte, in denen man sowohl die Juden als auch die Araber belogen, betrogen und verkauft hat. Das erste Versprechen, das die Engländer nicht eingehalten haben, war die Balfour-Deklaration von 1917, worin den Juden eine Heimat versprochen wurde, und seither haben sie ihr Wort immer wieder gebrochen. Den letzten Verrat hat die Labour-Partei begangen, die vor den Wahlen versprach, die Grenzen von Palästina für die Überlebenden des Hitler-Regimes zu öffnen.«

»Ich nehme mit Staunen zur Kenntnis, daß Whitehall Krokodilstränen darüber vergießt, daß wir das Leben von Kindern aufs Spiel setzen. Jedes der dreihundert Kinder ist freiwillig an Bord der Exodus. Jedes dieser Kinder ist durch das Hitler-Regime Waise geworden. Jedes dieser Kinder hat fast sechs Jahre in deutschen und britischen Konzentrationslagern verbracht.«

»Wenn Whitehall wirklich so besorgt um das Wohl dieser Kinder ist, dann fordere ich die Engländer auf, den Pressevertretern die Erlaubnis zu geben, das Lager bei Caraolos in Augenschein zu nehmen. Es ist nicht mehr und nicht weniger als ein Konzentrationslager: Stacheldraht, Wachttürme mit Maschinengewehren, unzureichende Ernährung, zu wenig Wasser, ungenügende sanitäre Einrichtungen. Gegen die Menschen, die dort hinter Stacheldraht sitzen, liegt nichts vor; man hat keinerlei Anklage gegen sie erhoben, dennoch aber werden sie zwangsweise in Caraolos festgehalten.«

»Whitehall redet davon, daß wir versuchten, die Engländer in der Frage des Palästina-Mandats zu einer ungerechten Lösung zu zwingen. In Europa sitzt eine Viertelmillion Juden, die überlebenden von sechs Millionen. Die englische Quote für Palästina gestattet monatlich siebenhundert Juden, dort legal einzuwandern. Ist das die ,gerechte' Lösung der Engländer?«

»Zum Schluß: ich bestreite das Recht der Engländer, in Palästina zu sein. Haben sie etwa mehr Recht, dort zu sein als die Überlebenden des Hitler-Regimes? Die Herren von Whitehall täten gut daran, ihre Erklärungen gründlicher zu überdenken. Ich richte an den Außenminister die gleiche Aufforderung, die ein großer Mann vor dreitausend Jahren an einen anderen Unterdrücker gerichtet hat: LASS MEIN VOLK HEIMKEHREN.

Auf den Rat von Mark gestattete Ari auch anderen Reportern, an Bord der Exodus zu kommen und die Presseleute lagen den Engländern in den Ohren, daß sie das Lager in Caraolos sehen wollten. Cecil Bradshaw hatte Kritik in der Öffentlichkeit erwartet, aber er hatte nicht damit gerechnet, daß die Entrüstung ein solches Ausmaß erreichen würde. Eine Besprechung löste die andere ab. Denn im Augenblick war die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den Hafen von Kyrenia gerichtet. Jetzt der Exodus die Erlaubnis zum Auslaufen zu erteilen, wäre geradezu verheerend gewesen.

General Sir Clarence Tevor-Browne begab sich per Flugzeug und in aller Stille nach Zypern, um das Kommando zu übernehmen und zu sehen, ob noch irgend etwas zu retten war.

Das Flugzeug, mit dem er kam, landete kurz nach Mitternacht auf dem abgesperrten Flugplatz von Nikosia. Major Alistair nahm ihn in Empfang, beide stiegen rasch in einen Wagen und fuhren zur Kommandantur in Famagusta.

»Ich wollte gern mit Ihnen sprechen, Alistair, ehe ich die Geschäfte von Sutherland übernehme. Ich habe Ihren Brief bekommen, Sie können also ganz offen reden.«

»Ja, Sir«, sagte Alistair, »ich würde sagen, daß Sutherland den Anforderungen einfach nicht gewachsen war. Mit dem Mann ist irgend etwas vorgegangen. Caldwell erzählt mir, daß er dauernd Angstträume hat. Er geht die ganze Nacht herum, bis gegen Morgen, und er verbringt seine Zeit damit, in der Bibel zu lesen.«

»Wirklich ein Jammer«, sagte Tevor-Browne. »Und dabei war Bruce Sutherland ein so hervorragender Soldat. Ich verlasse mich darauf, daß das Gesagte unter uns bleibt. Wir müssen den Mann decken.«

»Selbstverständlich, Sir«, sagte Alistair.

