ZWEITES BUCH DAS LAND IST MEIN

Denn Mein ist das Land, und ihr seid Fremdlinge und Gäste vor Mir. Und alle in eurem Lande sollt das Land auslösen.

MOSES, 3. BUCH, 25, I.


I.

Der Kampf um die Exodus war beendet!

Innerhalb von Sekunden gingen die Worte »Exodus darf auslaufen« durch den Äther, und bald erschienen sie überall auf der Welt als Schlagzeile.

Auf Zypern war die Freude der Bevölkerung grenzenlos, und um die ganze Welt ging ein tiefes Aufatmen. Die Kinder an Bord der Exodus waren zu erschöpft, um den Sieg zu feiern.

Die Engländer ersuchten Ari ben Kanaan dringend, an den Kai zu kommen, damit man den Kindern ärztliche Pflege angedeihen lassen und das Schiff inspizieren und überholen könnte. Ben Kanaan war einverstanden. Als die Exodus anlegte, begann in Kyrenia eine fieberhafte Tätigkeit. An die zwanzig englische Militärärzte kamen an Bord und ließen die schwereren Fälle rasch an Land schaffen. Im Dom-Hotel wurde in aller Eile ein improvisiertes Lazarett eingerichtet. Wagenkolonnen brachten Verpflegung und Bekleidung heran. Die Bevölkerung von Zypern schickte Geschenke. Ingenieure der englischen Flotte inspizierten den alten Dampfer von vorn bis achtern, um jedes Leck zu dichten, den Motor zu überholen und das ganze Schiff auszubessern. Sanitätertrupps desinfizierten das Schiff bis in den letzten Winkel.

Nach einer ersten Überprüfung teilte man Ari mit, daß es mehrere Tage dauern werde, ehe die Kinder soweit gekräftigt seien und die Exodus instand gesetzt sei. Schiff und Passagiere konnten erst dann die rund sechsunddreißigstündige Reise nach Palästina überstehen. Die kleine jüdische Gemeinde von Zypern schickte eine Abordnung zu Ari mit der Bitte, er möge den Kindern erlauben, vor der Abfahrt den ersten Abend des kurz bevorstehenden Chanukka-Festes auf Zypern zu feiern. Ari war auch damit einverstanden.

Erst nachdem man Kitty immer wieder versichert hatte, daß Karens Zustand nicht bedrohlich sei, gestattete sie sich den Luxus eines heißen Bades. Sie aß ein dickes Steak, trank einen doppelten Whisky und schlief danach herrlich und tief, siebzehn Stunden lang.

Als sie erwachte, sah sie sich einem Problem gegenüber, dem sie nicht länger ausweichen konnte. Sie mußte sich entscheiden, entweder die Episode mit Karen für immer zu beenden oder dem Mädchen nach Palästina zu folgen.

Als Mark gegen Abend zum Tee in Kittys Zimmer kam, war ihr von den hinter ihr liegenden Strapazen nichts mehr anzusehen. Nach dem langen Schlaf sah sie im Gegenteil ausgesprochen gut aus.

»Im Presseraum noch immer hektischer Betrieb?«

»Nein«, sagte Mark, »nicht mehr. Die Hauptleute und die Könige sind im Aufbruch. Die Exodus ist eine Neuigkeit von vorgestern. Na, ich nehme an, daß wir noch einen letzten Bericht auf der ersten Seite herausschlagen können, wenn das Schiff in Haifa landet.«

»Die Menschen sind treulos.«

»Nein, Kitty, das sind sie nicht. Aber die Welt hat nun einmal die Angewohnheit, sich weiterzudrehen.«

Kitty nahm einen Schluck von ihrem Tee und versank in Schweigen. Mark steckte sich eine Zigarette an und legte die Füße auf das Fensterbrett. Er tat, als wären seine Finger eine Pistole, mit der er über die Spitzen seiner Schuhe auf die Pier zielte.

»Und was hast du jetzt vor, Mark?«

»Ich? Der alte Mark Parker ist in den Domänen Seiner Majestät nicht mehr gern gesehen. Ich gehe zunächst in die Staaten zurück, und dann mache ich vielleicht mal einen Abstecher nach Asien. Das hat mich sowieso schon immer gereizt. Wie ich höre, geht es dort drunter und drüber.«

»Du meinst, die Engländer würden dich nach Palästina nicht hineinlassen?«

»Völlig ausgeschlossen. Ich habe mich sehr unbeliebt gemacht. Hätte es sich nicht um korrekte Engländer gehandelt, würde ich sogar sagen, sie hassen mich wie die Pest. Aber, ehrlich gestanden, ich kann ihnen das nicht übelnehmen.«

»Gib mir eine Zigarette.«

Mark zündete eine Zigarette an und gab sie ihr. Dann machte er mit seiner imaginären Pistole weiter Zielübungen und wartete ab.

»Du bist ein Scheusal, Mark! Ich hasse deine überhebliche Art, meine Gedanken zu lesen.«

»Du bist ein emsiges kleines Mädchen. Du warst bei den Engländern und hast sie um die Einreisegenehmigung nach Palästina gebeten. Wie höfliche Leute, die sie nun einmal sind, haben sie dir mit einer Verbeugung die Tür aufgemacht. Du bist für sie einfach eine saubere Amerikanerin, die ihre Pflicht getan hat. Daß du so ein bißchen für Aliyah Bet gearbeitet hast, davon weiß man bei der CID natürlich nichts. Also fährst du nun, oder fährst du nicht?«

»Gott, ich weiß nicht.«

»Du meinst, du hast dich noch nicht dazu überreden können?«

»Ich meine, daß ich es nicht weiß.«

»Was möchtest du nun — soll ich dir abraten oder zuraten?«

»Du könntest endlich aufhören, dich wie ein Buddha zu benehmen, der von seiner Höhe lächelnd auf die armen Sterblichen und ihre Nöte herabschaut. Und du könntest aufhören, aus dem Hinterhalt auf mich zu schießen.«

Mark nahm die Füße vom Fensterbrett und sagte: »Dann geh doch — geh in Gottes Namen nach Palästina. Das wolltest du doch hören, nicht wahr?«

»Ich fühle mich noch immer unbehaglich, wenn ich unter lauter Juden bin — ich kann mir nicht helfen.«

»Du fühlst dich aber gar nicht unbehaglich, wenn du mit diesem Mädchen zusammen bist? Oder? Erinnert sie dich immer noch an deine Tochter?«

»Nein, nicht mehr, eigentlich gar nicht. Dazu ist sie eine viel zu ausgeprägte Persönlichkeit. Aber ich liebe sie und möchte sie gern bei mir haben, falls das der Sinn deiner Frage gewesen sein sollte.« »Ich hätte Sie gern noch etwas gefragt, Mrs. Fremont.«

»Bitte.«

»Liebst du eigentlich Ari ben Kanaan?«

Ob sie Ari ben Kanaan liebte? Sicher, sie verspürte jedesmal eine starke Wirkung, wenn er in ihrer Nähe war, mit ihr sprach oder sie ansah, ja sogar, wenn sie nur an ihn dachte. Sie hatte noch nie einen Mann gekannt, der so war wie er. Sie hatte ein bißchen Angst vor seiner Verschlossenheit, seiner Beherrschtheit und seiner Energie. Sie war voller Bewunderung für seinen Mut und seine Kühnheit. Sie wußte auch, daß es Augenblicke gab, in denen er ihr so zuwider war, wie ihr noch nie irgendein anderer Mensch zuwider gewesen war. Aber ob sie ihn liebte?

»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »So wenig ich imstande bin, sehenden Auges in diese Sache hineinzugehen — ebensowenig scheint es mir möglich, mich davon zu entfernen. Und ich weiß nicht, warum — ich weiß es einfach nicht.«

Später saß Kitty über eine Stunde an Karens Bett in der Krankenstation, die man im zweiten Stock des Hotels eingerichtet hatte, Das Mädchen hatte sich erstaunlich rasch erholt. Die Ärzte waren sehr beeindruckt von der geradezu magischen Wirkung, die die zwei Worte »Erez Israel« auf alle Kinder hatte. Diese beiden Worte vermochten mehr als irgendeine Medizin. Während Kitty bei Karen saß, betrachtete sie die Gesichter der Kinder in den anderen Betten. Was für Menschen waren das? Woher kamen sie? Wohin gingen sie? Was für sonderbare Wesen, besessen und angetrieben von einem seltsamen, unbegreiflichen Fanatismus.

In dem Gespräch zwischen Kitty und Karen entstanden immer wieder lange Pausen, in denen es beide nicht wagten, die Frage anzuschneiden, ob Kitty mit nach Palästina käme. Schließlich schlief Karen ein. Kitty sah sie lange an, dann küßte sie Karen auf die Stirn und strich ihr über das Haar, und Karen lächelte im Schlaf. Draußen auf dem Korridor begegnete sie Dov Landau, der ruhelos auf und ab ging. Beide blieben stehen, starrten einander an, und Kitty ging wortlos an ihm vorüber.

Die Sonne versank im Meer, als Kitty in den Hafen kam. Am Kai standen Seew Gilboa und Joab Yarkoni und überwachten das Verladen von Kisten auf die Exodus. Kitty sah sich nach Ari um, doch er war nicht zu sehen.

»Schalom, Kitty!« riefen Seew und Joab ihr zu.

»Hello!« rief sie zurück.

Sie ging den Kai entlang und auf der Mole hinaus zum Leuchtturm. Es wurde kühl, Kitty zog ihre Wolljacke an. Ich muß dahinterkommen, ich muß, muß, muß, sagte sie sich immer wieder. Am Ende der Mole sah sie David ben Ami sitzen. Er schien in Gedanken verloren, sah aufs Meer hinaus und warf flache Steine über das Wasser. Sie ging zu ihm hin; er blickte auf und lächelte. »Schalom, Kitty. Sie sehen ausgeruht aus.«

Sie setzte sich neben ihn. Eine Weile bewunderten beide schweigend den Sonnenuntergang.

»Denken Sie an zu Hause?« fragte Kitty schließlich.

»Ja.«

»An Jordana — so heißt sie doch, nicht wahr — Aris Schwester?« David nickte.

»Werden Sie sie sehen?«

»Wenn ich Glück habe, werden wir ein bißchen Zeit füreinander haben.«

»David —.«

»Ja?«

»Was wird aus den Kindern?«

»Wir werden gut für sie sorgen. Sie sind unsere Zukunft.«

»Ist die Situation in Palästina gefährlich?«

»Ja, die Situation ist außerordentlich gefährlich.«

Danach schwiegen beide wieder eine ganze Weile. Dann fragte David:

»Fahren Sie mit uns?«

Kitty stockte das Herz. »Warum fragen Sie?«

»Es scheint allmählich so selbstverständlich, daß Sie bei uns sind. Außerdem erwähnte Ari irgend etwas davon.«

»Wenn — wenn Ari daran interessiert ist, warum fragt er mich dann nicht?«

David lachte. »Ari bittet nie einen Menschen um irgend etwas.« »David«, sagte Kitty plötzlich, »Sie müssen mir helfen. Ich bin völlig ratlos. Sie scheinen der einzige zu sein, der ein bißchen Verständnis dafür hat —.«

»Wenn ich kann, helfe ich Ihnen gern.«

»Ich bin in meinem Leben noch nie unter lauter Juden gewesen. Ihr seid mir fremd, ich finde euch so rätselhaft.«

»Wir Juden erscheinen uns selbst womöglich noch rätselhafter«, sagte David.

»Darf ich ganz offen sein? Ich komme mir so als Außenseiter vor.« »Das ist völlig normal, Kitty. Geht den meisten Leuten so. Wir sind schon eine sonderbare Gesellschaft.«

»Aber jemand wie dieser Ari ben Kanaan. Was ist das für ein Mensch? Wie ist er wirklich? Ist er überhaupt eine reale Person?« »Ari ist durchaus real. Er ist das Produkt einer historischen Fehlentwicklung.«

Sie gingen zum Hotel zurück, da es Zeit zum Abendessen war.

»Ich weiß nicht recht, wo man eigentlich anfangen soll«, sagte David. »Doch mir scheint, wenn man die Geschichte Ari ben Kanaans richtig erzählen will, dann muß man bei Simon Rabinski anfangen, einem russischen Juden, der im Ghetto von Schitomir lebte. Ja, ich glaube, man muß zurückgehen bis vor die Jahrhundertwende. Wenn ich mich recht erinnere, ereignete sich die entscheidende Wende im Jahre 1884.«

II.

Simon Rabinski war ein Schuhmacher. Seine Frau hieß Rachel. Sie war ihm ein gutes und treues Weib. Simon hatte zwei Söhne, und diese Söhne waren sein größter Schatz.

Jakob, der Jüngere, war vierzehn Jahre alt. Er war ein Hitzkopf, mit scharfer Zunge und von raschem Geist. Er war jederzeit sofort bereit, ein Streitgespräch zu beginnen.

Yossi, der ältere der beiden Brüder, war sechzehn. Seine Erscheinung war auffallend. Er war ein athletischer Bursche von über einsachtzig und mit dem brandroten Haar, wie es seine Mutter Rachel hatte. Er war ebenso sanft, wie sein Bruder Jakob wild war. Die Familie Rabinski war sehr arm. Sie lebte in dem südwestlichen Teil von Rußland, der Bessarabien, die Ukraine, die Krim und Teile von Weißrußland umfaßte und als jüdische Zone bekannt war. Die Grenzen dieser Zone, der einzigen, in der Juden in Rußland ansässig sein durften, waren im Jahre 1804 festgesetzt worden, und das ganze Gebiet war nichts als ein riesiges Ghetto.

Die Abgrenzung dieses jüdischen Wohngebiets war nur ein Ereignis in einer jahrhundertelangen Geschichte von Verfolgung und Diskriminierung. Diese jahrhundertelange Verfolgung erreichte einen kritischen Höhepunkt in der Regierungszeit Katharinas I., als eine Reihe von Pogromen gegen diejenigen Juden stattfand, die nicht gewillt waren, zum griechisch-katholischen Glauben überzutreten. Da alle Versuche, die Juden zu bekehren, völlig vergeblich waren, vertrieb Katharina I. schließlich einige tausend Juden aus Rußland. Die meisten von ihnen gingen nach Polen.

Es folgte die Zeit der Eroberungskriege, in denen Polen erobert und wieder erobert, geteilt und erneut geteilt wurde. Katharina II. erbte dabei die Juden, die vorher von Katharina I. vertrieben worden waren.

Diese Ereignisse führten in direkter Folge zur Errichtung des abgegrenzten jüdischen Wohngebietes. Im Jahre 1827 wurden die Juden erbarmungslos aus den kleineren Ortschaften in die bereits überfüllten jüdischen Viertel der größeren Städte getrieben. Im gleichen Jahr ordnete der Zar an, daß jährlich eine bestimmte Anzahl

von Juden als Rekruten in das russische Heer einzutreten und eine fünfundzwanzigjährige Dienstzeit abzuleisten hätten.

Simon Rabinski, Schuhmacher im Ghetto von Schitomir, sein treues Weib Rachel und seine Söhne Jakob und Yossi waren Gefangene des jüdischen Wohngebietes und einer ganz bestimmten, feststehenden Lebensform. Zwischen den jüdischen Gemeinden und der übrigen russischen Bevölkerung bestanden keinerlei gesellschaftliche und sehr wenig geschäftliche Verbindungen. Die einzigen regelmäßigen Besucher, die aus der Außenwelt in die abgeschlossene Welt der Juden kamen, waren die Steuereinnehmer, die alles, was nicht niet-und nagelfest war, mitgehen ließen. Häufige, wenn auch nicht ebenso regelmäßige Besucher waren wilde Horden von Kosaken, Bauern und Studenten, die es nach Judenblut dürstete.

In ihrer Isolierung empfanden die Juden nur geringe oder gar keine Loyalität für »Mütterchen Rußland«. Ihre Umgangssprache war nicht Russisch, sondern Jiddisch. Die Sprache ihrer Gebete war das alte Hebräisch. Die Juden unterschieden sich von ihrer russischen Umwelt vor allem auch durch ihre Kleidung. Sie trugen schwarze Hüte und lange Kaftane. Obwohl es durch Gesetz streng verboten war, trugen viele von ihnen Schläfenlocken, und es war ein für die Russen beliebter Sport, einen Juden zu fangen und ihm seine langen Locken abzuschneiden.

Simon Rabinski lebte nicht anders, als sein Vater und sein Großvater im Ghetto gelebt hatten. Da sie so arm waren, wurde lange um ein paar Kopeken gefeilscht. Dennoch aber, ungeachtet allen Elends der tragischen Existenz, hielten sich Simon Rabinski und alle anderen Juden innerhalb des Ghettos bei allen geschäftlichen Dingen an einen starren Ehrenkodex. Niemand durfte seinen Nachbarn schädigen, betrügen oder bestehlen.

Das Leben der Gemeinde bewegte sich um einen Mittelpunkt, den die göttlichen Gesetze, die Synagoge und der Rabbi darstellten. Der Rabbi war Lehrer, geistiger Führer, Richter und Gemeindevorsteher in einer Person. Rabbis waren zumeist große Gelehrte. Ihre Weisheit war häufig allumfassend, und ihre Autorität wurde nur selten, eigentlich fast nie, angezweifelt.

Viele Leute behaupteten, Simon Rabinski, der Schuhmacher, würde an Weisheit nur hinter dem Rabbi selbst zurückstehen. Im jüdischen Wohngebiet, wo fast alle arm waren und Not litten, war Weisheit der Maßstab für den Wohlstand eines Mannes. Simon versah in der Synagoge das Amt eines Vorbeters. Außerdem wurde er Jahr für Jahr in ein oder zwei hohe Ämter der jüdischen Gemeinde gewählt. Es war Simons höchster Wunsch, seine Söhne mit der Sehnsucht nach all dem Wunderbaren zu erfüllen, das der Geist zu erringen vermochte.

Die Juden nannten ihren Talmud ein »Meer«, und sie behaupteten, dieses Meer sei so groß, daß man niemals an das andere Ufer gelangen könnte, selbst wenn man sein ganzes Leben ausschließlich dem Studium des Talmud widme.

An einem Abend jeder Woche wurde Simon Rabinski und jeder andere Ghetto-Jude zu einem König. An diesem Abend ertönte im Ghetto das Horn, das zum Sabbath rief. Dann legte Simon das Werkzeug aus der Hand und machte sich bereit für den Tag, der seinem Gott gewidmet war. Wie liebte er den Klang des Horns! Es war der gleiche Ton, der die Menschen seines Volkes viertausend Jahre lang zum Gebet und zur Schlacht gerufen hatte. Dann ging Simon in das rituelle Bad, während sein braves Weib Rachel die Sabbathkerzen entzündete und ein Gebet sprach. Simon zog sein Sabbathgewand an, einen langen schwarzen Kaftan aus Seide und einen prächtigen, pelzverbrämten Hut. Stolz ging er zur Synagoge, Yossi an der einen und Jakob an der anderen Hand.

Kamen sie wieder nach Haus, so versammelte man sich zum Sabbathmahl, an dem nach alter Tradition eine Familie teilnahm, die noch ärmer war als die seine. Die Kerzen brannten, auf dem Tisch standen Brot und Sabbathwein, und Simon sprach den Segen und dankte Gott.

Am Sabbath betete und meditierte Rabinski. Er sprach mit seinen Söhnen und fragte sie nach dem, was sie gelernt hatten, behandelte mit ihnen religiöse und philosophische Fragen.

War der Sabbath vorbei, so kehrte Simon Rabinski in die bittere Wirklichkeit seines Lebens zurück. In dem feuchten Keller, der Werkstatt und Heim zugleich war, saß er bei Kerzenlicht über seine Schusterbank gebeugt und führte mit seinen faltigen Händen kunstgerecht ein Messer durch das Leder.

Simon Rabinski war ein frommer Mann. Doch selbst ein Mann von seiner großen Frömmigkeit konnte die Augen nicht vor dem Elend verschließen, das ihn rings umgab. »Wie lange noch, o Herr, wie lange?« fragte er dann wohl. »Wie lange sollen wir noch in diesem Abgrund der Finsternis verbringen?« Doch sein Herz wurde leicht und Begeisterung ergriff ihn, wenn er seine Lieblingsstelle aus dem Pessachgebet wiederholte: »Nächstes Jahr in Jerusalem!«

Nächstes Jahr in Jerusalem?

Würde es jemals kommen, dieses Nächste Jahr? Würde der Messias je erscheinen und sie in die Heimat führen?

III.

Nicht nur die Juden lebten in bitterem Elend. Ganz Rußland, besonders die Landbevölkerung, wurde immer wieder von Hungersnöten heimgesucht. Die Herren des Landes verharrten in den Anschauungen des Feudalismus, widersetzten sich der Industrialisierung und beuteten ihre Untertanen aus.

Das Volk murrte; es gärte im ganzen Land, überall entstanden Reformbewegungen, bildeten sich Gruppen, die bestrebt waren, die bestehenden Zustände zu ändern und bessere Lebensbedingungen herbeizuführen. Zwar hatte sich Zar Alexander II. endlich bereit gefunden, die Leibeigenschaft aufzuheben und einige Bodenreformen durchzuführen; doch diese Maßnahmen kamen zu spät und waren völlig unzureichend.

In dem Bestreben, die Aufmerksamkeit des Volkes von den wahren Ursachen der Mißstände abzulenken, beschlossen die Drahtzieher, die dem Zaren zur Seite standen, den Antisemitismus als politische Waffe zu verwenden. Sie starteten eine Kampagne, bei der sie die Anzahl der jüdischen Mitglieder der verschiedenen Reformbewegungen übertrieben hoch angaben und behaupteten, es handle sich nur um ein Komplott jüdischer Anarchisten, die darauf ausgingen, das zaristische Regime um des eigenen Profits willen zu stürzen.

Der jahrhundertealte Judenhaß, der auf religiöser Intoleranz, Aberglauben und Unwissenheit beruhte, erhielt neue Nahrung und wurde heimlich und planmäßig gefördert. Es kam zu blutigen Pogromen, die von der russischen Regierung stillschweigend geduldet, oft sogar gebilligt, wenn nicht gefördert wurden.

Am 13. März 1881 ereilte die Juden ein schlimmes Verhängnis: Zar Alexander II. fiel einem Attentat zum Opfer, und einer der Attentäter war ein jüdisches Mädchen. Jahre des Schreckens folgten. Verzweifelt suchten die in dem südrussischen Wohngebiet lebenden Juden nach einem rettenden Ausweg, einer Lösung ihrer Probleme. Sie machten tausend Vorschläge. Einer war unrealer als der andere. In vielen Ghetti meldete sich eine neue Stimme zum Wort, eine Gruppe, deren Mitglieder sich Chovevej Zion nannten — die Zionsfreunde.

Gleichzeitig mit den Zionsfreunden erschien eine Schrift aus der Feder Leo Pinskers über die Ursachen und die Lösung des jüdischen Problems, die den Nagel auf den Kopf zu treffen schien. Pinsker erklärte darin, der einzige Weg aus dem russischen Ghetto sei die Befreiung aus eigener Kraft.

Gegen Ende des Jahres 1881 brach eine Gruppe jüdischer Studenten mit dem Wahlspruch: »Beth Jakov Lelechu wenelchu — Haus Jakobs, laßt uns ziehen!« von Romny nach Palästina auf. Diese Gruppe kühner Abenteurer, vierzig an der Zahl, wurde weit und breit unter dem aus den Anfangsbuchstaben ihres Wahlspruchs abgeleiteten Namen »Bilu« bekannt.

Die Biluim gingen daran, in Palästina kleine bäuerliche Siedlungen ins Leben zu rufen. Bis zum Jahre 1884 gab es bereits ein halbes Dutzend solcher Siedlungen im Heiligen Lande. Sie waren klein und schwach und hatten mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen.

In Schitomir und in allen anderen Städten des russischen Wohngebiets fanden Abend für Abend heimlich Versammlungen statt. Die Jugend begann zu rebellieren und neue Wege zu gehen. Jakob Rabinski, der jüngere der beiden Brüder, wurde von den neuen Ideen ergriffen und entflammt. Manche Nacht lag er schlaflos in dem Alkoven der Werkstatt, den er mit seinem Bruder Yossi teilte, und starrte in die Dunkelheit. Er dachte daran, wie wunderbar es sein mußte, kämpfen zu können! Wie wunderbar, aufzubrechen und wirklich nach Palästina zu kommen! Jakobs Gedanken waren erfüllt von der ruhmreichen Vergangenheit der Hebräer. Oftmals stellte er sich vor, er würde an der Seite Judas kämpfen, des »Hammers« zu der Zeit, da die Makkabäer die Griechen aus Judäa vertrieben hatten.

Als die Zionsfreunde nach Schitomir kamen, lief Jakob sofort zu ihren Versammlungen. Ihre Botschaft von der Befreiung der Juden aus eigener Kraft war Musik in seinen Ohren. Die Zionsfreunde hätten gern auch seinen Bruder Yossi für sich gewonnen, weil er so groß und so stark war. Doch Yossi näherte sich diesen radikalen Ideen nur zögernd, weil er seinen Vater ehrte, wie Gott es befohlen hatte. Doch als sein Bruder Jakob eines Abends zu dem Kerzenmacher Cohen gegangen war, in dessen Werkstatt ein richtiger Bilu sprach, der zu Besuch aus Palästina gekommen war, hielt es auch Yossi vor Neugier nicht mehr aus. Er wollte alles ganz genau wissen — wie der Bilu ausgesehen hatte, was er gesagt hatte, alles.

»Ich finde, Yossi, das nächstemal solltest du wirklich mitkommen«, sagte Jakob.

Yossi seufzte. Ging er hin, würde er damit zum erstenmal in seinem Leben den Wünschen seines Vaters offen zuwiderhandeln.

»Also gut«, sagte er leise zu Jakob, »ich komme mit.« Und danach betete er den ganzen Tag inbrünstig um Vergebung für das, was er zu tun beabsichtigte.

Die beiden Brüder sagten ihrem Vater, sie wollten für einen Freund der Familie, der kürzlich gestorben war, Kaddisch beten. Sie verließen das Haus und begaben sich eilig zu der Werkstatt des Kerzenmachers. Es war eine kleine Kellerwerkstatt, ganz der ihres Vaters ähnlich. Es roch nach Wachs und Duftstoffen. Die Fenstervorhänge waren zugezogen. Draußen auf der Straße waren Wachen postiert. Der Raum war voller Menschen, und Yossi war überrascht, so viele bekannte Gesichter zu sehen. Der Redner stammte ursprünglich aus Odessa und hieß Wladimir.

Wladimir war ganz anders als die Juden von Schitomir, sowohl seinem Äußeren als auch seinem Benehmen nach. Er trug weder Bart noch Schläfenlocken. Er hatte Stiefel an und eine dunkle Lederjacke. Jakob war hingerissen, als er zu sprechen begann, doch unter den Zuhörern gab es mehrere, die dem Redner ins Wort fielen und mißtrauische Fragen an ihn richteten.

»Bist du der Messias, der gekommen ist, uns in das Land unserer Väter zu führen?« rief einer von ihnen.

»Hast du den Messias unter deinem Bett gefunden, als du dich beim letzten Pogrom darunter verstecktest?« erwiderte Wladimir.

»Wie kann ich sicher sein, daß du nicht ein Spitzel des Zaren bist?« fragte ein anderer.

»Wie kannst du sicher sein, daß du nicht das nächste Opfer des Zaren sein wirst?« schlug Wladimir zurück.

Es wurde ruhig im Raum. Wladimir sprach leise und eindringlich. Er rief seinen Zuhörern alles ins Gedächtnis, was die Juden in Polen und in Rußland erlitten hatten, er dehnte seinen zusammenfassenden Rückblick auf Deutschland und Österreich aus, sprach von den Vertreibungen der Juden aus England und Frankreich, von den Pogromen in Bray und York, in Speyer und Worms. Und er sprach von der spanischen Inquisition, einer der schrecklichsten Leidenszeiten, in deren Verlauf unvorstellbare Greuel gegen die Juden im Namen der Kirche verübt worden waren. Und schließlich sagte Wladimir: »Kameraden, alle Nationen dieser Erde haben uns verhöhnt und erniedrigt. Wir müssen uns erheben und wieder zu einer Nation werden. Das ist unsere einzige Rettung. Pinsker hat dies erkannt, und die Zionsfreunde und die Biluim wissen es und handeln danach. Wir müssen das Haus Israel neu erbauen!«

Jakob schlug das Herz, als er mit seinem Bruder die Versammlung verließ. »Nun, Yossi, was habe ich dir gesagt? Und du hast heute abend gesehen, sogar Rabbi Lipzin war da.«

»Ich muß es mir überlegen«, sagte Yossi abwehrend. Dabei war er sich ebenso wie Jakob bereits klar, daß Wladimir recht hatte. Dies war ihre einzige Rettung.

Als sie nach Haus kamen, stand Simon Rabinski in seinem langen Nachthemd hinter seiner Werkbank, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Auf der Werkbank brannte eine Kerze.

»Guten Abend, Papa«, sagten beide rasch und wollten in ihrem Alkoven verschwinden.

»Yossi, Jakob!« rief Simon. Beide gingen langsam zu ihm hin und blieben vor der Schusterbank stehen.

Die Mutter machte die Tür auf und sah blinzelnd herein. »Simon«, sagte sie, »sind die Jungens zu Hause?«

»Sie sind zu Hause.«

»Sag ihnen, sie sollten nicht so spät am Abend auf der Straße bleiben.«

»Ja, Mama«, sagte Simon. »Geh jetzt wieder schlafen. Ich werde mit ihnen reden.«

Simon sah von Jakob zu Yossi und wieder zu Jakob. »Ich muß Frau Horowitz morgen erzählen, daß ihr Mann gewiß in Frieden ruhen kann, weil meine beiden Söhne heute abend für ihn Kaddisch gebetet haben.«

Es war Yossi unmöglich, seinem Vater gegenüber unehrlich zu sein. »Wir haben gar nicht für Reb Horowitz gebetet«, murmelte er.

Simon Rabinski tat überrascht und hob die Hände in die Höhe.

»So, so! Nun, ich hätte es mir denken können. Ihr wart gewiß auf Freiersfüßen. Grad heut war Abraham, der Heiratsvermittler, hier bei mir im Laden. Er sagte zu mir, Simon Rabinski, sagte er, einen schönen Sohn hast du da an deinem Yossi. Er wird dir eine gute Mitgift von der Familie eines reichen Mädchens bringen — stell dir vor, Yossi, er will schon jetzt eine Braut für dich aussuchen.«

»Wir waren nicht auf Brautschau«, sagte Yossi und schluckte. »Nein? Nicht auf Brautschau und nicht zum Kaddisch? Vielleicht wart ihr noch einmal in der Synagoge?«

»Nein, Vater«, sagte Yossi fast unhörbar.

Jakob hielt es nicht länger aus. »Wir waren in einer Versammlung der Zionsfreunde!« sagte er.

Yossi sah seinen Vater verlegen an, wurde rot und nickte. Jakob machte ein trotziges Gesicht. Er schien froh zu sein, daß es heraus war. Simon seufzte und sah seine beiden Söhne lange Zeit schweigend und eindringlich an.

»Ich bin gekränkt«, sagte er schließlich.

»Deshalb hatten wir dir ja auch nichts davon gesagt, Vater«, sagte Yossi. »Wir wollten dich nicht kränken.«

»Ich bin nicht gekränkt, weil ihr zu einer Versammlung der Zionsfreunde gegangen seid. Ich bin gekränkt, weil die Söhne von Simon Rabinski so gering von ihrem Vater denken, daß sie sich ihm nicht mehr anvertrauen.« Jetzt wand sich auch Jakob verlegen. »Aber«, sagte er, »wenn wir es dir gesagt hätten, dann hättest du uns vielleicht verboten, hinzugehen.«

»Sag mir, Jakob — wann habe ich euch jemals verboten, Wissen zu erwerben? Habe ich euch jemals ein Buch verboten? Gott verzeih mir — selbst, als es euch in den Sinn kam, das Neue Testament lesen zu wollen — habe ich es euch verboten?«

»Nein, Vater«, sagte Jakob.

»Mir scheint, es ist höchste Zeit, daß wir einmal miteinander reden«, sagte Simon.

Yossis rotes Haar leuchtete im Schein der Kerze. Er war um einen halben Kopf größer als sein Vater. Er sprach fest und bestimmt. Yossi war zwar langsam von Entschluß, doch wenn er sich erst einmal entschlossen hatte, blieb er dabei. »Jakob und ich haben dir nichts davon gesagt, weil wir wissen, was du von den Zionsfreunden und den neuen Ideen hältst, und weil wir dich nicht verletzen wollten. Aber ich bin froh, daß ich heute abend hingegangen bin.« »Auch ich finde es gut, daß du hingegangen bist«, sagte Simon. »Rabbi Lipzin möchte gern, daß ich in die Mannschaft zur Verteidigung des Ghettos eintrete«, sagte Yossi.

»Rabbi Lipzin bricht mit so vielen Traditionen, daß ich mich allmählich frage, ob er überhaupt noch ein Rabbi ist«, sagte Simon. »Das ist es ja gerade, Vater«, sagte Yossi. »Du hast Angst vor den neuen Ideen.« Es war das erstemal, daß Yossi so zu seinem Vater sprach, und er schämte sich im gleichen Augenblick.

Simon kam hinter seiner Werkbank hervor, legte seinen Söhnen die Hände auf die Schultern, führte sie zu ihrem Alkoven und bat sie, sich auf die Betten zu setzen. »Meint ihr denn, ich wüßte nicht genau, was in euren Köpfen spukt? Neue Ideen, wahrhaftig! Von Emanzipation und Ghettoverteidigung war genauso die Rede, als ich in eurem Alter war. Ihr macht nur eine Krise durch, die jeder Jude durchmachen muß — um seinen Frieden mit der Welt zu machen — um zu wissen, wo sein Platz in der Welt ist. Ich habe als junger Mensch sogar einmal daran gedacht, den christlichen Glauben anzunehmen!«

Yossi war verblüfft. Sein Vater hatte daran gedacht, zu konvertieren!

»Warum sollte es falsch sein, daß wir uns verteidigen wollen?« fragte Jakob. »Warum wird es von unseren eigenen Leuten als Sünde betrachtet, wenn wir versuchen, uns bessere Lebensbedingungen zu verschaffen?«

»Du bist Jude«, antwortete sein Vater, »und das bringt bestimmte Verpflichtungen mit sich.«

»Auch die Verpflichtung, daß ich mich unter meinem Bett verkrieche, wenn man mich töten will?« sagte Jakob laut und heftig.

»Sprich nicht so mit Vater«, sagte Yossi.

»Niemand hat behauptet, es sei leicht, Jude zu sein. Wir sind nicht da, um von den Früchten dieser Erde zu leben. Wir sind in die Welt gestellt, um über die Gebote Gottes zu wachen. Das ist unsere Mission. Das ist unsere Aufgabe.«

»Und das ist unser Lohn!« gab Jakob heftig zurück.

»Der Messias wird erscheinen und uns in das Land unserer Väter führen, wenn der Herr in seiner Güte die Zeit für gekommen hält«, sagte Simon, unverändert ruhig und gelassen. »Und ich glaube nicht, daß es Jakob Rabinski ansteht, Zweifel zu hegen an der Weisheit des Herrn. Ich glaube vielmehr, daß es Jakob Rabinski ansteht, zu leben nach den Geboten der heiligen Thora.«

Jakob schossen vor Zorn die Tränen in die Augen. »Ich zweifle nicht an Gottes Geboten«, rief er, »aber ich zweifle an der Weisheit einiger Männer, die diese Gebote auslegen.«

Es trat eine kurze Stille ein. Yossi schluckte. Noch nie hatte irgend jemand so zu seinem Vater gesprochen. Und doch bewunderte er heimlich den Mut seines Bruders. Denn Jakob hatte gewagt, die Frage zu stellen, die er selbst nicht zu stellen wagte.

»Wenn wir nach Gottes Ebenbild erschaffen sind«, fuhr Jakob fort, »dann ist der Messias in uns allen lebendig, und der Messias in meiner Brust sagt mir unablässig, daß ich mich erheben und zurückschlagen soll. Er sagt mir unablässig, daß ich mich mit den Zionsfreunden auf den Weg in das Gelobte Land machen soll. Das ist es, Vater, was mir der Messias sagt.«

Simon Rabinski blieb unerschütterlich. »Wir sind im Laufe unserer Geschichte immer wieder von Männern heimgesucht worden, die sich fälschlich als Messias bezeichneten. Ich fürchte, daß auch du jetzt einem solchen falschen Messias dein Ohr leihst.«

»Und woran soll ich den wahren Messias erkennen?« fragte Jakob herausfordernd.

»Die Frage ist nicht, ob Jakob Rabinski den Messias erkennt. Die Frage ist, ob der Messias den Jakob Rabinski erkennen wird. Wenn Jakob Rabinski von Gottes Geboten abweicht und falschen Propheten sein Ohr leiht, dann wird der Messias ohne Zweifel erkennen, daß Jakob Rabinski aufgehört hat, Jude zu sein. Ich möchte Jakob Rabinski daher empfehlen, weiterhin als ein Jude zu leben, wie es sein Vater und seines Vaters Väter getan haben.«

IV.

»Schlagt die Juden tot!«

Ein Steinschlag durchschlug das Fenster des Seminars. Eilig brachte der Rabbi seine Schüler durch den hinteren Ausgang in die Sicherheit des Kellers. Durch die Straßen hasteten Juden, die sich in wilder Flucht vor einer aufgebrachten Meute von mehr als tausend Primanern und Kosaken in Sicherheit zu bringen versuchten.

»Schlagt die Juden tot!« schrien sie. »Schlagt die Juden tot!«

Wieder einmal fand ein Pogrom statt, inszeniert von Andrejew, dem buckligen Direktor des Städtischen Gymnasiums und dem größten Judenhasser von Schitomir. Andrejews Schüler zogen randalierend durch das Ghetto, zertrümmerten die Schaufenster, schleppten alle Juden, die sie erwischten, auf die Straße und schlugen erbarmungslos auf sie ein.

»Schlagt sie tot, die Juden — schlagt sie tot — schlagt sie tot!«

Jakob und Yossi hielt es nicht im Keller des Seminars. Sie rannten durch schmale Gäßchen und ausgestorbene Seitenstraßen nach Haus, um ihre Eltern zu beschützen. Mehrfach mußten sie ausweichen und in Deckung gehen, wenn sich das Getrappel der Kosakenpferde und das blutrünstige Geschrei der Menge näherte. Sie bogen in die Straße ein, in der die Werkstatt ihres Vaters lag, und prallten auf ein Dutzend junger Burschen mit bunten Mützen. Schüler von Andrejew.

»Da sind zwei von denen!«

Jakob und Yossi machten kehrt und liefen davon, um das Rudel der Verfolger von der Wohnung ihrer Eltern abzulenken. Mit Gejohle setzten die Gymnasiasten den beiden Brüdern nach. Lange ging die Jagd kreuz und quer durch die Straßen und Gäßchen, über Hinterhöfe und Gartenzäune, bis die Verfolger sie in einer Sackgasse stellten. Yossi und Jakob standen mit dem Rücken gegen die Wand, schwitzend und keuchend, während die Angreifer einen Halbkreis bildeten und auf sie eindrangen. Ihr Anführer trat mit funkelnden Augen vor, schwang ein Eisenrohr und holte aus zum Schlag auf Yossi.

Yossi wehrte den Schlag ab, packte den Angreifer, hob ihn hoch und warf ihn der übrigen Meute entgegen. Jakob nahm zwei von den Steinen, die er immer bei sich trug, aus einer Tasche und schleuderte sie gegen die Köpfe zweier Angreifer, die bewußtlos zu Boden fielen. Die anderen Gymnasiasten stoben in wilder Flucht davon.

Die beiden Brüder stürzten nach Haus und rissen die Tür der Werkstatt auf.

»Mama! Papa!«

Die Werkstatt war ein Trümmerfeld.

»Mama! Papa!«

Sie fanden ihre Mutter, die wie von Sinnen in einer Ecke kauerte. Yossi schüttelte sie heftig. »Wo ist Papa?«

»Die Thora!« schrie sie. »Die Thora!«

In diesem Augenblick wankte, sechs Querstraßen weiter, Simon Rabinski in die brennende Synagoge und bahnte sich keuchend den Weg zum Ende des Raumes, dorthin, wo der Thoraschrein stand. Er zog die Vorhänge beiseite, auf denen die Zehn Gebote geschrieben standen, und holte das Sefer Thora herunter, die Rolle mit den Geboten Gottes.

Simon drückte das heilige Pergament an seine Brust, um es vor den Flammen zu schützen, und wankte zur Tür zurück. Er hatte schwere Verbrennungen erlitten und war dem Ersticken nahe. Er wankte durch die Tür nach draußen und fiel auf die Knie.

Zwanzig der Schüler Andrejews erwarteten ihn.

»Schlagt den Juden tot!«

Simon kroch noch ein paar Meter auf den Knien weiter, dann brach er zusammen und beschützte, am Boden liegend, das Sefer Thora mit seinem Leib. Knüppel zerschmetterten seinen Schädel, genagelte Schuhe traten ihm ins Gesicht.

»Schlagt den Juden tot!«

In seiner Todesqual rief Simon Rabinski laut: »Höre, o Israel — der Herr ist unser Gott!«

Simon Rabinski war, als man ihn fand, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das Sefer Thora, die Rolle mit den Geboten, die Gott dem Moses verkündet hatte, war dem Alten vom Mob abgenommen und verbrannt worden.

Das ganze Ghetto von Schitomir betrauerte seinen Tod. Er hatte den ehrenvollsten Tod erlitten, den es für einen Juden geben konnte. Er hatte das Sefer Thora mit seinem Leib geschützt! Er wurde zusammen mit einem Dutzend anderer bestattet, die gleich ihm bei Andrejews Pogrom umgebracht worden waren.

Für Rachel Rabinski war der Tod ihres Mannes nur eine weitere Tragödie im Verlauf eines Lebens, in dem sie kaum etwas anderes gekannt hatte als Kummer und Sorgen. Doch diesmal ging es über ihre Kraft. Auch ihre Söhne waren ihr kein Trost. Man brachte sie zu Verwandten, die in einer anderen Stadt wohnten. Yossi und Jakob gingen jeden Tag zweimal zur Synagoge, um für ihren Vater Kaddisch zu beten. Yossi mußte daran denken, wie sehr sein Vater bestrebt gewesen war, das Leben eines Juden zu führen, damit ihn der Messias erkenne. Es war seine Lebensaufgabe gewesen, über Gottes Gebote zu wachen. Vielleicht hatte sein Vater recht gehabt — vielleicht war es nicht ihr Los, von den Früchten der Erde zu leben, sondern als Wächter der göttlichen Gebote zu dienen. In seinem Schmerz versuchte Yossi, eine Erklärung für den grausamen Tod seines Vaters zu finden.

In Jakob sah es anders aus. Sein Herz war voller Haß, und selbst wenn er zur Synagoge ging, um das Klagegebet für seinen Vater zu sprechen, sann er auf Rache. Er war unruhig und voller Bitterkeit. Er schwor grimmig, den Tod seines Vaters zu rächen.

Yossi, der wußte, wie es um seinen Bruder stand, ließ ihn nicht aus den Augen. Er versuchte, ihn zu beruhigen und zu trösten, doch Jakob war untröstlich.

Einen Monat nach dem Tod von Simon Rabinski schlich sich Jakob eines Nachts, während Yossi schlief, heimlich aus der Werkstatt. In seinem Gürtel hatte er ein langes scharfes Messer versteckt, das er von der Schusterbank seines Vaters genommen hatte. Er wagte sich aus dem Ghetto hinaus und begab sich zu der Wohnung Andrejews, des Judenhassers.

Ein instinktives Gefühl ließ Yossi wenige Minuten später wachwerden. Als er sah, daß Jakob fort war, kleidete er sich hastig an und rannte ihm nach. Er ahnte, wohin sein Bruder gegangen war. Gegen vier Uhr morgens hob Jakob Rabinski den Messingklopfer an der Tür von Andrejews Wohnung. Als der bucklige Andrejew die Tür öffnete, sprang Jakob auf ihn zu und rannte ihm das Messer tief ins Herz. Andrejew stieß einen kurzen Schrei aus und fiel tot zu Boden.

Als Yossi kurz danach angestürzt kam, fand er seinen Bruder, der wie hypnotisiert die Leiche des Mannes anstarrte, den er ermordet hatte. Er zog Jakob fort, und beide flohen.

Den ganzen nächsten Tag und die folgende Nacht hielten sie sich im Keller des Hauses von Rabbi Lipzin verborgen. Die Nachricht von der Ermordung Andrejews war wie ein Lauffeuer durch Schitomir gegangen. Der Ältestenrat des Ghettos versammelte sich und faßte einen Beschluß.

»Wir haben Anlaß, zu befürchten, daß man euch erkannt hat«, sagte der Rabbi, als er von der Versammlung nach Haus kam. »Dein rotes Haar, Yossi, ist einigen der Gymnasiasten aufgefallen.«

Yossi biß sich auf die Lippe und sagte nicht, daß er nur versucht hatte, die Tat zu verhindern. Jakob zeigte keinerlei Reue, sondern sagte: »Ich würde es ein zweitesmal tun, gern sogar.«

»Wenn wir auch durchaus verstehen, was euch zu dieser Tat getrieben hat«, sagte der Rabbi, »so können wir sie dennoch nicht gutheißen. Es ist sehr wohl möglich, daß es durch euch zu einem weiteren Pogrom kommt. Andererseits — wir sind Juden, und es gibt für uns vor einem russischen Gericht kein Recht. Wir haben einen Beschluß gefaßt, dem ihr euch zu fügen habt.«

»Ja, Rabbi«, sagte Yossi.

»Ihr müßt eure Locken abschneiden und euch wie die Gojim kleiden. Wir werden euch Nahrung und Geld für eine Woche geben. Ihr müßt Schitomir sofort verlassen und dürft nie mehr hierher zurückkehren.«

So wurden Jakob und Yossi Rabinski, der eine vierzehn und der andere sechzehn Jahre alt, im Jahr 1884 Flüchtlinge. Sie gingen nach Osten, wanderten nur bei Nacht auf der Landstraße und hielten sich tagsüber verborgen. Sie erreichten Lubny, rund dreihundert Kilometer von Schitomir entfernt, suchten sofort das Ghetto auf und begaben sich zum Rabbi. Von ihm erfuhren sie, daß ihnen die Kunde ihrer Tat schon vorausgeeilt war. Der Rabbi berief den Ältestenrat, und man beschloß ohne Zögern, den beiden Brüdern für eine weitere Woche Nahrung und Geld mit auf den Weg zu geben.

Yossi und Jakob machten sich von neuem auf den Weg. Ihr nächstes Ziel war Charkow, rund zweihundertundfünfzig Kilometer entfernt, wo man vielleicht nicht so eifrig nach ihnen fahndete. Der Rabbi von Charkow wurde unterrichtet, daß die beiden Rabinskis dorthin unterwegs seien.

Doch die ganze Gegend war alarmiert, und die beiden Brüder konnten sich nur mit größter Vorsicht bewegen. Sie brauchten zwanzig Tage, um nach Charkow zu kommen. Überall im ganzen jüdischen Wohnbezirk befand sich ihr Steckbrief, und für alle Russen war es geradezu eine heilige Pflicht geworden, nach den beiden Brüdern zu fahnden. Zwei Wochen lang hielten sie sich in dem feuchten Keller unter der Synagoge von Charkow verborgen. Nur dem Rabbi und einigen der Ältesten war ihre Anwesenheit bekannt. Schließlich erschien Rabbi Solomon bei ihnen und sagte: »Ihr seid selbst hier nicht sicher. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man euch entdeckt. Schon jetzt schnüffelt die Polizei hier herum und fragt die Leute aus. Und nun, da der Winter bevorsteht, wird es für euch fast unmöglich sein, weiterzukommen.« Der Rabbi seufzte und schüttelte den Kopf. »Wir haben auch versucht, Papiere für euch zu beschaffen, damit ihr die Grenzen des jüdischen Wohngebiets überschreiten könnt, doch ich fürchte, das ist unmöglich. Ihr seid bei der Polizei allzu bekannt.«

Der Rabbi ging unruhig hin und her. »Wir sind zu der Einsicht gekommen, daß es nur eine Möglichkeit gibt. Es wohnen hier im Distrikt einige jüdische Familien, die sich taufen ließen und jetzt als Kleinbauern leben. Wir meinen, es wird für euch das sicherste sein, wenn ihr euch zumindest bis zum Frühling bei einer dieser Familien verbergt.«

»Rabbi Solomon«, sagte Yossi, »wir sind euch für alles, was ihr für uns getan habt, sehr dankbar. Doch mein Bruder und ich haben etwas anderes beschlossen.«

»So? Und was habt ihr beschlossen?«

»Wir wollen nach Palästina«, sagte Jakob.

»Nach Palästina?« sagte der Rabbi erstaunt. »Wie denn?«

»Wir haben uns einen Weg dorthin überlegt. Gott wird uns helfen.« »Ich zweifle nicht daran, daß euch Gott helfen wird, aber er läßt sich auch nicht dazu zwingen, ein Wunder zu tun. Es sind gut und gern sechshundert Kilometer bis zum Hafen von Odessa. Und selbst wenn ihr Odessa erreichen solltet, wie wollt ihr ohne Papiere auf ein Schiff kommen?«

»Unser Weg führt nicht über Odessa.«

»Es gibt keinen anderen Weg!«

»Wir wollen nicht über das Schwarze Meer fahren. Wir haben vor, zu Fuß zu gehen.«

Rabbi Solomon schnappte nach Luft.

»Moses wanderte vierzig Jahre lang«, sagte Jakob. »So lange werden wir nicht brauchen.«

»Junger Freund, ich weiß sehr wohl, daß Moses vierzig Jahre lang gewandert ist, doch das erklärt noch immer nicht, wie ihr zu Fuß nach Palästina kommen wollt.«

»Ich will es Ihnen erklären«, sagte Yossi. »Wir wollen nach Süden wandern. In dieser Richtung wird die Polizei nicht allzu eifrig nach uns suchen. Wir wollen das jüdische Wohngebiet hinter uns lassen und über den Kaukasus in die Türkei.«

»Unsinn! Wahnsinn! Das ist unmöglich! Wollt ihr mir vielleicht erzählen, daß ihr mehr als dreitausend Kilometer zu Fuß zurücklegen wollt, in der Winterkälte, durch fremde Länder und über ein hohes Gebirge — ohne Papiere, ohne Kenntnis von Land und Leuten und mit einem Steckbrief der Polizei? Ihr seid noch halbe Kinder!«

Jakob sah den Rabbi an, und in seinen Augen brannte das Feuer der Begeisterung. »Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir. Ich will die Deinen sammeln aus Ost und West, aus Nord und Süd; will heranführen meine Söhne aus der Ferne und meine Töchter von den Enden der Erde«, zitierte er.

Und so geschah es, daß die Brüder Rabinski, gesucht wegen Mordes, von Charkow aus weiterflohen. Sie zogen nach Osten und nach Süden durch die Kälte eines unbarmherzig strengen Winters.

Sie arbeiteten sich nachts durch den Schnee, der ihnen bis an die Knie ging, stemmten ihre jungen Leiber gegen den heulenden Wind, während die Kälte ihre Glieder erstarren ließ. Der Magen knurrte ihnen vor Hunger. Sie ernährten sich durch Diebstähle auf dem flachen Lande und verbargen sich am Tage in den Wäldern.

In diesen qualvollen Nächten war es Jakob, der Yossi mit seiner Begeisterung für ihre Mission aufrechterhielt. Und manche Nacht mußte Yossi seinen Bruder acht Stunden lang auf dem Rücken tragen, weil Jakobs Füße so wund waren, daß er nicht laufen konnte. Über das Eis und durch den Schnee wankten sie nach Süden, die Füße mit Lumpen umwickelt, Meter um Meter, Meile um Meile, Woche um Woche. Im Frühling erreichten sie Rostow. Sie brachen zusammen.

Sie fanden das Ghetto, wo man sie aufnahm und ihnen Nahrung und Obdach gewährte. Sie vertauschten ihre Lumpen gegen neue Kleider. Mehrere Wochen lang mußten sie ausruhen, bis sie kräftig genug waren, ihren Weg fortzusetzen. Doch gegen Ende des Frühlings hatten sie sich von den Strapazen des Winters völlig erholt und begaben sich erneut auf die Wanderung.

Sie brauchten sich jetzt nicht mehr mit den feindlichen Elementen herumzuschlagen, mußten sich aber mit noch größerer Vorsicht bewegen, da sie das jüdische Wohngebiet hinter sich gelassen hatten und sich nicht mehr darauf verlassen konnten, bei jüdischen Gemeinden Schutz, Nahrung und Obdach zu finden. Sie gingen von Rostow aus nach Süden, der Küste des Schwarzen Meeres entlang. Sie konnten sich jetzt nur von dem ernähren, was sie auf den Feldern stahlen. Bei Tage ließen sie sich niemals sehen. Als es erneut Winter wurde, waren sie vor eine ungeheuer schwere Entscheidung gestellt. Sollten sie versuchen, den Kaukasus im Winter zu überqueren oder mit einem Schiff über das Schwarze Meer zu fahren? Beide Wege waren gefährlich. Zwar schien es glatter Wahnsinn, sich im Winter in ein hohes Gebirge zu wagen, doch ihr Verlangen, Rußland hinter sich zu lassen, war so brennend, daß sie beschlossen, es zu riskieren. In und um Stavropol, am Fuße des Gebirges, verübten sie eine Reihe von Einbrüchen, um sich für den Angriff auf die Berge ausreichend mit Kleidung und Nahrung auszurüsten. Dann flohen sie weiter in den Kaukasus hinein, noch immer von der Polizei verfolgt, um nach Armenien zu kommen.

Abermals wanderten sie durch die grausame Kälte des Winters. Doch das erste Jahr ihrer Wanderschaft hatte sie abgehärtet und sie allerhand Schliche gelehrt, und ihre Sehnsucht, nach Palästina zu kommen, wurde immer größer. Die letzte Strecke des Weges legten sie halb betäubt zurück, nur noch vom Instinkt vorwärtsgetrieben. Und im Frühling erlebten sie zum zweitenmal das Wunder der Wiedergeburt. Eines Tages richteten sie sich auf und atmeten zum erstenmal freie Luft — sie hatten »Mütterchen Rußland« für immer hinter sich gelassen. Jakob drehte sich, als er die Grenze zur Türkei überschritten hatte, noch einmal um und spuckte aus, in Richtung Rußland.

Jetzt konnten sie sich frei bei Tage bewegen, doch es war ein fremdes Land mit ungewohnten Geräuschen und Gerüchen, und sie hatten weder Pässe noch Ausweise. Die ganze östliche Türkei war gebirgig, und sie kamen nur langsam voran. Wenn sie auf den Feldern keine Nahrung stehlen konnten, arbeiteten sie, und zweimal in diesem Frühjahr wurden sie erwischt und für kurze Zeit ins Gefängnis gesteckt. Yossi meinte, sie müßten nun mit dem Stehlen aufhören, weil es zu gefährlich für sie sei, wenn man sie erwischte: Man könnte sie nach Rußland zurückschicken! Im Sommer kamen sie am Fuß des Berges Ararat vorbei, auf dem die Arche Noah gelandet war. Und weiter ging es, nach Süden. In jedem Dorf fragten sie: »Wohnen hier Juden?«

In einigen Dörfern gab es Juden, und die Brüder bekamen von ihnen Nahrung, Kleidung und Obdach, und wurden mit guten Wünschen auf den Weg gebracht. Diese Juden waren anders als alle, die sie bisher kennengelernt hatten. Es waren unwissende und abergläubische Bauern, doch sie kannten ihre Thora, hielten den Sabbath und feierten die jüdischen Feste.

»Gibt es hier im Osten Juden?«

»Wir sind Juden.«

»Wir möchten gern mit eurem Rabbi sprechen.«

»Wo wollt ihr hin?«

»Wir sind auf dem Weg in das Gelobte Land.« Dies war das magische Wort, das ihnen den Weg ebnete. »Gibt es hier Juden?« »Im nächsten Dorf wohnt eine jüdische Familie.« Überall wurden sie gastlich aufgenommen.

So vergingen zwei Jahre. Die beiden Brüder drängten hartnäckig weiter auf ihrem Weg, machten nur halt, wenn die Erschöpfung zu groß wurde oder wenn sie arbeiten mußten, um sich zu ernähren. »Wohnen hier im Ort Juden?«

Sie überschritten die türkische Grenze und kamen nach Syrien, in ein ebenso fremdes Land. In Aleppo machten sie die erste Bekanntschaft mit der arabischen Welt. Sie durchquerten Bazare, kamen durch Straßen, die von Kamelmist bedeckt waren, und hörten die mohammedanischen Gesänge, die von den Minaretts ertönten. Und weiter wanderten sie, bis sich vor ihnen plötzlich die blaugrüne Weite des Mittelmeeres auftat. Statt der Stürme und der Kälte der hinter ihnen liegenden Jahre begrüßte sie hier glühende Hitze. Sie trotteten die Küste entlang, in Lumpen gehüllt. »Wohnen hier Juden?«

Ja, es gab Juden, doch sie waren wieder anders. Diese Juden sahen aus wie Araber, sprachen wie diese und waren arabisch angezogen. Doch sie sprachen auch Hebräisch und kannten die Thora. Genau wie die Juden in Südrußland und die Juden in der Türkei nahmen auch diese wie Araber aussehenden Juden die beiden Brüder mit Selbstverständlichkeit bei sich auf und teilten ihre Nahrung und ihre Lagerstatt mit ihnen. Sie segneten die Brüder, wie man sie überall auf ihrem Wege gesegnet hatte, um der Heiligkeit ihrer Mission willen.

Und weiter ging der Weg, in den Libanon, vorbei an Tripolis und Beirut, und immer näher kamen sie dem Gelobten Land.

»Wohnen hier Juden?«

Inzwischen war das Jahr 1888 gekommen. Mehr als vierzig Monate waren vergangen seit der Nacht, da Jakob und Yossi aus dem Ghetto von Schitomir geflohen waren. Yossi war zu einem hageren und zähen Riesen von einsachtundachtzig, mit einem Körper aus Stahl, herangewachsen. Er war jetzt zwanzig Jahre alt und trug einen flammend roten Bart.

Jakob war achtzehn. Auch er war durch die mehr als dreijährige Wanderschaft abgehärtet, doch er war nach wie vor von mittlerer Größe, hatte ein dunkles, sensibles Gesicht und war noch immer der unbändige Feuerkopf, der er schon als Knabe gewesen war. Sie standen auf einem Berg. Vor ihnen öffnete sich ein Tal. Jakob und Yossi starrten hinunter auf den Hule-See im Norden von Galiläa. Yossi Rabinski setzte sich auf einen Felsen und weinte. Jakob legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Wir sind da, Yossi, wir sind da!«

Sie waren am Ziel ihrer Wanderschaft angelangt.

V.

Vom Hügel aus schauten sie in das Land. Auf der anderen Seite des Tales erhob sich im Libanon der schneebedeckte Gipfel des Berges Hermon. Unter ihnen dehnte sich der Hule-See mit seinen Sümpfen. Zu ihrer Rechten lag am Hang ein Araberdorf.

Wie schön war das Gelobte Land, wenn man es von hier oben sah! Yossi Rabinski fühlte eine Begeisterung in sich, wie er sie noch nie erlebt hatte. Und wie junge Menschen es oft in solchen Augenblicken tun, schwor er heimlich, eines Tages hierher zurückzukommen, um genau von dieser Stelle aus auf ein Stück Land hinunterzusehen, das dann ihm gehören würde.

Sie blieben dort den Tag und die Nacht, und am nächsten Morgen begannen sie den Abstieg in Richtung auf das Araberdorf. Die weißen Häuser, die sich in einer Mulde zusammendrängten, leuchteten hell in der Morgensonne. Weideland und Olivenhaine zogen sich vom Dorf abwärts zu den Sümpfen des Hule-Sees. Auf den Feldern zog ein Esel eine hölzerne Pflugschar. Andere Esel trugen auf ihren Rücken eine schmale Ernte. In den Weingärten waren Araberfrauen bei der Arbeit. Das Dorf machte den Eindruck, als habe sich hier seit tausend Jahren nichts verändert.

Die Schönheit des Bildes verging, als sie sich dem Dorf näherten. Ein widerwärtiger Gestank ekelte sie an. Von den Feldern und aus den Häusern verfolgten die Dorfbewohner die Brüder mit mißtrauischen Blicken, als sie die schmutzige Straße entlanggingen. Das Leben bewegte sich träge in der glühenden Sonne. Die Dorfstraße war voll vom Mist der Kamele und Esel. Haufen riesiger Fliegen umtanzten die beiden Brüder. Ein Hund lag regungslos im Wasser des offenen Rinnsteins, um sich zu kühlen. Verschleierte Frauen verschwanden ängstlich in armseligen Lehmhütten. Die Hälfte der Hütten war baufällig und schien kurz davor, einzustürzen. In jeder Hütte wohnten ein Dutzend oder mehr Menschen, außerdem auch noch Hühner, Mulis und Ziegen.

Die beiden Rabinskis blieben am Brunnen des Dorfes stehen. Hochgewachsene Mädchen balancierten riesige Wassergefäße auf den Köpfen oder knieten an der Erde, eifrig damit beschäftigt, Wäsche zu schrubben. Beim Erscheinen der Fremden verstummte die Unterhaltung.

»Können wir etwas Wasser haben?« fragte Yossi.

Niemand wagte zu antworten. Sie zogen einen Eimer voll Wasser herauf, wuschen sich das Gesicht, füllten ihre Wasserflaschen und gingen rasch weiter.

Sie kamen zu einer halbverfallenen Hütte, dem Caféhaus des Ortes. Die Männer saßen oder lagen träge herum, während ihre Frauen die Felder bestellten. In der Luft hing der Geruch starken Kaffees und mischte sich mit dem Duft des Pfeifenrauches und den üblen Gerüchen des Dorfes.

»Wir hätten gern nach dem Weg gefragt«, sagte Yossi.

Nach einer Weile erhob sich einer der Araber vom Boden und forderte sie auf, ihm zu folgen. Er führte sie aus dem Dorf heraus an einen Bach; am anderen Ufer des Baches stand eine kleine Moschee mit einem Minarett. Hier am Ufer stand ein ansehnliches Steinhaus und dicht dabei ein Gebäude, das als Gemeindehaus diente. Dorthin führte man die beiden Brüder, bat sie, einzutreten und Platz zu nehmen. Der Raum war hoch, mit weißgekalkten Wänden, dicken Mauern und geschickt angeordneten Fenstern. Eine lange Bank lief rings an den Wänden entlang. Sie war mit bunten Kissen bedeckt. An den Wänden hingen allerlei Schwerter, bunter Tand und Bilder von Arabern und fremden Gästen. Schließlich kam ein Mann herein, der Mitte Zwanzig sein mochte. Er war mit einem gestreiften Umhang bekleidet, der ihm bis zu den Knöcheln ging. Auf dem Kopf trug er ein weißes Tuch mit einem schwarzen Band. Seine Erscheinung ließ sofort erkennen, daß es sich um einen wohlhabenden Mann handeln mußte.

»Ich bin Kammal, der Muktar von Abu Yesha«, sagte er. Er klatschte in seine mit Ringen geschmückten Hände und befahl, Obst und Kaffee für die Fremden zu bringen. Während sich seine Brüder entfernten, um den Auftrag auszuführen, betraten die Dorfältesten schweigend und erhaben den Raum.

Zur Überraschung der beiden Rabinskis konnte Kammal ein wenig Hebräisch. »Der Ort, an dem dies Dorf steht, ist die Stelle, an der Josua begraben sein soll«, erklärte er ihnen. »Josua ist nicht nur ein hebräischer Kriegsheld, sondern ebenso auch ein moslemischer Prophet.«

Danach versuchte Kammal, der sich an die arabische Sitte hielt, niemals eine direkte Frage zu stellen, auf Umwegen herauszubekommen, wer die Fremden waren und was der Anlaß ihres Besuchs war. Schließlich deutete er versuchsweise an, die beiden hätten sich wohl verirrt. Bisher hatten sich noch nie Juden in das Hule-Gebiet gewagt.

Yossi erklärte, daß sie vom Norden her ins Land gekommen seien und die nächstgelegene jüdische Ansiedlung suchten. Nach einer weiteren halben Stunde versteckter Fragen war Kammal beruhigt. Offenbar waren die beiden Juden nicht mit der Absicht gekommen, hier in diesem Gebiet Land zu erwerben.

Jedenfalls schien er etwas zutraulicher zu werden, und die beiden Brüder erfuhren, daß er nicht nur der Muktar von Abu Yesha war, dem alles Land hier gehörte, sondern auch der geistige Führer und der einzige schriftkundige Mann des Ortes.

Yossi hatte diesen Mann irgendwie gern — warum, wußte er nicht. Er erzählte Kammal von ihrer weiten Pilgerfahrt, der mühsamen Wanderung von Rußland hierher, von ihrem Wunsch, in Palästina seßhaft zu werden und ein Stück Land zu bebauen. Als sie das Obst, das man ihnen anbot, verzehrt hatten und Yossi sich verabschiedete, sagte Kammal:

»Dreißig Kilometer südlich von hier werdet ihr Juden finden. Ihr könnt bis zum Abend dort sein, wenn ihr euch an die Straße haltet. Der Ort heißt Rösch Pina.«

Rösch Pina — der Eckstein! Wie aufregend. Diesen Namen hatte Yossi im Ghetto von Schitomir oft gehört.

»Rösch Pina liegt etwa in der Mitte zwischen dem Hule-See und dem See Genezareth. Auf dem Wege dorthin werdet ihr an einem großen Hügel vorbeikommen. Unter diesem Hügel liegt das alte Chazor. Möge Gott euch auf eurem Wege beschützen.«

Die Straße führte aus den Feldern von Abu Yesha heraus und an den stinkenden Hule-Sümpfen entlang. Yossi warf einen Blick über die Schulter zurück. Er konnte die Stelle sehen, von der sie heute früh aufgebrochen waren. Ich komme wieder, sagte er zu sich selbst, ich komme wieder, das weiß ich genau.

Gegen Mittag kamen sie zu dem großen, von Menschenhand geschaffenen Hügel, den ihnen Kammal beschrieben hatte. Während sie hinaufstiegen, machten sie sich klar, daß unter der Erde, über die sie schritten, die uralte Stadt Chazor begraben lag. Yossi war begeistert. »Stelle dir doch nur einmal vor«, sagte er zu Jakob, »vielleicht hat Josua genau hier gestanden, wo wir jetzt stehen, als er die Stadt eroberte und die Kanaaniter schlug!«

Yossi befand sich, seit er den ersten Blick in das Gelobte Land getan hatte, in einem Zustand freudiger Bewegtheit, bemerkte überhaupt nichts von dem Mißmut, der seinen Bruder Jakob ergriffen hatte. Jakob wollte seinem Bruder nicht die gute Laune verderben, deshalb sagte er nichts; doch seine Stimmung wurde von Minute zu Minute trüber.

Gegen Abend erreichten sie Rösch Pina, die nördlichste jüdische Ansiedlung. Ihre Ankunft erregte großes Aufsehen. In einem kleinen Gebäude, das als Versammlungsraum diente, wurden sie mit Fragen überschüttet. Doch es war vierzig Monate her, seit sie Schitomir verlassen hatten, und sie konnten den Fragern nur mitteilen, daß die Pogrome, die 1881 begonnen hatten, von Jahr zu Jahr immer schlimmer geworden waren.

Die beiden Brüder ließen sich zwar nichts anmerken, aber Rösch Pina war für sie eine bittere Enttäuschung. An Stelle blühender Bauernhöfe fanden sie ein heruntergekommenes, verarmtes Dorf. Es gab hier nur ein paar Dutzend arme Juden, und sie lebten unter Verhältnissen, die nicht besser waren als die von Abu Yesha. »Manchmal denke ich, wir hätten besser getan, in Rußland zu bleiben«, meinte einer der Biluim. »Im Ghetto war man doch wenigstens unter Juden. Wir konnten Bücher lesen und Musik hören, es gab Menschen, mit denen man reden konnte — und es gab Frauen. Hier gibt es nichts von alledem.«

»Aber«, sagte Yossi, »und was ist mit allem, was wir auf den Versammlungen der Zionsfreunde zu hören bekamen —.«

»Sicher, als wir hier ankamen, da waren wir voller Hoffnungen und Pläne. Aber die verliert man bald in diesem Land. Seht es euch doch an! Alles ist heruntergekommen, nichts gedeiht. Das wenige, was wir haben, stehlen die Beduinen, und was die Beduinen übriglassen, das nehmen die Türken. Wenn ich an eurer Stelle wäre, ginge ich nach Jaffa weiter und führe mit dem nächsten Schiff nach Amerika.«

Was für eine ausgefallene Idee, dachte Yossi.

»Wenn Rothschild, Baron Hirsch und Schumann uns nicht unterstützten, wären wir alle schon längst verhungert.«

Am nächsten Morgen brachen sie von Rösch Pina auf und machten sich auf den Weg durch die Berge nach Safed. Safed war eine der vier heiligen Städte der Juden. Es lag auf einem wunderschönen, kegelförmigen Hügel am Eingang des Hule-Gebietes. Hier, so hoffte Yossi, würde ihre Enttäuschung verschwinden; denn hier lebten schon in der zweiten, dritten und vierten Generation Juden, die sich dem Studium der Kabbala widmeten und nach den Lehren der mittelalterlichen jüdischen Mystik lebten.

Doch der Schock von Rösch Pina wiederholte sich in Safed. Sie fanden einige hundert betagter Juden vor, die mit dem Studium der Schriften beschäftigt waren und von den Almosen ihrer Glaubensbrüder in aller Welt lebten. Sie interessierten sich nicht dafür, das Haus Israel neu zu erbauen — sie hatten keinen anderen Wunsch, als in Ruhe über den Büchern zu hocken.

Die Brüder Rabinski brachen auch von Safed am nächsten Morgen wieder auf und bestiegen den in der Nähe gelegenen Berg Kanaan, um sich umzusehen und zu orientieren. Die Aussicht, die sich von hier oben bot, war wunderbar. Wenn sie zurücksahen, sahen sie Safed auf dem kegelförmigen Hügel liegen und dahinter den See Genezareth. Im Norden lagen die schwingenden Hügel des Hule-Gebietes, von wo sie hergekommen waren. Yossi sah mit Vorliebe auf das Land, das sein Fuß zuerst betreten hatte. Und von neuem tat er das Gelübde, daß dieses Land eines Tages ihm gehören sollte. Jakob vermochte seine Verbitterung nicht mehr zu verbergen. »Unser ganzes Leben lang, in allen unseren Gebeten«, sagte er. »Und nun sieh dir das an, Yossi.«

Yossi legte dem Bruder die Hand auf die Schulter. »Sieh doch nur, wie schön es von hier oben aus erscheint«, sagte er. »Höre, Jakob, wir werden erreichen, daß das Land eines Tages unten im Tal genauso schön aussieht wie hier vom Gipfel aus.«

»Ich weiß nicht, was ich überhaupt noch glauben soll«, sagte Jakob mit leiser Stimme. »Da sind wir nun gewandert, Winter um Winter durch die grimmige Kälte — und jahrelang durch die Glut des Sommers.«

»Sei nicht mehr traurig«, sagte Yossi. »Morgen machen wir uns auf den Weg nach Jerusalem.«

Jerusalem! Beim Klang dieses magischen Wortes faßte auch Jakob wieder neuen Mut.

Am nächsten Morgen stiegen sie vom Berg Kanaan herab, wanderten das Südufer des Sees Genezareth entlang und hinein in das Ginossar-Tal, vorbei an Arbel und dem Schlachtfeld, auf dem Saladin einst die Kreuzritter vernichtend geschlagen hatte.

Doch während sie weiter und weiter wanderten, wurde auch Yossi immer niedergeschlagener. Ihr Gelobtes Land war nicht ein Land, in dem Milch und Honig floß, sondern ein Land faulender Sümpfe, verwitterter Hügel, steiniger Felder und unfruchtbarer Erde — unfruchtbar, weil Araber und Türken seit tausend Jahren nichts für diese Erde getan hatten.

Nach einiger Zeit kamen sie zu dem Berge Tabor, in der Mitte von Galiläa, und sie bestiegen diesen Berg, der eine so bedeutende Rolle in der Geschichte ihres Volkes gespielt hatte. Denn hier oben hatten Deborah, die Jeanne d'Arc der Juden, und ihr General Barak mit ihren Truppen im Hinterhalt gelegen, um dann hervorzubrechen und den eindringenden Feind zu vernichten.

Vom Gipfel des Berges Tabor aus hatten sie einen viele Meilen weiten Rundblick. Was sie aber sahen, war das trostlose Bild eines unfruchtbaren, sterbenden Landes.

Und weiter zogen sie ihres Weges mit schwerem Herzen. Doch als sie zu den Hügeln von Judäa kamen, ergriff sie von neuem die Begeisterung! Jeder Stein erzählte hier von der Geschichte ihres Volkes. Höher und höher stiegen sie die Hügel hinauf, bis sie schließlich oben auf dem Kamm angelangt waren — und Yossi und Jakob sahen die Stadt Davids!

Jerusalem! Traum ihrer Träume! All die Jahre der Entbehrung, der Bitterkeit und des Leidens wurden unwesentlich in diesem Augenblick.

Sie betraten die alte, ummauerte Stadt durch das Damaskus-Tor, gingen durch schmale Straßen und Bazare zu der mächtigen Hurva-Synagoge. Und von der Synagoge aus gingen sie zu der Mauer des alten Tempels, der einzigen, die stehengeblieben war. Diese Mauer war die heiligste Stätte in der ganzen jüdischen Welt.

Doch als sie dann bei den Juden von Jerusalem vorsprachen und um Obdach baten, vergingen ihnen alle Illusionen. Diese Juden hier waren Chassidim, übertrieben strenggläubige Fanatiker, die die Gesetzes-Vorschriften so streng interpretierten, daß sie glaubten, man könne ihnen nur dann gerecht werden, wenn man sich völlig von der zivilisierten Welt absonderte. Schon im russischen Ghetto hatten sich diese Juden von den anderen isoliert.

Zum erstenmal, seit sie Schitomir verlassen hatten, wurde Yossi und Jakob in einem jüdischen Heim die Gastfreundschaft verweigert. Die Juden von Jerusalem hatten für die Biluim nichts übrig, und die Zionsfreunde standen bei ihnen in Verruf wegen ihrer Ideen, die gegen das göttliche Gebot verstießen.

Und so mußten die beiden Brüder erleben, daß man sie im Lande ihrer Väter als Eindringlinge behandelte. Bekümmert machten sie sich von Jerusalem erneut auf den Weg, stiegen die Hügel von Judäa hinunter und lenkten ihre Schritte nach der Hafenstadt Jaffa.

Diese uralte Stadt, die seit den Zeiten der Phönizier ununterbrochen als Hafen gedient hatte, bot das gleiche Bild wie Beirut, Aleppo oder Tripolis: enge Straßen, Schmutz, Verwahrlosung und Verfall. Immerhin gab es hier in der Nähe einige jüdische Ansiedlungen: Rischon le Zion, Rechovot und Petach Tikwa. In Jaffa selbst gab es ein paar jüdische Geschäfte und außerdem eine Agentur für jüdische Einwanderer. Und hier wurden sie genau über die Situation unterrichtet.

In ganz Palästina, einer Provinz des ottomanischen Reiches, gab es nur fünftausend Juden. Die meisten davon lebten der Vergangenheit zugewandt, beschäftigt mit dem Studium der Schriften und mit dem Gebet, in den vier heiligen Städten: Safed, Jerusalem, Hebron und Tiberias. Die zehn oder zwölf landwirtschaftlichen Siedlungen, die von jüdischen Einwanderern ins Leben gerufen worden waren, befanden sich alle in arger Bedrängnis. Sie wurden notdürftig am Leben erhalten durch die Spenden reicher europäischer Juden, der Barone Hirsch und Rothschild und des Schweizer Multimillionärs Schumann. Der anfängliche Idealismus der Biluim hatte sich weitgehend verflüchtigt. Es war ein Unterschied, ob man in einem Keller im russischen Ghetto von der Wiedererrichtung des Hauses Israel sprach, oder ob man der rauhen Wirklichkeit in Palästina gegenüberstand. Die Biluim hatten keine Ahnung von Landwirtschaft. Ihre Gönner in Europa schickten ihnen Fachleute, die sie beraten sollten; doch man verwendete billige arabische Arbeitskräfte und beschränkte sich auf die Erzeugung von zwei bis drei landwirtschaftlichen Produkten für den Export: Oliven, Wein und Zitrusfrüchte. Man hatte keinerlei Versuch unternommen, die Arbeit selbst in die Hand zu nehmen oder die Landwirtschaft rentabel zu machen. Die Juden waren praktisch zu Aufsehern geworden.

Sowohl die Araber als auch die Herren im Lande, die Türken, bestahlen die Juden, wo sie nur konnten. Von den Erträgen wurden enorm hohe Steuern erhoben, und es gab einschränkende Verordnungen aller Art. Die Räuberbanden der Beduinen betrachteten die Juden als »Kinder des Todes«, weil sie es ablehnten, sich zur Wehr zu setzen.

Immerhin gab es in und um Jaffa einige hundert junge Juden, die ähnliche Absichten hatten wie die Brüder Rabinski. Sie hielten die Idee der Biluim-Bewegung lebendig. Sie diskutierten Abend für Abend in den arabischen Kaffeehäusern. Der Versuch, dieses heruntergewirtschaftete Land wieder fruchtbar zu machen, schien eine fast unmögliche Aufgabe; und doch war es zu schaffen, wenn man nur genügend Juden hatte, die bereit waren, zuzupacken und notfalls auch zu kämpfen. Für Yossi war es eine ausgemachte Sache, daß früher oder später mehr und mehr Juden nach Palästina kommen würden, da die Pogrome in Rußland zwangsläufig immer häufiger und schlimmer werden mußten und die Unruhe unter allen russischen Juden zunahm. Alle waren sich darüber klar, daß irgend etwas fehlte, was nicht im Talmud, nicht in der Thora und auch nicht im Midrasch stand. Die meisten der jungen Leute waren wie Jakob und Yossi aus Rußland geflohen, um der Not und dem Elend zu entgehen, um nicht im russischen Heer dienen zu müssen, oder auf Grund irgendwelcher idealistischer Hoffnungen. Von den in Palästina ansässigen Juden wurden sie als »Außenseiter« behandelt. Außerdem waren sie staaten- und heimatlos.