Mark ging an Bord der Exodus und ließ Kanaan bitten, in das Ruderhaus zu kommen. Er war unruhig, als er sich mühsam einen Weg über das überfüllte Deck bahnte. Die Kinder sahen blaß und eingefallen aus, und sie rochen schlecht, weil Waschwasser knapp war.

Ari, den er im Ruderhaus traf, war so ruhig und gelassen wie immer. Mark gab ihm Zigaretten und ein paar Flaschen Brandy.

»Wie steht's denn da draußen?« fragte Ari.

»Sieht nicht nach irgendeinem Kurswechsel aus, nachdem Tevor-Browne jetzt hergekommen ist. Die Story der Exodus beherrscht noch immer überall die erste Seite. Macht mehr Aufsehen, als ich erwartet hatte. Hören Sie, Ari, die Sache hat für uns beide, für Sie und für mich, genau den Erfolg gehabt, der beabsichtigt war. Sie haben erreicht, was Sie wollten, es ist den Engländern genau ins Auge gegangen. Doch ich habe zuverlässige Information, daß die Engländer entschlossen sind, nicht nachzugeben.«

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«

»Ich bin der Meinung, daß Sie dieser ganzen Sache eine letzte Steigerung geben können, indem Sie eine humane Geste machen und mit dem Schiff an den Kai zurückgehen. Wir bringen einen ganz großen Bericht darüber, wie die Engländer die Kinder nach Caraolos zurückbringen — einen Bericht, der den Leuten das Herz brechen wird.«

»Hat Kitty Sie mit diesem Vorschlag zu mir geschickt?«

»Ach, lassen Sie das doch, bitte. Sehen Sie sich nur mal die Kinder da unten an Deck an. Die stehen das nicht mehr lange durch.«

»Sie wissen, um was es geht.«

»Die Sache hat auch noch eine andere Seite, Ari. Ich fürchte, wir haben den Rahm abgeschöpft. Sicher, jetzt sind wir mit unserer Geschichte noch auf der Titelseite, aber Frank Sinatra braucht nur morgen in einem Nachtlokal irgendeinem Pressemann einen Linkshaken zu verpassen, und dann gehören wir zu ,Ferner liefen'.« Karen kam in das Ruderhaus. »Guten Tag, Mr. Parker«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Tag, Kleine. Hier ist ein Brief und ein Päckchen von Kitty.«

Sie nahm den Brief und gab Mark einen für Kitty. Das Päckchen lehnte sie genauso ab wie alle anderen vorher.

Als sie gegangen war, sagte Mark: »Ich bringe es einfach nicht übers Herz, Kitty zu sagen, daß sie das Päckchen nicht für sich persönlich annehmen will. Das Mädchen ist krank. Haben Sie die Ringe unter ihren Augen gesehen? In ein paar Tagen werden Sie hier auf diesem Schiff ernstliche Schwierigkeiten haben.«

»Wir sprachen davon, wie man das Interesse in der Öffentlichkeit aufrechterhalten könnte. Ich möchte zunächst einmal das eine klarstellen, Parker: wir gehen nicht zurück nach Caraolos. In Europa sitzt eine Viertelmillion Juden, die auf eine Antwort warten, und wir sind die einzigen, die ihnen diese Antwort geben können. Von morgen an treten wir in den Hungerstreik. Jeden, der ohnmächtig wird, werden wir oben an Deck hinlegen, damit ihn die Engländer sich ansehen können.«

»Sie Satan«, fauchte Mark, »Sie stinkendes Untier!«

»Nennen Sie mich, wie Sie wollen, Parker. Meinen Sie, es macht mir Spaß, eine Horde von Waisenkindern verhungern zu lassen? Geben Sie mir irgendeine andere Waffe! Geben Sie mir etwas, womit ich auf diese Tanks und die Zerstörer schießen kann! Wir haben nichts als unseren Mut und unseren Glauben. Zweitausend Jahre lang hat man uns geschlagen und erniedrigt. Damit ist es Schluß! Diesmal gewinnen wir.«

XXXII.

HUNGERSTREIK AUF DER EXODUS!

DIE KINDER WOLLEN LIEBER VERHUNGERN, ALS NACH CARAOLOS ZURÜCKGEHEN!

Nachdem der Kampf der Exodus zwei Wochen lang von Tag zu Tag in der Öffentlichkeit ständig wachsendes Aufsehen erregt hatte, verblüffte und überrumpelte Ari ben Kanaan jetzt alle Welt, indem er zum Angriff überging. Nun war es nicht mehr möglich, abzuwarten; die Kinder erzwangen eine Entscheidung.