Es dauerte ein Jahr, bis auf einen Brief nach Schitomir Antwort von Rabbi Lipzin kam. Er schrieb ihnen, daß ihre Mutter vor Kummer gestorben sei.

In den nächsten vier bis fünf Jahren wuchsen Jakob und Yossi zu Männern heran. Sie arbeiteten bald hier und bald da, im Hafen von Jaffa und auf den Feldern der jüdischen Ansiedlungen, manchmal als Arbeiter und manchmal als Aufseher.

Sie schlugen sich durch und nahmen jede Arbeit an, die sich bot. Allmählich verloren sie mehr und mehr den Kontakt mit der tiefen Religiosität, die die beherrschende Kraft des Lebens im Ghetto gewesen war. Nur zu den hohen Festtagen begaben sie sich nach Jerusalem. Und nur am Versöhnungstag, Yom Kippur, hielten sie innere Einkehr — ebenso am Rösch Haschana, dem Neujahrstag. Jakob und Yossi Rabinski wurden typische Vertreter einer neuen Art von Juden. Sie waren jung und stark. Sie waren freie Männer, die eine Freiheit schätzten, die es im Ghetto nie gegeben hatte. Und doch fehlte ihnen etwas. Sie verlangten nach einem festen Ziel, und sie wünschten sich Kontakt mit den Juden in Europa.

So kamen und gingen die Jahre 1891, 1892 und 1893. Doch während Jakob und Yossi scheinbar ziellos in Palästina lebten, ereignete sich an einer anderen Stelle der Welt etwas, was ihr Schicksal und das Schicksal jedes Juden für alle Zeit beeinflussen sollte.

VI.

In Frankreich wie fast überall in Westeuropa hatten es die Juden besser als in Osteuropa. Die Französische Revolution hatte auch für die Juden eine Wende gebracht. Frankreich war das erste europäische Land gewesen, das den Juden alle bürgerlichen Rechte zuerkannt hatte.

Doch der Judenhaß ist eine unheilbare Seuche. Der Erreger dieser Seuche mag unter bestimmten demokratischen Bedingungen nicht sonderlich virulent werden. Gelegentlich sieht es sogar so aus, als sei der Erreger völlig verschwunden; doch selbst im besten Klima stirbt er niemals gänzlich aus.

In Frankreich lebte ein junger aktiver Hauptmann der Armee. Er stammte aus guter und begüterter Familie. Im Jahre 1894 wurde er vor ein Kriegsgericht gestellt, weil er angeblich militärische Geheimnisse an die Deutschen verraten haben sollte. Der Prozeß, den man ihm machte, bewegte die ganze Welt und erschütterte das Ansehen der französischen Rechtsprechung auf das schwerste. Er wurde des Hochverrats für schuldig befunden und zu lebenslänglicher Verbannung auf die Teufelsinsel verurteilt.

Er hieß Alfred Dreyfuß.

In dem strengen Winter des Jahres 1894 stand der in Ungnade gefallene Alfred Dreyfuß auf einem Hof, wo man ihm öffentlich die Epauletten herunterriß, ihm ins Gesicht schlug und seinen Degen zerbrach. Unter gedämpftem Trommelklang wurde er zum Verräter an Frankreich erklärt. Als man ihn abführte, rief er laut: »Ich bin unschuldig! Vive la France!«

Alfred Dreyfuß war Jude. Die schleichende Seuche des Antisemitismus brach erneut in Frankreich aus. Aufgebrachte Menschenmengen liefen durch die Straßen von Paris und schrien den jahrhundertealten Ruf: »Tod den Juden!«

Unter den Menschen, die auf jenem Hof in Paris Zeuge wurden, wie man Dreyfuß öffentlich ächtete, befand sich ein Mann, der den Ruf: »Ich bin unschuldig!« nicht vergessen konnte, selbst dann nicht, als Dreyfuß später rehabilitiert wurde. Er konnte noch weniger vergessen, wie der Mob von Paris geschrien hatte: »Tod den Juden!« Der Mann hieß Theodor Herzl. Herzl war gleichfalls Jude, in Ungarn geboren, doch in Wien aufgewachsen. Er war kein orthodoxer Jude und in den heiligen Büchern nicht sonderlich beschlagen. Er und seine Familienangehörigen waren überzeugte Anhänger der damals vorherrschenden Assimilationstheorie.

Herzl war ein brillanter Essayist. Doch seine innere Unruhe trieb ihn von Ort zu Ort. Glücklicherweise war die Familie in der Lage, dieses unstete Wanderleben ausreichend zu finanzieren.

So kam Herzl auch nach Paris, und hier wurde er schließlich Pariser Korrespondent der einflußreichen Wiener Zeitung Neue Freie Presse. Er war glücklich. Man lebte gut in Paris. Seine Arbeit als Korrespondent machte ihm Freude, und die Atmosphäre dieser Stadt begünstigte wunderbar jede Form des geistigen Austausches. Was aber hatte ihn wirklich nach Paris gebracht? Welche unsichtbare Hand hatte ihn an jenem Wintertag auf diesen Hof geführt? Warum gerade ihn, Herzl? Weder in seiner Lebensform noch in seiner Denkweise war er in erster Linie Jude. Und doch, als er hörte, wie der Mob draußen auf der Straße schrie: »Tod den Juden!«, da änderte sich sein Leben und das Leben eines jeden Juden für immer.

Theodor Herzl begann nachzudenken. Er erkannte, daß der Antisemitismus ein unausrottbares Übel war. Solange es Juden gab, würde es Menschen geben, die diese Juden haßten. In seiner tiefen Sorge fragte sich Herzl, wie dieses Problem zu lösen war, und er kam auf seine Frage zu einer Antwort — zu der gleichen Antwort, zu der vor ihm eine Million Juden in hundert verschiedenen Ländern gekommen waren, zu der Lösung, von der Leo Pinsker in seiner Schrift über die Auto-Emanzipation gesprochen hatte. Herzl gelangte zu der Überzeugung: Nur wenn sich die Juden wieder zu einer Nation zusammenschlossen, bestand die Möglichkeit, daß die Juden aller Länder eines Tages als freie Menschen leben konnten. Das Buch, in dem er seine Gedanken niederlegte, hieß: »Der Judenstaat.« Herzl, der nun plötzlich eine Mission hatte, machte sich fieberhaft und ohne Schonung seiner Person ans Werk, Unterstützung für seine Idee zu gewinnen. Er suchte die reichen Philanthropen auf, welche die jüdischen Kolonien in Palästina unterstützten. Doch diese Männer bezeichneten die Idee eines jüdischen Staates als Unfug. Wohltätigkeit, bitte sehr — als Juden spendeten sie für die Juden, die arm waren — aber von der Wiedererrichtung einer Nation zu reden, erschien ihnen als Hirngespinst.

Doch die Idee wuchs und verbreitete sich über die ganze Welt. Herzls Idee war weder neu noch einzigartig, doch sein dynamischer Wille drängte auf ihre Verwirklichung.

Im Jahre 1897 fand in Basel ein Kongreß führender Juden aus aller Welt statt. Es war in der Tat ein Parlament des Weltjudentums. So etwas hatte es seit der Zerstörung des Zweiten Tempels nicht mehr gegeben.

Die neue Bewegung gab sich den Namen Zionismus, und der Baseler Kongreß gab die historische Erklärung ab:

DER ZIONISMUS ERSTREBT FÜR DAS JÜDISCHE VOLK DIE SCHAFFUNG EINER ÖFFENTLICH-RECHTLICH

GESICHERTEN HEIMSTÄTTE IN PALÄSTINA.

In seinem Tagebuch schrieb Theodor Herzl damals: »Ich habe in Basel einen jüdischen Staat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mich die ganze Welt auslachen. Vielleicht schon in fünf, bestimmt aber in fünfzig Jahren wird aller Welt klar sein, daß ich recht hatte.«

Wie ein Besessener stürzte sich Herzl in die Arbeit. Er war eine zwingende Persönlichkeit und riß durch seine Begeisterung alle Menschen in seiner Umgebung mit. Er sicherte das Gewonnene, warb neue Anhänger, errichtete Stiftungsfonds und baute den Zionismus zu einer organisierten Bewegung aus. Dabei ging es ihm zunächst vordringlich darum, einen Staatsvertrag oder irgendeine andere legale Basis zu erreichen, auf der der Zionismus aufbauen konnte.

Innerhalb des Judentums bestand eine Spaltung. Herzl stieß immer wieder auf den Widerstand derjenigen Juden, die den Zionismus seines politischen Charakters wegen ablehnten. Viele der alten Zionsfreunde machten seinen Kurs nicht mit. In den Kreisen der strenggläubigen Juden verurteilte man Herzl voller Abscheu als falschen Propheten, während er in einem anderen Teil des Lagers als Messias gefeiert wurde. Doch die Bewegung, die er einmal ins Leben gerufen hatte, war nicht mehr aufzuhalten. Schon zählte sie Hunderttausende von Juden zu ihren begeisterten Anhängern, die als Ausweis ihrer Stimmberechtigung einen »Schekel« bei sich trugen. Herzl arbeitete über seine Kräfte. Er erschöpfte sein Privatvermögen, vernachlässigte seine Familie und überforderte seine Gesundheit. Noch hatte er keinen Staatsvertrag. Doch auch ohne diesen begann er schon, bei Staatsoberhäuptern zu antichambrieren, um mit ihnen über seine Ideen zu verhandeln. Der Sultan des wankenden ottomanischen Reichs, Abdul Hamid II., gewährte Herzl eine Audienz und schien nicht abgeneigt, den Zionisten gegen eine entsprechend hohe Summe Geldes einen Staatsvertrag für Palästina zu geben; denn der alte Despot brauchte dringend Geld. Dann aber lehnte er, in der Hoffnung auf ein noch besseres Geschäft, den Vorschlag der Zionisten ab. Ein schwerer Rückschlag für Herzl.

Schließlich zeigte sich England seinen Wünschen geneigt. Das britische Empire erweiterte um die Jahrhundertwende seine Einflußsphäre im Nahen Osten. Den Engländern war daher sehr daran gelegen, die Gunst des Judentums zu gewinnen, um ihre eigenen Pläne weiter verfolgen zu können. Sie boten den Zionisten einen Teil der Halbinsel Sinai für die Ansiedlung jüdischer Einwanderer an. Bei diesem Vorschlag ging man von der mehr oder weniger stillschweigenden Unterstellung aus, daß dieses Gebiet sozusagen unmittelbar vor der Tür zu dem Gelobten Land lag, und daß diese Tür offenstehe, sobald die Engländer die Herren im Lande waren. Doch der ganze Plan war zu unbestimmt, und weil Herzl immer noch hoffte, einen Staatsvertrag für Palästina zu erreichen, ließ man die Sache fallen.

Als weitere Versuche, zu einem Palästina-Vertrag zu gelangen, fehlschlugen, kamen die Engländer mit einem zweiten Vorschlag. Sie boten den Zionisten das afrikanische Territorium Uganda an. Da die Situation in Europa immer schwieriger wurde und Herzl die Überzeugung gewann, daß man eine provisorische Zuflucht schaffen müsse, um die Lage der Juden zu erleichtern, griff er den Vorschlag der Engländer auf und erklärte sich bereit, ihn dem nächsten Zionistenkongreß zu unterbreiten.

Doch als Herzl dem Kongreß den Uganda-Plan vorlegte, stieß er auf heftige Opposition, deren Wortführer die russischen Zionisten waren. Sie lehnten ihn ab, weil sie in der Bibel keinen Hinweis auf Uganda finden konnten.

Fünfundzwanzig Jahre unablässiger Pogrome in Rußland und in Polen hatten dazu geführt, daß die Juden jetzt zu Tausenden aus Osteuropa flohen. Um die Jahrhundertwende waren es fünfzigtausend, die den Weg nach Palästina gefunden hatten. Abdul Hamid II., der diese Einwanderer als Bundesgenossen der Engländer betrachtete, ordnete an, daß keine weiteren Juden aus Rußland, Polen oder Österreich ins Land durften. Doch die Dinge im Staate des Sultans waren »faul«, und die Bestechungsgelder der Zionisten hielten die Tür von Palästina für alle offen, die hineinwollten.

Dies war die erste Aliyah-Welle des jüdischen Exodus!

Doch während die Juden aus dem Exil in ihr Gelobtes Land zurückzukehren begannen, ereignete sich in der arabischen Welt etwas Neues. Nach Jahrhunderten der Unterjochung regte sich bei den Arabern eine schwelende, wachsende Unruhe, die den Beginn des arabischen Nationalismus ankündigte.

Das zwanzigste Jahrhundert! Chaos im Nahen Osten! Zionismus! Arabischer Nationalismus! Niedergang der ottomanischen und Aufstieg der britischen Macht! Das alles brodelnd in einem riesigen Kessel, der irgendwann kochen und überlaufen mußte.

Theodor Herzl vollendete seine Bahn mit der Leuchtkraft und der Schnelligkeit eines Kometen. Seit jenem Tag, an dem er Alfred Dreyfuß hatte rufen hören: »Ich bin unschuldig!« waren nur zehn Jahre verstrichen bis zu dem Tag, an dem er, vierundvierzigjährig, einem Herzschlag erlag.

VII.

Als die zionistische Bewegung aufkam, gehörten die beiden Brüder Rabinski in Palästina schon zur alten Garde. Sie kannten das Land in- und auswendig, und es gab kaum einen Beruf, in dem sie nicht gearbeitet hatten. Ihre Illusionen hatten sie fast samt und sonders eingebüßt.

Jakob war ruhelos und bitter. Yossi versuchte, seinem Dasein ein gewisses Maß von Befriedigung abzugewinnen. Er wußte die relative Freiheit zu schätzen, die er genoß. Außerdem träumte er nach wie vor von dem Land im Hule-Tal, oberhalb von Safed.

Jakob verachtete die Araber und die Türken. Er betrachtete sie genauso als Feinde wie in Rußland die Kosaken und die Gymnasiasten. Gewiß, die Türken duldeten nicht, daß man die Juden erschlug, doch alles andere, was man ihnen antat, schienen sie zu billigen. Manchen Abend und manche Nacht saßen Jakob und Yossi und diskutierten.

»Es stimmt schon«, sagte Jakob, »wir sollten das Land rechtmäßig erwerben, indem wir es kaufen — doch woher bekommen wir die Leute, die den Boden bearbeiten, und wie sollen wir die Beduinen und die Türken dazu bringen, daß sie uns in Ruhe lassen?«

»Leute, die den Boden bearbeiten, werden wir bekommen, sobald es mit den Pogromen wieder schlimmer wird«, antwortete Yossi. »Was die Türken angeht — die kann man kaufen. Und was die Araber angeht, so müssen wir lernen, Seite an Seite mit ihnen in Frieden zu leben. Das aber wird uns nur gelingen, wenn wir sie verstehen lernen.«

Jakob zog die Schultern hoch. »Das einzige, was ein Araber versteht, ist das da.« Und er hob die Faust und schüttelte sie.

»Du wirst eines Tages noch am Galgen enden«, sagte Yossi.

Die beiden Brüder entfernten sich in ihren Ansichten immer weiter voneinander. Yossi hielt an seinem Wunsch nach friedlicher Verständigung fest, und Jakob hielt nach wie vor den offenen Angriff für das beste Mittel, sich gegen Ungerechtigkeit zu schützen. Kurz nach der Jahrhundertwende schloß sich Jakob einer Gruppe von fünfzehn jungen Männern an, die ein kühnes Wagnis unternahmen. Eine der von den reichen Wohltätern dotierten Stiftungen erwarb einen Zipfel Land hoch oben im Yesreel-Tal, einem Gebiet, in das sich seit Jahrhunderten kein Jude mehr gewagt hatte. Hier errichteten die fünfzehn Pioniere eine Farm, die der Ausbildung von Landwirten, und der Erprobung landwirtschaftlicher Methoden dienen sollte. Sie nannten die Neusiedlung Sde Tov — Feld der Güte. Ihre Lage war außerordentlich gefährlich, denn sie waren rings von arabischen Siedlungen umgeben und auf Gnade oder Ungnade den Beduinen ausgeliefert, die nicht davor zurückscheuten, einen Mord zu begehen, wenn es etwas zu erbeuten gab. Um 1900 gab es in Palästina rund fünfzigtausend Juden. Yossi fand etwas mehr Geselligkeit. Von denen, die vor den Pogromen geflohen waren, wollten die meisten nichts mit den landwirtschaftlichen Siedlungen, die sich mühsam am Leben hielten, zu tun haben. Sie waren zufrieden, sich als Händler oder Kaufleute in Jaffa niederlassen zu können. Einige siedelten sich auch in der kleinen Hafenstadt Haifa an. Es gab jedoch zu viele neue Einwanderer, als daß alle ihr Auskommen als Handeltreibende hätten finden können. Allzu viele unter ihnen besaßen nichts weiter als das, was sie auf dem Leib trugen. Und es dauerte nicht lange, bis man die Frage der Landgewinnung ziemlich eifrig zu erwägen begann.

In einem schäbigen, heruntergewirtschafteten Hotel in Jaffa eröffneten die Zionisten ihr erstes Büro für den Ankauf von Land: die Zionistische Siedlungsgesellschaft. Auch die von Rothschild und Schumann ins Leben gerufenen Stiftungen gingen in verstärktem Maße daran, Land zu erwerben, um neue Siedlungen für die Heimkehrer zu errichten.

Um die Mitte des Jahres 1902 setzte sich die Schumann-Stiftung mit Yossi Rabinski in Verbindung und bot ihm den Posten eines Aufkäufers an. Es gab keinen Juden, der das Land besser kannte als er, und er war für seinen Mut, sich in arabisches Gebiet hineinzubegeben, bekannt. Außerdem verfügte er über das erforderliche Geschick, mit den Türken fertigzuwerden, denn offiziell durften die Juden nur in sehr geringem Umfang Land erwerben; und wer mit den arabischen Großgrundbesitzern Geschäfte machen wollte, mußte schlau und gerissen sein.

Yossi hatte einige Zweifel hinsichtlich der neuen Siedlungen. Von Spenden zu leben und Fellachen für sich arbeiten zu lassen, schien ihm nicht der richtige Weg zur Wiedergewinnung des Gelobten Landes; doch die Möglichkeit, Grund und Boden für die Juden zu erwerben, ließ ihn den Posten annnehmen.

Für diesen Entschluß gab es auch noch andere Motive. Yossi bekam dadurch die Möglichkeit, seinen Bruder Jakob häufiger zu sehen. Außerdem konnte er jede Ecke des Landes kennenlernen. Und schließlich reizte ihn die Möglichkeit, das Gebiet jenseits von Rösch Pina, der letzten jüdischen Ansiedlung, zu bereisen, um das Hule-Tal bei Abu Yesha wiederzusehen.

Yossi war wirklich ein prächtiger Anblick, wenn er auf seinem weißen Araberhengst angeritten kam. Er war jetzt ein Mann von dreißig Jahren, groß, hager und muskulös. Sein roter Bart stach leuchtend gegen das Weiß des Mantels und die arabische Kopfbedeckung ab, die er trug. Über seine Brust liefen Patronengurte, und an seiner Seite hing ein lederner Ochsenziemer, wenn er durch die Hügel von Samaria, über die Ebene von Scharon und weit hinein nach Galiläa ritt, auf der Suche nach Land.

Überall in Palästina befand sich das Land größtenteils im Besitz einer kleinen Gruppe mächtiger Familien arabischer Großgrundbesitzer. Sie überließen das Land den Fellachen gegen eine Pacht, die die Hälfte oder sogar drei Viertel der gesamten Ernte betrug, aber sie taten nicht das geringste für diese armen Schlucker. Yossi und die Aufkäufer der anderen Gesellschaften konnten Land nur zu unerhört hohen Preisen erwerben. Die Großgrundbesitzer verkauften den Juden nur die wertlosesten Grundstücke und unfruchtbare Sümpfe. Sie hielten es für ausgeschlossen, daß man mit diesem Land jemals etwas anfangen konnte; gleichzeitig aber war ihnen das »hebräische Gold« außerordentlich willkommen.

Yossi ritt häufig durch das Gebiet jenseits der letzten jüdischen Siedlung, Rösch Pina, und oft besuchte er dabei Kammal, den Muktar von Abu Yesha. Die beiden Männer wurden Freunde. Kammal, der einige Jahre älter war als Yossi, stellte eine seltene Ausnahme unter den arabischen Großgrundbesitzern dar. Die meisten Effendis lebten nicht auf ihren Ländereien, sondern in Orten, wo man sich amüsieren konnte, wie in Beirut oder Kairo. Bei Kammal war das anders. Ihm gehörte alles Land in und um Abu Yesha, und hier herrschte er als absoluter Monarch. Als junger Mann hatte er die Tochter eines armen Fellachen geliebt. Das Mädchen litt an der ägyptischen Augenkrankheit, doch Kammals Vater hatte nicht auf die Bitten seines Sohnes gehört, dem Mädchen ärztliche Hilfe angedeihen zu lassen. Kammals Vater war der Meinung, daß sich sein Sohn vier Frauen und so viele Konkubinen leisten konnte, wie er nur wollte. So sah er nicht ein, weshalb man sich wegen einer armseligen Fellachin Sorgen machen sollte. Das Mädchen wurde blind und starb vor ihrem achtzehnten Geburtstag.

Dieses Erlebnis brachte Kammal dazu, Widerwillen gegen die Anschauungen seiner eigenen Kaste zu empfinden. Der Verlust hatte ihn so tief getroffen, daß sich in der Folge bei ihm so etwas wie ein soziales Gewissen entwickelte. Er ging nach Kairo, nicht um sich in das Nachtleben dieser Stadt zu stürzen, sondern um Kenntnisse über fortschrittliche Methoden der Landwirtschaft, sanitäre Einrichtungen und Gesundheitspflege zu erwerben. Als sein Vater starb, kehrte er nach Abu Yesha zurück, entschlossen, hier unter den Menschen zu leben, für die er verantwortlich war, und ihre unwürdigen Lebensbedingungen zu verbessern.

Doch er kämpfte auf verlorenem Posten. Die Türken waren nicht bereit, im Dorf eine Schule zu bauen oder irgend etwas für die Verbesserung der sanitären Verhältnisse zu tun. Die Zustände im Dorf waren kaum anders, als sie vor tausend Jahren gewesen waren. Besonders schmerzlich war es für Kammal, daß es ihm nicht möglich war, das Wissen, das er erworben hatte, seinen Dorfbewohnern zugänglich zu machen. Sie waren so naiv und rückständig, daß sie einfach nichts begriffen. Zwar stand es in Abu Yesha, seit Kammal hier Muktar geworden war, besser als in irgendeinem anderen arabischen Dorf in Galiläa; doch die Verhältnisse waren noch immer primitiv.

Kammal fand es seltsam, daß jetzt plötzlich so viele Juden nach Palästina kamen, und da er dahinterkommen wollte, was das zu bedeuten hatte, pflegte er bewußt freundschaftlichen Umgang mit Yossi Rabinski.

Yossi versuchte, Kammal dazu zu bewegen, ihm ein Stück Land, das nicht kultiviert werden sollte, zu verkaufen, um eine jüdische Siedlung zu errichten; doch Kammal hatte Bedenken. Er fand diese Juden verwirrend. Er wußte nicht, ob man ihnen trauen konnte; denn zweifellos waren nicht alle so wie Yossi Rabinski. Außerdem wollte er nicht der erste Effendi sein, der im Hule-Tal Land verkaufte.

Wie Kammal von Yossi lernte, so lernte auch Yossi von Kammal. Bei aller Aufgeklärtheit war Kammal durch und durch Araber. Er hatte drei Frauen, von denen er niemals sprach, denn für einen Araber war die Frau nicht viel mehr als eine Sklavin. Kammal war stets gastfreundlich und höflich, doch wenn es ans Handeln ging, konnte er sehr hart sein. Gelegentlich bat er Yossi sogar um Rat in irgendeiner Sache, bei der es sich ausgesprochen darum handelte, jemanden übers Ohr zu hauen; doch das erschien dem Araber völlig legitim.

Durch Kammal erfuhr Yossi Rabinski vieles über die ruhmreiche und tragische Geschichte des arabischen Volkes. Er hörte von dem kometenhaften Aufstieg des Islam, von der Zeit, da Bagdad und Damaskus kulturelle Zentren gewesen waren wie einst Athen, von den Kriegen zwischen den Mohammedanern und den Kreuzrittern und von den Einfallen der Mongolen.

Die Araber hatten ihre Kräfte in endlosen Kämpfen erschöpft, bis schließlich der Glanz ihrer ruhmvollen Städte erloschen und die blühenden Oasen verfallen und versandet waren. Sie wandten sich mehr und mehr gegen sich selbst, in erbitterten Kämpfen, in denen Bruder gegen Bruder stand. So waren sie nicht mehr fähig, den letzten vernichtenden Schlag abzuwehren, den diesmal die eigenen Glaubensgenossen gegen sie führten. Die mächtigen Ottomanen eroberten das Land der Araber, und es folgten fünf Jahrhunderte des Feudalismus und der Korruption. Ein Tropfen Wasser wurde in der unfruchtbaren Wüste wertvoller als Gold und Spezereien. Das Leben wurde zu einem unablässigen, erbitterten Kampf um die nackte Existenz. Die arabische Welt, in der es kein Wasser mehr gab, zerfiel und versank im Dreck. Seuchen brachen aus, und überall herrschten Unwissenheit und Armut. In dieser Welt waren Betrug, Verrat, Mord und Blutrache an der Tagesordnung. Die grausame Wirklichkeit zwang den Araber zu einer Verhaltensweise, die Außenstehenden unverständlich war.

Für Yossi Rabinski hatte die Vielseitigkeit des arabischen Charakters etwas Faszinierendes. Stundenlang konnte er in Jaffa in den Läden stehen und den Arabern zusehen, die endlos feilschten und sich dabei laut beschimpften. Er sah, daß die Lebensart der Araber einem Schachspiel glich. Jeder Zug erfolgte mit hinterhältiger Schläue, die darauf ausging, den Partner zu überlisten.

Bei seinen Expeditionen für den Landkauf wurde Yossi mit den skrupellosen Methoden der Araber vertraut. Doch wenn er das Heim eines Arabers betrat, war er stets von neuem beeindruckt von ihrer nicht zu überbietenden Gastfreundlichkeit. Habgier und Genußsucht, Haß und Schläue, Hinterlist und Gewalt, Freundlichkeit und Wärme — sie alle waren Bestandteile des phantastischen Gemischs, das den arabischen Charakter für den Außenseiter zu einem erstaunlichen Rätsel machte.

Jakob blieb nicht lange in Sde Tov. Die Versuchsfarm war ein Fehlschlag gewesen. In seinem Innern sah es nicht anders aus als vorher, und er wanderte weiter ruhelos durch das Land, auf der Suche nach dem Platz, an den er gehörte.

Im Jahre 1905 brach in Rußland die Revolution aus, die schon lange geschwelt hatte. Sie wurde niedergeschlagen. Doch die mißglückte Revolution war das Signal für neue Pogrome, die so grauenhaft waren, daß sich die ganze zivilisierte Welt entsetzte. Mehrere hunderttausend Juden verließen Rußland. Die meisten gingen nach Amerika, einige kamen nach Palästina.

Die Juden, die jetzt in das Gelobte Land kamen, gehörten einer neuen Generation an. Sie waren nicht geflohen wie die beiden Brüder Rabinski, und sie hatten auch nicht die Absicht, hier Handel zu treiben. Es waren junge Leute, geschult im Geist des Zionismus, voller Idealismus und fest entschlossen, das Land zu erschließen.

Das Jahr 1905 brachte die zweite Aliyah-Welle des Exodus.

VIII.

Den Idealismus, der bisher in Palästina gefehlt hatte, brachte die zweite Aliyah-Welle. Die neuen Einwanderer waren nicht damit zufrieden, Kaufleute in Jaffa zu sein, und sie hatten auch nicht die Absicht, von milden Gaben ihrer Glaubensgenossen zu leben. Sie waren erfüllt von der Mission, das Land zurückzugewinnen.

Sie machten sich in Gruppen zu dem Land auf, das die Effendis verkauft hatten, und versuchten, die sumpfigen Böden zu entwässern. Es war eine harte Arbeit. Für viele von der alten Garde war es einfach unvorstellbar, daß Juden wie die Fellachen auf den Feldern arbeiten sollten. In Palästina hatten sie die Aufseher gespielt, und dort, wo sie hergekommen waren, hatten sie mit der Feldbestellung überhaupt nichts zu tun gehabt. Von allem, was die zweite Aliyah-Welle brachte, war der wertvollste Beitrag die Entschlossenheit der Menschen, selbst Hand anzulegen und den Boden durch eigene Arbeit zu erobern. Durch ihren Wortführer, A. D. Gordon, erhielt die Arbeit ihre Würde. Gordon war ein älterer Mann und ein Wissenschaftler; doch er verzichtete auf seine Wissenschaft um der größeren Aufgabe willen, den Boden mit seinen eigenen Händen zu bearbeiten.

Jakob war begeistert. Er brach abermals auf, um auf einer Versuchsfarm in Galiläa mitzuarbeiten. Auf dieser Farm namens Chedera war des Staunens kein Ende, als sich die jungen Juden der zweiten Aliyah-Welle an die Arbeit machten. Eines Tages kam Jakob nach Jaffa, um mit Yossi zu sprechen. Er war voller Eifer für eine neue Idee, und er sprach davon mit der leidenschaftlichen Begeisterung, die ihm eigen war.

»Dir ist ja bekannt«, sagte er, »daß sich die Beduinen der Erpressung bedienen, um unsere Siedler zu veranlassen, sie als Wächter zu engagieren — als Schutz gegen sie selbst. Nun, dasselbe versuchten sie auch in Chedera. Sie drohten, alles mögliche zu tun, falls wir sie nicht anstellten. Aber wir haben ihnen den Gefallen nicht getan und uns unserer Haut sehr gut gewehrt. Eine Zeitlang war die Lage für uns ziemlich kritisch, doch dann lockten wir sie in eine Falle, erschlugen den Anführer der Bande, und seitdem haben sie sich bei uns nicht mehr sehen lassen.«

»Wir haben die Sache durchgesprochen«, fuhr Jakob fort, »und wir sind zu folgender Überzeugung gekommen: wenn wir imstande sind, eine unserer Siedlungen zu verteidigen, dann können wir alle verteidigen. Wir haben beschlossen, eine Wachmannschaft aufzustellen, die die ganze Gegend abpatrouilliert, und wir wollen, daß du die Leitung einer der Gruppen dieser Wachmannschaft übernimmst.«

Eine jüdische Wachmannschaft! Was für eine erstaunliche Idee! Yossi fand es sehr aufregend, doch er antwortete in seiner zurückhaltenden Art: »Das muß ich mir noch überlegen.«

»Was gibt es dabei denn zu überlegen?«

»So einfach ist die Sache nicht. Zunächst einmal werden die Beduinen auf diese wichtige Einnahmequelle nicht kampflos verzichten. Und außerdem sind noch die Türken da. Sie werden es uns kaum erlauben, Waffen zu tragen.«

»Ich will ganz offen sein«, sagte Jakob. »Wir wollten dich gern dabeihaben, weil du das Land besser als irgendein anderer kennst, und weil niemand soviel Erfahrung im Umgang mit den Arabern und Türken hat wie du.«

»Sieh mal an«, sagte Yossi ironisch. »Auf einmal wird es meinem lieben Bruder klar, daß mein jahrelanger freundschaftlicher Umgang mit den Arabern doch keine reine Zeitverschwendung gewesen ist.«

»Nun sag schon, Yossi — was ist deine Antwort?«

»Ich sagte schon, daß ich es mir überlegen muß. Es dürfte ziemlich viel Überredungskraft erfordern, unsere Farmer dazu zu bewegen, daß sie sich von uns bewachen lassen. Und das eine dabei gefällt mir wirklich gar nicht: Wenn wir geladene Schußwaffen tragen, dann könnte man das so auslegen, als ob wir Streit suchten.«

Jakob warf die Hände in die Luft. »Wenn man seinen eigenen Grund und Boden verteidigen will, sucht man also Streit! Nach zwanzig Jahren in Palästina redest du noch immer wie ein GhettoJude.«

»Wir sind in friedlicher Absicht hierhergekommen«, sagte Yossi, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Wir haben das Land rechtmäßig erworben. Wir haben unsere Siedlungen errichtet, ohne jemanden zu stören. Wenn wir jetzt anfangen, uns zu bewaffnen, ist das ein Bruch mit den friedlichen Zielen des Zionismus. Mach mir und dir bitte nicht vor, daß das etwa keine riskante Sache wäre.«

»Du machst mich krank«, sagte Jakob heftig. »Also gut, Yossi, mach nur so weiter und erschließe das Land unter der großmütigen Protektion dieser Halsabschneider, der Beduinen. Bitte sehr. Ich werde unsern Leuten sagen, mein Bruder befände sich in tiefer Meditation. Jedenfalls, ob mit dir oder ohne dich, die Wachmannschaften werden aufgestellt. Der Trupp, den du übernehmen solltest, begibt sich nächste Woche zu unserem Stützpunkt.«

»Und wo ist der?«

»Auf dem Berge Kanaan.«

Yossi schlug das Herz. Auf dem Berge Kanaan! Seine Lippen zitterten, aber er versuchte, seine Erregung zu verbergen. »Ich werde es mir überlegen«, sagte er.

Yossi überlegte es sich. Er war es leid, Land für die SchumannStiftung aufzukaufen und weitere Siedlungen zu errichten, die von Spenden leben mußten.

Ein Dutzend bewaffneter Juden, die ebensolche Hitzköpfe waren wie Jakob, konnten allerhand Ärger und Schwierigkeiten machen. Für eine bewaffnete Wachmannschaft benötigte man Klugheit und Zurückhaltung. Doch der Gedanke, in der Umgebung des Berges Kanaan zu leben und die Möglichkeit zu haben, von Zeit zu Zeit in das Hule-Tal zu kommen, war allzu verlockend.

Yossi trennte sich von der Schumann-Stiftung und stieß zu der neuen Gruppe, als diese am Berge Kanaan anlangte. Sie nannten sich Haschomer: die Wächter.

Das Gebiet, das Yossi mit seinem Trupp zu sichern hatte, erstreckte sich vom Berg Kanaan in einem kreisförmigen Bogen, der von Rösch Pina aus bis nach Safed und Meron führte. Yossi war sich darüber klar, daß es über kurz oder lang Ärger geben mußte. Die Beduinen würden zweifellos zurückschlagen, wenn sie erfuhren, daß sie ihren einträglichen Posten verloren hatten.

Yossi ersann einen Plan, der die Absicht verfolgte, die zu erwartenden Schwierigkeiten zu verhüten. Der bedrohlichste der Beduinenstämme in diesem Gebiet wurde von einem alten Renegaten und Schmuggler namens Suleiman angeführt, der sein Lager meist in den Bergen oberhalb von Abu Yesha aufschlug. Suleiman erpreßte als Lohn für seinen »Schutz« den vierten Teil dessen, was in Rösch Pina geerntet wurde. Am Tag nach seiner Ankunft, noch ehe die Araber etwas von der Anwesenheit der Wachmannschaften wußten, ritt Yossi allein und unbewaffnet los, um Suleimans Lager zu suchen.

Spät am Abend fand er es, jenseits von Abu Yesha, in der Nähe von Tel Chaj an der Grenze zum Libanon. Die mit Ziegenfell bespannten Zelte des Lagers standen unregelmäßig verstreut auf dem braunverwitterten Erdreich der Hügel. Diese ewigen Nomaden betrachteten sich als die reinsten und freiesten aller Araber und sahen mit Verachtung auf die ärmlichen Fellachen und auf die Bewohner der Städte herab. Das Leben des Beduinen war hart, doch er war ein freier Mann. Er war ein Kämpfer, der alle anderen Araber an Wildheit, und ein Händler, der alle anderen Araber an Gerissenheit übertraf.

Das Erscheinen des riesenhaften Fremden mit dem roten Bart verursachte allgemeinen Alarm. Die Frauen, in den schwarzen Gewändern der Beduinen, die Gesichter verhängt durch Ketten aus Münzen, brachten sich eilig in Sicherheit, als Yossi herangeritten kam.

Als er in der Mitte des Lagers angekommen war, kam ein negroider Araber auf ihn zu, offensichtlich ein Mann aus dem Sudan. Der Sudanese stellte sich als Suleimans Leibsklave vor und führte Yossi zu dem größten der Zelte, in dessen Nähe eine große Ziegenherde weidete.

Der alte Brigant kam aus seinem Zelt heraus. Er trug ein schwarzes Gewand und ein schwarzes Kopftuch. An seinem Gürtel hingen zwei reichverzierte silberne Dolche. Er war auf einem Auge blind, und sein Gesicht war von den Narben vieler Kämpfe bedeckt, zerfetzt von den Krallen der Frauen und den Messern der Männer.

Suleiman und Yossi musterten einander mit raschen Blicken, und der Besucher wurde in das Zelt geführt. Die Erde am Boden des Zeltes war mit Matten und Kissen bedeckt. Die beiden Männer ließen sich nieder. Suleiman befahl seinem Sklaven, Obst und Kaffee für den Gast zu bringen. Die beiden Männer rauchten gemeinsam aus einer langstieligen Wasserpfeife und tauschten eine halbe Stunde lang inhaltslose Höflichkeiten aus. Der Sklave brachte Reis mit Lammfleisch, und als Nachtisch gab es Melonen, während sie eine weitere Stunde lang Konversation machten. Suleiman war sich darüber klar, daß Yossi kein gewöhnlicher Jude sei und auch nicht in einer gewöhnlichen Mission gekommen war.

Schließlich fragte er Yossi nach dem Grund seines Besuches, und Yossi teilte ihm mit, daß Haschomer den Wachdienst übernommen haben, den bisher Suleiman versehen hatte. Er dankte ihm für seine treuen Dienste. Suleiman nahm diese Neuigkeit zur Kenntnis, ohne mit der Wimper zu zucken. Yossi bat ihn um einen Handschlag, zur Besiegelung eines Freundschaftspaktes. Suleiman lächelte und gab ihm seine Hand.

Am späten Abend kam Yossi nach Rösch Pina und berief eine Versammlung der Farmer ein. Alle waren über das Vorhaben mit den Wachmannschaften entsetzt. Sie waren überzeugt, daß Suleiman ihnen die Kehle durchschneiden würde, wenn er davon hörte. Das Erscheinen von Yossi Rabinski und sein Versprechen, in Rösch Pina zu bleiben, trug sehr dazu bei, sie zu beruhigen.

Im Hintergrund des Versammlungsraums saß ein zwanzigjähriges Mädchen, das Yossi Rabinski nicht aus den Augen ließ und jedem seiner Worte lauschte. Sie hieß Sara und war erst kürzlich aus Polnisch-Oberschlesien nach Palästina gekommen. Sie war ebenso klein und schmal wie Yossi groß und breit war, und ihr Haar war so schwarz wie das seine rot. Sie war begeistert von seinem Anblick und vom Klang seiner Stimme.

»Sie sind neu hier«, sagte er nach der Versammlung zu ihr.

»Ja.«

»Ich bin Yossi Rabinski.«

»Jeder kennt Sie.«

Yossi blieb eine Woche in Rösch Pina. Er rechnete fest damit, daß Suleiman etwas im Schilde führte; doch er wußte, daß der Beduine schlau genug war, um abzuwarten. Yossi war unterdessen außerordentlich von Sara beeindruckt. Doch er hatte als Erwachsener wenig oder gar keinen Umgang mit jüdischen Mädchen gehabt, und in ihrer Gegenwart wurde er stumm und verlegen. Je mehr Sara ihn neckte, desto mehr zog er sich in sein Schneckenhaus zurück. Allen Leuten in Rösch Pina, mit Ausnahme von Yossi, war klar, daß er verliebt war.

Am neunten Tag kamen mitten in der Nacht ein Dutzend Araber auf leisen Sohlen nach Rösch Pina und machten sich mit mehreren Zentnern Getreide auf und davon. Yossi, der Wache hielt, sah sie kommen und beobachtete jede ihrer Bewegungen. Er hätte sie mit Leichtigkeit auf frischer Tat ertappen können, doch es war für einen Beduinen nichts Ehrenrühriges, bei einem Diebstahl erwischt zu werden. Yossi hatte eine andere Strategie im Sinn.

Am nächsten Morgen schwang sich Yossi aufs Pferd und ritt ein zweites Mal zu dem Lager Suleimans. Diesmal aber war er mit seinem drei Meter langen ledernen Ochsenziemer bewaffnet. Er sprengte in vollem Galopp in das Lager hinein und auf das Zelt Suleimans zu. Er sprang vom Pferd. Der Sudanese kam heraus, begrüßte Yossi süßlich lächelnd und bat ihn, einzutreten. Yossi schlug ihn mit dem Handrücken zu Boden, so wie man eine Fliege von seinem Ärmel verscheucht.

»Suleiman!« rief er so laut, daß es im ganzen Lager zu hören war. »Komm heraus!«

Ein Dutzend Männer aus Suleimans Sippe standen plötzlich, wie aus dem Boden geschossen, vor ihm; sie hielten Gewehre in den Händen und machten erstaunte Gesichter.

»Komm heraus!« rief Yossi nochmals mit lauter Stimme.

Der alte Brigant ließ sich Zeit. Schließlich erschien er. Er trat vor das Zelt, legte die Hände an die Hüften und lächelte drohend. Die beiden standen sich in einer Entfernung von drei Metern gegenüber. »Wer meckert hier vor meinem Zelt wie eine kranke Ziege?« fragte Suleiman. Die Männer seiner Sippschaft schüttelten sich vor Lachen. Yossi hielt Suleiman unverwandt im Auge.

»Es ist Yossi Rabinski, der wie eine kranke Ziege meckert«, sagte er. »Und er sagt, daß Suleiman ein Dieb und ein Lügner ist!«

Das Lächeln auf Suleimans Gesicht veränderte sich zu einer bösartigen Grimasse. Die Beduinen warteten gespannt auf das Zeichen, sich auf den Juden zu stürzen.

»Nur zu!« sagte Yossi herausfordernd. »Ruf deine ganze Sippschaft zusammen. Deine Ehre ist nicht mehr wert als die eines Schweins, und wie ich höre, ist dein Mut nicht größer als der eines Weibes.« Sein Mut nicht größer als der eines Weibes! Das war die tödlichste Beleidigung, die es für Suleimans Ohren gab. Yossi hatte ihn persönlich herausgefordert.

Suleiman erhob die Faust und schüttelte sie. »Deine Mutter ist die übelste von allen Huren auf der Welt.«

»Mach nur so weiter, du Waschweib — du kannst ja doch nur reden«, gab Yossi zur Antwort.

Suleimans Ehre stand auf dem Spiele. Er zog einen seiner silbernen Dolche heraus und ging mit einem wilden Schrei auf den rotbärtigen Riesen los.

Yossis Ochsenziemer pfiff durch die Luft! Er wickelte sich um die Füße des Arabers, riß ihn mit einem Ruck hoch und ließ ihn zu Boden stürzen. Yossi war mit einem Satz über ihm. Er ließ den Ochsenziemer mit solcher Wucht auf Suleimans Rücken knallen, daß das Echo des Schlages von den Bergen widerhallte.

»Wir sind Brüder! Wir sind Brüder!« schrie Suleiman, nach dem fünften Schlag um Gnade bittend.

»Hör zu, Suleiman«, sagte Yossi. »Du hast mir dein Wort gegeben und es mit einem Handschlag besiegelt. Und du hast dein Wort gebrochen. Wenn du oder einer deiner Leute jemals wieder den Fuß auf eins unserer Felder setzt, dann werde ich dir mit diesem Ochsenziemer das Fleisch von den Rippen schlagen und die Fetzen den Schakalen zum Fraß vorwerfen.«

Yossi stand auf und durchbohrte mit seinem Blick die erstaunten Beduinen. Sie waren starr vor Verblüffung. Noch nie hatten sie einen Mann erlebt, der so stark, so furchtlos und so wütend war.

Ohne sich auch nur im geringsten um ihre Gewehre zu kümmern, wandte ihnen Yossi den Rücken, ging zu seinem Pferd, stieg auf und ritt davon.

Suleiman und seine Leute rührten nie wieder ein jüdisches Feld an. Als Yossi am nächsten Morgen aufsaß, um zum Berge Kanaan und zu seinen Leuten zurückzureiten, fragte ihn Sara, wann er zurückkäme. Er murmelte irgend etwas in seinen Bart. Er komme ungefähr jeden Monat einmal nach Rösch Pina. Dann grüßte er und galoppierte davon, und Sara fühlte, wie dieser Abschied sie schmerzte. So wie Yossi Rabinski war kein anderer — kein Jude, kein Araber, kein Kosak und auch kein König! Sie sah ihm nach, wie er davonritt, und schwor sich, diesen Mann bis an das Ende ihres Lebens zu lieben.

Ein Jahr lang befehligte Yossi seine Wachmannschaft mit solcher Klugheit, daß es im ganzen Gebiet fast gar keine Schwierigkeiten gab. Es war nie nötig, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Gab es Ärger, ging er zu den Arabern, um mit ihnen freundlich zu verhandeln und sie zu warnen. Passierte dann erneut etwas, gebrauchte er seinen Ochsenziemer. Yossi Rabinskis Ochsenziemer wurde mit der Zeit im nördlichen Teil von Galiläa ebenso bekannt und berühmt wie sein roter Bart. Die Araber nannten ihn den »Blitz«.

Für Jakob war das alles viel zu langweilig. Es verlangte ihn nach Tatkraft. Nachdem er sechs Monate beim Haschomer gewesen war, machte er auch dort wieder Schluß und begab sich auf die Suche, in der Hoffnung, irgend etwas zu finden, was die innere Leere ausfüllen könnte, die er sein ganzes Leben lang empfunden hatte.

Yossi war als Wächter weder glücklich noch unglücklich. Diese Tätigkeit machte ihm mehr Spaß, als Land aufzukaufen. Außerdem wurde dadurch demonstriert, daß die Juden in der Lage und entschlossen waren, sich zur Wehr zu setzen, und nicht mehr »Kinder des Todes« zu sein. Er freute sich jedesmal, wenn ihn seine dienstliche Tour nach Norden führte. Dann konnte er seinen Freund Kammal besuchen und anschließend auf seinen Berg hinaufreiten, um seinen Traum zu nähren.

Insgeheim freute er sich besonders auf den Augenblick, wenn er nach Rösch Pina hineinritt. Er richtete sich dann jedesmal im Sattel auf, um auf seinem weißen Hengst noch prächtiger zu wirken. Sein Herz schlug rascher, denn er wußte, daß ihm Sara, das dunkeläugige Mädchen aus Oberschlesien, zusah. Doch wenn er den Mund aufmachen oder handeln sollte, dann verließ ihn der Mut. Sara war ratlos. Yossi konnte seine Schüchternheit einfach nicht überwinden. In Saras Heimat wäre der Heiratsvermittler zu Yossis Vater gegangen und hätte alles arrangiert. Hier aber gab es keinen Heiratsvermittler, nicht einmal einen Rabbi.

So verging ein ganzes Jahr. Eines Tages kam Yossi unerwartet nach Rösch Pina geritten. Alles, was er über die Lippen brachte, war, Sara zu fragen, ob sie Lust hätte, mit ihm in das Hule-Tal zu reiten, um sich das Land nördlich der Siedlung anzusehen.

Wie aufregend für Sara! Kein Jude außer Yossi Rabinski wagte sich so weit ins Land hinein! Sie ritten durch Abu Yesha und dann hinauf in die Berge. Auf dem Gipfel eines Berges machten sie halt. »Genau von dieser Stelle aus habe ich Palästina zum erstenmal gesehen«, sagte er leise.

Yossi blickte in das Hule-Tal hinunter. Er brauchte nichts mehr zu sagen. Sara wußte, wie sehr er dieses Stück Land liebte. So standen sie beide lange nebeneinander und sahen stumm hinunter in das Tal. Sara reichte Yossi knapp bis an die Brust.

Das also, dachte sie gerührt, war für Yossi die einzige Möglichkeit, seinem geheimsten Herzenswunsch Ausdruck zu verleihen.

»Yossi Rabinski«, flüsterte sie, »würden Sie mich bitte, bitte heiraten?«

Yossi räusperte sich und stammelte verlegen: »Ja — hm — komisch, daß Sie davon reden. Ich wollte Sie gerade auch so etwas Ähnliches fragen.«

Noch nie hatte es in Palästina eine Hochzeit gegeben wie die von Yossi und Sara. Sie dauerte fast eine Woche, und die Gäste kamen aus ganz Galiläa und sogar aus Jaffa, obwohl es bis nach Safed eine Reise von zwei Tagen war. Es kamen die Männer vom Haschomer, und Jakob kam und die Siedler von Rösch Pina, es kamen türkische Gäste, und Kammal erschien, und sogar Suleiman. Als die letzten Gäste gegangen waren, ging Yossi mit seiner jungen Frau nach Jaffa, wo es für ihn viel Arbeit bei der Zionistischen Siedlungsgesellschaft gab. Sein Ruf ließ ihn als den geeigneten Mann erscheinen, die frisch zugewanderten Ansiedler unter seine Fittiche zu nehmen und ihnen bei den mannigfaltigen Schwierigkeiten behilflich zu sein. Er machte einen Vertrag und übernahm einen leitenden Posten bei der Zionistischen Siedlungsgesellschaft.

Im Jahr 1909 wurde Yossi in einer sehr wichtigen Angelegenheit um Rat gefragt. Viele Angehörige der immer größer werdenden jüdischen Gemeinde von Jaffa wünschten bessere Wohnungen, bessere sanitäre und kulturelle Verhältnisse, die die alte arabische Stadt nicht zu bieten hatte. Yossi half, einen Streifen Land nördlich von Jaffa zu erwerben, der größtenteils aus Sand und Orangenhainen bestand.

Auf diesem Boden wurde zum erstenmal seit zweitausend Jahren die erste rein jüdische Stadt erbaut. Man nannte sie: Hügel des Frühlings — Tel Aviv.

IX.

Die bestehenden landwirtschaftlichen Siedlungen hatten schwere Zeiten durchzustehen. Dafür gab es vielerlei Gründe. Zunächst einmal waren die Siedler gleichgültig und lethargisch und besaßen keinerlei Idealismus. Sie bauten nach wie vor Feldfrüchte ausschließlich für den Export an und verwendeten weiterhin die billigeren arabischen Arbeitskräfte. Obwohl jetzt viele Juden nach Palästina kamen, die gern auf dem Land arbeiten wollten, konnten die Gutsbesitzer nur mit Mühe dazu überredet werden, diese Juden als Arbeitskräfte zu verwenden.

Die Gesamtsituation war entmutigend. Es sah in Palästina noch nicht wesentlich besser aus als vor zwanzig Jahren, als die Brüder Rabinski hierher gekommen waren. Der Schwung und der Idealismus, den die jungen Leute der zweiten Aliyah-Welle ins Land gebracht hatten, waren versandet. Ähnlich wie Jakob und Yossi wanderten auch die neuen Einwanderer von Ort zu Ort und von Stellung zu Stellung, ohne festes Ziel und ohne sich niederzulassen. Je mehr Land die Zionistische Siedlungsgesellschaft erwarb, desto deutlicher wurde es, daß man das ganze Siedlungsproblem völlig anders anpacken mußte. Yossi und viele seiner Freunde waren schon lange zu der Ansicht gelangt, daß die Landbestellung für den einzelnen schier unmöglich war. Die Unsicherheit der Verhältnisse, die Unerfahrenheit der Juden in landwirtschaftlichen Fragen und die völlige Verkommenheit des Bodens waren die Hauptgründe.

Was sich Yossi für das neuerworbene Land wünschte, waren Siedlungen, deren Bewohner den Boden selbst bearbeiteten, die eine Gemischtwirtschaft führten, um sich selbst zu ernähren, und die zusammenhielten, wenn es galt, sich zu verteidigen. Um das zu verwirklichen, mußte zunächst einmal das ganze angekaufte Land als jüdischer Grund und Boden, der allen Juden gehörte, nominell in der Hand der Zionistischen Siedlungsgesellschaft verbleiben. Und die Siedler mußten den Boden selbst bearbeiten und durften keine anderen Arbeitskräfte dingen, weder jüdische noch arabische. Der nächste dramatische Schritt wurde getan, als sich Juden der zweiten Aliyah-WeIle dazu verpflichteten, ausschließlich für die Erschließung des Landes zu arbeiten. Sie gelobten, das Land zu einer Heimstätte zu machen, ohne an privaten Gewinn oder persönlichen Vorteil zu denken. Durch diese Verpflichtungen kamen sie der späteren Idee des landwirtschaftlichen Kollektivs schon sehr nahe. Die genossenschaftliche Form der Landbestellung entsprang nicht so sehr einem sozialen oder politischen Idealismus als vielmehr der Notwendigkeit des Existenzkampfes; es gab keine andere Lösung. Damit waren die Voraussetzungen für ein dramatisches Experiment gegeben, das im Jahr 1909 gestartet wurde. Die Zionistische Siedlungsgesellschaft erwarb unterhalb von Tiberias, an der Stelle, wo der Jordan in den See Genezareth mündet, viertausend Dunam Land, das zum größten Teil aus Moor oder Sumpf bestand. Die Gesellschaft rüstete zwanzig junge Männer und Frauen mit Geld und Lebensmitteln für ein Jahr aus. Sie sollten das Land urbar machen. Yossi begleitete sie, als sie sich aufmachten und am Rande des Sumpfes ihre Zelte aufschlugen. Sie gaben ihrer Neusiedlung den Namen nach den wilden Rosen, die am Rande des Tiberias-Sees wuchsen: Schoschana. Man errichtete drei Schuppen aus ungehobelten Brettern. Der eine diente als gemeinsamer Speiseraum und Versammlungssaal, der zweite als Scheune und Geräteschuppen, der dritte als Unterkunft für die sechzehn Männer und die vier Frauen.

Im ersten Winter wurden die Schuppen ein dutzendmal durch Wind und Wasser umgerissen. Straßen und Wege waren so morastig, daß die Neusiedler für lange Zeit von der übrigen Welt völlig abgeschnitten waren. Schließlich waren sie gezwungen, in ein nahegelegenes Araberdorf auszuweichen und dort den Frühling abzuwarten.

Yossi kehrte im Frühling nach Schoschana zurück, als es dort ernstlich an die Arbeit ging. Die Sümpfe und Moore mußten Meter für Meter zurückgedrängt werden. Man pflanzte Hunderte von australischen Eukalyptusbäumen an, die das Wasser aufsaugen sollten. Entwässerungsgräben wurden gezogen. Alles mußte mit der Hand gemacht werden, eine mörderische Arbeit. Die Gruppe arbeitete vom Morgen bis zum Abend, und ein Drittel lag beständig mit Malaria darnieder. Das einzige bekannte Mittel dagegen war die arabische Heilmethode, die Ohrläppchen anzustechen und Blut abzuzapfen. Sie arbeiteten in der höllischen Hitze des Sommers, und der Schlamm ging ihnen bis an die Hüften.

Im zweiten Jahr war schon ein gewisser Erfolg dieser Schufterei zu sehen: ein Teil des Landes war urbar. Jetzt mußten die Steine mit Eselsgespannen von den Feldern geschleppt und das dichte Unterholz abgehackt und verbrannt werden.

In Tel Aviv setzte Yossi seinen Kampf um weitere Unterstützung des Experimentes fort. Er hatte etwas sehr Erstaunliches entdeckt. Die Sehnsucht, sich eine Heimat zu schaffen, war so stark, daß diese zwanzig Leute bereit waren, die schwerste Arbeit ohne Bezahlung auf sich zu nehmen.

In Schoschana nahmen die Strapazen und Schwierigkeiten kein Ende. Doch nach dem zweiten Jahr war schon so viel Land urbar gemacht, daß man an den Anbau denken konnte. Das war ein kritisches Unternehmen, denn die meisten Angehörigen der Gruppe hatten keine Ahnung von Landwirtschaft, ja sie wußten kaum, was der Unterschied zwischen einer Henne und einem Hahn war. Sie versuchten den Anbau auf gut Glück, und das Ergebnis war in den meisten Fällen ein Mißerfolg. Sie wußten nicht, wie man mit dem Pflug eine gerade Furche zieht, wie man sät oder eine Kuh melkt, oder wie man Bäume pflanzt. Der Boden war für sie ein ungeheures Rätsel.

Doch sie gingen dem Problem der Bodenbestellung mit der gleichen zähen Entschlossenheit zu Leibe wie dem Sumpf. Nachdem der Sumpf entwässert war, mußte der Boden künstlich bewässert werden. Zunächst wurde das Wasser in Kanistern auf Eselsrücken vom Fluß herangebracht. Man experimentierte mit einem arabischen Wasserrad und versuchte es mit Brunnen. Aber schließlich legten sie Bewässerungsgräben an und bauten Dämme, um das Wasser der winterlichen Regenfälle aufzufangen.

Nach und nach gab das Land seine Geheimnisse preis. Oftmals, wenn Yossi nach Schoschana kam, verschlug ihm die unvergleichliche Moral dieser Neusiedler den Atem. Sie besaßen nur das, was sie auf dem Leib trugen, und selbst das war genossenschaftliches Eigentum. In dem gemeinsamen Speiseraum verzehrten sie die denkbar kärglichsten Mahlzeiten, hatten gemeinsame Waschräume und schliefen alle unter ein und demselben Dach.

Die Araber und Beduinen sahen mit Erstaunen, wie die Siedlung Schoschana langsam, aber stetig wuchs. Als die Beduinen feststellten, daß mehrere hundert Morgen Land kultiviert waren, beschlossen sie, die Juden zu vertreiben. Alle Feldarbeit mußte von nun an unter dem Schutz bewaffneter Wachtposten verrichtet werden. Zu der Malaria und dem Überfluß an Arbeit kam nun auch das Problem der Sicherheit. Nach einem unerhört harten Arbeitstag auf den Feldern mußten die ermüdeten Siedler die Nacht über Wache stehen. Doch sie gaben Schoschana nicht auf und ließen sich durch ihre Isoliertheit und Unwissenheit, durch Drohungen der Beduinen, durch den Sumpf, die mörderische Hitze, die Malaria und ein Dutzend anderer Kalamitäten nicht beirren.

Jakob Rabinski kam nach Schoschana, um dort sein Glück zu versuchen; desgleichen Joseph Trumpeldor, der als Offizier im russischen Heer gedient und wegen seiner Tapferkeit im russischjapanischen Krieg, in dem er einen Arm verloren hatte, berühmt war. Der Appell des Zionismus hatte ihn nach Palästina gebracht. Nachdem Trumpeldor und Jakob für die Sicherheit zu sorgen begonnen hatten, hörten die Überfälle der Beduinen sehr bald auf. Doch das gemeinschaftliche Leben schuf noch andere Probleme: Fragen, die die Allgemeinheit betrafen; zwar regelte man sie durchaus demokratisch, doch die Juden neigten von Haus aus zur Unabhängigkeit, und nur selten waren zwei Juden einer Meinung. Würde das Verwalten also auf endloses Reden, Diskutieren und Streiten hinauslaufen?

Es entstanden Fragen der Arbeitseinteilung, der Verantwortlichkeit bei Krankheit, der Fürsorge und der Erziehung. Und was sollte mit denjenigen geschehen, die nicht bereit oder nicht in der Lage waren, den ganzen Tag zu arbeiten? Und mit denen, die mit der Arbeit unzufrieden waren, die man ihnen übertragen hatte? Oder mit denen, denen das Essen nicht schmeckte, oder die nicht damit einverstanden waren, in so engen Unterkünften zusammenzuleben? Und wie sollte man persönliche Reibereien schlichten?

Aber eins schien stärker zu sein als alle diese Probleme: Jeder einzelne in Schoschana lehnte mit Leidenschaft die Umstände und Zustände ab, die aus ihm einen Ghetto-Juden gemacht hatten. Alle waren entschlossen, nie mehr in ein Ghetto zurückzukehren. Sie wollten sich durch ihrer Hände Arbeit eine Heimat schaffen.

Die Gemeinschaft von Schoschana hatte ihren eigenen Ehrenkodex und ihre eigene Gesellschaftsordnung. Ehen wurden durch Gemeinschaftsbeschluß geschlossen und geschieden. Man regelte das Leben innerhalb der Siedlung in einer Form, die sich über die traditionellen Bindungen hinwegsetzte. Man warf die Fesseln der Vergangenheit ab.

Nach der langen Zeit der Unterdrückung erlebten die Juden von Schoschana, was sie so lange ersehnt hatten: die Entstehung einer wahrhaft freien jüdischen Landbevölkerung. Zum erstenmal kleideten sich Juden wie Bauern, tanzten sie Horra beim Schein eines Holzfeuers, und den Boden zu bearbeiten und ein Heimatland zu schaffen, erschien ihnen als würdiger Lebenszweck.

Im Laufe der Zeit wurden Rasenflächen mit Blumen, Büschen und Bäumen angelegt und neue ansehnliche Gebäude errichtet. Für verheiratete Paare baute man kleine Häuschen. Eine Bibliothek wurde eingerichtet, und ein Arzt engagiert.

Dann kam der Aufstand der Frauen. Eine der vier Frauen, die von Anfang an dabeigewesen waren, ein untersetztes, wenig attraktives Mädchen namens Ruth, war die treibende Kraft der Rebellion. Auf den Versammlungen der Siedlungsgemeinschaft vertrat sie die Ansicht, daß die Frauen aus Rußland und Polen nicht aufgebrochen seien, um in Schoschana Domestiken zu werden. Sie forderten gleiches Recht und gleiche Verantwortlichkeit. Sie setzten die alten Tabus außer Kurs und nahmen gemeinsam mit den Männern an allen Arbeiten teil, sogar beim Pflügen der Felder. Sie übernahmen den Hühnerhof und den Gemüseanbau, und sie erwiesen sich den Männern an Fähigkeit und Ausdauer ebenbürtig. Sie lernten, mit Waffen umzugehen und standen nachts Wache.

Ruth, die Anführerin des Aufstandes der Frauen, hatte es besonders auf die fünfköpfige Kuhherde von Schoschana abgesehen. Sie war darauf versessen, die Kühe zu übernehmen. Doch ihr Ehrgeiz scheiterte am Widerstand der Männer. Die Mädchen gingen wirklich zu weit! Jakob, der wortgewaltigste Vertreter der Männlichkeit, wurde zum Kampf gegen Ruth vorgeschickt. Sie sollte schließlich begreifen, daß es für Frauen zu gefährlich war, mit Kühen umzugehen. Außerdem stellten diese fünf Kühe den wertvollsten und am sorgsamsten gehüteten Schatz von Schoschana dar. Alle waren sehr erstaunt, als Ruth sich ohne Widerrede fügte. Das sah ihr so gar nicht ähnlich! Einen Monat lang erwähnte sie die Sache mit keinem weiteren Wort. Statt dessen stahl sie sich bei jeder Gelegenheit davon und ging in das nahegelegene Araberdorf, um dort die schwierige Kunst des Melkens zu erlernen. In ihrer freien Zeit las sie alle Broschüren über Milchwirtschaft, die sie erwischen konnte.

Eines Morgens kam Jakob, der die Nacht über Wachdienst gehabt hatte, in die Scheune. Ruth hatte ihr Wort gebrochen! Sie molk Jezebel, die beste Kuh. Eine Sondersitzung wurde einberufen, um Ruth wegen Ungehorsams zu tadeln. Ruth brachte Fakten und Zahlen vor, um zu beweisen, daß sie in der Lage sei, den Milchertrag richtige Fütterung und gesunden Menschenverstand zu steigern, und sie beschuldigte die Männer der Ignoranz und der Intoleranz. Die Versammlung glaubte, Ruth zur Räson zu bringen, wenn man ihr vorübergehend die Verantwortung für die Herde übertrug. Die Sache endete damit, daß Ruth die Kühe behielt. Sie vergrößerte die Herde um das Fünfundzwanzigfache und wurde zu einer der besten Meiereifachleute von ganz Palästina.

Jakob und Ruth heirateten, und die Gemeinschaft war voll und ganz damit einverstanden. Es hieß, sie sei der einzige Mensch auf der Welt, der imstande war, in einem Streit mit ihm recht zu behalten. Sie liebten sich sehr und waren außerordentlich glücklich miteinander.

Ganz besonders kritisch wurde die Situation, als die ersten Kinder geboren wurden. Die Frauen hatten um ihre Gleichberechtigung gekämpft und sie erhalten. Sie waren für die Ökonomie des Ganzen wichtig geworden. Viele von ihnen hatten Schlüsselstellungen inne. Die Sache wurde besprochen und durchdiskutiert. Sollten die Frauen ihre Posten etwa aufgeben und Hausangestellte werden? Oder gab es irgendeine andere Möglichkeit, das familiäre Leben zu regeln? Die Angehörigen der Gemeinschaft Schoschana waren der Meinung, es müsse auch möglich sein, eine neuartige Lösung des Kinderproblems zu finden, da ja ihre gesamte Lebensform völlig neuartig war.

So kam es zur Entstehung von Kinderheimen, in denen ausgewählte Mitglieder der Gemeinschaft die Kinder tagsüber beaufsichtigten und versorgten. Dadurch waren die Mütter für ihre Arbeit frei. An den Abenden waren die Familien beisammen. Viele Außenseiter hielten dadurch den familiären Zusammenhalt für gefährdet, der die Juden in den langen Jahrhunderten der Verfolgung am Leben erhalten hatte. Ungeachtet dieser Kritiker war der familiäre Zusammenhalt in Schoschana genauso stark wie anderswo.

Jakob Rabinski hatte endlich gefunden, was ihm gefehlt und was er gesucht hatte. Schoschana wuchs und wuchs, bis das Dorf hundert Mitglieder zählte und mehr als tausend Dunam Landes urbar gemacht worden waren. Jakob besaß kein Geld, nicht einmal Kleidung. Er hatte eine Frau mit einer scharfen Zunge, die eine der besten Landwirte in Galiläa war. Am Abend, wenn des Tages Arbeit getan war, ging er mit Ruth über die Rasenflächen und durch die Blumengärten, oder er stieg auf den kleinen Hügel und sah von dort über die grünenden Felder — und er war zufrieden und ausgefüllt.

Schoschana, der erste Kibbuz in Palästina, schien die Lösung des Problems für den Zionismus zu sein, nach der man so lange gesucht hatte.

X.

Eines Abends kam Yossi von einer Sondersitzung des Waad-Halaschon — des Arbeitsausschusses für Fragen der hebräischen Sprache — nach Haus. Er war tief in Gedanken. Auf Grund seiner Stellung innerhalb der Gemeinde hatte man sich besonders an ihn gewandt.

Sara hatte stets einen Tee für Yossi bereit, ganz gleich, zu welcher Tages- oder Nachtzeit er von einer seiner Versammlungen nach Haus kam. Sie saßen beide auf dem Balkon ihrer Drei-ZimmerWohnung in der Hayarkon-Straße in Tel Aviv. Yossi konnte von hier aus die Küste übersehen, die im weiten Bogen verlief.

»Sara«, sagte er schließlich, »ich habe einen Entschluß gefaßt. Ich war heute abend im Waad-Halaschon, und man hat mich gebeten, einen hebräischen Namen anzunehmen und nur noch Hebräisch zu sprechen. Ben Jehuda hielt heute abend eine Rede. Was er für die Modernisierung der hebräischen Sprache getan hat, ist wirklich enorm.«

»Was für ein Unsinn«, sagte Sara. »Du hast mir doch selbst gesagt, daß es noch nie gelungen ist, eine Sprache zu neuem Leben zu erwecken.«

»Ja, aber ich habe mir auch überlegt, daß bisher noch niemals irgendein Volk versucht hat, eine Nation zu neuem Leben zu erwecken, wie wir das jetzt tun. Wenn ich mir ansehe, was in Schoschana und anderen Kibbuzim erreicht worden ist —.«

»Weil du gerade von Schoschana sprichst — du möchtest ja nur deshalb einen hebräischen Namen annehmen, weil dein Bruder, der früher Jakob Rabinski hieß, das auch getan hat.«

»Unsinn.«

»Wie heißt er jetzt eigentlich, der ehemalige Jakob Rabinski?«

»Er heißt Akiba. Das ist der Name eines Mannes, für den er sich als Knabe begeisterte.«

»Ach, und vielleicht möchtest du dich jetzt auch nach jemanden nennen, für den du als Junge geschwärmt hast — vielleicht nach Jesus Christus?«

»Du bist unmöglich, Sara!« fauchte Yossi, stand auf und ging wütend hinein.

»Wenn du gelegentlich noch in die Synagoge gingest«, sagte Sara, die ihm nachgegangen war, »dann wüßtest du, daß Hebräisch die Sprache ist, in der man mit Gott redet.«

»Sara — ich frage mich manchmal wirklich, weshalb du dir die Mühe gemacht hast, von Schlesien hierherzukommen. Wenn wir als Nation denken und handeln sollen, dann müssen wir auch wie eine Nation sprechen.«

»Das tun wir ja auch. Unsere Sprache ist Jiddisch.«

»Jiddisch ist die Sprache des Exils, die Sprache des Ghettos, Hebräisch aber ist die Sprache aller Juden.«

Sie drohte ihrem Mann, der groß wie ein Riese war, mit dem Finger. »Verschone mich mit zionistischer Propaganda, Yossi. Für mich wirst du Yossi Rabinski sein und bleiben, solange ich lebe.«

»Ich habe meinen Entschluß gefaßt, Sara. Ich gebe dir den guten Rat, dein Hebräisch aufzufrischen. Denn das ist die Sprache, die wir von jetzt an sprechen werden.«

»Das ist ja vollkommener Blödsinn, dieser Entschluß!«

Yossi hatte lange gebraucht, ehe er Ben Jehuda und den anderen zustimmte. Aber sie hatten recht: die hebräische Sprache mußte wieder zum Leben erweckt werden. Wenn das Verlangen nach nationaler Einheit stark genug war, dann mußte es auch möglich sein, einer toten Sprache neues Leben zu verleihen.

Doch Sara hatte ihren eigenen Kopf. Sie sprach Jiddisch, denn Jiddisch hatte bereits ihre Mutter gesprochen. Sie hatte nicht die Absicht, in ihrem Alter noch einmal die Schulbank zu drücken. Eine Woche lang schloß sich Sara abends im Schlafzimmer ein. Doch Yossi war nicht gewillt, nachzugeben. Drei Wochen lang sprach er mit Sara nur Hebräisch, und sie antwortete Jiddisch.

»Yossi«, rief sie eines Abends, »Yossi, komm doch mal her und hilf mir.«

»Verzeihung«, sagte Yossi. »Hier in diesem Hause gibt es niemanden mit Namen Yossi. Solltest du etwa mich meinen«, fuhr er fort, »mein Name ist Barak — Barak ben Kanaan.«

»Barak ben Kanaan!«

»Ja«, sagte er. »Ich habe lange nachgedacht, um den richtigen Namen zu finden. Die Araber pflegten meinen Ochsenziemer den ,Blitz' zu nennen, und auf hebräisch heißt Blitz ,Barak'. Außerdem hieß Deborahs General so. Und Kanaan nenne ich mich, weil ich den Berg Kanaan nun einmal liebe.«

Sara schlug die Tür mit einem Knall zu und drehte den Schlüssel um.

Yossi rief von draußen: »Ich war glücklich, damals auf dem Berge Kanaan! Denn damals hatte ich noch kein halsstarriges Weib! Gewöhne dich daran, Sara ben Kanaan — Sara ben Kanaan!«

Yossi, nunmehr Barak, hatte von neuem keinen Zutritt zum Schlafzimmer. Eine geschlagene Woche lang sprachen die beiden kein Wort miteinander.

Einen Monat, nachdem der Streit zwischen ihnen ausgebrochen war, kam Barak eines Abends von einer sehr anstrengenden dreitägigen Sitzung in Jerusalem nach Hause zurück. Es war schon spät in der Nacht, er war erschöpft und müde. Er suchte Sara, um ihr bei einer Tasse Tee alles berichten zu können.

Doch die Tür zu ihrem Zimmer war verschlossen. Er seufzte, zog sich die Schuhe aus und legte sich auf das Sofa. Er war so groß, daß seine Beine über die Armlehne hingen. Er war müde und hätte gern in seinem Bett geschlafen. Es tat ihm leid, daß er die ganze Sache angefangen hatte. Kurz bevor ihn der Schlaf übermannte, entdeckte er plötzlich einen Lichtstrahl, der unter der Tür zum Schlafzimmer herausfiel. Sara kam leise heran, kniete sich neben ihm hin und legte ihren Kopf an seine Brust.

»Ich liebe dich, Barak ben Kanaan«, flüsterte sie in einwandfreiem Hebräisch.

Es gab viel Arbeit für Barak ben Kanaan in der funkelnagelneuen Stadt Tel Aviv. Er war ein einflußreicher Mann in der Zionistischen Siedlungsgesellschaft. Dauernd mußte er zu Versammlungen oder zu Verhandlungen mit den Türken und den Arabern, die viel Fingerspitzengefühl verlangten. Er verfaßte schriftliche Abhandlungen über wichtige politische Fragen, und häufig fuhr er mit Sara zum Zentralbüro der Zionisten nach London oder in die Schweiz zu den internationalen Zionistenkongressen.

Doch das Glück, das sein Bruder Akiba in Schoschana gefunden hatte, gab es für Barak nicht. Mit seinem Herzen war er beständig in dem Land nördlich vom Berge Kanaan, im Hule-Tal. Sara liebte ihn sehr und verstand ihn gut. Sie wünschte sich Kinder, um seine Sehnsucht nach dem Boden vor dem Berg Kanaan zu lindern. Doch ihr Wunsch blieb unerfüllt. Fünfmal hintereinander hatte sie eine Fehlgeburt. Es war bitter für beide, denn Barak war bereits Mitte Vierzig.

Im Jahre 1908 kam es zu einem Aufstand der Jungtürken, die den korrupten alten Tyrannen und Despoten, Abdul Hamid II., absetzten. Alle Zionisten waren voller Hoffnung, als Mohammed V., Sultan der Ottomanen und geistlicher Oberherr der mohammedanischen Welt, sein Nachfolger wurde. Doch es zeigte sich bald, daß der Aufstand den Abschluß eines Staatsvertrages für Palästina nicht günstig beeinflußt hatte. Mohammed V. hatte das Erbe eines verfallenden Reiches angetreten und hieß überall nur der »kranke Mann am Bosporus«.

Die Engländer hatten von Anfang an die größte Sympathie für die Zionisten bekundet. Barak war überzeugt, daß es möglich sein mußte, die jüdischen und die britischen Interessen miteinander in Übereinstimmung zu bringen, während es keine Grundlage für ein Zusammengehen mit den Türken gab. Die Engländer hatten den Juden Sinai und Uganda als Siedlungsgebiete angeboten. Es gab viele hohe britische Beamte, die sich offen für die Unterstützung einer jüdischen Heimstätte aussprachen. England war das Hauptquartier der Zionisten, und in England saß auch Dr. Chaim Weizmann, ein in Rußland geborener Jude, der die zionistische Bewegung vertrat. Als der Einfluß der Engländer im Nahen Osten immer mehr zunahm und der Niedergang des Reiches der Ottomanen offensichtlich zu werden begann, konnten sich Barak und die Juden in Palästina mit den Zionisten in aller Welt auch öffentlich zu England bekennen.

Mohammed V. hatte auf dem Balkan eine Reihe kostspieliger Kriege verloren. Seine Stellung als »Schatten Gottes«, als geistliches Oberhaupt des Islams, war ins Wanken geraten. Die fünfhundertjährige Herrschaft der Ottomanen drohte zusammenzubrechen, weil das Reich vor einem wirtschaftlichen Ruin stand.

Es kam das Jahr 1914. Der erste Weltkrieg brach aus!

Mohammed V. tat weder den Russen — die sich schon seit Jahrhunderten die Finger nach den eisfreien Häfen des Mittelmeeres geleckt hatten — noch den Engländern den Gefallen, in die Knie zu gehen. Im Gegenteil, die Türken kämpften mit einem Mut und einer Entschlossenheit, die man ihnen gar nicht zugetraut hatte. Sie hielten die russische Armee auf, die den Kaukasus zu überqueren versuchte. Im Nahen Osten stießen sie von Palästina aus vor, durchquerten die Wüste Sinai und standen dicht vor der empfindlichsten Schlagader des Britischen Empire, dem Suez-Kanal. In dieser Situation verlegten sich die Engländer darauf, den Arabern alle möglichen Versprechungen zu machen, um sie dazu zu bewegen, sich gegen die Ottomanen zu erheben. Eine dieser englischen Versprechungen war die, den Arabern als Gegenleistung für ihre Hilfe ihre Unabhängigkeit zu garantieren. Englische Agenten waren fieberhaft am Werk, um eine arabische Revolte auf die Beine zu bringen. Sie wandten sich an den einflußreichsten arabischen Prinzen, Ibn Saud; doch Ibn Saud beschloß, zunächst einmal abzuwarten, bis genau zu übersehen war, woher der Wind wehte.

Die Engländer sahen ein, daß arabische Verbündete gekauft werden mußten. Sie streckten ihre Fühler nach dem Gouverneur von Mekka aus, der offiziell »Statthalter von Mekka und Medina« war. Der Scherif von Mekka war innerhalb der arabischen Welt ein an sich unbedeutender Mann. Außerdem war er der Erzfeind von Ibn Saud. Als sich die Engländer an ihn wandten, sah er für sich eine Möglichkeit, die Macht über die gesamte arabische Welt an sich zu reißen, falls Mohammed V. und die Ottomanen unterliegen sollten. So schlug sich der Scherif von Mekka, um den Preis von mehreren hunderttausend Pfund Sterling, auf die Seite der Briten. Der Scherif hatte einen Sohn mit Namen Faisal, der eine seltsame Ausnahme unter den arabischen Führern darstellte, weil er so etwas wie ein soziales Gewissen hatte. Er erklärte sich bereit, seinem Vater zu helfen, die arabischen Stämme gegen die Ottomanen aufzubringen. Bei den Juden von Palästina — für die inzwischen die Bezeichnung Jischuw üblich geworden war — waren weder Bestechungen noch Versprechungen nötig. Sie standen geschlossen auf seiten der Engländer. Als erklärte Freunde aller Feinde der Ottomanen befanden sie sich daher, als der Krieg ausbrach, in einer sehr gefährlichen Situation. Kemal Pascha, der spätere Atatürk, bemächtigte sich durch ein rasches Manöver der Provinz Palästina und begann über die dort lebenden Juden seine Herrschaft des Schreckens.