An der Bordwand der Exodus wurde eine große Tafel befestigt, auf der in englischer, französischer und hebräischer Sprache zu lesen war:

HUNGERSTREIK: l STUNDE HUNGERSTREIK: 15 STUNDEN

Zwei Jungen und ein Mädchen, im Alter von zehn, zwölf und fünfzehn Jahren, wurden zum Vorderdeck der Exodus gebracht und dort hingelegt. Sie waren bewußtlos.

HUNGERSTREIK: 20 STUNDEN

Zehn Kinder lagen nebeneinander auf dem Vorderdeck.

»Ich bitte dich, Kitty, lauf nicht dauernd hin und her! Setz dich endlich hin!«

»Es ist jetzt schon über zwanzig Stunden. Wie lange will er damit noch weitermachen? Ich habe einfach nicht den Mut gehabt, zum Hafen zu gehen und nachzusehen. Gehört Karen zu den Kindern, die bewußtlos an Deck liegen?«

»Ich habe dir schon zehnmal gesagt, daß sie nicht dabei ist.«

»Die Kinder sind ohnehin nicht besonders kräftig, und sie sind jetzt zwei Wochen lang auf diesem Schiff eingesperrt gewesen. Sie haben keine Widerstandskraft mehr.«

Kitty zog nervös an ihrer Zigarette und fuhr sich durch die Haare. »Dieser Ari ben Kanaan ist kein Mensch — er ist ein Unmensch, eine Bestie.«

»Ich habe auch darüber nachgedacht«, sagte Mark. »Ich habe sogar ziemlich viel darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, ob wir wirklich begreifen, was es ist, was diese Menschen so fanatisch macht. Bist du einmal in Palästina gewesen? Im Süden eine Wüste, in der Mitte verwittert, und im Norden ein Sumpf. Ausgedörrt von der Sonne und rings umgeben von einem Heer von Feinden, von fünfzig Millionen erbitterter Gegner. Und trotzdem brechen sich diese Leute den Hals, um hinzukommen. Sie nennen es das Land, in dem Milch und Honig fließt, und sie singen Lieder, in denen von Wassergräben und Berieselungsanlagen die Rede ist. Vor zwei Wochen habe ich Ari ben Kanaan erklärt, das Leiden sei keine Sache, worauf die Juden ein Monopol besäßen; doch allmählich beginne ich zu zweifeln. Im Ernst, ich bin mir wirklich nicht sicher. Ich frage mich, was einem Menschen so zusetzen kann, das ihn so fanatisch werden läßt.« »Versuche nicht, ihn zu verteidigen, Mark, und versuche auch nicht, diese Menschen zu verteidigen.«

»Vergiß bitte das eine nicht: Ben Kanaan könnte nicht tun, was er tut, wenn er die Kinder nicht hinter sich hätte. Und die Kinder stehen hundertprozentig hinter ihm.«

»Das ist es ja gerade«, sagte Kitty, »diese Loyalität. Dieses phantastische Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie verbindet.«

Das Telefon läutete. Mark meldete sich, sagte »Danke« und legte wieder auf.

»Was war denn?« fragte Kitty. »Mark, ich habe dich gefragt, was war!«

»Sie haben weitere Kinder nach oben an Deck gebracht — ein halbes Dutzend.«

»Ist — ist Karen dabei?«

»Ich weiß es nicht. Ich werde hingehen und es feststellen.«

»Mark .. .«

»Ja?«

»Ich möchte auf die Exodus.«

»Das ist unmöglich.«

»Ich halte es einfach nicht mehr aus.«

»Wenn du das machst, bist du erledigt.«

»Nein, Mark — es ist anders. Wenn ich wüßte, sie ist am Leben, ist nicht ernstlich krank, dann könnte ich es ertragen. Das schwöre ich dir. Ich weiß es genau. Aber ich kann nicht untätig dasitzen und mir vorstellen, daß sie vielleicht stirbt. Das kann ich einfach nicht.« »Selbst wenn ich Ben Kanaan dazu bringen könnte, daß er dich auf die Exodus läßt, werden es dir die Engländer nicht erlauben.«

»Du mußt es für mich durchsetzen«, sagte sie bittend und nachdrücklich zugleich, »du mußt!«

Sie stellte sich an die Tür und versperrte ihm den Weg. Mark sah sie an und senkte den Blick. »Ich werde mein Möglichstes tun.« HUNGERSTREIK: 35 STUNDEN

Vor den Gebäuden der englischen Botschaft in Paris und Rom erschienen wütende Demonstranten. Erregte Sprechchöre und große Spruchbänder forderten die Freigabe der Exodus. In Paris mußte die Polizei mit Gummiknüppeln und Tränengas gegen die erregte Menge vorgehen. In Kopenhagen, in Stockholm, in Brüssel und Den Haag fanden gleichfalls Demonstrationen statt. Diese waren gemäßigter.