Barak ben Kanaan mußte innerhalb von sechs Stunden Palästina verlassen. Sowohl er wie auch sein Bruder Akiba standen auf der Liquidierungsliste der türkischen Polizei. Die Zionistische Siedlungsgesellschaft mußte ihre Büros schließen, und jedwede offizielle jüdische Tätigkeit hatte ein Ende.

»Wie bald müssen wir fort, Liebster?« fragte Sara.

»Noch vor Tagesanbruch. Pack bitte nur einen kleinen Handkoffer. Alles andere müssen wir dalassen.«

Sara taumelte, lehnte sich gegen die Wand und strich mit der Hand über ihren Leib. Sie war im sechsten Monat.

»Ich kann nicht fortgehen«, sagte sie. »Ich kann nicht.«

Barak wandte sich um und sah sie an. »Sei vernünftig, Sara«, sagte er. »Die Zeit drängt.«

Sie lief zu ihm hin und warf sich in seine Arme. »Barak«, sagte sie, »ach, Barak — dann verliere ich auch noch dieses Kind — das kann ich nicht — ich kann nicht, kann nicht.«

Barak seufzte tief. »Du mußt mit mir kommen. Wer weiß, was geschieht, wenn dich die Türken erwischen.«

»Ich will dieses Kind nicht verlieren.«

Barak packte langsam zu Ende und verschloß seinen Koffer.

»Mach dich sofort auf nach Schoschana«, sagte er. »Ruth wird sich um dich kümmern — aber komm ihren Kühen nicht zu nahe.« Er küßte sie sanft auf die Wange, und sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und schlang die Arme um ihn.

»Schalom, Sara«, sagte er. »Ich liebe dich.« Er wandte sich um und ging rasch hinaus.

Sara machte die Reise von Tel Aviv nach Schoschana mit einem Eselskarren und erwartete bei Ruth die Geburt ihres Kindes.

Akiba und Barak flohen nach Kairo, wo sie ihren alten Freund Joseph Trumpeldor trafen, den einarmigen Streiter. Trumpeldor war eifrig damit beschäftigt, eine Einheit palästinischer Juden aufzustellen, die als Angehörige der britischen Armee kämpfen sollten.

Barak und Akiba waren dabei, als die Engländer in Gallipoli landeten und vergeblich versuchten, den Durchgang durch die Dardanellen freizukämpfen, um vom Süden her gegen

Konstantinopel vorzustoßen. Akiba wurde bei den Rückzugsgefechten verwundet. Nach dem Fehlschlag von Gallipoli wurde die von Trumpeldor aufgestellte Einheit aufgelöst.

Akiba und Barak begaben sich nach England, wo Seew Jabotinsky, ein glühender Zionist, eifrig dabei war, einen größeren jüdischen Truppenteil aufzustellen, das 38., 39. und 40. Regiment der Royal Füsiliers, die Jüdische Brigade.

Akiba, dessen Verwundung noch nicht wieder ganz ausgeheilt war, wurde in die Vereinigten Staaten geschickt, um dort durch Vorträge für die Sache der jüdischen Heimstätte in Palästina zu werben. Seine Reise stand unter dem Protektorat der amerikanischen Zionisten, deren Führer Bundesrichter Brandeis vom Supreme Court war.

Als man entdeckte, daß Barak ben Kanaan als einfacher Soldat bei den Royal Füsiliers war, wurde er sofort angefordert. Chaim Weizmann, der Sprecher der zionistischen Weltorganisation, war der Meinung, daß es für einen Mann wie Barak Wichtigeres zu tun gab, als ein Gewehr zu tragen.

Gerade zu der Zeit, als Barak Mitglied des Zionistischen Zentralbüros wurde, kam die Kunde von neuen Niederlagen der Engländer im Nahen Osten. General Maude hatte einen Angriff auf die östliche Flanke des ottomanischen Reiches unternommen. Er hatte Mesopotamien als Absprungbasis benutzt, um von Norden her nach Palästina durchzustoßen. Seine Truppen drangen mit Leichtigkeit vor, solange der Gegner aus arabischen Truppen bestand. Dann aber, bei Kut al Imara, stießen die Engländer auf eine türkische Division, und ihre Streitkräfte wurden aufgerieben. Den Engländern stieg das Wasser an den Hals. Die Ottomanen standen am Rande des Suez-Kanals, und die Deutschen hatten die erste russische Welle abgewehrt. Britische Versuche, einen arabischen Aufstand auf die Beine zu bringen, waren fehlgeschlagen. Weizmann und die Zionisten hielten den Augenblick für gekommen, um für die Sache der jüdischen Heimstätte einen Pluspunkt einzuheimsen. England brauchte dringend Sympathie und Hilfe. In Deutschland wie auch in Österreich kämpften die Juden für ihr Vaterland. Um die Unterstützung der Juden in den übrigen Teilen der Welt, insbesondere in Amerika, zu erreichen, brauchte man einen sichtbaren und eindrucksvollen Erfolg.

Nach Abschluß der Verhandlungen zwischen den Zionisten und den Engländern schrieb Lord Balfour, der britische Außenminister, einen Brief an Lord Rothschild, in dem es hieß:

Die Regierung Seiner Majestät betrachtet die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen, und sie wird sich nach besten Kräften bemühen, die Erreichung dieses Zieles zu fördern.

So entstand die Balfour-Deklaration, die Magna Charta des jüdischen Volkes.

XI.

Kemal Paschas Polizei fand Sara ben Kanaan zwei Wochen vor der Geburt ihres Kindes im Kibbuz Schoschana. Bis dahin hatten Ruth und die anderen Angehörigen des Kibbuz sie sorgsam gepflegt und alles getan, daß sie Ruhe hatte und sich wohlfühlte.

Die türkische Polizei war nicht ganz so rücksichtsvoll. Sara wurde mitten in der Nacht aus ihrer Wohnung geholt, in ein geschlossenes Polizeiauto verfrachtet und über eine holprige, schlammige Landstraße zu dem schwarzen Basaltgebäude der Polizeistation von Liberias gefahren.

Dort wurde sie vierundzwanzig Stunden lang pausenlos verhört. Wo ist ihr Mann? Auf welche Weise ist er geflohen? Welche Nachrichtenverbindung haben Sie mit ihm? Es ist uns bekannt, daß Sie Nachrichten aus dem Land schmuggeln. Sie treiben Spionage für die Engländer. Versuchen Sie es nicht zu leugnen. Da, diese Dokumente stammen aus der Feder Ihres Mannes; darin vertritt er die Interessen der Engländer. Welches sind Ihre britischen Verbindungsleute in Palästina?

Sara ließ sich nicht einschüchtern und gab auf alle Fragen klare und sachliche Antworten. Sie gab zu, daß Barak seiner englandfreundlichen Einstellung wegen geflohen sei, denn das war kein Geheimnis. Dagegen blieb sie dabei, daß sie ihm einzig und allein nicht gefolgt sei, um ihr Kind zur Welt bringen zu können. Alle anderen Anschuldigungen wies sie zurück. Am Ende dieser vierundzwanzig Stunden war Sara ben Kanaan von allen in dem Büro des Inspektors anwesenden Personen die ruhigste.

Man ging dazu über, ihr zu drohen, doch Sara blieb weiterhin ruhig und sachlich. Schließlich schleppte man sie in einen finsteren Raum, mit dicken steinernen Wänden und ohne Fenster. Über einem Holztisch brannte eine schwache Birne. Sara wurde auf den Rücken gelegt und von fünf Polizisten festgehalten. Man zog ihr die Schuhe aus und peitschte ihr mit dicken Ruten die Fußsohlen. Dabei wiederholte man alle Fragen. Ihre Antworten waren die gleichen.

Sie sind eine Spionin! Auf welchem Wege lassen Sie Barak ben Kanaan Nachrichten zukommen? Reden Sie endlich! Sie stehen in Verbindung mit anderen britischen Agenten. Wer sind Ihre Komplicen?

Die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Sara gab überhaupt keine Antwort mehr. Sie biß die Zähne zusammen. Der Schweiß brach ihr aus. Ihre Standhaftigkeit steigerte die Wut der Türken. Ihre Sohlen platzten unter den Schlägen, und das Blut spritzte heraus.

»Jüdin! Spionin!« schrien die Polizisten. »Reden Sie endlich! Gestehen Sie!«

Sara zitterte und wand sich vor Schmerz. Dann wurde sie ohnmächtig.

Man schüttete ihr einen Eimer kalten Wassers über das Gesicht. Die Schläge und Fragen begannen von neuem. Sie wurde ein zweitesmal ohnmächtig, und man brachte sie ein zweitesmal wieder zu sich. Jetzt zog man ihr die Arme auseinander und legte heiße Steine in ihre Achselhöhlen.

»Reden Sie! Reden Sie!«

Drei Tage und drei Nächte lang folterten die Türken Sara ben Kanaan. Dann ließ man sie frei, aus Achtung vor ihrem Mut.

Die Türken hatten noch nie erlebt, daß jemand Schmerzen mit solcher Würde ertragen hatte. Ruth, die im Vorraum der PolizeiStation gewartet hatte, brachte Sara auf einem Eselskarren nach Schoschana zurück.

Als die ersten Wehen kamen, schrie Sara vor Schmerz zum erstenmal auf. Sie holte alle Schreie nach, die ihr die Türken nicht hatten entlocken können. Ihr zerschlagener Körper rebellierte mit heftigen Zuckungen.

Ihre Schreie wurden leiser und schwächer. Niemand glaubte, daß sie die Geburt überleben würde. Doch Sara ben Kanaan gebar einen Sohn und blieb am Leben.

Wochenlang schwebte sie in Todesgefahr. Ruth und die Siedler von Schoschana umgaben sie mit aller nur denkbaren Sorge und Liebe. Die ungewöhnliche Zähigkeit, die die kleine dunkeläugige Oberschlesierin während der Folterung durch die Türken und der Geburtswehen am Leben erhalten hatte, verließ sie auch jetzt nicht. Ihr Wunsch und Wille, Barak wiederzusehen, waren stärker als der Tod.

Sie brauchte über ein Jahr, um wieder zu Kräften zu kommen. Ihre Genesung ging langsam und schmerzvoll vor sich. Es dauerte Monate, bis sie aufstehen und auf ihren zerschlagenen Füßen laufen konnte. Sie hinkte.

Das Kind war kräftig und gesund. Alle Leute sagten, daß der Kleine zu einem zweiten Barak heranwachsen werde, denn er war schon jetzt groß und kräftig. Aber er hatte dunkle Haare und den bräunlichen Teint der Mutter. Das Schlimmste schien überstanden, und Sara und Ruth warteten auf die Heimkehr ihrer Männer.

Im Frühjahr 1917 trieben die Engländer von Ägypten aus die Türken über die Halbinsel Sinai bis an die Grenze von Palästina zurück. Bei Gaza wurden sie aufgehalten. Jetzt aber übernahm General Allenby das Oberkommando, und unter seiner Führung gingen die Engländer erneut zum Angriff vor. Bis zum Ende des Jahres 1917 waren sie nach Palästina vorgestoßen und hatten Ber Scheba erobert. Allenby nutzte den Sieg und trug den Angriff gegen die historischen Zinnen von Gaza weiter vor. Auch Gaza wurde im Sturm genommen. Die Engländer marschierten an der Küste entlang und eroberten Jaffa.

Gleichzeitig mit Allenbys siegreichem Feldzug setzte der längst überfällige, immer wieder angekündigte, teuer bezahlte und in seiner Wirkung wesentlich überschätzte Aufstand der Araber ein. Faisal, der Sohn des Scherifs von Mekka, führte ein paar Araberstämme aus der Wüste heran, als die Niederlage der Türken bereits praktisch entschieden war. In dem Augenblick, da es mit den Ottomanen zu Ende ging, strichen die Araber die Flagge ihrer Neutralität, um bei der Verteilung der Beute dabeisein zu können. Faisals »Rebellen« machten allerhand Lärm, beteiligten sich aber niemals an irgendeiner größeren oder kleineren Schlacht.

Bei Meggido, der Stadt aus dem Altertum, stellten sich Allenbys Truppen und die der Türken zum Kampf. Durch fünf Jahrtausende waren Hunderte von Eroberern an dieser Stelle mit ihren Streitkräften zur Entscheidung angetreten. Wer Meggido besaß, beherrschte den Einschnitt im Gebirge, der einen natürlichen Paß nach dem Norden darstellte. Über diesen Paß waren seit Beginn der Zeitrechnung die Eroberer gezogen.

Meggido fiel in die Hände der Engländer! Um Weihnachten, knapp ein Jahr, nachdem Allenby das Kommando übernommen hatte, führte er seine Truppen in das befreite Jerusalem! Die Engländer stießen weiter nach Damaskus vor und trieben die Türken vor sich her. Der Fall von Damaskus war das Grabgeläut der Ottomanenherrschaft.

Barak ben Kanaan und sein Bruder Akiba kehrten heim. Die Rosen blühten, das Land lag grün, und die Wasser des Jordan strömten in den See Genezareth, als sie nach Schoschana kamen. Baraks roter Bart hatte weiße Strähnen, und weiße Fäden durchzogen Saras schwarzes Haar. Beide standen sich an der Tür ihres Hauses gegenüber. Er nahm sie sanft in seine Arme, und all das Schwere der letzten Jahre war plötzlich vergessen.

Dann nahm die kleine Sara den Riesen bei der Hand. Sie humpelte ein wenig, als sie ihn ins Haus hineinführte. Ein strammer dreijähriger Bub mit hellen Augen sah neugierig zu ihm auf. Barak kniete sich zu ihm und hob ihn mit seinen starken Händen hoch. »Mein Sohn«, sagte er leise, »mein Sohn.«

»Ja«, sagte Sara, »dein Sohn Ari.«

XII.

Die Balfour-Deklaration wurde von fünfzig Staaten ratifiziert. Der Jischuw, die jüdische Bevölkerung von Palästina, war im Verlauf des ersten Weltkrieges durch den türkischen Terror stark zurückgegangen. Im Kielwasser des Krieges kam es in Osteuropa zu einer neuen Welle von Pogromen. Die Zeit, die darauf folgte, war für die Juden in Palästina aufregend und von entscheidender Bedeutung. Wieder kam, um der Verfolgung zu entgehen, ein Strom von Einwanderern ins Land, der die dezimierten Reihen des Jischuw auffüllte.

Es war die dritte Aliyah-Welle.

Seit Jahren schon hatte die Zionistische Siedlungsgesellschaft ein Auge auf das Gebiet des Jesreel-Tales geworfen, das den ganzen südlichen Teil von Galiläa darstellte. Es bestand vorwiegend aus Sumpf. In diesem Gebiet gab es nur einige wenige armselige Araberdörfer. Das Land gehörte größtenteils einer einzigen Familie, deren Mitglieder in Beirut lebten. Die Türken hatten den Juden nicht gestattet, Land im Jesreel-Gebiet zu erwerben, doch nachdem jetzt die Engländer ins Land gekommen waren und die Beschränkungen des Bodenerwerbs aufgehoben hatten, begaben sich Barak ben Kanaan und zwei andere Landaufkäufer nach Beirut. Sie erwarben ein Gebiet, das sich von Haifa bis nach Nazareth erstreckte. Es war das erstemal, daß Juden in Palästina ein so großes Stück Land erworben hatten, und es war die erste Erwerbung dieser Art, die ausschließlich durch Stiftungen der Judenheit in aller Welt finanziert wurde. Die Erwerbung des Jesreel-Gebietes eröffnete große Möglichkeiten für die Errichtung weiterer Kibbuzim.

Pioniere der alten Garde trennten sich uneigennützig von ihren Siedlungsgemeinschaften, um beim Aufbau neuer Gemeinschaftssiedlungen zu helfen. Akiba und seine Frau Ruth verließen mit ihrer kürzlich geborenen Tochter Scharona ihr geliebtes Schoschana und die bescheidenen Annehmlichkeiten, die sie dort genossen hatten, um mitzuhelfen bei der Errichtung eines neuen Kibbuz nördlich von Rösch Pina. Die Neusiedlung bekam den Namen Ejn Or — Quelle des Lichts.

So ging Barak ben Kanaans Traum endlich in Erfüllung, wenn auch nicht für ihn selbst, so doch für die Juden. Tief im Hule-Tal, nahe der syrischen und libanesischen Grenze, wurde Neuland erworben und urbar gemacht. Sogar der Boden »seines« Berges wurde bearbeitet, und ganz in der Nähe errichtete man einen Kibbuz namens Gileadi. Baraks alter Freund und Kamerad, Joseph Trumpeldor, machte sich auf nach Kfar Gileadi, der neuen bäuerlichen Siedlung, um die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen in die Hand zu nehmen. Gleichzeitig mit der Zunahme der Siedlungstätigkeit wuchsen auch Tel Aviv und die anderen Städte. In Haifa fingen die Juden an, sich oberhalb der Stadt, am Karmelberg, Grundstücke zu kaufen und Häuser zu bauen. In Jerusalem begann eine neue Bautätigkeit außerhalb der Mauer der alten Stadt, da die Belange des wachsenden Jischuw ein größeres Verwaltungszentrum nötig machten. Die orthodoxen Juden vereinigten sich mit den Zionisten in dem gemeinsamen Bemühen, das Land zu erschließen und eine Heimat für alle Juden zu schaffen.

Auch die britische Verwaltung tat viel. Straßen wurden gebaut. Schulen und Krankenhäuser errichtet. Bei den Gerichten wurde Recht gesprochen. Balfour in eigener Person kam nach Jerusalem und legte auf dem Scopusberg den Grundstein zu einer neuen hebräischen Universität.

Zur Regelung der Belange des Jischuw wählten die Juden eine vertretende Körperschaft. Diese Jischuw-Zentrale war eine kommissarische Regierung geworden mit der Funktion, alle Juden zu vertreten, mit den Arabern und den Engländern zu verhandeln und als Bindeglied zu der Zionistischen Siedlungsgesellschaft und zu den Zionisten in aller Welt zu dienen. Sowohl der Jischuw-Zentralrat als auch die Zionistische Siedlungsgesellschaft errichteten ihre Hauptbüros in dem neuerbauten Verwaltungszentrum von Jerusalem. Barak ben Kanaan, ein angesehener Mitbürger der älteren Generation, wurde in den Jischuw-Zentralrat gewählt. Er versah dieses Amt und setzte gleichzeitig seine Arbeit bei der Zionistischen Organisation fort.

Doch die Lage begann sich bedrohlich zuzuspitzen. Palästina wurde mehr und mehr zum Mittelpunkt eines gigantischen Spiels um die Macht.

Der erste Akt dieses Spiels war die Veröffentlichung eines Geheimabkommens, das die Franzosen mit den Engländern in der Absicht getroffen hatten, den Nahen Osten zwischen sich aufzuteilen. Dieses Dokument wurde erstmalig von russischen Revolutionären in den Geheimakten des Zaren entdeckt und von ihnen veröffentlicht, um die Engländer und die Franzosen in Verlegenheit zu bringen.

Die Abmachungen dieses Geheimabkommens befanden sich in offenem Widerspruch zu den früheren Versprechungen der Engländer, die Unabhängigkeit der Araber zu garantieren. Die Araber fühlten sich betrogen. Zwar machten die Engländer alle Anstrengungen, die aufgeregten Gemüter zu beschwichtigen, doch die Befürchtungen der Araber erwiesen sich späterhin als berechtigt, als England und Frankreich auf der Konferenz von San Remo die nahöstliche Torte aufteilten und England den Löwenanteil für sich beanspruchte. Frankreich gelang es, die syrische Provinz und eine Ölleitung von den reichhaltigen Erdölfeldern des Mossul-Gebietes für sich zu gewinnen.

Unter den Ottomanen hatten auch Palästina und der Libanon zur Provinz Syrien gehört, und die Franzosen leiteten daraus für sich das Recht auf den Norden von Palästina ab. Doch die Engländer waren eisern. Auch sie wollten Haifa als Endstation einer Ölleitung vom Mossul-Gebiet haben, und sie machten geltend, daß das ganze Land auf Grund der Balfour-Deklaration und angesichts der besonderen Situation Palästinas als einer den Juden versprochenen Heimstätte unter britischer Oberhoheit bleiben müsse. Daraufhin kauften sich die Franzosen mehrere Stämme syrischer Araber, die in Palästina Unruhe erzeugen und einen möglichst großen Teil von Nordpalästina an sich bringen sollten, bevor die endgültigen Grenzen festgelegt waren. Die Juden, die sich in das Hule-Gebiet vorgewagt hatten, die Siedler von Kfar Gileadi, saßen in der Falle. Die von den Franzosen gekauften Araber machten einen Angriff auf Tel Chaj — jenen Berg, über den die beiden Brüder Rabinski einst nach Palästina gekommen waren, um den Franzosen ein Argument für ihre Gebietsansprüche zu liefern.

Joseph Trumpeldor, der ob seines Schlachtenruhms legendäre jüdische Kriegsmann, schlug sich bei Tel Chaj wie ein Held. Er selbst fand den Tod, doch Tel Chaj wurde gehalten, die Juden blieben in Kfar Gileadi, und das Hule-Tal verblieb innerhalb des britischen Mandats.

Der nächste, der den Franzosen Schwierigkeiten bereitete, war Faisal, der Sohn des Scherifs von Mekka und Anführer der angeblichen arabischen Revolte im ersten Weltkrieg. Faisal kam nach Damaskus, setzte sich hier auf den Thron und rief sich selbst zum König eines neuen großarabischen Staates und zum neuen Oberhaupt des Islams aus. Die Franzosen verjagten ihn aus Syrien. Faisal begab sich nach Bagdad, wo ihm die Engländer bessere Behandlung zusicherten. Sie belohnten ihren treuen Diener, indem sie aus der Provinz Mesopotamien einen neuen Staat machten. In diesem neuen Staat, dem sie den Namen Irak gaben, setzten sie Faisal als König ein.

Faisal hatte einen Bruder namens Abdullah, den man gleichfalls belohnen mußte. Ohne hierzu vom Völkerbund autorisiert zu sein, machten die Engländer aus einem Teil des Mandatsgebietes von Palästina einen weiteren neuen Staat. Sie nannten ihn Transjordanien und setzten Abdullah als Emir ein. Sowohl Faisal als auch Abdullah waren Todfeinde von Ibn Saud, der es abgelehnt hatte, den Engländern im ersten Weltkrieg zu helfen.

So ergab sich für die Engländer alles zum Besten. Im Irak und in Transjordanien, ihren beiden Neuschöpfungen, saßen britische Marionetten auf dem Thron. Die Engländer hatten Ägypten, den Suez-Kanal, die Erdölfelder des Mossul-Gebietes und das PalästinaMandat. Außerdem hatten sie an verschiedenen Stellen der arabischen Halbinsel ein Dutzend »Protektorate«.

Mit Palästina war die Sache schon schwieriger. Dort konnte man keine britischen Marionetten einsetzen. Die Balfour-Deklaration war von der ganzen Welt ratifiziert worden. Darüber hinaus waren die Engländer auch durch die Bestimmungen des Mandats verpflichtet, hier eine jüdische Heimstätte zu schaffen. Außerdem hatten ihnen die Juden eine demokratisch gewählte Quasi-Regierung präsentiert, den Jischuw-Zentralrat, die einzige demokratische Körperschaft, die es im gesamten Gebiet des Nahen Ostens gab.

Barak ben Kanaan, Chaim Weizmann und eine Reihe weiterer führender Zionisten traten mit Faisal, dem damaligen Oberhaupt der arabischen Welt, zu einer Verhandlung von historischer Bedeutung zusammen. Zwischen den Juden und den Arabern wurde ein gegenseitiger Freundschaftspakt abgeschlossen, durch den sich beide Seiten verpflichteten, die Interessen der anderen zu respektieren. Die Araber begrüßten die Rückkehr der Juden und erkannten ihre historischen Rechte auf Palästina und ihr menschliches Recht auf eine Heimat an. Außerdem erklärten die Araber offen, daß sie die Urbarmachung des Bodens durch die Juden und das »Hebräische Gold«, das sie ins Land brachten, durchaus begrüßten. Genau wie in allen anderen Teilen der arabischen Welt gab es auch in Palästina keine repräsentative arabische Regierung. Als die Engländer die Araber aufforderten, eine vertretende Körperschaft zu bilden, begann der übliche innerarabische Streit. Die verschiedenen Interessengruppen einflußreicher Familien mit großem Grundbesitz vertraten jeweils nur einen kleinen Bruchteil des arabischen Volkes. Die mächtigste dieser Familien war der El-Husseini-Klan, der im Gebiet von Jerusalem große Ländereien besaß. Das Oberhaupt dieses Klans, vor dem alle anderen arabischen Großgrundbesitzer eine Heidenangst hatten, war der verschlagenste, hinterhältigste Intrigant in diesem Teil der Welt, der dafür bekannt war, daß es hier verschlagene und hinterhältige Intriganten gab. Sein Name war Hadsch Amin el Husseini. Hadsch Amin, der ursprünglich auf Seiten der Türken gekämpft hatte, hielt nach dem Sturz des Reiches der Ottomanen seine Chance für gekommen, um an die Macht zu gelangen, genau wie ein Dutzend anderer Führer in den verschiedenen Teilen der arabischen Welt. El Husseini aber hatte einen Klan von Teufeln hinter sich.

Durch einen ersten Schachzug wollte er Palästina in die Hand bekommen. Es erschien ihm als die richtige Eröffnung, sich zunächst einmal in die Stellung des Mufti von Jerusalem hineinzumanövrieren. Jerusalem wurde in seiner Bedeutung als heilige Stadt des Islams nur von Mekka und Medina übertroffen. Nach dem Fall der Ottomanen wurde die Stellung des Mufti von Jerusalem, die bis dahin hauptsächlich ein Ehrenamt gewesen war, innerhalb der Welt des Islams sehr bedeutend. Moslems in aller Welt sandten riesige Geldspenden für die Erhaltung der heiligen Stätten. Über diese Gelder, die früher von Konstantinopel verwaltet worden waren, sollte nunmehr der Mufti von Jerusalem verfügen. Wenn es Hadsch Amin gelang, sich dieses Postens zu bemächtigen, konnte er diese Gelder dazu verwenden, um seine eigenen Ziele weiterzuverfolgen. Und noch aus einem anderen Grund wünschte er sich das Amt des Mufti. Die Fellachen von Palästina waren zu neunundneunzig Prozent Analphabeten. Die einzige Möglichkeit zur Massenbeeinflussung war die Kanzel. Die Fellachen neigten dazu, auf die leiseste Aufforderung hin mit einem hysterischen Ausbruch zu reagieren, und diese hysterische Reizbarkeit konnte unter Umständen ein wirksames politisches Machtmittel darstellen.

Als der alte Mufti starb, wurde ein Nachfolger gewählt. Die Effendis, denen Hadsch Amins Machtgelüste bekannt waren, hüteten sich wohlweislich, ihm ihre Stimme zu geben. Er kam erst an vierter Stelle. Das schreckte ihn jedoch wenig, denn die Angehörigen seines Klans waren eifrig damit beschäftigt, die drei anderen Kandidaten, die mehr Stimmen bekommen hatten, kräftig unter Druck zu setzen und sie zu »überreden«, auf die Annahme des Amtes zu verzichten. So wurde Hadsch Amin el Husseini tatsächlich, sozusagen durch Versäumnisurteil, Mufti von Jerusalem.

Das größte Hindernis für die Verwirklichung seiner Pläne erblickte er in der Rückkehr der Juden nach Palästina. Bei Gelegenheit eines kirchlichen Festes, das die Mohammedaner zur Erinnerung an die Geburt von Moses begehen, stachelte Hadsch Amin el Husseini in seiner Eigenschaft als Mufti die Fellachen zum Haß gegen die Juden auf. Der Mob wurde hysterisch, und die Folge war ein Pogrom! Der Mob ging in seiner Hysterie allerdings nicht so weit, seine Wut gegen die Städte und die Kibbuzim zu richten, also gegen Orte, wo die Juden in der Lage waren, sich zur Wehr zu setzen. Statt dessen erschlugen sie wehrlose Juden, fromme alte Leute in den heiligen Städten Safed, Tiberias, Hebron und Jerusalem.

Ruth, die zu Besuch in Schoschana gewesen war und sich auf dem Rückweg nach Ejn Or befand, war gerade in Tiberias, als der Aufruhr ausbrach. Sie hatte ihre kleine Tochter Scharona bei sich. Beide kamen ums Leben.

Es dauerte Monate, bis es Akiba gelang, seinen bitteren Schmerz zu überwinden. Doch der Schmerz hinterließ eine tiefe und schwärende Narbe, die nie mehr wieder ganz heilen sollte.

Viele der Siedlungen hatten den Engländern, als diese die Verwaltung des Mandatsgebietes übernahmen, ihre Waffen übergeben. Wären die Araber darauf verfallen, diese Siedlungen anzugreifen, hätten sie wehrlose Menschen niedergemetzelt. Die Engländer waren für die Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlich, und die Juden von Palästina erwarteten von ihnen, daß sie die Araber zur Räson bringen und die Verbrecher zur Rechenschaft ziehen würden. Die Engländer bildeten einen Untersuchungsausschuß, und Hadsch Amin el Husseini wurde für schuldig befunden. Doch man gewährte ihm Pardon!

Unmittelbar danach faßte das britische Kolonialamt einen Beschluß, durch den die jüdische Einwanderung nach Palästina auf das Maß des »ökonomisch Tragbaren« beschränkt wurde. Dies geschah zur gleichen Zeit, als der neue Staat Transjordanien entstand. Für den Jischuw bedeutete es das Ende eines geschichtlichen Abschnitts. Die Periode des britischen Wohlwollens war vorüber. Der Jischuw-Zentralrat und die Zionistische Siedlungsgesellschaft beriefen eine geheime Versammlung nach Tel Aviv ein, an der fünfzig der führenden Jischuw-Mitglieder teilnahmen. Chaim Weizmann kam mit dem Flugzeug von London. Barak war dabei, ebenso Akiba, noch immer voll schmerzlicher Trauer. Auch Jitzchak ben Zwi war anwesend.

Unter den Teilnehmern befand sich ein junger Mann von gedrungenem Körperbau, mit buschigen Augenbrauen, der unter den Juden der zweiten Aliyah-Welle eine führende Stellung eingenommen hatte. Er hieß David ben Gurion. Viele waren der Meinung, daß dieser feurige Zionist, der ständig die Bibel zitierte, dazu ausersehen sei, Führer des Jischuw zu werden. Außerdem war da ein Mann namens Avidan, der mit der dritten Aliyah-Welle gekommen war, ein bärenstarker Kerl mit einem kahlen Schädel. Avidan war nach Palästina gekommen, nachdem er sich im Kriege als russischer Offizier hervorgetan hatte. Er stand an kriegerischem Ruhm nur dem gefallenen Helden Trumpeldor nach, und es hieß von ihm, daß er dazu ausersehen sei, Führer einer jüdischen Verteidigungs-Streitmacht zu werden.

Barak ben Kanaan bat um Ruhe und ergriff das Wort. Die in dem Kellerraum versammelten Männer hörten ihm grimmig und mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Barak rief ihnen das Unglück in Erinnerung, das jeder von ihnen zu erleiden hatte, nur, weil er als Jude zur Welt gekommen war. Und jetzt hatte sich hier, wo sie gehofft hatten, frei von Verfolgung zu sein, ein Pogrom ereignet. Chaim Weizmann sprach für eine Gruppe, die der Ansicht war, die Engländer seien die anerkannte Obrigkeit; man müsse mit ihnen offen und auf legalem Wege verhandeln. Für die Verteidigung seien die Engländer verantwortlich.

Eine andere, ausgesprochen pazifistische Gruppe war der Meinung, es gäbe nur noch mehr Schwierigkeiten mit den Arabern, wenn man die Juden bewaffnete.

In extremer Opposition hierzu befanden sich die von Akiba vertretenen Aktivisten, die die Forderung nach rascher und erbarmungsloser Vergeltung erhoben. Sie vertraten die Ansicht, das Wohlwollen und der Schutz der Engländer stellten eine Illusion dar. Die Engländer würden nur ihre eigenen Interessen verfolgen; mündliche oder schriftliche Proteste hätten auf die Araber niemals die gleiche Wirkung wie ein geladenes Gewehr.

Die erregte Debatte ging bis tief in die Nacht, ohne daß die besonders streitlustigen Juden erlahmt wären. Die Engländer wurden verdammt und gepriesen. Die Pazifisten mahnten zur Vorsicht, während die Aktivisten Palästina das »zweimal Gelobte Land« nannten: Einmal den Juden und einmal den Arabern versprochen.

Gegenüber diesen beiden extremen Denkungsweisen befürworteten Ben Gurion, Ben Kanaan, Avidan und viele andere einen realistischen mittleren Kurs. Sie erkannten zwar die Notwendigkeit an, daß sich die Juden bewaffneten, wünschten aber gleichzeitig, die jüdischen Interessen auf legalem Wege zu verfechten. Diese Männer, die in der Mehrheit waren, beschlossen als Vertreter des Jischuw, daß sich die Juden heimlich bewaffnen und eine Miliz aufstellen sollten. Diese Miliz sollte einzig und allein zum Zwecke der Verteidigung eingesetzt werden. In der Öffentlichkeit sollten alle offiziellen Stellen jede Kenntnis von der Existenz dieser jüdischen Wehrmacht leugnen, sie insgeheim aber fördern. Diese geheime Truppe sollte ein stummer Partner der Juden bei ihren Bemühungen sein, die Araber in Schranken zu halten und mit den Engländern weiter zu verhandeln.

Als Chef dieser geheimen Organisation wurde durch Abstimmung Avidan eingesetzt. Man gab ihr den Namen Hagana: Selbstschutz.

XIII.

Die Männer und Frauen der dritten Aliyah-Welle zogen in das kürzlich erworbene Land im Jesreel-Gebiet. Sie gingen in das Scharon-Tal und nach Samaria, in die Berge von Judäa und nach Galiläa, und sie gingen sogar nach Süden in die Wüste. Überall erweckten sie die Erde aus ihrer langen Erstarrung zu neuem Leben. Sie kamen mit Traktoren, und sie intensivierten die landwirtschaftliche Nutzung des Bodens durch Fruchtfolge, Kunstdünger und künstliche Bewässerung. Zusätzlich zu den Weintrauben, den Oliven und den Zitrusfrüchten, die für den Export bestimmt waren, bauten sie Korn und Gemüse an, Flachs und Obst, errichteten sie Hühnerhöfe und Meiereibetriebe. Sie experimentierten, um neue Anbaumöglichkeiten zu entdecken, und erzielten bei dem, was man bisher angebaut hatte, größere Ernten. Sie drangen bis zum Toten Meer vor. Sie nahmen alkalische Böden in Bearbeitung, auf denen seit vierzigtausend Jahren nichts gediehen war, und auch diese Erde machten sie wieder fruchtbar. Sie legten Teiche an und betrieben Fischzucht. Sie pflanzten eine Million Bäume, die in zehn, in zwanzig oder in dreißig Jahren die Verwitterung des Bodens verhindern sollten.

Um die Mitte der Zwanziger Jahre bearbeiteten in rund hundert Siedlungen mehr als fünfzigtausend Juden über eine halbe Million Dunam neu erschlossenen Bodens. Die meisten dieser Juden trugen die blauen Kittel des Kibbuz. Die Kibbuz-Bewegung, dieses Kind der Notwendigkeit, wurde zur Lösung des gesamten SiedlungsProblems. Diese genossenschaftlichen Siedlungen waren in der Lage, viele der neuen Einwanderer aufzunehmen.

Doch es war nicht jedem gegeben, sich an das Leben in einem Kibbuz zu gewöhnen. Vielen Frauen, die für Selbständigkeit und Gleichberechtigung kämpften, gefielen diese Errungenschaften nicht mehr, wenn sie sie erst einmal hatten. Andere nahmen Anstoß daran, daß es kein Privatleben gab, und wieder andere waren mit der Einrichtung der Kinderheime nicht einverstanden. Zwar waren sich alle Juden in Palästina darüber einig, daß Grund und Boden nationales Eigentum waren und eigenhändig bearbeitet werden sollten, aber viele Siedler lehnten das Leben in einem Kibbuz ab, weil der einzelne nicht ein Fleckchen Erde besaß, das er wirklich sein eigen nennen konnte. So spaltete sich von der KibbuzBewegung eine kleine Gruppe ab, die sich die Moschaw-Bewegung nannte.

In einem Moschaw hatte jeder ein eigenes Stück Land und ein eigenes Haus. Auch hier wurden, ganz wie in einem Kibbuz, alle Gemeinschaftsbelange zentral geregelt und verwaltet, und alle Traktoren, Dreschmaschinen und dergleichen waren Eigentum des gesamten Moschaw. Gewisse lebensnotwendige Feldfrüchte wurden von allen Mitgliedern des Moschaw gemeinsam angebaut. Es gab eine zentrale Agentur, die den gesamten Einkauf und Verkauf vornahm.

Der wesentliche Unterschied aber war das Maß individueller Freiheit und der Umstand, daß ein Mann mit seiner Familie in seinem eigenen Hause lebte und mit seinem eigenen Boden so wirtschaften konnte, wie es ihm am besten schien. Nachteilig an dem Moschaw war, daß er nicht solche Mengen neuer Einwanderer aufnehmen konnte wie der Kibbuz; doch beide Bewegungen wuchsen und gediehen.

In dem Maße, wie der Jischuw wuchs, wuchs auch die Vielfalt und die Schwierigkeit der kommunalen Verwaltung. Für Barak ben Kanaan, dessen Rat man in vielen Fragen einholte, nahm die Arbeit kein Ende.

Zu neuen Ausbrüchen gegen die Juden war es zwar nicht gekommen, doch schwelte eine heimliche Unruhe. Jeder Tag brachte die Nachricht von einem neuen Diebstahl, einem Überfall oder einem Schuß aus dem Hinterhalt. Der Mufti, der finstere Hadsch Amin el Husseini, sorgte durch seine gehässigen Kanzelreden dafür, daß beständige Spannung in der Luft lag.

Eines Tages — es war im Jahre 1924 — kam Barak nach einer besonders anstrengenden Woche im Jischuw-Zentralrat von Jerusalem nach Tel Aviv zurück. Er war jedesmal froh und glücklich, wenn er nach Haus kam, in die Drei-Zimmer-Wohnung auf der Hayarkon-Straße, von wo aus man den Blick auf das Mittelmeer hatte. Diesmal war er erfreut und überrascht, seinen alten Freund Kammal zu treffen, den Muktar von Abu Yesha, der in seiner Wohnung auf ihn wartete.

»Seit vielen Jahren habe ich mir Gedanken gemacht, um hinter die Lösung des verwirrenden Rätsels zu kommen, wie ich meinen Leuten helfen könnte. Es fällt mir schwer, es zu glauben, doch es gibt keine schlimmeren Ausbeuter als die arabischen Großgrundbesitzer. Sie wollen nicht, daß es den Fellachen besser geht. Denn das könnte unter Umständen ja ihr eigenes Wohlleben gefährden.«

Barak hörte gespannt zu. Es war ein ungewöhnliches Bekenntnis aus dem Munde eines Arabers.