HUNGERSTREIK: 38 STUNDEN

In Zypern wurde aus Protest gegen die Engländer der Generalstreik erklärt. Der Verkehr stand still, die Läden wurden geschlossen. In den Häfen ruhte die Arbeit. Theater und Restaurants waren leer.

HUNGERSTREIK: 40 STUNDEN

Ari ben Kanaan stand vor seinen Untergebenen und Mitarbeitern. Er sah in die verdüsterten Gesichter von Joab, David, Seew und Hank Schlosberg.

Seew, der Farmer aus Galiläa, sprach als erster. »Ich bin Soldat«, sagte er. »Ich kann nicht dabeistehen und zusehen, wie Kinder verhungern.«

»In Palästina«, erwiderte Ari heftig, »kämpfen junge Menschen, die nicht älter sind als diese hier, bereits als Gadna-Soldaten.«

»Kämpfen und Verhungern ist zweierlei.«

»Das hier ist nur eine andere Form des Kampfes«, sagte Ari. Joab Yarkoni hatte viele Jahre lang mit Ari zusammengearbeitet und war gemeinsam mit ihm im zweiten Weltkrieg Soldat gewesen. »Du weißt, Ari«, sagte er, »daß ich immer zu dir gehalten habe. Aber in dem Augenblick, wo eines dieser Kinder stirbt, wird die ganze Sache zwangsläufig zu einem Bumerang, der auf uns zurückfällt.«

Ari sah Hank Schlosberg an, den amerikanischen Käpt'n. Hank zog die Schultern hoch. »Du bist der Boß, Ari, aber die Crew wird langsam nervös. Davon stand nichts in ihrem Heuervertrag.«

»Mit anderen Worten«, sagte Ari, »ihr wollt klein beigeben?«

Ihr Schweigen bestätigte seine Vermutung.

»Und was ist mit dir, David? Du hast dich noch nicht geäußert.« »Sechs Millionen Juden sind in Gaskammern gestorben, ohne zu wissen, warum oder wofür sie starben«, sagte David. »Wenn jetzt dreihundert von uns auf der Exodus sterben, dann wissen wir sehr genau, warum und wofür. Und die Welt wird es auch wissen. Als wir vor zweitausend Jahren eine Nation waren und uns gegen die Herrschaft der Römer und der Griechen empörten, da begründeten wir Juden die Tradition, bis zum letzten Mann zu kämpfen. Wir taten es bei Arbela und in Jerusalem. Wir kämpften nach dieser Devise bei Bejtar, bei Herodium und Nachaeros. In Massada haben wir vier Jahre lang der Belagerung durch die Römer standgehalten, und als die Römer in die Festung eindrangen, war keiner von uns mehr am Leben. Nirgends und niemals hat irgendein Volk für seine Freiheit so gekämpft, wie unser Volk es getan hat. Wir haben die Römer und die Griechen aus unserem Lande vertrieben, bis wir schließlich in alle vier Winde zerstreut wurden. Wir haben seit zweitausend Jahren nicht viel Gelegenheit gehabt, als Nation zu kämpfen. Und als wir eine solche Möglichkeit im Ghetto von Warschau hatten, da haben wir getreu unserer Tradition bis zum letzten Mann gekämpft. Wenn wir jetzt von Bord gehen und freiwillig hinter den Stacheldraht zurückkehren, dann haben wir Gott die Treue gebrochen.«

»Noch irgendwelche Fragen?« sagte Ari.

HUNGERSTREIK: 42 STUNDEN

In den Vereinigten Staaten, in Südafrika und in England vereinigten sich die Juden in den Synagogen in Massen zum Gebet, und auch in vielen christlichen Kirchen betete man für die Kinder an Bord der Exodus.

HUNGERSTREIK: 45 STUNDEN

In Argentinien begannen die Juden zu fasten, um ihre Sympathie für die Kinder an Bord der Exodus zu bekunden.

HUNGERSTREIK: 47 STUNDEN

Es wurde bereits dunkel, als Kitty an Bord kam. Der Gestank war atemberaubend. Überall an Deck lagen die Kinder in drangvoller Enge, und alle lagen lang ausgestreckt und völlig bewegungslos, um Kräfte zu sparen.

»Ich möchte mir die Kinder ansehen, die bewußtlos geworden sind«, sagte sie.

David führte sie zum Vorderdeck, wo sechzig bewußtlose Kinder in drei Reihen nebeneinander lagen. David leuchtete mit seiner Laterne, während Kitty von einem Kind zum nächsten ging, den Puls fühlte und die Pupillen prüfte. Ein halbdutzendmal meinte sie, ohnmächtig zu werden, wenn sie den Körper eines Kindes herumdrehte, das Ähnlichkeit mit Karen hatte.

David führte sie auf dem Deck herum, wo die Kinder eng nebeneinander lagen. Sie starrten Kitty aus glanzlosen Augen an. Ihre Haare waren verfilzt und ihre Gesichter von einer Dreckkruste überzogen.

Dann führte David sie hinunter in den Raum. Kitty wurde fast übel von dem Gestank, der ihr entgegenschlug. Sie sah in dem dämmrigen Licht die Kinder, die auf schmalen Brettern übereinanderlagen.

In einer Ecke fand sie Karen, in einem Gewirr von Armen und Beinen. Neben ihr eingeschlafen lag Dov. Sie lagen auf Lumpen, und der Boden unter ihnen war feucht.

»Karen«, flüsterte sie. »Karen, ich bin's Kitty.«

Karen öffnete mühsam die Augen. Sie hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen, und ihre Lippen waren vor Trockenheit aufgesprungen. Sie war zu schwach, um sich aufzusetzen.

»Kitty?«

»Ja, ich bin's.«

Karen streckte ihr die Arme entgegen, und Kitty hielt sie lange fest. »Geh nicht fort, Kitty. Ich habe solche Angst.«

»Ich bleibe in deiner Nähe«, sagte Kitty leise und ließ Karen los. Sie ging in den Lazarettraum, nahm den geringen Bestand an Medikamenten in Augenschein und seufzte. »Damit ist nicht viel zu machen«, sagte sie zu David. »Aber ich werde versuchen, den Kindern jede mögliche Erleichterung zu verschaffen. Können Sie und Joab mir dabei helfen?«

»Selbstverständlich.«

»Von den Bewußtlosen sind einige in einem sehr bedenklichen Zustand. Wir müssen versuchen, ihnen kalte Umschläge zu machen, damit das Fieber sinkt. Aber da oben an Deck ist es kühl. Wir müssen sie zudecken. Und dann möchte ich, daß jeder, der dazu imstande ist, sich an die Arbeit macht, das Schiff zu säubern.«

Kitty war stundenlang fieberhaft tätig, um den Tod abzuwehren. Doch es war, als wollte man den Ozean mit einem Löffel ausschöpfen. Kaum hatte sie das eine Kind notdürftig versorgt, da verschlimmerte sich der Zustand bei drei anderen Kindern bedrohlich. Es fehlte an Medikamenten, an Wasser. Und Nahrung, das einzige, was den Kindern wirklich geholfen hätte, durfte sie ihnen nicht geben.

HUNGERSTREIK: 81 STUNDEN

Siebzig Kinder lagen bewußtlos auf dem Vorderdeck der Exodus. Die englischen Soldaten auf dem Kai begannen zu murren. Viele von ihnen konnten es nicht mehr mitansehen und baten darum, abgelöst zu werden, selbst auf die Gefahr hin, vor ein Kriegsgericht zu kommen.

HUNGERSTREIK: 82 STUNDEN

Karen Hansen-Clement wurde bewußtlos auf das Vorderdeck gebracht.

HUNGERSTREIK: 83 STUNDEN

Kitty kam in das Ruderhaus und sank erschöpft auf einen Stuhl. Sie hatte fünfunddreißig Stunden lang pausenlos gearbeitet; sie war erschöpft und halb betäubt. Ari goß ihr einen kräftigen Schluck Brandy ein.

»Da«, sagte er, »trinken Sie das mal. Sie befinden sich ja nicht im Hungerstreik.«

Sie schluckte den Brandy hinunter, und ein zweites Glas ließ sie wieder zu sich kommen. Sie sah Ari ben Kanaan lange und eindringlich an. Er war ein Mann von ungewöhnlicher Kraft. Die Belagerung schien ihm so gut wie gar nicht zugesetzt zu haben. Sie sah in seine kalten Augen und fragte sich, was für Gedanken, was für Pläne, was für Anschläge ihm wohl durch den Kopf gehen mochten. Sie fragte sich, ob er Angst hätte, ob er überhaupt wußte, was Angst war. Sie fragte sich, ob er bekümmert oder erschüttert sei.

»Ich hatte erwartet, daß Sie viel eher hierherkommen würden«, sagte er.