»Ich habe gesehen und erlebt«, fuhr Kammal fort, »wie die Juden zurückgekommen sind und wahre Wunder in dem Land vollbracht haben. Wir haben nichts gemeinsam, weder die Religion, die Sprache noch unser Äußeres. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob uns die Juden nicht letzten Endes vielleicht doch das ganze Land wegnehmen werden. Trotzdem — die Juden sind die einzige Rettung für das arabische Volk. Sie sind im Verlauf von tausend Jahren die einzigen, die Licht in diesen dunklen Winkel der Welt gebracht haben.«

»Ich weiß, Kammal, daß es Ihnen nicht leicht fällt, das zu sagen — .«

»Lassen Sie mich bitte ausreden. Wenn es möglich ist, daß wir friedlich nebeneinander leben, so groß die Unterschiede zwischen uns auch sein mögen, dann muß sich das, was ihr erreicht habt, schließlich auch für uns vorteilhaft auswirken. Ich weiß nicht, Barak, ob ich mit meiner Ansicht recht habe, aber ich sehe keinen anderen Weg für das arabische Volk.«

»Wir haben euch niemals irgendeinen Anlaß gegeben, an der Aufrichtigkeit unseres Wunsches nach Frieden zu zweifeln —.« »Gewiß — doch es gibt Kräfte, die mächtiger sind als Sie und ich, und die uns gegen unseren Willen in einen Konflikt bringen könnten.«

Wie wahr, dachte Barak, nur allzu wahr.

»Hören Sie, Barak — ich habe mich entschlossen, dieses Land am Hule-See, das Sie so gern besitzen wollten, an die Zionistische Siedlungsgesellschaft zu verkaufen.«

Baraks Herz begann zu klopfen.

»Das geschieht nicht nur aus reinem Wohlwollen. Ich knüpfe bestimmte Bedingungen daran. Ihr müßt den Arabern von Abu Yesha Gelegenheit geben, eure Methoden der Bodenbearbeitung und der Gesundheitspflege zu erlernen. Das ist nur allmählich zu erreichen, im Verlauf einer längeren Zeitspanne. Ich möchte, daß einige der aufgeweckten Jungen aus meinem Dorf Gelegenheit bekommen, eure Schule zu besuchen, um Lesen und Schreiben zu lernen.«

»Das soll geschehen«, sagte Barak.

»Ich habe noch eine weitere Bedingung.«

»Welche?«

»Sie müssen mit von der Partie sein.«

Barak stand auf und strich sich seinen Bart. »Ich? Warum ich?« »Wenn Sie dabei sind, kann ich sicher sein, daß meine Bedingungen erfüllt werden und wir in Frieden miteinander leben können. Ich habe Ihnen vom ersten Tage an vertraut, seit Sie vor mehr als dreißig Jahren als junger Mann nach Abu Yesha kamen.«

»Ich werde es mir überlegen«, sagte Barak.

»Und was wirst du nun Kammal sagen?« fragte Sara.

Barak zuckte die Schultern. »Was gibt es da zu sagen? Wir können natürlich nicht hin. Wirklich ein Jammer. Jahrelang habe ich versucht, ihn dazu zu bringen, dieses Land zu verkaufen. Wenn ich jetzt nicht mitmache, bekommen wir es nie.«

»Wirklich schade«, sagte Sara. Sie goß den Tee ein.

Barak ging unruhig und unglücklich im Zimmer umher. »Wir müssen nun mal auf dem Teppich bleiben, Sara«, brummte er. »Man braucht mich beim Jischuw-Zentralrat, und man braucht mich bei der Siedlungsgesellschaft. Leider bin ich nicht einer von denen, die auf der Allenbystraße einen Laden haben.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Sara voller Anteilnahme. »Deine Arbeit ist wichtig, und du bist für die Allgemeinheit unentbehrlich.« »Ja«, sagte er, während er seine unruhige Wanderung durch das Zimmer wieder aufnahm, »und außerdem sind wir nicht mehr die Jüngsten. Ich bin über Fünfzig, und dieses Land dort urbar zu machen, wird eine sehr harte Arbeit sein.«

»Du hast recht, Barak. Wir sind zu alt, um als Pioniere in die Wildnis zu gehen. Du hast deinen Beitrag zum Aufbau dieses Landes geleistet.«

»So ist es! Ich werde Kammal absagen.«

Er ließ sich in einen Sessel sinken und seufzte tief. Es war ihm nicht gelungen, sich selbst zu überzeugen. Sara stand vor ihm und sah ihn lächelnd an. »Du machst dich über mich lustig«, sagte er sanft. »Warum?«

Sie setzte sich auf seinen Schoß. Er strich ihr über das Haar, und seine mächtigen Hände waren von überraschender Zartheit.

»Ich mußte gerade an dich und Ari denken. Es wird eine sehr schwere Arbeit werden, und die Strapazen werden groß sein.« »Schweig, Weib — und trink deinen Tee.«

Barak kündigte der Zionistischen Siedlungsgesellschaft, verkaufte seine Wohnung in Tel Aviv und zog mit fünfundzwanzig Familien von Neusiedlern zum Hule-Moor, um dort einen Moschaw zu errichten. Sie nannten die Siedlung Yad El, die Hand Gottes.

Sie schlugen ihre Zelte unterhalb der Felder von Abu Yesha auf und machten sich einen genauen Arbeitsplan. Noch nie hatten NeuSiedler vor einer so schwierigen Aufgabe gestanden. Das Hule-Moor war ein unergründlicher Sumpf, mit finsteren Dickichten aus undurchdringlich verfilztem Unterholz und Papyrusstauden, die bis zu neun Meter hoch aufragten. Im schlammigen Boden lebten giftige Schlangen, Skorpione, Ratten und hundert andere Arten von Getier. Alles, selbst Trink- und Waschwasser, mußte auf Mauleseln herangebracht werden.

Sara hatte die Leitung des Ausgangslagers, des Krankenzeltes und der Küche. Barak führte die Arbeitskommandos, die Tag für Tag mit Schaufeln und Hacken in die Sümpfe zogen.

In diesem ersten Sommer arbeiteten sie Tag für Tag, Woche um Woche und Monat um Monat in der glühenden Sommerhitze. Sie standen im Wasser, das ihnen bis an die Hüften und manchmal bis zum Hals reichte und hieben mit Macheten auf den wuchernden Dschungel ein, bis sie die Arme nicht mehr heben konnten. Auf dem bereinigten Terrain begannen sie mit dem Bau von Entwässerungskanälen. Die Frauen arbeiteten Seite an Seite mit den Männern und standen mit ihnen im Schlamm. Der zehnjährige Ari ben Kanaan, eins von den drei Kindern in der Siedlung, schaffte den Abfall fort und brachte Trinkwasser und Verpflegung für die Arbeiter heran. Jede Woche hatte sieben Werktage, und man arbeitete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Und doch fanden sie jeden Abend noch die Kraft, ein paar Lieder zu singen und Horra zu tanzen, ehe sie sich für sechs oder sieben Stunden schlafen legten. Dazu kam nachts die übliche Wache zum Schutz gegen Räuber und wilde Tiere.

Sie mußten sich sehr beeilen, um den Bau der Entwässerungskanäle vor den winterlichen Regenfällen zu beenden. Wenn das Regenwasser nicht ablief, war die Arbeit des Sommers vergeblich gewesen. Auch hier wurden Hunderte australischer Eukalyptusbäume gepflanzt, die das Wasser aufsaugten. Alle Siedlungen in der Gegend schickten ihnen soviel Arbeitskräfte zu Hilfe, wie sie selbst entbehren konnten.

Am Abend bei Kerzenlicht unterrichteten Sara und Barak Ari und die beiden anderen Kinder. Die winterlichen Regengüsse setzten ein und schwemmten das Ausgangslager fast davon. Nach jedem Sturzregen mußten sie zu den Entwässerungskanälen eilen und dafür sorgen, daß sie der Schlamm nicht verstopfte und das Ablaufen des Wassers verhinderte.

Selbst ein Mann von der Stärke und Energie Barak ben Kanaans begann sich allmählich zu fragen, ob sie sich diesmal nicht doch zuviel zugetraut hatten. Jedesmal, wenn er Ari und Sara ansah, blutete ihm das Herz. Sie waren von Insekten zerstochen, litten an Ruhr, hatten Hunger und Durst.

Noch schlimmer war die Malaria. Im Verlauf dieses ersten Sommers und Winters hatte Sara fünf und Ari vier Anfälle. Der Schüttelfrost und das Fieber brachten ihr Leben in Gefahr.

Für viele der Familien war der Kampf mit dem Sumpf zu schwer. Von der ursprünglichen Gruppe zog es die Hälfte vor, in die Stadt zurückzugehen, um leichtere Arbeit zu finden. Und es dauerte nicht lange, da gab es in Yad El einen Friedhof. Zwei der Siedler waren an Malaria gestorben.

Yad El — die Hand Gottes. Vielleicht war es die Hand Gottes gewesen, die sie hierher geführt hatte; zweifellos aber waren es menschliche Hände, die den Sumpf trockenlegen mußten. Drei Jahre lang kämpften sie pausenlos und drängten den Sumpf zurück! Schließlich war genügend anbaufähiges Land da, um daraus fünfundzwanzig Höfe von je zweihundert Dunam zu errichten. Sie hatten keine Zeit, sich des Erfolges zu freuen: Es mußte gesät werden. Häuser waren zu bauen.

Ari ben Kanaan hatte die Folgen der Malaria und anderer Krankheiten überwunden und war ein baumlanger Bursche geworden. Im Alter von vierzehn Jahren leistete er das Tagewerk eines erwachsenen Mannes. Als die Felder gepflügt waren und sie ihr kleines Haus bezogen hatten, konnte Sara Barak mitteilen, daß sie abermals ein Kind erwartete. Und am Ende des vierten Jahres ereigneten sich für Barak ben Kanaan zwei Dinge von großer Wichtigkeit: Sara schenkte ihm eine Tochter, die das gleiche leuchtend rote Haar hatte wie er. Das zweite bedeutende Ereignis war die erste Ernte im Yad El.

Jetzt endlich hielten die geplagten Neusiedler für einen Augenblick in ihrer schweren Arbeit inne und nahmen sich die Zeit, ein Fest zu feiern. Und was für ein Fest! Pioniere aus den Kibbuzim und Moschawim der ganzen Gegend, die den Leuten von Yad El geholfen hatten, kamen, um daran teilzunehmen. Es kamen Araber von Abu Yesha, und eine ganze Woche lang ging es hoch her, bis in den Morgen hinein. Alle kamen und besahen sich die Tochter von Barak und Sara. Man nannte sie Jordana, nach dem Fluß, der am Rande von Yad El entlangfloß.

Die Errichtung von Yad El hatte eine ungeheure Wirkung auf die Araber von Abu Yesha. Barak erfüllte alles, was er zugesagt hatte. Er richtete Lehrgänge für die Araber ein, um sie im Gesundheitswesen, der Verwendung landwirtschaftlicher Maschinen und neuen Methoden der Landbestellung zu unterweisen. Die Schule von Yad El stand jedem arabischen Knaben aus Abu Yesha offen, der Lust hatte, sie zu besuchen. Der Arzt und die Krankenschwester der Siedlung waren auf Abruf jederzeit für die Araber bereit.

Kammals Lieblingssohn, ein Junge namens Taha, war ein paar Jahre jünger als Ari. Von früh auf hatte Kammal in seinem Sohne Taha das tiefe Verlangen, das auch ihn erfüllte, wachgerufen, die Lebensverhältnisse der Fellachen zu verbessern. Als zukünftiger Muktar von Abu Yesha verbrachte Taha mehr Zeit in Yad El als in seinem eigenen Dorf. Er war der persönliche Schützling der Familie Ben Kanaan. Taha und Ari wurden enge Freunde.

Während die Bewohner von Yad El und Abu Yesha miteinander in Frieden lebten und den Beweis dafür lieferten, daß Araber und Juden trotz der zwischen ihnen bestehenden kulturellen Unterschiede einträchtig Seite an Seite existieren konnten, bekamen viele der anderen Effendifamilien es langsam mit der Angst zu tun, als sie sahen, mit welchem Schwung die Juden der dritten Aliyah-Welle an die Arbeit gegangen waren und was sie zustande gebracht hatten. Dieses Beispiel konnte sich verheerend auswirken. Wie, wenn die Fellachen anfingen, gleichfalls Schulen, sanitäre Maßnahmen und ärztliche Einrichtungen zu verlangen!

Und was sollte daraus werden, falls sich die Fellachen, Gott behüte, mit dem Gedanken befreundeten, ihre Gemeinschaftsbelange ebenso wie die Juden durch demokratische Abstimmung zu regeln, bei denen nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen stimmberechtigt waren! Das konnte unter Umständen für das so wunderbar funktionierende Feudalsystem der Effendis den Todesstoß bedeuten!

Um diese gefährliche Entwicklung aufzuhalten, sprachen die Effendis die Unwissenheit, die mißtrauische Angst und den religiösen Fanatismus der Fellachen an. Sie betonten immer wieder, daß die Juden Eindringlinge aus dem Westen waren, die darauf ausgingen, dem Fellachen ihr Land zu stehlen. In Wirklichkeit hatten die Effendis selbst den Juden dieses Land verkauft, um viel hebräisches Gold an sich zu bringen.

Da es viele Jahre lang keinen größeren Zwischenfall mehr gegeben hatte, setzte sich Hadsch Amin el Husseini erneut in Bewegung. Es war im Jahre 1929. Diesmal inszenierte er kaltblütig einen Zwischenfall, mit dem er die Araber erneut zu verärgern gedachte. Die Stelle in Jerusalem, auf der der Felsendom, die Moschee Omars, stand, wurde von den Moslems als heilig verehrt. Von dieser Stelle aus war, wie sie glaubten, ihr Prophet Mohammed in den Himmel aufgefahren. Genau an dieser Stelle stand noch eine erhaltene Mauer des jüdischen Tempels, der im Jahre 76 v. Chr. von den Römern zum zweitenmal zerstört worden war. Diese Tempelmauer war für die Juden die heiligste aller Stätten. Fromme Juden kamen hierher, um zu beten und die vergangene Größe Israels zu beweinen. Durch die Tränen der Juden wurde diese Mauer in aller Welt als die »Klagemauer« bekannt.

Der Mufti brachte gefälschte Fotos in Umlauf, auf denen Juden zu sehen waren, die bei der Klagemauer standen, im Begriff, die heilige Stätte des Islams, den Felsendom, zu »entweihen«. In ihrem muselmanischen Fanatismus fielen die Fellachen erneut über die Juden her, diesmal mit Hilfe des Klans der Husseini und anderer Effendis. Auch diesmal richtete sich ihre Wut gegen die wehrlosen alten Juden, die in den heiligen Städten lebten. Das Massaker war noch umfangreicher als bei dem Pogrom, den der Mufti zehn Jahre vorher inszeniert hatte. Die Unruhe griff um sich. Die Straßen waren unsicher, und auf beiden Seiten stieg die Zahl der Toten in die Tausende. Auch diesmal waren die Engländer nicht in der Lage, dem Gemetzel Einhalt zu gebieten.

Sie entsandten einen Untersuchungsausschuß. Er stellte fest, daß die Schuld eindeutig bei den Arabern lag. Dann aber setzten sich die Engländer paradoxerweise über den Inhalt der Balfour-Deklaration und die Bestimmungen des Mandatsvertrages hinweg und schlugen vor, den Erwerb von Grund und Boden durch die Juden und die jüdische Einwanderung zu beschränken, »um so die Furcht der Araber zu beschwichtigen«.

XIV.

In dem Jahr, in dem diese schwelenden Unruhen ausbrachen, 1929, trafen die Siedler von Yad El ein Abkommen mit dem Müller des arabischen Dorfes Ata, das rund zehn Kilometer von Yad El entfernt war.

Barak betraute Ari mit der Aufgabe, nach Ata zu fahren, um das Korn von Yad El dort mahlen zu lassen. Sara war dagegen, einen Jungen von vierzehn Jahren allein über Land zu schicken, zumal bei der gegenwärtigen gespannten Lage und den Unruhen. Doch Barak war eisern. »Weder Ari noch Jordana sollen wie Ghetto-Juden in Angst leben«, sagte er.

Ari war stolz auf das Zutrauen, das sein Vater zu ihm hatte, als er sich auf den Eselskarren schwang. Der Karren war mit einem Dutzend Säcke voll Korn beladen. Ari fuhr los, die Straße entlang nach Ata.

In dem Augenblick, als er in das Dorf hineinfuhr, wurde er von einem Dutzend Araberjungen entdeckt, die in der Nähe des Kaffeehauses herumlungerten. Sie warteten, bis er um die Ecke gebogen war und schlichen ihm dann nach zu der Mühle.

Ari, voll Stolz über seine Wichtigkeit, dachte nur an seinen Auftrag. Er brachte sein Anliegen in einwandfreiem Arabisch vor, das er von seinem Freund Taha gelernt hatte. Das Korn wurde zu Mehl gemahlen. Ari paßte genau auf, daß die Säcke mit dem Korn gefüllt wurden, das er gebracht hatte, und nicht etwa mit einem Mehl aus arabischem Weizen von minderer Qualität. Der Müller, der gehofft hatte, einen Sack von dem Mehl für sich auf die Seite bringen zu können, war baß erstaunt, wie genau der Junge aufpaßte. Ari lud die Säcke mit dem Mehl auf und machte sich auf den Rückweg nach Yad El.

Die Araberjungen, die in einem Versteck gewartet hatten, machten mit dem Müller in aller Eile aus, Aris Mehl zu stehlen und es dem Müller zu verkaufen. Sie liefen im Galopp los, überholten Ari auf einem Abkürzungsweg, bauten ein Straßenhindernis und legten sich in den Hinterhalt.

Kurz darauf lief Ari, der auf der Straße herankam, direkt in die Falle. Die Jungen sprangen aus der Deckung hervor und warfen mit Steinen nach ihm. Ari gab dem Esel die Peitsche. Nach wenigen Metern aber kam er an das Hindernis und konnte nicht weiter.

Ein Stein traf ihn ins Gesicht. Er fiel vom Wagen und stürzte halb bewußtlos auf die Straße. Vier der Angreifer warfen sich über ihn und hielten ihn fest, während die anderen die Säcke von der Karre holten und sich damit davonmachten.

Spät abends kam Ari nach Yad El zurück. Sara, die ihm die Tür aufmachte, warf einen Blick auf sein blutbeschmiertes Gesicht und seine zerfetzte Kleidung; sie schrie laut auf. Ari stand einen Augenblick wortlos vor ihr, dann biß er die Zähne aufeinander, schob sich an seiner Mutter vorbei, rannte in sein Zimmer und schloß sich ein. Obwohl seine Mutter ihn anflehte, die Tür aufzumachen, kam er erst wieder zum Vorschein, als Barak von einer Versammlung nach Hause kam.

Mit geschwollenen und aufgeplatzten Lippen stand er vor seinem Vater. »Ich habe versagt. Ich habe das Mehl nicht zurückgebracht.« »Nein, mein Sohn«, sagte Barak. »Ich bin es, der hier versagt hat.« Sara stürzte zu Ari und nahm ihn in die Arme. »Schick den Jungen nicht wieder allein los, nie mehr, nie mehr!« Sie ging mit ihm fort, um ihm das Blut abzuwaschen. Barak sagte nichts.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück nahm Barak, bevor er aufs Feld hinausging, Ari bei der Hand und führte ihn zur Scheune. »Ich habe bei deiner Erziehung etwas vergessen«, sagte er und nahm seinen alten Ochsenziemer vom Haken.

Dann baute er eine Strohpuppe und nagelte sie an die Scheunenwand. Er zeigte Ari, wie man die Entfernung schätzt, wie man zielt, ausholt und das Leder durch die Luft sausen läßt. Beim Geräusch des ersten Schlages kam Sara mit Jordana im Arm angelaufen.

»Bist du wahnsinnig geworden, dem Jungen beizubringen, wie man mit einem Ochsenziemer umgeht?«

»Schweig!« brüllte Barak in einem Ton, wie sie ihn in ihrer mehr als zwanzigjährigen Ehe noch nie von ihm gehört hatte. »Der Sohn Barak ben Kanaans ist ein freier Mann! Er soll niemals ein GhettoJude sein. Und jetzt verschwinde hier — wir haben zu tun.«

Von morgens bis abends übte sich Ari im Gebrauch des Ochsenziemers. Er schlug den Strohmann kurz und klein. Er zielte nach Steinen, Konservendosen und leeren Flaschen, bis er sie mit einer raschen Drehung des Handgelenks traf. Er übte so lange, bis er den Arm kaum noch heben konnte.

Nach zwei Wochen belud Barak den Eselskarren abermals mit einem Dutzend Kornsäcken. Er legte seinem Sohn den Arm um die Schulter, ging mit ihm zu dem Karren und überreichte ihm den Ochsenziemer.

»Fahr mit dem Korn nach Ata und laß es mahlen.«

»Ja, Vater«, sagte Ari ganz ruhig.

»Und vergiß eines nicht, mein Sohn: was du da in deiner Hand hältst, ist Wehr und Waffe der gerechten Sache. Verwende sie nie im Zorn oder aus Rache. Nur zur Verteidigung.«

Ari sprang auf den Karren und fuhr los zum Tor nach Yad El. Sara ging in ihr Schlafzimmer und weinte leise vor sich hin, während sie ihrem Sohn nachsah, der die Straße entlangfuhr und schließlich verschwand.

Barak tat etwas, was er viele, viele Jahre lang nicht getan hatte. Er setzte sich in eine Ecke und las in der Bibel.

Auch diesmal kamen die Araber wieder aus ihrem Hinterhalt hervor, als Ari auf dem Rückweg nach Yad El ein Stück außerhalb von Ata war. Diesmal hielt Ari die Augen offen und war auf der Hut vor der Gefahr. Er dachte an die Worte seines Vaters und blieb ganz ruhig. Als die ersten Steine geflogen kamen, sprang er mit einem Satz vom Wagen, nahm sich den Anführer der Araber aufs Korn, ließ den mächtigen Ochsenziemer pfeifend durch die Luft sausen, daß sich das Ende um den Hals des Arabers wickelte, und riß ihn mit einem Ruck zu Boden. Dann ließ er das Leder mit solchem Schwung heruntersausen, daß es seinem Gegner ins Fleisch schnitt. Das alles ging sehr rasch.

Barak ben Kanaans Gesicht wurde bleich, als die Sonne zu sinken begann und Ari noch immer nicht zurück war. Zitternd stand er am Tor von Yad El. Endlich sah er den Eselskarren auf der Straße herankommen, und sein Gesicht begann zu strahlen. Ari hielt bei seinem Vater an.

»Nun, Ari, wie war die Fahrt?«

»Ganz in Ordnung!«

»Ich werde die Säcke abladen. Du gehst vielleicht besser gleich zu deiner Mutter. Sie scheint sich aus irgendeinem Grund Sorgen gemacht zu haben.«

Ari ben Kanaan hatte nicht nur die Statur seines Vaters; er war ihm auch im Wesen sehr ähnlich. Er war von der gleichen Besonnenheit und Entschiedenheit, und auch er hielt es für wichtig, den arabischen Nachbarn genauer kennenzulernen. Taha blieb einer seiner nächsten Freunde, und auch allen anderen Arabern begegnete er mit Verständnis und Teilnahme.

Ari verliebte sich in ein Mädchen namens Dafna, deren Familie ganz in der Nähe auf einem Bauernhof lebte. Niemand wußte genau, wie und wann es eigentlich passiert war, doch es stand für alle fest, daß Ari und Dafna eines Tages heiraten würden. Die beiden hatten nur füreinander Augen.

Die kleine rothaarige Jordana war ein sehr lebhaftes Mädchen, wild und eigensinnig. In vieler Weise war sie typisch für die in Palästina geborenen Kinder der Neusiedler. Die Eltern dieser Kinder, die im Ghetto aufgewachsen waren und erfahren hatten, wie schlimm und erniedrigend es oft war, Jude zu sein, waren entschlossen, dieses Gefühl der neuen Generation zu ersparen. Sie taten des Guten fast zuviel, ständig bestrebt, ihre Kinder zu freien und furchtlosen Menschen zu erziehen.

Im Alter von fünfzehn Jahren gehörte Ari der Hagana an, der geheimen jüdischen Armee. Im Alter von dreizehn Jahren verstand Dafna, mit einem halben Dutzend Waffen umzugehen; denn diese Generation, die einen neuen Typ von Juden darstellte, war zugleich eine Generation, die mit einem geschichtlichen Auftrag heranwuchs, der noch wichtiger und schwieriger war als die Aufgabe der zweiten und dritten Aliyah-Welle.

Die Hagana war inzwischen stark genug geworden, um dämpfend und besänftigend auf die Störungsmanöver des Mufti zu wirken. Doch sie war nicht in der Lage, dem Übel an die Wurzel zu gehen. Die Engländer setzten abermals Untersuchungsausschüsse ein, und abermals wurden die Araber reingewaschen.

Die britische Ängstlichkeit führte dazu, daß der Mufti dreister wurde.

Kurze Zeit, nachdem die Unruhen abgeklungen waren, berief Hadsch Amin el Husseini führende Moslems aus aller Welt zu einem Kongreß nach Jerusalem. Er konstituierte eine Panarabische Föderation, an deren Spitze er selbst stand und proklamierte seinen Kampf zur Verteidigung des Islams gegen Engländer und Juden. Die Vernichtung der jüdischen Heimstätte wurde als »heilige Mission« aller Araber erklärt. Doch während die arabischen Demagogen Brandreden hielten und bald gegen die Engländer, bald gegen die Juden wetterten, nahmen die Engländer alles schweigend hin.

Im Jahre 1933 traf die Juden ein neuer schwerer Schlag, als Adolf

Hitler und die Nazis in Deutschland an die Macht kamen. Wieder einmal wurde die Notwendigkeit einer nationalen Heimat für die Juden, wurde die Richtigkeit der zionistischen Idee bestätigt. Es zeigte sich, daß der Judenhaß überall auf der Welt erneut aufflammen konnte. Herzl hatte es gewußt, und jetzt war sich jeder Jude darüber klar.

Die deutschen Juden, die vor Hitler flohen, waren anders als die Juden aus dem Ghetto und aus Osteuropa. Sie waren keine überzeugten Anhänger des Zionismus, sondern hatten sich weitgehend assimiliert und in die deutsche Gesellschaft eingeordnet. Diese Einwanderer waren nicht Siedler oder Händler, sondern Mediziner, Juristen, Wissenschaftler und Künstler.

Die arabischen Anführer riefen alle Araber auf, in den Generalstreik zu treten, um gegen die neue jüdische Einwanderung zu protestieren. Man versuchte auch, neue Unruhen zu inszenieren. Doch beide Bemühungen schlugen fehl. Die meisten Araber, die mit den Juden Handel getrieben hatten, taten dies auch weiterhin, weil die beiden Partner wirtschaftlich aufeinander angewiesen waren, und vielerorts arabische und jüdische Gemeinden in ähnlich enger Freundschaft miteinander lebten wie Yad El und Abu Yesha. Außerdem stand die Hagana Gewehr bei Fuß bereit, um eine Wiederholung der Ausschreitungen des Jahres 1929 zu verhindern.

Die Engländer reagierten auf den Generalstreik mit noch mehr Gerede und weiteren Untersuchungsausschüssen. In der klaren Absicht, die aufgebrachten Araber zu beschwichtigen, beschränkten die Engländer diesmal die jüdische Einwanderung und den Erwerb von Grund und Boden durch die Juden auf ein absolutes Mindestmaß. Genau in dem Augenblick, da für die Juden die ungehinderte Einwanderung von so verzweifelter Dringlichkeit war, hielten sich die Engländer nicht mehr an ihre Zusagen.

Der Jischuw-Zentralrat ging mit Hilfe der Hagana auf die einzig mögliche Weise dagegen an: durch illegale Einwanderung — Aliyah Bet.

Der Mufti setzte die Engländer so lange unter Druck, bis sie der Royal Navy den Auftrag gaben, vor der Küste von Palästina eine Blockade zu errichten und die Aliyah-Bet-Schiffe aufzuhalten.

Die Position des Mufti von Jerusalem wurde mit jedem Tag stärker. Er besaß jetzt einen mächtigen Verbündeten: Adolf Hitler. Für die Deutschen, die im Nahen Osten eigene Absichten hatten, war die Situation ideal. Was konnte es für die deutsche Propagandamaschine Besseres geben, als das Thema ausschlachten zu können, daß die Juden in Palästina das Land der Araber stahlen und dort versuchten, sich genau wie vorher in Deutschland, breitzumachen. Judenhaß und britischer Imperialismus — das war Musik für die Ohren des Mufti! Der Stern der Deutschen war im Steigen. Und endlich, endlich sah Hadsch Amin el Husseini Mittel und Wege, die Macht über die arabische Welt an sich zu reißen. Deutsches Geld begann in Kairo und Damaskus zu rollen. Die Deutschen sind eure Freunde! Werft die Briten und die Juden hinaus! Die arabische Erde den Arabern! In Kairo, Bagdad und Syrien umarmten sich Araber und Nazis und beteuerten einander ihre Freundschaft.

Dem bedrohlich aufziehenden Unwetter gegenüber hatten die Juden in Palästina noch immer einen Trumpf in der Hand — die Hagana! Zwar distanzierte sich der Jischuw-Zentralrat offiziell von dieser geheimen Armee, doch ihr Vorhandensein und ihre Stärke waren ein offenes Geheimnis. Die Engländer wußten, daß diese geheime Streitmacht bestand und, was noch wichtiger war, auch der Mufti wußte es.

Die Hagana hatte sich aus dem Nichts zu einer Streitmacht von mehr als fünfundzwanzigtausend Männern und Frauen entwickelt. Sie war eine reine Bürgerwehr, mit nur einigen »bezahlten« hauptamtlichen Anführern. Die Hagana verfügte über einen kleinen, aber unerhört schlagkräftigen Geheimdienst, der sich nicht nur der offenen Mitarbeit vieler englischer Offiziere erfreute, sondern sich außerdem leicht arabische Spitzel kaufen konnte. Jede Stadt, jedes Dorf, jeder Kibbuz und Moschaw hatte seine eigene Hagana-Einheit. Ein einziges Stichwort reichte aus, um tausend Männer und Frauen innerhalb weniger Minuten zu bewaffnen und kampfbereit zu machen.

Avidan, der kahlköpfige, vierschrötige ehemalige Offizier, der an der Spitze der Hagana stand, hatte die Organisation im Verlauf von anderthalb Jahrzehnten sozusagen unter den Augen der Engländer umsichtig aufgebaut. Ihre Leistung war phantastisch: sie unterhielt einen geheimen Sender, organisierte die illegale Einwanderung und hatte auf der ganzen Welt ihre Agenten, die Waffen kauften und nach Palästina schmuggelten.

Für diesen Waffenschmuggel gab es hundert verschiedene Methoden und Möglichkeiten. Ein besonders beliebtes Versteck waren Maschinen für Hoch- und Tiefbau. Fast jede Dampfwalze konnte in der Walze hundert Gewehre enthalten. Jede Kiste, jede Maschine, ja sogar Konserven und Weinflaschen, die nach Palästina hereinkamen, waren Munitionsbehälter. Es war für die Engländer unmöglich, diesen Waffenschmuggel zu unterbinden, ohne sämtliche Frachtgüter zu überprüfen, und viele Engländer ließen in den Häfen sogar absichtlich die Waffen herein.

Obwohl alle Juden in Palästina geschlossen hinter diesem WaffenSchmuggel standen, war es dennoch nicht möglich, schwere Waffen oder auch nur ausreichende Mengen von erstklassigen leichten Waffen ins Land zu bringen. Das meiste von dem, was hereinkam, waren altmodische Gewehre und Pistolen, die in anderen Ländern ausrangiert worden waren. Kein Arsenal der Welt enthielt ein derartiges Konglomerat von Waffen, wie das der Hagana. Es befanden sich sogar Spazierstöcke darunter, aus denen man einen Schuß abgeben konnte.

Waren die Waffen erst einmal im Lande, so stellte jeder Stuhl, Tisch oder Schreibtisch, jeder Eisschrank, jedes Bett und jedes Sofa ein mögliches Versteck dar. In jeder jüdischen Wohnung gab es wenigstens ein Schubfach mit doppeltem Boden, einen getarnten Wandschrank oder eine heimliche Falltür. Transportiert wurden die Waffen im Innern der Reservereifen von Autobussen, in Einkaufstaschen und unter Eselskarren. Die Hagana vertraute der Wohlerzogenheit der Engländer, indem sie für den Waffenschmuggel sogar Kinder verwendete und sich des sichersten aller Verstecke bediente — der Frauenröcke.

Beim Aufbau der Hagana erwies sich der Kibbuz mit seinem Gemeinschaftscharakter als die beste Ausbildungsstätte für junge Soldaten, weil ein oder zwei Dutzend Männer von einer drei- bis vierhundertköpfigen Kollektivsiedlung leicht und unauffällig absorbiert werden konnten. Aus den Kibbuzim kam daher der beste Nachwuchs für die Hagana.

Gleichzeitig waren die Kibbuzim auch ein hervorragendes Versteck für Waffen und ein sicherer Herstellungsort für Munition. Im übrigen erwiesen sie sich auch als ideale Plätze zur Unterbringung der illegal ins Land geschleusten Einwanderer.

Die besondere Stärke der Hagana war, daß ihre Autorität von sämtlichen Angehörigen des Jischuw ohne jeden Einwand akzeptiert wurde. Eine Anordnung der Hagana war ein Befehl, über den es keinerlei Diskussion gab. Avidan und die anderen Anführer der Hagana achteten sorgfältig darauf, ihre Streitmacht nur zum Zwecke des Selbstschutzes einzusetzen. Die Hagana war eine Armee, die sich größter Zurückhaltung befleißigte.

Viele Angehörige der Hagana fanden diese Zurückhaltung zu weitgehend. Das waren die Aktivisten, die die Forderung nach raschen Vergeltungsmaßnahmen erhoben.

Akiba war einer dieser Aktivisten. Nach außen hin war er Leiter der Meierei im Kibbuz Ejn Or, in Wirklichkeit aber bekleidete er einen hohen Rang in der Hagana und war für die gesamte Verteidigung von Galiläa verantwortlich.

Akiba war sein Alter viel deutlicher anzusehen als seinem Bruder Barak. Sein Gesicht hatte einen müden Ausdruck, und sein Bart war fast grau. Er war niemals ganz über den Tod von Ruth und Scharona hinweggekommen. In ihm war eine Bitterkeit geblieben, die Tag für Tag an ihm fraß.

Er war der Wortführer der extremen Gruppe innerhalb der Hagana, die nach verstärkter Aktion verlangte. Und je schwieriger die Situation im Lauf der Zeit wurde, um so angriffshungriger wurde Akibas Gruppe. Als die Engländer vor der Küste von Palästina die Blockade errichteten, riß Akiba die Geduld. Er berief eine RumpfSitzung seiner Anhänger innerhalb der Hagana ein. Diese Männer waren alle ebenso zornig und verbittert wie er selbst, und sie faßten einen Entschluß, der den Jischuw in seinen Grundfesten erzittern lassen sollte.

Im Frühjahr des Jahres 1934 erhielt Barak eine dringende Aufforderung von Avidan, nach Jerusalem zu kommen.

»Es ist etwas Entsetzliches geschehen, Barak«, sagte Avidan. »Ihr Bruder, Akiba, hat sich von der Hagana getrennt und Dutzende unserer besten Offiziere mitgenommen. Auch aus dem Mannschaftsstand gehen die Leute in Hunderten zu ihm über.«

Als sich Barak von seinem ersten Schreck erholt hatte, seufzte er tief und sagte: »Seit Jahren schon hat er damit gedroht. Ich bin erstaunt, daß er sich überhaupt so lange zurückgehalten hat. Jahrzehntelang hat es an ihm gefressen, seit dem Tag, an dem unser Vater umgebracht wurde. Und auch den Tod seiner Frau hat er nie verwinden können.«

»Sie wissen«, sagte Avidan, »daß die Hälfte meiner Arbeit bei der Hagana darin besteht, unsere Jungens zurückzuhalten. Ließen wir sie gewähren, sie fingen morgen noch Krieg gegen die Engländer an. Sie und ich, wir fühlen im Grunde genauso wie Akiba, doch was er jetzt vorhat, kann uns unter Umständen alle ins Verderben stürzen. Daß wir in Palästina erreichen konnten, was wir erreicht haben, liegt unter anderem auch daran, daß wir ungeachtet unserer inneren Differenzen nach außenhin stets geschlossen aufgetreten sind. Wenn die Engländer und die Araber mit uns verhandelten, so hatten sie es sozusagen immer mit einer einzigen Person zu tun. Jetzt hat Akiba eine Bande hitziger Aktivisten um sich versammelt. Wenn diese Leute dazu übergehen sollten, Terrormethoden anzuwenden, dann wird die Gesamtheit darunter zu leiden haben.«

Barak begab sich nach Ejn Or, das nicht weit von Yad El entfernt war. Gleich den meisten der älteren Kibbuzim hatte sich auch Ejn Or in einen wahren Garten verwandelt. Als älteres Mitglied und einer der Mitbegründer bewohnte Akiba ein separates Häuschen, dessen zwei Zimmer mit Büchern angefüllt waren. Er hatte sogar einen eigenen Radioapparat und ein eigenes WC — was in einem Kibbuz eine seltene Ausnahme darstellte.

Barak sprach sanft auf seinen Bruder ein. Doch alles, was er vorbrachte, war für Akiba nichts Neues, und der drohende Streit mit seinem Bruder beunruhigte ihn.

»Sieh mal an — die Herren vom Jischuw-Zentralrat haben dich vorgeschickt, damit du mir die Ohren volljammerst. Sie entwickeln sich nachgerade zu Beschwichtigungsspezialisten.«

»Ich wäre auch ohne Aufforderung des Zentralrates zu dir gekommen«, sagte Barak, »nachdem ich erfahren hatte, was für ein wahnsinniges Unternehmen du planst.«

Akiba ging unruhig im Raum auf und ab. Barak beobachtete ihn. Er war noch immer genauso leicht zornig und aufgebracht wie als Junge. »Ich habe nur vor«, sagte Akiba, »das zu tun, was der Zentralrat nicht zu tun wagt, obwohl er einsieht, daß es getan werden muß. Doch auch die Herren vom Zentralrat werden sich früher oder später mit den nackten Tatsachen auseinanderzusetzen haben. Die Engländer sind unsere Feinde.«

»Wir sind nicht dieser Ansicht, Akiba. Alles in allem sind wir bisher mit den Engländern recht gut gefahren.«

»Wenn du das im Ernst meinst, bist du ein Narr.«

»Ich habe mich vorher falsch ausgedrückt. Die Engländer stellen die rechtmäßige Obrigkeit in Palästina dar.«

»Und sehen ruhig zu, wie die Araber uns die Gurgel durchschneiden«, sagte Akiba voller Hohn. »Die Herren vom Jischuw-Zentralrat fahren mit ihren Aktenmappen zu Konferenzen, unterbreiten ihre bescheidenen Noten und machen artige Dienerchen, während der Mufti und seine Halsabschneider Amok laufen. Hast du die Araber schon mal verhandeln gesehen?«

»Wir wollen unsere Ziele auf legalem Wege erreichen.«

»Wir werden unsere Ziele nur erreichen, wenn wir bereit sind, für sie zu kämpfen!«

»Wenn wir wirklich kämpfen müssen, dann laß uns einig sein in unserem Kampf. Du begibst dich mit dem Mufti auf eine Stufe, indem du eine Gruppe von Leuten bildest, die sich außerhalb des Gesetzes stellen. Hast du jemals bedacht, was es für Folgen haben kann, wenn die Engländer aus Palästina abziehen? Ganz gleich, wie bitter deine Gefühle sind — und auch meine —, die Engländer sind immer noch entscheidend für uns, wenn wir einen Nationalstaat erreichen wollen.«

Akiba winkte ablehnend mit der Hand. »Wir werden den Nationalstaat auf die gleiche Weise erreichen, wie wir dieses Land erschlossen haben — durch unseren Schweiß und unser Blut. Ich lehne es ab, dazusitzen und abzuwarten, bis uns die Engländer etwas schenken.«

»Zum letztenmal, Akiba — tu das nicht, was du vorhast. Du bietest unseren Feinden damit nur die Möglichkeit, mit Fingern auf uns zu zeigen und ihre Lügenpropaganda noch mehr zu verstärken.«

»Aha!« rief Akiba. »Damit wären wir beim Kern des ganzen Problems angelangt! Die Juden müssen die Spielregeln befolgen! Die Juden dürfen nichts Unrechtes tun! Sie müssen bitten und appellieren! Sie müssen dem, der ihnen einen Backenstreich gibt, auch noch die andere Backe hinhalten.«

»Hör auf damit!« sagte Barak.