»Ich komme nicht, um etwas von Ihnen zu erbitten, Ari ben Kanaan. Ich will nur Meldung erstatten, wie ein Soldat, der seine Pflicht tut. Ben Kanaan und Gott — ist das so richtig, in dieser Reihenfolge? Wenigstens zehn der Kinder schweben in Lebensgefahr. Wenn der Hungerstreik weitergeht, werden sie sterben. Wie entscheiden Sie als oberster Richter über Leben und Tod?«

»Es ist nicht das erstemal, daß man mich beschimpft, Kitty. Das läßt mich kalt. Wie aber steht es bei Ihnen: ist Ihr menschliches Mitgefühl so groß, daß Ihnen beim Anblick all dieser Kinder das Herz bricht, oder gilt Ihr Appell nur dem Leben eines dieser Kinder?« »Sie haben kein Recht, mich das zu fragen.«

»Ihnen geht es um das Leben eines Mädchens. Mir geht es um das Leben einer Viertelmillion Menschen.«

Kitty stand auf. »Ich glaube, es ist besser, ich gehe wieder an meine Arbeit. Hören Sie, Ari — Sie haben gewußt, aus welchem Grund ich an Bord kommen wollte. Warum haben Sie es mir erlaubt?«

Er wandte ihr den Rücken zu und sah durch das Fenster hinaus auf das Meer, wo die Kreuzer und Zerstörer Wache hielten. »Vielleicht, weil ich Sie gern sehen wollte.«

HUNGERSTREIK: 85 STUNDEN

General Sir Clarence Tevor-Browne ging unruhig in Sutherlands Büro auf und ab. Die Luft im Raum war blau vom Rauch seiner Zigarre. Von Zeit zu Zeit blieb er am Fenster stehen und sah gespannt durch die schmutzigen Scheiben nach draußen in die Richtung von Kyrenia.

Sutherland klopfte seine Pfeife aus und musterte die reichhaltige Auswahl von belegten Broten auf dem Teetisch. »Möchten Sie nicht Platz nehmen, Sir Clarence, einen Schluck Tee trinken und etwas essen?«

Tevor-Browne sah auf seine Armbanduhr und seufzte. Er setzte sich, nahm ein Stück Brot, starrte es an, biß hinein und legte es hastig wieder aus der Hand. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich esse«, sagte er.

»Ja, das ist kein gutes Geschäft für einen Mann, der ein Gewissen hat«, sagte Sutherland. »Zwei Kriege, elf Posten in den Kolonien, sechs Auszeichnungen und drei Orden — und jetzt scheitere ich an einem Häufchen unbewaffneter Kinder. Prächtiger Abschluß einer dreißigjährigen Dienstzeit, finden Sie nicht auch, Sir Clarence?« Tevor-Browne sah zu Boden.

»Oh, ich wußte, daß Sie mit mir darüber reden wollten«, sagte Sutherland.

Tevor-Browne schenkte sich Tee ein und seufzte halb verlegen. »Ja, sehen Sie, Bruce — wenn die Entscheidung bei mir läge —.« »Unsinn, Sir Clarence. Sie brauchen sich doch keine Vorwürfe zu machen. Ich mache mir Vorwürfe. Denn ich war es, der versagt und Ihr Vertrauen enttäuscht hat.« Sutherland stand auf. Seine Augen brannten. »Ich bin müde«, sagte er, »sehr müde.«

»Wir werden Ihre Pensionierung so unauffällig wie möglich in die Wege leiten, mit vollem Ruhestandsgehalt«, sagte Tevor-Browne.

»Sie können sich da ganz auf mich verlassen. Und hören Sie mal, Bruce — ich habe auf dem Wege hierher in Paris Station gemacht und ein langes Gespräch mit Neddie gehabt. Ich habe ihr von Ihren Schwierigkeiten erzählt. Wenn Sie ihr ein gutes Wort geben, dann könnten Sie beide wieder zusammenkommen. Neddie möchte gern zu Ihnen zurück, und Sie werden sie nötig haben.«

Sutherland schüttelte den Kopf. »Zwischen Neddie und mir ist es seit Jahren aus. Das einzig sinnvolle Bindeglied, das es jemals zwischen uns gab, war die Armee.«

»Haben Sie schon irgendwelche Pläne?«

»Diese Monate hier auf Zypern haben in mir etwas bewirkt, Sir Clarence, besonders die letzten Wochen. Sie mögen da vielleicht anderer Ansicht sein, aber ich habe nicht das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben. Ich habe ganz im Gegenteil das Gefühl, vielleicht etwas sehr Wertvolles gewonnen zu haben. Etwas, das ich vor langer Zeit verloren hatte.«

»Und was ist das?«

»Das Recht. Erinnern Sie sich? Als ich diesen Posten übernahm, da sagten Sie mir, das einzige Reich, das auf Gerechtigkeit beruhe, sei das Reich Gottes, während die Reiche dieser Welt auf dem Öl beruhen.«

»Ich erinnere mich noch sehr genau«, sagte Tevor-Browne.