»Um Gottes willen, nur das nicht!« rief Akiba. »Tut, was ihr wollt, nur kämpft um Gottes willen nicht! Ihr könnt doch unmöglich wünschen, daß die Deutschen und die Araber und die Engländer euch für böse Buben halten.«

»Hör auf, hab' ich gesagt!«

»Weißt du, was du bist, Barak? Ein Ghetto-Jude. Das ist es, was du bist und was all die anderen Leute vom Zentralrat sind. Aber laß dir etwas von mir gesagt sein, lieber Bruder. Du siehst hier einen Juden vor dir, der vielleicht unrecht haben mag, der aber entschlossen ist, sich seiner Haut zu wehren. Soll doch die ganze verdammte Welt der Meinung sein, daß wir unrecht haben!«

Barak zitterte vor Wut. Er saß regungslos da und versuchte, seine Erregung zu verbergen. Akiba sprach weiter und machte seinem zornigen Herzen Luft. Hatte Akiba wirklich unrecht? Wieviel Leid und Erniedrigung, wieviel Schmerz und Verrat mußte ein Mensch hinnehmen, bevor er zurückschlug?

Barak stand auf und ging zur Tür.

»Sage Avidan und den Herren vom Jischuw-Zentralrat und all den anderen Schwächlingen, die immer nur verhandeln wollen, Akiba und die Makkabäer hätten eine neue Botschaft für die Engländer und die Araber. Diese Botschaft heißt: Auge um Auge, Zahn um Zahn!« »Du wirst von heute an mein Haus nicht mehr betreten«, sagte Barak.

Die beiden Brüder starrten sich lange an. Akiba stiegen die Tränen in die Augen. »Ich soll dein Haus nicht mehr betreten?« fragte er. Barak blieb stumm und rührte sich nicht.

»Wir sind Brüder, Barak. Du hast mich auf deinem Rücken nach Palästina getragen.«

»Ja, und heute bedaure ich es.«

»Ich liebe Palästina nicht weniger als du«, sagte Akiba mit zitternden Lippen. »Du verurteilst mich, weil ich dem Gebot meines Gewissens folge.«

Barak, der an der Tür stand, kam einen Schritt zurück. »Du bist es, Akiba, du und deine Makkabäer, die aus Brüdern Gegner gemacht haben. Seit wir Kinder waren, habe ich immer wieder gehört, wie du bei jeder Gelegenheit die passende Stelle aus der Bibel zitiertest. Nun, vielleicht solltest du wieder einmal die Stelle lesen, wo von den Zeloten berichtet wird, die den Bruder gegen den Bruder aufhetzten, die Juden untereinander uneinig machten und die Zerstörung Jerusalems durch die Römer verschuldeten. Ihr nennt euch Makkabäer — ich nenne euch Zeloten.« Damit wandte sich Barak erneut zum Gehen.

»Vergiß das eine nicht, Barak ben Kanaan«, sagte Akiba. »Nichts von alledem, was immer wir tun mögen, sei es recht oder unrecht, kann mit dem verglichen werden, was man dem jüdischen Volk angetan hat. Die Makkabäer sind nicht in der Lage, etwas zu tun, das man auch nur einen Augenblick lang für ein Unrecht halten könnte, wenn man an das Morden denkt, das sich über zwei Jahrtausende erstreckt.«

XV.

Yad El erblühte zu einem Garten Eden. Unablässig wurden die Sümpfe zurückgedrängt, bis genügend anbaufähiges Land vorhanden war, um weitere hundert Familien anzusiedeln. Die Zentrale des Moschaw verfügte über zwei Dutzend schwerer landwirtschaftlicher Maschinen und eine Versuchsstation. Die Fischzucht in den angelegten Teichen wurde von allen Angehörigen des Moschaw gemeinsam betrieben.

Die Wege von Yad El waren das ganze Jahr hindurch grün, und im Frühling und Herbst blühten und leuchteten sie in vielen Farben. Yad El besaß eine Grund- und eine Oberschule, ein großes Gemeindezentrum mit Schwimmbad, Bibliothek und Theater, und ein kleines Krankenhaus mit zwei Ärzten.

Ein ganz großes Ereignis war die Fertigstellung der elektrischen Zuleitung. Sie wurde in sämtlichen Siedlungen des Hule-Tals festlich begangen. Dieses Fest übertraf alles bisher Dagewesene; in Ejn Or, Kfar Gileadi, Ayelet Haschachar und in Yad El gingen gleichzeitig die Lampen an.

Im selben Jahr halfen die Juden von Yal El ihren arabischen Nachbarn, eine Wasserleitung nach Abu Yesha zu legen, die es bisher in keinem arabischen Dorf in ganz Palästina gegeben hatte. Außerdem dehnte Yad El einen Teil der elektrisch betriebenen Bewässerungsanlage bis auf die Felder von Abu Yesha aus, um den Arabern zu zeigen, wie sich der Ertrag des Bodens durch die künstliche Bewässerung steigern ließ.

Als Zeichen seiner Dankbarkeit schenkte Kammal der Zionistischen Siedlungsgesellschaft mehrere Dunam eines Hochplateaus oberhalb von Abu Yesha. Er hatte gehört, daß die Juden im Hule-Gebiet nach einem Stück Land zur Errichtung eines Jugend-Dorfes suchten.

Ari ben Kanaan war der ganze Stolz seines Vaters. Mit siebzehn Jahren war er einsachtzig groß und stark wie ein Löwe. Außer Hebräisch und Englisch beherrschte er Arabisch, Deutsch, Französisch und Jiddisch, die Sprache, in die seine Mutter Sara immer wieder zurückfiel, wenn sie aufgeregt war oder sich ärgerte und ihrem Herzen Luft machen wollte.

Ari war ein begeisterter Landwirt. Wie die meisten jungen Leute des Moschaw und des ganzen Jischuw, gehörten auch Ari und Dafna zu einer Jugendgruppe. Sie wanderten kreuz und quer durch Palästina und besuchten die Stätten berühmter Schlachten der Vergangenheit. Sie bestiegen den Berg, auf dem die Hebräer mehr als drei Jahre lang der Belagerung durch die Römer standgehalten hatten, und sie wanderten durch die Wüste auf dem Wege, den Moses mit den zwölf Stämmen gezogen war. Sie trugen die traditionellen blauen Hemden und kurzen Hosen, und sie sangen Lieder, die von dem hohen Ziel der Wiedergewinnung der Heimat handelten.

Dafna war zu einem frischen, kräftigen Mädchen herangewachsen. Sie war sehr attraktiv und voller Liebe für den Sohn Barak ben Kanaans. Es schien, als ob die beiden früh heiraten wollten. Sie hatten die Absicht, entweder in Yad El eine neue Siedlerstelle zu errichten oder aber, wie das die jungen Leute nach Beendigung der Schule häufig taten, sich mit einer Jugendgruppe aufzumachen, um irgendwo eine neue Siedlung zu gründen. Doch als die Unruhen in Palästina zunahmen, hatten Ari und Dafna immer weniger Zeit füreinander.

Ari hatte sich bei der Hagana außerordentlich hervorgetan, und Avidan hielt ihn trotz seiner Jugend für einen der verheißungsvollsten Soldaten in ganz Palästina. Tatsächlich waren die besten Soldaten der Hagana meist noch keine zwanzig. Als der Kampf mit den Engländern um die Einwanderung begann, wurde Ari von der Hagana an die Stellen kommandiert, wo die Aliyah-Bet-Schiffe an Land kamen. Er hatte die Aufgabe, die illegalen Einwanderer in den Kibbuzim untertauchen zu lassen und die Pässe der »Touristen« einzusammeln, die legal nach Palästina gekommen waren. Hatte er einmal einen oder gar zwei Tage dienstfrei, dann rief er meist in Yad El an und bat Dafna, per Anhalter nach Tel Aviv zu kommen. Dort konnten sie etwa ein Konzert des neu gebildeten Philharmonischen Orchesters hören, dessen Mitglieder größtenteils deutsche Juden waren und dessen erstes Konzert von Toscanini dirigiert wurde. — Sie konnten Kunstausstellungen besuchen oder Vorträge hören, die im Jugendzentrum veranstaltet wurden, oder sie konnten irgendeinen einsamen Badestrand nördlich von Tel Aviv aufsuchen. Sie liebten sich sehr, und die Trennung fiel ihnen von Mal zu Mal schwerer.

Ari wollte erst heiraten, wenn er ein Stück Land besaß und ein Haus bauen konnte. Doch da die Situation bedrohlich blieb und Aris Dienste mehr und mehr in Anspruch genommen wurden, sah es so aus, als ob diese Zeit niemals kommen werde.

Die Spannungen, die 1933 mit der Aliyah-Welle der deutschen Juden einsetzten, erreichten 1935 einen Höhepunkt. In diesem Jahr gelang es den Juden, mehr Einwanderer als je zuvor ins Land zu bringen; teils legal, teils illegal. Hatte die zweite Aliyah-Welle sowohl politische Ideen wie führende Männer, und die dritte Pioniere und Siedler ins Land gebracht, so hatte die Einwanderung der deutschen Juden einen enormen kulturellen und wissenschaftlichen Aufschwung des Jischuw zur Folge.

Die Effendis, die ansehen mußten, wie die Juden ständig weitere Fortschritte machten, gerieten außer sich vor Wut. Ihre Erbitterung erreichte ein solches Maß, daß sie ihre inneren Streitigkeiten zum erstenmal außer acht ließen und geschlossen eine ultimative Aufforderung an die Engländer richteten, die jüdische Einwanderung und den Verkauf von Grund und Boden an die Juden zu unterbinden. Zu Beginn des Jahres 1936 erbat der Jischuw-Zentralrat von den Engländern mehrere tausend Einreisevisa, um der wachsenden Notlage der Juden in Deutschland zu begegnen. Die Engländer, von den Arabern schwer unter Druck gesetzt, gewährten nicht einmal ganze tausend Visa.

Angesichts der zunehmenden Schwäche der Engländer versuchte der Mufti die Macht über Palästina nun endlich an sich zu bringen. Im Frühling des Jahres 1936 inszenierte er eine neue Reihe von Unruhen und Ausschreitungen. Auch diesmal fielen ihnen vorwiegend die wehrlosen alten und strenggläubigen Juden in den heiligen Städten zum Opfer. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Unruhen verkündete Hadsch Amin die Bildung eines Großarabischen Aktionsausschusses mit dem Ziel, erneut einen arabischen Generalstreik als Protest gegen die »projüdische« Politik der Engländer zu unternehmen.

Diesmal hatte der Mufti sein Manöver sorgfältig vorbereitet. Kaum war die Bildung des Großarabischen Aktionsausschusses bekanntgegeben, da setzten sich seine Leute vom Klan El Husseini, verstärkt durch gedungene Rowdies, in Bewegung und überzogen das gesamte arabische Gebiet, um die Durchführung des Generalstreiks zu erzwingen und dafür zu sorgen, daß der befohlene Boykott überall strikt eingehalten wurde. Es begann ein wildes Morden, bei dem systematisch alle Araber beseitigt wurden, die als Gegner des Mufti bekannt waren. Zwar tat man, als würde sich die Aktion gegen Juden und Engländer richten, doch das eigentliche Ziel war es, sämtliche politischen Gegner des Mufti zu liquidieren.

Auch Kammal, der langjährige Freund Barak ben Kanaans und Muktar von Abu Yesha, mußte für seine Freundschaft mit den Juden büßen. Husseinis Leute fanden den betagten Muktar, der in der kleinen Moschee seines Dorfes kniete und betete, und schnitten ihm die Kehle durch. Taha, sein Sohn wurde eilig nach Yad El in Sicherheit gebracht und blieb dort bei der Familie Ben Kanaan.

Der Mufti und seine Leute erzwangen mit blutiger Gewalt Generalstreik und Boykott der Juden. Den Arabern, die keinerlei Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte hatten, verfaulte die Ernte auf den Feldern. Im Hafen und in der Umgebung von Jaffa kam der Handel fast völlig zum Stillstand. Der Streik wirkte sich für die arabische Bevölkerung verheerend aus; doch gegen den Mufti konnten die Leute nichts machen. Hadsch Amin el Husseini bediente sich abermals der Kanzel, um für alles den Juden die Schuld in die Schuhe zu schieben. Verzweiflung und Wut der Araber wuchsen in dem Maße, in dem sich ihre Situation verschlechterte. Es dauerte nicht lange, und sie gingen dazu über, jüdische Siedlungen anzugreifen, die Felder in Brand zu stecken und die Ernte zu stehlen. Wenn ihnen ein einzelner, unbewaffneter Jude in die Hände fiel, wurde er erschlagen und seine Leiche auf das grauenhafteste verstümmelt.

Als die Greuel zunahmen, richtete Avidan einen Appell an die jüdische Bevölkerung. Er ermahnte sie inständig, Zurückhaltung zu üben. Die Araber seien nichts als Opfer einer Hetzpropaganda, erklärte er, und es bessere sich nichts, wenn man Böses mit Bösem vergelte.

Akiba und seine Makkabäer waren anderer Ansicht. Bald, nachdem sie sich von der Hagana getrennt hatten, wurde die Organisation der Makkabäer von den Engländern verboten und gezwungen, unterzutauchen und in den illegalen Widerstand zu gehen.

Die Makkabäer versuchten, Terror gegen Terror zu setzen; doch die Organisation war noch nicht groß und schlagkräftig genug, um mit den Marodeuren des Mufti Schritt halten zu können. Obwohl sich der Jischuw-Zentralrat offiziell von ihnen distanzierte, gab es nicht wenige Juden, die es großartig fanden, daß die Makkabäer zurückschlugen.

Der Mufti, der schon die Hände an der Gurgel von Palästina hatte, schritt nunmehr zur nächsten Phase seines Plans. Er ließ einen in fanatischen Worten abgefaßten Appell an die Araber aller Länder mit der Aufforderung hinausgehen, sich im gemeinsamen Kampf zur Errettung Palästinas aus den Klauen des britischen Imperialismus und des Zionismus zu vereinigen. Seine Gangster begaben sich in alle arabischen Dörfer und riefen die Männer zum Kampf gegen die jüdischen Siedlungen auf. Die Fellachen hatten meist nicht die geringste Lust, zu kämpfen, doch sie hatten viel zu große Angst vor dem Mufti, um abzulehnen.

Antwort auf den Appell des Mufti kam nicht nur aus Palästina, sondern auch von außerhalb. Ein Offizier der irakischen Armee namens Kawuky erblickte in der Palästina-»Revolte« seine seit langem ersehnte Chance, als bewaffneter Verbündeter des Mufti zu Macht und Reichtum zu gelangen. Er ließ sich eine ganze Kollektion prächtiger Uniformen mit allen möglichen Phantasieorden anfertigen und ernannte sich selbst zum Generalissimus der Befreiungsarmee. Mit dem Geld, das der Mufti von den Arabern in Palästina erpreßt hatte, machte sich Kawuky ans Werk, außerhalb des Landes seine Armee aufzustellen. Was er auf die Beine brachte, war eine Bande von Räubern und Banditen, Rauschgiftschmugglern, Mädchenhändlern und dergleichen, denen er den Mund mit der Aussicht auf die vielen jüdischen Frauen wäßrig machte, die sie vergewaltigen konnten, und auf das viele »Hebräische Gold«, das ihnen als Kriegsbeute in die Hand fallen würde.

Kawukys Taktik war dabei ebenso einfach wie hinterhältig. Nachdem er sich vorher überzeugt hatte, daß seinen Truppen Rückzugswege offenstanden, errichtete er an geeigneten Orten Straßenfallen und legte sich auf die Lauer, bis ein Autobus oder ein anderes unbewaffnetes Personenfahrzeug, gelegentlich auch nur ein paar Passanten herannahten. War er sicher, daß kein Widerstand zu erwarten war, dann sprangen die Araber aus ihrem Versteck, griffen an, plünderten und flohen.

Bald stand das ganze Land unter dem Terror der »Befreiungsarmee« Kawukys und der Banden des Mufti. Die arabische Bevölkerung war wehrlos, die Engländer unwillig und gegen einen Kampf, und die Juden waren entschlossen, nur im Falle der Notwehr zu den Waffen zu greifen.

Die Engländer schlugen die arabischen Angriffe nicht nieder, sondern beschränkten sich auf Maßnahmen, die geradezu lächerlich waren. Ein paarmal führten sie in Ortschaften, in denen man ein Versteck der Banditen vermutete, Razzien durch und legten der Gemeinde eine Geldbuße auf, und ein- oder zweimal zerstörten sie auch einige Dörfer. Im übrigen aber zogen sie sich in ein Schneckenhaus zurück. Sie bauten mehr als fünfzig riesige Betonbunker, die sich über ganz Palästina erstreckten. Jedes dieser Forts bot Platz für einige hundert oder tausend Soldaten und war dazu bestimmt, die unmittelbare Umgebung zu kontrollieren. Ein Mann namens Teggart hatte diese Betonburgen entworfen, gebaut wurden sie von den Juden.

Die Teggart-Forts, die Palästina umschlossen, beruhten auf einem System, das ebenso alt war wie das Land selbst. Schon im Altertum hatten die Juden zwölf Berge benützt; ein Feuer auf der Spitze des einen konnte vom nächsten wahrgenommen und weitergemeldet werden. Die Kreuzritter hatten an diesem System festgehalten und ihre Burgen jeweils in Sichtweite der nächsten oder einer befestigten Stadt errichtet. Und jetzt legten die Juden ihre landwirtschaftlichen Siedlungen gleichfalls stets in Sichtweite eines Nachbardorfes an.

Am Abend zogen sich die Engländer in ihre Teggart-Forts zurück und kamen bis zum nächsten Morgen nicht wieder heraus. Die Ausflüge, die sie bei Tage unternahmen, waren wirkungslos. Kaum setzte sich eine englische Wagenkolonne von einem dieser Forts aus in Bewegung, so ging die Nachricht darüber wie ein Lauffeuer durch das Land. Wenn die Engländer dann am Ziel anlangten, war natürlich kein Gegner mehr zu sehen.

Doch selbst unter diesem unvorstellbaren Druck hörten die Juden nicht auf, illegale Einwanderer ins Land zu schmuggeln und neue Siedlungen für sie zu errichten. Am ersten Tage versammelten sich mehrere hundert Bauern und Bauhandwerker aus allen umliegenden Siedlungen an der Stelle der neuen Landerschließung. In der Zeit von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang errichteten sie in aller Eile einen Turm, der mit Generator und Scheinwerfer ausgerüstet und rings von einer kleinen Palisade umgeben war. Am Abend, wenn Turm und Palisade standen, entfernten sich die Helfer wieder zu ihren eigenen Siedlungen, und die Neusiedler blieben, unter dem Schutz einer kleinen Gruppe der Hagana, innerhalb der Palisade allein.

Ari ben Kanaan, der eben erst zwanzig Jahre alt geworden war, entwickelte sich zu einem Fachmann für Wehrsiedlungen. Er hatte meistens das Kommando der Hagana-Einheit, die zurückblieb, um den Neusiedlern beizubringen, wie man mit arabischen Spitzeln und Angreifern fertig wurde, oder er bildete sie an den Waffen aus, die ihnen zur Verfügung standen. Fast jede dieser Neusiedlungen wurde von den Arabern angegriffen. Die Anwesenheit der Hagana-Leute und ihre Fähigkeit, die Angreifer in die Flucht zu jagen, hatte auf die Neusiedler einen sehr beruhigenden und ermutigenden Einfluß. Wenn Ari einige Wochen an einer Stelle gewesen war, zog er mit seinen Leuten zu der nächsten Wehrsiedlung, die gerade errichtet wurde.

Die Araber wurden immer dreister, bis schließlich selbst die Engländer nicht mehr untätig zusehen konnten. Der Mufti und sein Generalissimus Kawuky machten sie zum Gespött. So entschlossen sie sich endlich, etwas zu unternehmen, lösten den Großarabischen Aktionsausschuß auf und erließen einen Haftbefehl gegen den Mufti. Der Mufti rettete sich vor der britischen Polizei in den Schutz des Felsendoms, der Moschee Omars, der heiligsten muselmanischen Stätte in ganz Palästina.

Die Engländer wagten nicht, die Moschee zu betreten. Sie fürchteten, dadurch möglicherweise einen »heiligen« Aufstand der gesamten muselmanischen Welt auszulösen. Nachdem er sich eine Woche lang in der Moschee verborgen gehalten hatte, floh Hadsch Amin, als Frau verkleidet, nach Jaffa, von wo ihn ein Schiff nach dem Libanon brachte. Besonders die arabische Bevölkerung atmete erleichtert auf, als der Mufti von Jerusalem Palästina verlassen hatte. Die Angriffe hörten auf, die Unruhen klangen ab, und die Engländer machten sich wieder einmal daran, Untersuchungsausschüsse einzusetzen und Erhebungen anzustellen.

Nach einer abermaligen Überpüfung der Situation schlugen die Engländer einen neuen Kurs ein und kamen mit dem Vorschlag, das Gebiet von Palästina in zwei getrennte Staaten aufzuteilen. Dabei sollten die Araber den Löwenanteil bekommen, und den Juden sollte ein schmaler Landstreifen von Tel Aviv nach Haifa und diejenigen Teile von Galiläa, die sie wieder urbar gemacht hatten, zuerkannt werden.

Der Jischuw-Zentralrat, die Zionisten in aller Welt und die Juden in Palästina waren des fortgesetzten Blutvergießens müde. Sie hatten genug von dem zunehmenden Fanatismus der Araber und der sich immer deutlicher zeigenden Wortbrüchigkeit der Engländer. Ursprünglich hatte das Mandat für die jüdische Heimstätte das Land beiderseits des Jordans vorgesehen — und jetzt boten die Engländer ihnen nur ein kleines Stückchen davon an. Dennoch beschlossen die Juden, den Vorschlag zu akzeptieren.

Die Engländer versuchten den Arabern klarzumachen, daß sie klug daran täten, auf diesen Vorschlag einzugehen, da das Gebiet, das man den Juden zugemessen hatte, nicht sehr viel Einwanderer mehr aufzunehmen vermochte. Doch die Araber verlangten nicht mehr und nicht weniger, als daß alle Juden ins Meer geworfen würden. Von Beirut aus setzte Hadsch Amin el Husseini die arabische Rebellion gegen die Juden erneut in Gang.

Teggart, der Erbauer der britischen Forts, errichtete längs der libanesischen Grenze einen elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun, um den Strauchdieben und Waffenschmugglern des Mufti von Jerusalem den Weg zu versperren. Zur Verstärkung dieses Walls aus Stacheldraht baute Teggart in geringen Abständen Betonbunker. Eines der Forts des Teggart-Walls wurde oberhalb von Abu Yesha und Yad El ungefähr an der Stelle errichtet, an der sich nach jüdischer Überlieferung die Grabstätte der Königin Esther befinden soll. Es wurde unter dem Namen »Fort Esther« bekannt. Der Teggart-Wall behinderte zwar die arabische Infiltration, war aber nicht in der Lage, sie auszuschalten.

Die Hagana, die sich lange zurückgehalten hatte, wurde allmählich immer unruhiger, und die Juden in Palästina fingen an, sich zu fragen, wann der Zentralrat der Hagana endlich erlauben werde zu kämpfen. Unter diesem wachsenden Druck fand sich Ben Gurion schließlich bereit, einem Vorschlag zuzustimmen, den Avidan gemacht hatte. Die Zionistische Siedlungsgesellschaft erwarb ein Stück Land im äußersten Norden von Galiläa, unmittelbar an der libanesischen Grenze, an einer Stelle, wo nach Ansicht des Geheimdienstes der Hagana ein Schwerpunkt der arabischen Infiltration war. Kurze Zeit nach dem Ankauf dieses Landes wurden Ari ben Kanaan und zwei weitere junge Leute der Hagana-Elite aufgefordert, nach Tel Aviv zu kommen und sich in dem geheimen Hauptquartier der Hagana bei Avidan zu melden.

Der kahlköpfige Führer der jüdischen Schutzwehr entfaltete eine Karte und zeigte mit dem Finger auf die neuerworbene Parzelle. Die Bedeutung dieser Stelle für die Fortführung der arabischen Revolte war offensichtlich.

»Ich möchte, daß ihr drei das Kommando einer Einheit übernehmt, die sich auf dieses Stück Land begibt und dort einen Kibbuz errichtet. Wir werden mit Sorgfalt achtzig unserer besten Männer und zwanzig Frauen auswählen, die mit euch gehen. Ich brauche euch nicht zu erklären, was ihr zu erwarten habt.«

Die drei nickten stumm.

»Wir sind uns darüber klar, daß der Mufti alles daran setzen wird, um euch von dort zu vertreiben. Es ist das erstemal, daß wir eine Stelle für die Errichtung eines Kibbuz unter dem Gesichtspunkt seiner strategischen Bedeutung ausgesucht haben.«

Sara ben Kanaan preßte es das Herz zusammen, als sie von der neuen Aufgabe ihres Sohnes erfuhr. Seit Jahren hatte sie Ari nicht mehr ohne Ochsenziemer oder Gewehr in der Hand gesehen. Doch nun hatte sie zum ersten Male Angst, wie sie sie bisher nie gekannt hatte. Jetzt wurde er also mit hundert der besten Leute des Jischuw auf ein Selbstmordkommando geschickt.

Ari küßte seine Mutter und sagte, indem er ihr behutsam die Tränen aus dem Gesicht wischte, daß alles in Ordnung gehen werde und sie sich keine Sorgen machen sollte. Seinem Vater schüttelte er nur die Hand. Ihm brauchte er nichts zu sagen; sie verstanden sich auch ohne Worte.

Dafna kam und verabschiedete sich gleichfalls.

Gemeinsam verließen sie Yad El. Nur einen kurzen Blick warfen sie zurück, auf die Felder und auf die Freunde, die zu ihrer Verabschiedung gekommen waren. Barak seufzte und legte seinen Arm um Saras Schulter, als das junge Paar ihrem Blick zu entschwinden begann.

»Sie haben so wenig von ihrem Leben«, sagte Sara. »Wie oft werden wir ihn noch hergeben müssen?«

Barak schüttelte den Kopf, während sich seine Augen anstrengten, seinen Sohn und Dafna noch mit einem letzten Blick zu erhaschen. »Gott hat von Abraham gefordert, daß er Ihm seinen Sohn zum Opfer bringe. Das ist der Schatten, in dem wir leben. Wir müssen Ari so oft hergeben, wie Gott ihn will.«

Hundert der besten jungen Männer und Frauen des Jischuw zogen hinaus an die libanesische Grenze, um Dieben und Mördern den Weg zu versperren. Ari ben Kanaan, zweiundzwanzig Jahre alt, war stellvertretender Kommandeur.

Sie gaben dem neu zu errichtenden Kibbuz den Namen Hamischmar — der Wachtposten.

XVI.

Zehn Lastwagen, die hundert junge Männer und Frauen der Hagana und ihre Ausrüstung geladen hatten, fuhren rasch die Küsten-Straße entlang, an der letzten jüdischen Siedlung Naharia im Norden von Galiläa vorbei und tief hinein in ein Gebiet, in das sich bis dahin Juden noch nie vorgewagt hatten. Tausende arabische Augenpaare sahen gespannt der Wagenkolonne nach, die hinein in das Vorgebirge unterhalb des Teggart-Walls und hinaus zu den Bergen an der libanesischen Grenze fuhr.

Sie hielten an, stellten Wachen aus und entluden rasch die Wagen, die eilig zurückfuhren, um vor Einbruch der Dunkelheit wieder in Naharia den Schutz der befestigten Siedlungen zu erreichen. Die hundert jungen Leute waren allein. Die Höhen und Täler vor ihnen wimmelten von arabischen Marodeuren. Hinter ihnen lag ein Dutzend feindlicher arabischer Ortschaften. Die Hundert errichteten eine kleine Palisade, gruben sich ein und warteten auf das Ende der Nacht.

Als es Morgen wurde, war die Kunde von Hebron bis nach Beirut gedrungen: Die Juden sind in die Berge gezogen! Der Mufti in Beirut tobte. Das war eine offene Herausforderung. Er schwor beim Barte des Propheten, diese Juden ins Meer zu werfen.

Die hundert Männer und Frauen der Hagana arbeiteten die nächsten Tage fieberhaft am Ausbau der Stellung zur Verteidigung des Ausgangslagers am Fuß des Berges, um für den Angriff, der kommen mußte, gerüstet zu sein. Jede Nacht fielen Dafna und Ari,wenn sie nicht Wache hatten, Arm in Arm in einen Schlaf tiefer Erschöpfung.

In der vierten Nacht kam der Angriff! Es war ein Angriff, wie ihn die Juden noch nie erlebt hatten. Vom Gipfel des Berges aus überschütteten tausend arabische Gewehrschützen, unterstützt von Maschinengewehren, fünf Stunden lang die Stellung der Juden mit pausenlosem Feuer. Zum erstenmal verwendeten die Araber auch Granatwerfer. Ari und seine Leute lagen geduckt in ihren Gräben und warteten darauf, daß die Araber einen Sturmangriff versuchten. Sie warteten, bis die Araber flach über die Erde herangekrochen kamen, mit Messern zwischen den Zähnen. Plötzlich leuchteten hinter der Palisade ein halbes Dutzend Scheinwerfer auf und strichen mit ihren Lichtkegeln über das Vorfeld. Die Juden eröffneten das Feuer auf den Gegner, der schon nahe herangekommen war, und töteten mit dem ersten Feuerstoß sechzig Araber.

Die Angreifer waren vor Furcht gelähmt. Ari ging mit der Hälfte seiner Leute zum Gegenangriff vor, und bald war das Schlachtfeld von toten und verwundeten Arabern übersät. Die übrigen flohen laut schreiend zurück.

Eine Woche lang unternahmen die Araber keinen neuen Angriff. Der Mufti und Kawuky waren machtlos. Weder durch Drohungen noch durch Versprechungen waren die Araber dazu zu bringen, erneut anzugreifen.

Bei dem ersten Angriff verlor die Hagana drei Jungen und ein Mädchen. Einer der Gefallenen war der Kommandeur. Ari ben Kanaan übernahm an seiner Stelle das Kommando.

Jeden Tag rückten die Hagana-Leute ein paar Meter weiter den Hang hinauf, gruben sich ein und erwarteten das Ende der Nacht. Die Araber beobachteten sie aus ihren Stellungen oben am Berg, unternahmen aber, solange es hell war, niemals einen Angriff. Nach einer Woche konnte Ari das Ausgangslager am Fuße des Berges abbrechen, da inzwischen ein neues Lager auf halbem Hang aufgeschlagen worden war.

Den Arabern saß die Lektion der ersten Nacht noch in den Knochen. Sie versuchten nicht mehr, das Lager zu stürmen, sondern begnügten sich damit, es aus der Entfernung zu beschießen.

Während die Araber weiterhin unentschlossen waren, beschloß Ari, eine Offensive zu starten. Gegen Ende der zweiten Woche schlug er kurz vor Tagesanbruch zu. Er wartete ab, bis die Araber, die die ganze Nacht hindurch geschossen hatten, müde waren und nicht mehr so wachsam Ausschau hielten. Mit fünfundzwanzig seiner besten Männer und zehn Frauen ging er bei Morgengrauen zu einem Angriff vor, der die schläfrigen Araber vom Gipfel des Berges vertrieb. Die Juden gruben sich in aller Eile ein, während sich die Araber von ihrem Schreck erholten und zum Gegenangriff sammelten. Ari verlor fünf Soldaten, doch er hielt die Stellung. Rasch baute er einen befestigten Beobachtungsposten auf der Spitze des Berges aus, der einen Überblick über das gesamte Gebiet gewährte. Als es hell geworden war, arbeiteten sie fieberhaft daran, ihre hastig ausgehobene erste Stellung zu einer Festung auszubauen.

Der Mufti tobte! Er wechselte die Anführer aus und stellte nochmals eine Streitmacht von tausend Mann auf. Die Araber griffen an, doch sobald sie an Aris Stellung herankamen, blieb der Angriff liegen, und die Angreifer flohen. Zum erstenmal beherrschten die Juden eine Gipfelstellung, und sie waren entschlossen, sich daraus nicht wieder vertreiben zu lassen!

Wenn sich die Araber auch nicht auf einen Nahkampf einlassen wollten, so bemühten sie sich doch, den Juden das Leben so schwer wie möglich zu machen. Ari und seine Leute lagen unter beständigem Beschuß und waren völlig isoliert. Die nächste jüdische Siedlung war Naharia. Der gesamte Nachschub einschließlich des Wassers mußte auf Lastwagen durch feindliches Gebiet herangebracht werden. War das glücklich gelungen, dann mußten Aris Leute alles den Hang hinauftragen. Doch Hamischmar hielt ungeachtet aller Schwierigkeiten und Strapazen stand. Im Schutz der Palisade hatte man ein paar behelfsmäßige Hütten errichtet und mit dem Bau einer Straße zum Fuße des Berges begonnen. Nachts patrouillierte Ari mit seinen Leuten am Teggart-Wall, um illegale Grenzgänger und Waffenschmuggler zu schnappen. Den Rebellen des Mufti wurde der heimliche Zugang, durch den sie bisher nach Palästina eingesickert waren, versperrt.

Aris Leute kamen zu neunzig Prozent von einem Kibbuz oder Moschaw. Die Erschließung und Bearbeitung des Landes war ihnen so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie nicht lange an irgendeiner Stelle sein konnten, ohne zu versuchen, irgend etwas anzubauen. Sie fingen an, auch in Hamischmar den Boden zu bestellen! Sie waren unter dem Vorwand hergekommen, einen Kibbuz zu errichten, und bei Gott, jetzt wollten sie aus Hamischmar auch wirklich einen Kibbuz machen. Die landwirtschaftliche Bearbeitung eines Berghanges war für sie etwas völlig Neues, und besonders schwierig war sie an einer Stelle, wo es bis auf die seltenen Regenfälle keinerlei natürliche Bewässerung gab. Doch sie machten sich auch an diese Aufgabe mit dem gleichen Schwung, mit dem sie die Sümpfe des Jesreel-Tals und die ausgetrocknete und verwitterte Ebene von Scharon wieder urbar gemacht hatten. Sie legten an den Hängen Terrassen an und baten die Zionistische Siedlungsgesellschaft um Geld zum Ankauf von landwirtschaftlichen Geräten.

Der Jischuw-Zentralrat und die Führer der Hagana waren so begeistert über den Erfolg der hartnäckigen jungen Leute von Hamischmar, daß sie beschlossen, auch künftig einzelne Neusiedlungen an Punkten zu errichten, die von strategischer Bedeutung für die Abwürgung der arabischen Rebellion waren.

Eines Nachts lag Ari in seinem Zelt und schlief fest, als ihn jemand wachrüttelte.

»Komm, Ari, rasch!«

Er warf seine Decke ab, nahm sein Gewehr und rannte hinter den anderen her zu den südlichen Feldern, auf denen gerade Terrassen zum Anbau von Wein angelegt wurden. Dort stand eine Gruppe aufgeregt herum. Alle verstummten, als sie Ari herankommen sahen. Er drängte sich hindurch und starrte auf die Erde. Sie war voll Blut. Fetzen einer blauen Bluse lagen am Boden. Eine blutige Spur führte von der Stelle in die Berge. Ari sah die Umstehenden an. Keiner sagte etwas.

»Dafna«, sagte Ari tonlos.

Zwei Tage später fanden sie ihre Leiche. Man hatte ihr die Hände abgehackt, Nase und Ohren abgeschnitten und die Augen ausgestochen.

Niemand sah Ari ben Kanaan eine Träne vergießen. Von Zeit zu Zeit verschwand er für mehrere Stunden. Er kam mit bleichem Gesicht zurück. Doch er zeigte weder Trauer noch Haß, nicht einmal Wut. Er erwähnte ihren Namen nie mehr.

Ein halbes Dutzend arabischer Ortschaften in der Nähe von Hamischmar wartete voller Angst auf einen Vergeltungsangriff. Doch er erfolgte nicht. Ari ben Kanaan war durch und durch Soldat. Die Juden in Hamischmar und einem halben Dutzend anderer Neusiedlungen, die gleichfalls an strategisch wichtigen Punkten errichtet waren, hielten stand. Die neue Taktik beeinträchtigte zwar die Revolte des Mufti, konnte sie aber nicht unterbinden.

In dieses Durcheinander kam ein englischer Major namens P. P. Malcolm.

Major P. P. Malcolm war bei Ausbruch der Revolte des Mufti zum Intelligence Service in Jerusalem versetzt worden. Er war ein Einzelgänger. P. P. gab wenig auf sein Äußeres und nichts auf militärische Tradition. Er hielt Förmlichkeit für etwas Lächerliches. Er konnte seine Ansichten unverhohlen und notfalls mit größter Schärfe äußern, aber er konnte auch tagelang tief in Gedanken versinken; dann kam es vor, daß er sich weder rasierte noch kämmte. Er hatte eine sehr scharfe Zunge und verfehlte nie, seine Umgebung zu schockieren. Er war exzentrisch und galt bei den anderen Offizieren als ausgefallene Type. Er war groß und hager, hatte ein knochiges Gesicht und hinkte leicht. Alles in allem war er genauso, wie ein englischer Offizier nicht sein sollte.

Als Malcolm nach Palästina kam, sympathisierte er mit den Arabern, weil das für einen britischen Offizier zum guten Ton gehörte. Doch diese Sympathien dauerten nicht lange. Innerhalb kurzer Zeit war aus P. P. Malcolm ein fanatischer Zionist geworden. Wie die meisten Christen, die sich für den Zionismus begeistern, war auch P. P. Malcolm ein wesentlich entschiedenerer und fanatischerer Anhänger dieser Idee als irgendein Jude. Er lernte bei einem Rabbi Hebräisch und verbrachte jede freie Minute damit, die Bibel zu lesen. Er war davon überzeugt, daß es Gottes Plan war, die Juden wieder zu einer Nation werden zu lassen. Er studierte sehr genau die Feldzüge, von denen die Bibel berichtet, und machte sich mit den Taktiken Josuas, Davids und Gideons vertraut, für den er sich besonders begeisterte. Schließlich war er überzeugt, daß seine Versetzung nach Palästina eine göttliche Fügung war. Er, P. P. Malcolm, war von Gott dazu ausersehen, die Kinder Israels auf dem Weg zu ihrem hohen Ziel anzuführen.