»Ich habe sehr oft daran denken müssen«, sagte Sutherland, »seit dieser Sache mit der Exodus. Mein ganzes Leben lang habe ich den Unterschied zwischen Recht und Unrecht gekannt. Die meisten von uns kennen ihn. Ihn zu kennen, ist noch nicht dasselbe, wie danach zu leben. Wie oft im Leben tut jemand Dinge, die sein Gewissen belasten, um seine Existenz nicht zu gefährden. Wie habe ich die seltenen Ausnahmemenschen bewundert, die die Kraft hatten, für ihre Überzeugung einzutreten, selbst wenn dies Schande, Folter oder sogar ihren Tod bedeutete. Was für ein wunderbares Gefühl inneren Friedens müssen diese Menschen haben, so ein Mann wie Gandhi. Sie fragten mich nach meinen Plänen. Ich habe die Absicht, mich in diesen armseligen Landstrich zu begeben, den die Juden ihr Himmelreich auf Erden nennen. Ich möchte das alles kennenlernen — Galiläa — Jerusalem — alles.«

»Ich beneide Sie, Bruce.«

»Vielleicht werde ich mich in der Nähe von Safed zur Ruhe setzen — auf dem Berge Kanaan.«

Major Alistair kam herein. Er war bleich, und seine Hand zitterte, als er Tevor-Browne eine Meldung überreichte. Tevor-Browne las sie. »Gott sei uns allen gnädig«, sagte er leise und gab die Meldung an Bruce Sutherland weiter.

DRINGEND

Ari ben Kanaan, der Sprecher der Exodus, hat bekanntgegeben, daß ab morgen mittag 12 Uhr täglich zehn Freiwillige auf der Brücke des Schiffes in aller Öffentlichkeit und vor den Augen der Engländer Selbstmord begehen werden. Diese Protestaktion wird solange fortgesetzt, bis man der Exodus erlaubt, nach Palästina auszulaufen, oder bis an Bord niemand mehr am Leben ist.

Bradshaw, begleitet von Humphrey Crawford und einem halben Dutzend Adjutanten, verließ London und begab sich eilig in die Stille eines abgelegenen kleines Hauses auf dem Lande. Es blieben ihm noch vierzehn Stunden.

Bei der ganzen Sache hatte er sich schwer verrechnet. Erstens hatte er nicht mit einer solchen Zähigkeit und Entschlossenheit der Kinder an Bord des Schiffes gerechnet. Zweitens hatte er nicht gedacht, daß die Geschichte in der Öffentlichkeit soviel Staub aufwirbeln würde, und schließlich hatte er es nicht für möglich gehalten, daß Ben Kanaan zum Angriff übergehen und ihn derartig unter Druck setzen würde. Bradshaw war ein sturer Bursche, doch er wußte, wann er verloren hatte. Jetzt suchte er krampfhaft nach einem Kompromiß, der es den Engländern ermöglichen sollte, ihr Gesicht zu wahren.

Er gab Crawford und seinen Adjutanten den Auftrag, sich telegrafisch oder telefonisch mit einem Dutzend der einflußreichsten jüdischen Bürger Englands, Palästinas und der Vereinigten Staaten in Verbindung zu setzen und sie um ihre Intervention zu bitten. Besonders die führenden Köpfe in Palästina konnten Ben Kanaan raten, von seinem Vorhaben abzusehen oder ihn zumindest veranlassen, den Beginn der Aktion so lange zu verzögern, bis Bradshaw Kompromißvorschläge machen konnte. Wenn es ihm gelang, Ben Kanaan an den Verhandlungstisch zu bringen, dann konnte er die Exodus zu Tode reden. Innerhalb von sechs Stunden antworteten alle führenden Juden übereinstimmend: WERDEN NICHT INTERVENIEREN.

Als nächsten Schritt setzte sich Bradshaw mit Tevor-Browne auf Zypern in Verbindung. Er bat den General, der Exodus mitzuteilen, daß die Engländer damit beschäftigt seien, einen Kompromißvorschlag auszuarbeiten, und daß man den Beginn der Aktion um vierundzwanzig Stunden verschieben möge. Tevor-Browne führte den Auftrag aus und übermittelte Bradshaw Ben Kanaans Antwort.

DRINGEND

Ben Kanaan hat uns wissen lassen, daß es für ihn nichts zu diskutieren gibt. Die einzige Frage für ihn ist, ob die Exodus ausläuft oder nicht. Er stellt außerdem fest, daß zu seinen Bedingungen eine völlige Amnestie für alle an Bord befindlichen Männer aus Palästina gehört. Zusammenfassend erklärte Ben Kanaan: Laßt mein Volk in Frieden ziehen. Tevor-Browne.

Cecil Bradshaw fand keinen Schlaf. Er ging auf und ab, auf und ab. Nur noch sechs Stunden, dann wollten die Kinder auf der Exodus anfangen.

Drei Stunden blieben ihm noch, sich zu entscheiden und dem Kabinett seinen Entschluß vorzulegen. Ein Kompromiß schien nicht möglich.

Kämpfte er gegen einen Wahnsinnigen? Oder war dieser Ari ben Kanaan ein gerissener Bursche, der nach einem kaltblütigen Plan handelte und ihn listig tiefer und tiefer in eine Falle gelockt hatte? LASST MEIN VOLK IN FRIEDEN ZIEHEN!

Cecil Bradshaw setzte sich an seinen Schreibtisch und knipste die Lampe an.

DRINGEND

Ari ben Kanaan, der Sprecher der Exodus, hat bekanntgegeben, daß ab morgen mittag 12 Uhr täglich zehn Freiwillige auf der Brücke des Schiffes Selbstmord begehen werden — Selbstmord — Selbstmord — Selbstmord!

Bradshaws Hand zitterte so heftig, daß er das Blatt fallen ließ. Auf seinem Schreibtisch lag ein Dutzend offizieller Stellungnahmen verschiedener europäischer und amerikanischer Regierungen. Sie alle gaben, in der höflichen Sprache der Diplomatie, ihrer ernsten Sorge über den Stillstand in der Frage der Exodus Ausdruck. Desgleichen lagen auf seinem Schreibtisch Noten sämtlicher arabischer Regierungen, in denen mitgeteilt wurde, daß man es als Affront empfände, wenn die Exodus die Erlaubnis erhalten sollte, nach Palästina auszulaufen.

Cecil Bradshaw wußte weder ein noch aus. Die letzten Tage waren für ihn eine Hölle gewesen. Wie war es eigentlich dazu gekommen? Dreißig Jahre lang war er federführend und maßgeblich in allen Fragen der Nahost-Politik tätig gewesen, und jetzt saß er wegen eines unbewaffneten Bergungsschiffes in einer so üblen Klemme. Was für einen sonderbaren Streich hatte ihm das Schicksal doch gespielt, daß es ihn jetzt als Unterdrücker erscheinen ließ. Ihn konnte gewiß niemand beschuldigen, Antisemit zu sein. Im geheimen bewunderte Bradshaw die Juden in Palästina sogar und verstand durchaus die historische Bedeutung ihrer Rückkehr dorthin. Er hatte die Stunden, die er damit verbracht hatte, mit den zionistischen Unterhändlern zu debattieren, in bester Erinnerung und schätzte sie wegen ihrer hervorragenden Fähigkeiten in der Diskussion. Freilich war Cecil Bradshaw davon überzeugt, daß Englands Interesse bei den Arabern lag. Schon war die Zahl der Juden im Mandatsgebiet auf über eine halbe Million angewachsen. Und die Araber waren ungehalten darüber, daß die Engländer eine jüdische Nation in ihrer Mitte förderten.

Während all der Jahre seiner Tätigkeit war er Realist geblieben. Was war jetzt eigentlich los mit ihm, daß er plötzlich seine eigenen Enkelkinder bewußtlos auf dem Oberdeck der Exodus liegen wähnte?

Bradshaw kannte die Bibel so gut wie jeder andere anständige Engländer und hatte auch das ausgeprägte Ehrgefühl, das den meisten Briten eigen ist. War es denkbar, daß diese Leute auf der Exodus von mystischen Kräften getrieben waren? Nein, er war Diplomat und Realist, und er glaubte nicht an irgend etwas Übernatürliches.

Und doch — ein Heer und eine Flotte standen ihm zur Verfügung; er konnte, wenn er wollte, die Exodus und alle anderen Blockadebrecher in die Luft sprengen — aber er konnte sich einfach nicht dazu entschließen.

Auch der Pharao von Ägypten hatte die Macht auf seiner Seite gehabt! Bradshaw brach der Schweiß aus. Das waren doch alles Hirngespinste! Er war übermüdet, seine Nerven waren überansprucht. Was für ein Unfug!

LASST MEIN VOLK IN FRIEDEN ZIEHEN!

»Crawford!« rief Bradshaw laut. »Crawford!«

Crawford kam eilig hereingestürzt. »Hatten Sie nach mir gerufen?« »Crawford — setzen Sie sich mit Tevor-Browne auf Zypern in Verbindung — sofort. Sagen Sie ihm — sagen Sie ihm, er soll die Exodus nach Palästina auslaufen lassen.«

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