Malcolm fuhr in einer alten Karre, die er billig beim Schrotthändler erworben hatte, kreuz und quer durch Palästina. Wo es keine Straßen gab, hinkte er mit seinem schief eingeschraubten Bein zu Fuß durch das Land. Er besuchte jedes Schlachtfeld aus biblischer Zeit, um die taktischen Begebenheiten an Ort und Stelle zu rekonstruieren.

Die Leute wunderten sich oft, wieso man einen Mann wie Malcolm beim britischen Oberkommando duldete. General Charles, Kommandeur der Streitkräfte in Palästina, war sich ganz einfach darüber klar, daß Malcolm ein Genie war, einer dieser seltenen Rebellen mit völlig eigener Meinung, die es auch unter den Militärs gelegentlich einmal gab. Malcolm fand die englischen Handbücher über Kriegführung zum Lachen, hatte für die darin vertretenen strategischen Ansichten nur Verachtung übrig und hielt die gesamte englische Armee größtenteils für glatte Geldverschwendung.

Eines Abends ließ P. P. Malcolm seinen Wagen stehen, als gleich zwei Reifen auf einmal keine Luft mehr hatten, und ging zu Fuß auf der Straße nach Yad El weiter. Als er die äußere Verteidigungslinie überschritt, kamen ein halbes Dutzend Posten auf ihn zu. Er lächelte, winkte mit der Hand und rief: »Gut gemacht, Jungs! Aber jetzt seid so nett und bringt mich zu Barak ben Kanaan.«

Malcolm ging aufgeregt in Baraks Wohnzimmer hin und her. Sein

Äußeres war noch stärker vernachlässigt als sonst. Eine geschlagene Stunde lang hielt er Barak ben Kanaan einen Vortrag über die Größe des Zionismus und den geschichtlichen Auftrag der hebräischen Nation. Schließlich sagte er: »Und jetzt sollen Sie hören, Ben Kanaan, was mich zu Ihnen geführt hat. Ich werde die Hagana übernehmen und daraus eine erstklassige Truppe machen. Ihr habt da das beste Rohmaterial, das mir jemals vor die Augen gekommen ist.« Barak blieb der Mund offen.

Malcolm sah zum Fenster hinaus. Er sah die Wassersprüher, die sich auf den Feldern drehten, und in der Ferne konnte er Abu Yesha sehen, das unterhalb von Fort Esther am Hang lag.

»Sehen Sie sich dieses Fort da oben an — Esther, wie ihr es nennt — ich nenne es Fort Sturheit. Die Araber brauchen weiter nichts zu tun, als einen Bogen darum zu machen. Die Engländer werden das nie lernen.«

»Major Malcolm«, sagte Barak, »wollen Sie mir nicht verraten, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?«

»Es ist allgemein bekannt, daß Barak ben Kanaan gerecht und unparteiisch ist«, sagte Malcolm. »Offen gestanden, die meisten Juden reden zuviel. In meiner jüdischen Armee werden sie keine zehn Worte zu sagen haben. Das Reden besorge ich ganz allein.« »Davon haben Sie mich bereits durchaus überzeugt«, sagte Barak. »Hm«, brummte Malcolm und sah weiter zum Fenster hinaus. Dann drehte er sich plötzlich herum, und in seinen Augen brannte die gleiche Intensität, wie sie Barak oft bei seinem Bruder Akiba gesehen hatte.

»Kämpfen!« rief Malcolm. »Das ist es, was wir tun müssen — kämpfen! Es geht um die jüdische Nation, Ben Kanaan, um den Gehorsam gegenüber der Vorsehung!«

»Ich bin da mit Ihnen durchaus einer Meinung; man braucht mich darauf nicht erst aufmerksam zu machen.«

»Doch, darauf muß man Sie aufmerksam machen — euch alle muß man darauf aufmerksam machen — solange ihr euch in euren Siedlungen verschanzt und darin bleibt. Wir müssen zu diesen Ungläubigen hingehen und sie züchtigen! Wenn ein Araber aus seinem Kaffeehaus herauskommt und aus einer Entfernung von tausend Metern blindlings einen Schuß auf eine jüdische Siedlung abgibt, dann hält er sich für einen tapferen Mann. Es ist an der Zeit, diesen finsteren Heiden auf den Zahn zu fühlen. Hebräer, das ist es, was ich brauche, hebräische Soldaten! Arrangieren Sie sofort, daß ich mit Avidan sprechen kann. Die Engländer sind zu dumm, um meine Methoden zu begreifen.«

So plötzlich, wie dieser seltsame Mann in Yad El erschienen war, war er auch wieder verschwunden. P. P. Malcolm hinkte zum Tor hinaus, laut einen Psalm singend. Barak ben Kanaan sah ihm nach, strich sich über seinen Bart und schüttelte den Kopf.

Etwas später rief er Avidan an. Sie sprachen Jiddisch miteinander, für den Fall, daß die Leitung angezapft war.

»Wer ist dieser Mann?« fragte Barak. »Er kam herein wie der Messias und fing an, mir eine Predigt über den Zionismus zu halten.«

»Wir haben Berichte über ihn bei uns vorliegen«, sagte Avidan. »Ich muß Ihnen gestehen, der Mann ist so sonderbar, daß wir nicht wissen, was wir von ihm halten sollen.«

»Ist er vertrauenswürdig?«

»Wir wissen es nicht.«

Major P. P. Malcolm verbrachte jetzt seine ganze freie Zeit mit Juden. Er äußerte unumwunden, die englischen Offiziere seien dumm und langweilig. Innerhalb weniger Monate war er bei allen Angehörigen des Jischuw eine bekannte Figur. Obgleich er in den höchsten Kreisen verkehrte, behandelten ihn die führenden Männer meist wie einen harmlosen Exzentriker. Man fand ihn sehr nett und nannte ihn »unseren verrückten Engländer«.

Doch es stellte sich bald heraus, daß P. P. Malcolm keineswegs verrückt war. Bei Diskussionen im kleinen Kreis entfaltete er eine unerhörte Überredungsgabe. Mitglieder des Zentralrates, die bei ihm gewesen waren, gingen nach Haus und waren überzeugt, daß Malcolm sie verhext habe.

Nachdem Malcolm fast sechs Monate lang mit irgendwelchen Ausreden hingehalten worden war, erschien er eines Tages unangemeldet in Ben Gurions Büro im Gebäude des Jischuw-Zentralrats in Jerusalem.

»Hören Sie mal, Ben Gurion«, sagte er bissig, »Sie sind ein verdammter Idiot. Sie verschwenden Ihre ganze Zeit damit, sich mit Ihren Feinden zu unterhalten, und für einen Freund haben Sie keine fünf Minuten übrig.«

Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging wieder hinaus.

Dann ließ sich Malcolm bei General Charles melden, dem Kommandeur der britischen Streitkräfte in Palästina. Er trug dem General seine Ansichten vor und versuchte ihn dafür zu gewinnen.

Er wollte einige seiner Theorien über die Kriegführung gegen die Araber unter Verwendung jüdischer Truppen erproben. General Charles war, wie die meisten Offiziere seines Stabes, proarabisch eingestellt; doch die Rebellion des Mufti fing allmählich an, zu einer Blamage für ihn zu werden. Die Engländer hatten gegenüber den Arabern so kläglich versagt, daß der General beschloß, Malcolm freie Hand zu lassen.

Malcolm kreuzte mit seinem Klapperkasten in Hamischmar auf. Posten der Wache nahmen ihn in Empfang und führten ihn den Hang hinauf zu Ari. Der stämmige Anführer der Hagana musterte verwundert den dürren Engländer, der da plötzlich vor ihm stand. Malcolm klopfte ihm auf die Schulter.

»Sie scheinen ein ordentlicher Junge zu sein«, sagte er. »Hören Sie auf meine Worte, befolgen Sie meine Befehle, geben Sie auf meine Handlungen acht, und ich mache aus Ihnen einen erstklassigen Soldaten. So, und jetzt zeigen Sie mir mal Ihr Lager und Ihre Stellungen.«

Ari war völlig verblüfft. Auf Grund eines gegenseitigen Abkommens hatten sich die Engländer bisher in Hamischmar nicht sehen lassen und Aris Patrouillen nicht zur Kenntnis genommen. Dennoch war es natürlich ihr gutes Recht, Hamischmar zu inspizieren, Major Malcolm nahm Aris Mißtrauen und seinen offensichtlichen Versuch, ihm nur einen Teil der Stellungen zu zeigen, überhaupt nicht zur Kenntnis.

»Wo ist Ihr Zelt, mein Sohn?« fragte er schließlich. In Aris Zelt streckte sich P. P. Malcolm auf dem Feldbett aus und dachte nach. »Was wollen Sie eigentlich hier?« fragte Ari.

»Geben Sie mir eine Karte, mein Sohn«, sagte Malcolm, ohne Aris Frage zu beantworten. Ari gab ihm die Karte, P. P. Malcolm setzte sich auf den Rand der Koje, entfaltete die Karte und strich sich über seine Bartstoppeln. »Wo ist die Hauptabsprungbasis der Araber?«

Ari zeigte mit dem Finger auf eine kleine Ortschaft rund fünfzehn Kilometer jenseits der libanesischen Grenze.

»Wir werden diese Basis heute nach vernichten«, sagte Malcolm kurz und schlicht.

In dieser Nacht ging unter der Führung von Malcolm ein Kommandotrupp, bestehend aus acht Männern und zwei Frauen, von Hamischmar aus über die libanesische Grenze. Die Juden waren baß erstaunt, in was für einem Tempo und mit welcher Ausdauer dieser Mann mit dem gebrechlichen Körper sie über die steilen Hänge und durch die Windungen der Berge führte. Er blieb nicht ein einziges Mal stehen, um auszuruhen oder sich zu orientieren. Bevor sie losgegangen waren, hatte Major Malcolm einen von ihnen niesen gehört. Der Betreffende durfte nicht mitkommen. Jeder, der das Tempo nicht durchhielt, sollte windelweich geschlagen werden.

Als sie in der Nähe ihres Zieles angekommen waren, ging Malcolm allein voraus, um den Ort zu erkunden. Nach einer halben Stunde kam er zurück.

»Sie haben, wie ich es vermutet hatte, keine Wachen ausgestellt. Wir werden es also folgendermaßen machen.« Er skizzierte mit raschen Strichen einen Lageplan und zeichnete die drei oder vier Hütten ein, von denen er vermutete, daß sie den Schmugglern als Unterkunft dienten. »Ich gehe mit drei von euch Burschen in die Ortschaft, wir eröffnen auf kurze Entfernung das Feuer und werfen ihnen ein paar Handgranaten in die Bude, um die Bande ein bißchen aufzupulvern. Alle werden in wilder Flucht davonstürzen. Ich werde sie mit meiner Gruppe hierher an das Ende der Ortschaft treiben, wo Sie, Ben Kanaan, mit dem Rest der Leute im Hinterhalt liegen. Sehen Sie zu, daß Sie ein paar Gefangene machen, denn die Gegend hier ist offensichtlich von heimlichen Waffendepots voll.«

»Ihr Plan ist unsinnig«, sagte Ari. »Das klappt nicht.«

»Dann schlage ich Ihnen vor, daß Sie sich auf den Rückweg nach Palästina begeben«, sagte Malcolm.

Das war das erste- und letztemal, daß Ari die Richtigkeit irgendeiner Maßnahme von P. P. Malcolm anzweifelte.

Malcolms Plan wurde ausgeführt. Der Major ging mit einem aus vier Mann bestehenden Kommando dicht an das vermutliche gegnerische Hauptquartier heran. Vier Handgranaten flogen in die Eingange der Hütten, und sofort danach wurde das Gewehrfeuer eröffnet. Genau wie Malcolm es vorhergesagt hatte, entstand eine Panik. Kaltblütig trieb er die Strauchdiebe Ari direkt in die Arme. Innerhalb von zehn Minuten war alles vorbei.

Zwei Gefangene, die Aris Gruppe gemacht hatte, wurden dem Major vorgeführt.

»Wo habt ihr eure Waffen versteckt?« fragte er den ersten auf Arabisch. Der Araber zog die Schultern hoch.

Malcolm schlug dem Mann ins Gesicht und wiederholte seine Frage. Diesmal beteuerte der Araber bei Allah seine Unschuld. Malcolm nahm in aller Ruhe seine Pistole heraus und schoß dem Araber durch den Kopf. Dann wandte er sich an den zweiten Gefangenen. »Wo habt ihr eure Waffen versteckt?« fragte er ihn. Der zweite Araber beeilte sich, die genaue Lage der Waffenlager zu verraten.

»Ihr Söhne und Töchter Judäas habt heute nacht eine ganze Menge wichtiger Dinge gelernt«, sagte Malcolm. »Ich werde es euch morgen im einzelnen noch genauer erklären. Für jetzt nur soviel: man soll sich nie brutaler Mittel bedienen, um etwas in Erfahrung zu bringen, sondern immer auf dem kürzesten Weg zur Sache kommen.«

Die Nachricht von Malcolms erfolgreichem Stoßtruppunternehmen machte auf alle Leute in Palästina sehr großen Eindruck. Allerdings wirkte es auf die verschiedenen Leute sehr verschieden. Für die Juden war es ein Ereignis von historischer Bedeutung. Zum allererstenmal waren die Juden aus ihren Siedlungen herausgegangen, um einen Angriff zu unternehmen. Viele meinten, das hätte schon viel früher geschehen sollen.

Bei den Engländern löste die Nachricht einen Aufruhr aus. Die meisten waren der Meinung, P. P. Malcolm sei sofort zu entfernen. General Charles war sich nicht ganz so sicher. Die britischen Methoden der Kriegführung gegen die Araber waren höchst mangelhaft, und General Charles hatte den Eindruck, daß Malcolm der Lösung dieses schwierigen Problems sehr viel näher war.

Für die Söldner des Mufti und die muselmanischen Fanatiker war es ein Tag bitterer Ernüchterung. Sie konnten nicht mehr unbehindert durch das Land ziehen und je nach Lust und Laune irgendwo angreifen, ohne mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen zu müssen. Ari und P. P. Malcolm begaben sich mit wachsendem Erfolg auf ein Dutzend weiterer Kommandounternehmungen weit hinter der libanesischen Grenze. Die Räuberbanden, die Heckenschützen und Waffenschmuggler und die Söldner des Generalissimo Kawuky wurden aus ihrer selbstgefälligen Ruhe aufgescheucht. Durch das rasche und erbarmungslose Zuschlagen der Hagana wurde ihre Tätigkeit sowohl unsicher als auch unrentabel. Der Mufti setzte auf den Kopf von P. P. Malcolm einen Preis von tausend englischen Pfund aus.

Nachdem es Malcolm und seinen jungen Hagana-Soldaten gelungen war, am Teggart-Wall in der Umgebung von Hamischmar die Ruhe herzustellen, verlegte er sein Hauptquartier nach dem Kibbuz Ejn Or. Er forderte bei der Hagana einhundertundfünfzig ihrer besten Soldaten an; besonderen Wert legte er auf Ari ben Kanaan, auf den er große Stücke hielt. In Ejn Or stellte Malcolm seine KommandoEinheit auf. Als die hundertfünfzig Soldaten, die aus allen jüdischen Siedlungen Palästinas ausgesucht waren, sich in Ejn Or versammelt hatten, begab sich Major Malcolm mit ihnen auf einen langen Marsch zum Berge Gilboa, der historischen Grabstätte des großen hebräischen Richters und Kriegers Gideon, den Malcolm besonders verehrte. An Gideons Grab trat er vor seine versammelte Mannschaft, öffnete seine Bibel und las auf Hebräisch:

»Also kam Gideon und hundert Mann mit ihm vor das Lager, zu Anfang der mittelsten Nachtwache, da sie eben die Wächter aufgestellt hatten, und bliesen mit Posaunen, und zerschlugen die Krüge in ihren Händen.

Also bliesen alle drei Haufen mit Posaunen, und zerbrachen die Krüge. Sie hielten aber die Fackeln in ihrer linken Hand und die Posaunen in ihrer rechten Hand, daß sie bliesen, und riefen: Hie Schwert des Herrn und Gideons!

Und ein jeglicher stund auf seinem Ort um das Lager her. Da ward das ganze Heer laufend, und schrien, und flohen.«

Malcolm klappte die Bibel zu. Dann schritt er vor der Front auf und ab, die Hände auf dem Rücken und den Blick wie in weite Ferne gerichtet. »Gideon war ein kluger Mann«, sagte er. »Gideon wußte, daß die Midianiter unwissende und abergläubische Leute waren. Gideon wußte, daß er sich ihre primitiven Ängste zunutze machen konnte, daß sie das Dunkel der Nacht fürchteten und daß man sie durch lauten Lärm erschrecken konnte. Gideon wußte es — und wir wissen es auch.«

Die Araber konnten nie wissen, wo oder wann Malcolms Leute das nächstemal zuschlagen würden. Ihr altes zuverlässiges SpionageSystem funktionierte gegenüber dieser neuen Truppe einfach nicht mehr. Manchmal schickte Malcolm drei verschiedene Kommandos in verschiedene Richtungen los, um den Gegner zu verwirren. Er marschierte mit seinen Männern an einem arabischen Dorf vorbei, kam auf einem Umweg im Laufschritt zurück und schlug zu. Er ließ eine Wagenkolonne eine Straße entlangfahren und die Männer einzeln von den Wagen springen. Tagsüber lagen sie unsichtbar verborgen in den Gräben am Rande der Straße und versammelten sich, sobald es dunkel geworden war. Jeder Angriff erfolgte mit so lautem Geschrei, daß der Feind glaubte, tausend Mann würden angreifen. So gelang es Malcolm jedesmal, beim Gegner Panik hervorzurufen.

Gleich allen anderen Angehörigen der Kommandotruppe wurde auch Ari ben Kanaan ein begeisterter Schüler des exzentrischen Engländers. Er begleitete Malcolm bei rund einem Hundert nächtlicher Gänge gegen den Feind, und nicht ein einzigesmal unterlief Malcolm ein Irrtum. Er verlangte eiserne Disziplin, blinde Ergebenheit und fanatischen Einsatz als Gegenleistung dafür, daß er seine Leute von Sieg zu Sieg führte.

Malcolms Kommando-Einheit erzeugte bei den Arabern eine Furcht, die sogar noch größer war als die Furcht vor dem Klan der Husseinis. Mit seinen hundertfünfzig Mann vernichtete er die Rebellion. Die Marodeure suchten das Weite, und Kawukys grandiose Befreiungsarmee zog sich eiligst in den Libanon zurück. In seiner Verzweiflung richtete der Mufti seine Wut auf die Ölleitung, die von den Erdölfeldern des Mossul-Gebietes nach Haifa führte. »Zwanzigtausend dieser sturen Engländer wären nicht in der Lage, diese Ölleitung zu sichern«, sagte Malcolm. »Wir werden es mit unseren hundertfünfzig Mann machen. Unsere Methode ist sehr einfach. Jedesmal, wenn die Leitung irgendwo zerstört wird, werden wir das Araberdorf, das dieser Stelle am nächsten gelegen ist, angreifen und dem Erdboden gleichmachen. Das wird die arabischen Ortschaften dazu veranlassen, die Leitung in ihrem eigenen Interesse gegen Saboteure zu schützen, und es wird eine Warnung für sie sein, diese Strauchdiebe bei sich aufzunehmen. Vergeltung — merkt euch das, denn die Juden sind zahlenmäßig unterlegen. Wir müssen uns des Prinzips der Vergeltung bedienen.«

Jedesmal, wenn die Araber irgend etwas unternahmen, bekamen sie es sofort heimgezahlt. Vergeltung wurde von jetzt an zum Losungswort der jüdischen Verteidigung.

Die arabische Revolte flackerte noch eine Weile, dann erlosch sie. Sie war ein jämmerlicher und sehr kostspieliger Fehlschlag gewesen. Die Araber hatten ihr ganzes stattliches Vermögen verpulvert und ihre hervorragendsten Männer geopfert. Drei Jahre der Unruhe und des Blutvergießens hatten sie an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Und in der ganzen Zeit hatten sie die Juden nicht aus einer einzigen der bereits bestehenden Siedlungen vertrieben; ebensowenig hatten sie verhindern können, daß rund fünfzig neue Siedlungen entstanden.

Als der Aufstand der Araber kurz vor dem Zusammenbruch stand, machte Whitehall bei der britischen Verwaltung im Mandatsgebiet reinen Tisch. Major P. P. Malcolm wurde abkommandiert und mußte Palästina verlassen. Wenn er weiterhin mit den Juden gemeinsame Sache machte, konnte das den Engländern nur Schwierigkeiten bereiten.

Es brach Malcolm das Herz, als er von seiner jüdischen Truppe Abschied nehmen mußte. Doch die Juden, die er ausgebildet hatte, bildeten den Kern für eine künftige jüdische Armee, und seine großartigen taktischen Lehren waren ihre militärische Bibel. Nachdem die Kommando-Einheit aufgelöst worden war, kehrte Ari ben Kanaan nach Yad El zurück. Doch sein Herz schien noch immer auf einem einsamen Berg an der libanesischen Grenze zu sein, wo Dafna begraben lag, zusammen mit zwanzig anderen Männern und Frauen der Hagana, die ihr Leben für Hamischmar gelassen hatten. Da die Situation ruhig und die Verhältnisse sicherer geworden waren, ging Taha, der die ganze Zeit über in Yad El bei der Familie Ben Kanaan gelebt hatte, wieder nach Abu Yesha, um das Amt des Muktar zu übernehmen. Barak und Sara erkannten deutlich, daß sich Taha in den achtzehn Monaten, die er bei ihnen verbracht hatte, in die dreizehnjährige Jordana verliebt hatte. Die Liebe zu einem Mädchen dieses Alters war bei den Arabern nichts Ungewöhnliches. Sowohl Barak als auch Sara sprachen nie darüber und hofften, daß der Junge ohne allzu großen Kummer darüber hinwegkommen würde.

Eine neue britische Verwaltung unter dem Kommando von General Haven-Hurst kam nach Palästina. Kurz darauf holte man die Angehörigen der aufgelösten Kommando-Einheit zusammen, stellte sie vor Gericht und verurteilte sie zu Gefängnisstrafen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren. Die Anklage, die man gegen sie erhob, lautete: Illegaler Waffengebrauch!

Ari und hundert weitere Angehörige der Hagana von der Kommando-Einheit P. P. Malcolms wurden in das Gefängnis von Akko geworfen, das einem finsteren Kerker glich. Es war ein düsterer alter Bau mit dicken Mauern, feucht, verwanzt und voller Ratten. Ein großer Teil der Inhaftierten nahm die Sache mit viel Humor. Die eingesperrten Hagana-Leute brachten die englischen Wachtposten zur Verzweiflung, indem sie von morgens bis abends Hagana-Märsche und Siedlerlieder sangen.

Im Frühling 1939 wurde Ari entlassen. Bleich und hager kam er nach Yad El zurück. Sara weinte in der Stille ihrer Kammer, nachdem sie ihn so wiedergesehen hatte. Was hatte das Leben ihrem Sohn von Jugend auf gegeben? Nichts als Ochsenziemer, ein Gewehr und tiefen Schmerz. Dafna war tot, und so viele seiner Kameraden waren gefallen. Wie lange sollte es noch so weitergehen?

Die Engländer setzten wieder einmal einen Untersuchungsausschuß ein. Er stellte fest, daß an dem jahrelangen Blutvergießen, hinter dem der Mufti als treibende Kraft stand, die jüdischen Einwanderer schuld waren.

XVII.

Whitehall und Chatham-House und Neville Chamberlain, englischer Premierminister und als Leisetreter bekannt, verblüfften die Welt durch eine amtliche Verlautbarung. Am Vorabend des zweiten Weltkrieges gab die englische Regierung einen Beschluß bekannt, der den verzweifelten Juden in Deutschland den Weg nach Palästina versperrte und den Juden in Palästina den Erwerb von Grund und Boden untersagte. Die Leisetreter von München, die die Spanier und die Tschechen verraten und verkauft hatten, taten jetzt dasselbe mit den Juden in Palästina.

Die Makkabäer, die bis dahin mehr oder weniger passiv gewesen waren, wurden auf einmal höchst lebendig. Der englische Beschluß führte ihnen neue Mitglieder zu Hunderten zu. Die Makkabäer schlugen mit einer Reihe von Überfällen zurück, sprengten ein britisches Offizierskasino in Jerusalem in die Luft und verbreiteten unter den Arabern Angst und Schrecken. Sie stürmten ein britisches Arsenal und überfielen mehrere Wagenkolonnen.

General Haven-Hurst machte die bisherige Politik der halben Zusammenarbeit mit den Juden in allen Teilen rückgängig. Die von den Engländern aufgestellte jüdische Polizei wurde aufgelöst; die Hagana wurde verboten und mußte untertauchen. Führende Männer des Jischuw-Zentralrats und weitere Angehörige der aufgelösten Kommando-Einheit wurden vor Gericht gestellt und ins Gefängnis geworfen.

Auch diesmal appellierte Ben Gurion an den Jischuw, die gleiche Besonnenheit und Zurückhaltung an den Tag zu legen, die die Juden in Palästina bisher gezeigt hatten. Er distanzierte sich öffentlich von den Terrormethoden. Barak ben Kanaan wurde nach London geschickt, um gemeinsam mit Chaim Weizmann und anderen Wortführern des Zionismus zu versuchen, die Engländer zu einer Änderung ihrer Haltung zu bewegen. Doch die Männer von Whitehall waren entschlossen, an dem eingeschlagenen Kurs festzuhalten, um die Araber nicht zu reizen.

In Palästina war der Klan der Husseinis wieder eifrig am Werk. Hadsch Amin war zwar immer noch im Exil, doch die übrigen Angehörigen seines Klans hielten weiterhin die Opposition durch Meuchelmorde in Schach. Ein Neffe des Mufti, Gamal Husseini, rief den Großarabischen Aktionsausschuß wieder ins Leben.

In Deutschland befanden sich die Juden in einer verzweifelten Lage. Die Zionistische Organisation sah sich kaum einer zu meisternden Aufgabe gegenüber, weil jetzt auch diejenigen deutschen Juden, die sich zunächst nicht aus ihrer Ruhe hatten bringen lassen, in panischer Angst aus dem Lande hinauszukommen versuchten.

Die Engländer machten es den Jischuw-Angehörigen, die ihnen durch ihre Tätigkeit in der Hagana und bei der illegalen Einwanderung bekannt waren, fast ebenso schwer, aus Palästina hinauszukommen, wie den deutschen Juden, nach Palästina hereinzukommen. Als Ari von Avidan den Befehl bekam, sich nach Berlin zu begeben, mußte er bei Hamischmar schwarz über die libanesische Grenze und zu Fuß nach Beirut gehen. Er reiste mit dem Paß eines Juden, der vor kurzer Zeit als »Tourist« nach Palästina gekommen war. Von Beirut aus fuhr er per Schiff nach Marseille, und eine Woche später erschien er in Berlin im Hauptquartier der Zionistischen Vereinigung, in der Meineckestraße 10. Sein Auftrag lautete, soviel Juden wie möglich aus Deutschland hinauszuschaffen. Die Nazis holten aus dem Geschäft mit Ausreisegenehmigungen alles heraus, was nur herauszuholen war. Je verzweifelter die Juden wurden, desto höher wurde der Preis, den sie für ihre Freiheit bezahlen mußten. Viele Familien opferten ihr gesamtes Vermögen für das Recht, aus Deutschland fliehen zu dürfen. Visa wurden gefälscht und gestohlen. Ein Visum bedeutete Leben. Sehr bitter war es, daß nur wenige Länder der Welt die deutschen Juden aufnehmen wollten. Die meisten Länder machten ihnen die Tür vor der Nase zu. Wenn sie bereit waren, Einreisevisa zu erteilen, dann nur unter der stillschweigenden Bedingung, daß die Juden nicht wirklich in das betreffende Land einreisten.

Ari sah sich vor die Aufgabe gestellt, zu entscheiden, wer ein Visum bekommen sollte und wer nicht. Tag für Tag kamen Leute zu ihm, die ihm drohten, ihn zu bestechen versuchten oder ihn verzweifelt anflehten, ihnen zu helfen. Nachdem die Zionisten fünf Jahre lang die deutschen Juden vergeblich aufgefordert hatten, Deutschland zu verlassen, waren sie jetzt der Ansicht, daß in erster Linie die Kinder herausgebracht werden sollten, außerdem wichtige Spezialisten, wissenschaftliche Kapazitäten und bedeutende Künstler: die Elite. Es gelang Ari und der Aliyah Bet, Hunderte aus Deutschland hinauszuschmuggeln, doch diesen Hunderten standen Tausende gegenüber, die in der Falle saßen.

In dem angsterfüllten Sommer des Jahres 1939 arbeitete Ari Tag und Nacht. Mitte August bekam er von der Aliyah Bet in Frankreich die dringende Aufforderung, Deutschland sofort zu verlassen. Ari kümmerte sich nicht darum und setzte seine Arbeit fort. Jeder Tag wurde zu einem Wettrennen mit dem Tod.

Dann erhielt er eine zweite Aufforderung. Diesmal kam sie von der Hagana und enthielt den Befehl zurückzukommen. Ari nahm es auf seine Kappe, nochmals zweiundsiebzig Stunden weiterzuarbeiten, weil er gerade damit beschäftigt war, Ausreisegenehmigungen für mehrere hundert Kinder zu beschaffen, die mit einem Sonderzug nach Dänemark fahren sollten.

Es kam ein drittes Telegramm und ein viertes. Als der Zug mit den Kindern die dänische Grenze überquerte, machte sich Ari ben Kanaan seinerseits auf die Flucht. Er verließ Deutschland achtundvierzig Stunden, bevor Hitlers Wehrmacht Polen überrollte und den zweiten Weltkrieg einleitete.

Der Jischuw-Zentralrat war sich bei Kriegsausbruch sofort über den einzuschlagenden Kurs klar. Ben Gurion richtete an die Juden in Palästina die Aufforderung, in die britische Armee einzutreten, um gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen. Diese Aufforderung wurde noch durch die Hagana unterstützt, die hierin eine Möglichkeit erblickte, jüdische Soldaten auf legale Weise auszubilden.

General Haven-Hurst, der Kommandeur der britischen Streitkräfte in Palästina, meldete beim britischen Kriegsministerium schwere Bedenken dagegen an, Palästina-Juden in die britische Wehrmacht aufzunehmen. »Wenn wir die Juden jetzt ausbilden und ihnen die Möglichkeit geben, Fronterfahrung zu gewinnen, dann setzen wir uns damit nur Läuse in den Pelz, denn mit Sicherheit werden wir eines Tages gegen genau dieselben Juden zu kämpfen haben.« Innerhalb einer Woche nach Ausbruch des Krieges hatten sich hundertdreißigtausend Männer und Frauen — jeder vierte der Juden in Palästina — beim Jischuw-Zentralrat gemeldet, um als Freiwillige in die britische Armee einzutreten.

Die Araber dagegen warteten darauf, daß die Deutschen als ihre »Befreier« auch nach Palästina kämen.

Es war für die Engländer ein Ding der Unmöglichkeit, das Angebot der jüdischen Bevölkerung von Palästina zu ignorieren. Aber ebenso unmöglich war es, General Haven-Hursts Warnung in den Wind zu schlagen. Beim Kriegsministerium entschloß man sich daher zu dem Kompromiß, die Juden zwar in das britische Heer aufzunehmen, sie aber nicht an der Front zu verwenden, sondern sie als Transportkolonnen, Pionierbataillone und technische Hilfstruppen einzusetzen. Der Jischuw-Zentralrat protestierte heftig gegen diese Diskriminierung und verlangte für die Juden das Recht, mit der Waffe in der Hand gegen die Deutschen zu kämpfen.

Die Haltung der jüdischen Bevölkerung von Palästina war einheitlich, mit Ausnahme der Makkabäer, die ihre eigenen Wege gingen. Avidan beschloß, keinen unangebrachten Stolz an den Tag zu legen, und bat Akiba durch eine Reihe geheimer Mittelsmänner um eine Unterredung.

Die beiden trafen sich in einem Kellerraum von Frankels Restaurant auf der King-George-Straße in Jerusalem. Der Keller war voll von Kisten mit Konserven und Flaschen, die an den Wänden übereinandergestapelt waren. Eine schwache Glühbirne beleuchtete den Raum nur spärlich.

Als Akiba, von zwei Makkabäern begleitet, hereinkam, gab ihm Avidan nicht die Hand. Fünf lange Jahre waren vergangen, seit sich die beiden Männer das letztemal gesehen hatten. Man sah Akiba an, daß er mehr als sechzig Jahre auf dem Buckel hatte. Die schweren Strapazen des Aufbaus von zwei Kibbuzim und die Jahre des illegalen Daseins hatten einen alten Mann aus ihm gemacht.

Die Posten der Makkabäer und der Hagana gingen hinaus. Die beiden waren allein und musterten sich schweigend. Schließlich sagte Avidan: »Ich bin hergekommen, um dich zu bitten, mit den Engländern einen Waffenstillstand abzuschließen, bis der Krieg vorbei ist.«

Akiba brummte böse. Mit scharfen Worten gab er seiner Verachtung für die Engländer und ihre Palästina-Politik und seinem Zorn auf den Zentralrat und die Hagana Ausdruck.

»Bitte, Akiba«, sagte Avidan, der sich mühsam beherrschte. »Ich verstehe durchaus, was dich bewegt. Ich bin mir auch über die Meinungsverschiedenheiten völlig klar, die zwischen uns bestehen. Doch man mag es ansehen wie man will. Die Deutschen stellen jedenfalls eine wesentlich größere Gefahr für unsere Existenz dar als die Engländer.«

Akiba wandte Avidan den Rücken. Er stand in dem dunklen Raum und überlegte. Dann drehte er sich plötzlich herum, und in seinen Augen brannte das alte Feuer. »Jetzt ist der Augenblick gekommen«, rief er, »die Engländer dazu zu zwingen, ihre Palästina-Politik zu revidieren! Jetzt — gerade jetzt — sollten wir von den Engländern verlangen, einen jüdischen Staat anzuerkennen, der das Gebiet diesseits und jenseits des Jordan umfaßt! Jetzt! Man muß diese verdammten Engländer schlagen, wenn sie weiche Knie haben!«

»Ist es für uns so wichtig, ein Staat zu werden, daß wir dieses Ziel selbst um den Preis anstreben sollen, dadurch zum Sieg der Deutschen beizutragen?«

»Und bildest du dir vielleicht ein, die Engländer würden Bedenken haben, uns abermals zu verraten und zu verkaufen?«

»Ich bin der Meinung, es gibt für uns nur eins — den Kampf gegen Hitler.«

Akiba ging wie ein hungriges Tier über den Zementfußboden hin und her. Tränen schossen ihm vor Wut in die Augen. Schließlich sagte er leise und mit bebender Stimme: »Obwohl die Engländer unsere Küste blockieren und verzweifelten Menschen den Zugang verwehren — obwohl die Engländer mit unseren Jungen innerhalb ihrer Armee ein Ghetto einrichten — obwohl sie uns mit ihren letzten Beschlüssen an die Araber verraten haben — obwohl die Juden in Palästina in diesem Krieg ihre besten Kräfte für die Engländer einsetzen, während die Araber wie die Aasgeier dasitzen und nur darauf warten, daß die Engländer zu Boden gehen — trotz allem sind die Engländer nicht die schlimmsten unserer Feinde, und deshalb müssen wir auf ihrer Seite kämpfen. Also gut, Avidan — die Makkabäer werden Waffenstillstand schließen.«

Akibas Feindlichkeit stand spürbar im Raum, als sich die beiden Männer zum Abschluß die Hände reichten. Dann räusperte sich Akiba und fragte: »Wie geht es meinem Bruder?«

»Barak ist gerade von London zurückgekommen, wo er Verhandlungen geführt hat.«

»Ja, Verhandlungen — das sieht Barak ähnlich. Und wie geht es Sara und den Kindern?«

»Gut«, sagte Avidan. »Auf Ari kannst du stolz sein.«

»O ja, Ari ist ein prima Bursche. Und wie — wie sieht es jetzt in Ejn Or aus?«

Avidan senkte den Blick und sagte: »Ejn Or und Schoschana zeugen von der Liebe und dem Schweiß derer, die diese Siedlungen errichtet haben.« Avidan wandte sich und ging auf die Leiter zu, die zu der Falltür hinaufführte.

»Der Tag, an dem wir mit den Engländern abrechnen, kommt noch!« rief ihm Akiba aus der Dunkelheit des Kellers nach.

Ari hatte sich verändert. Er war verbittert und verdüstert. Es war schwer, genau festzustellen, was ihn so verändert hatte. Waffen hatte er von früh auf getragen. Dann war die Zeit der Wehrsiedlungen gekommen — Hamischmar — Malcolms Kommandotruppe — die Monate im englischen Gefängnis. Die zermürbende Arbeit für Aliyah Bet in Berlin. Und der Tod von Dafna. Ari lebte in Yad El, arbeitete als Landwirt und wünschte, in Ruhe gelassen zu werden. Er sprach kaum ein Wort.

Auch als der Krieg ausbrach, blieb Ari in Yad El. Seine freie Zeit verbrachte er größtenteils in Abu Yesha bei seinem Jugendfreund Taha, dem jetzigen Muktar des Dorfes.

Mehrere Monate nach Kriegsausbruch fand Ari eines Abends, als er von der Feldarbeit zurückkam, Avidan vor, der erschienen war, um mit Ari zu sprechen. Nach dem Abendessen zogen sich Ari, Avidan und Barak in das Wohnzimmer zurück.

»Ich nehme an, du weißt, weshalb ich hergekommen bin«, sagte Avidan.

»Ich kann es mir denken.«

»Ich will mich nicht lange bei der Vorrede aufhalten. Es gibt ein paar Dutzend von unseren Jungen, von denen wir wünschen, daß sie in das englische Heer eintreten. Die Engländer haben sich wiederholt mit uns in Verbindung gesetzt und angefragt, ob du nicht mitmachen willst. Sie sind bereit, dir ein Offizierspatent zu geben.«

»Interessiert mich nicht.«

»Die Engländer legen aber großen Wert auf dich, Ari. Ich bin überzeugt, daß wir dich an einen Posten setzen könnten — beispielsweise als Abwehrmann für die arabischen Gebiete — wo du auch für die Hagana von großem Wert wärest.«

»Das ist außerordentlich freundlich. Ich hatte schon gedacht, ich sollte zusammen mit den übrigen Jischuw-Truppen zum Müllabladen eingesetzt werden. Es tut gut, zu wissen, daß ich zu den besseren Juden gehöre!«

»Bitte zwinge mich nicht, dir einen dienstlichen Befehl zu erteilen.« »Du könntest unter Umständen eine Überraschung erleben, wenn du das tust.«

Avidan, der auf eiserne Disziplin hielt, war fassungslos. Ari ben Kanaan war einer der zuverlässigsten und willigsten Soldaten der Hagana gewesen.

»Ich bin froh, daß die Sache endlich einmal zur Sprache gekommen ist«, sagte Barak. »Seit der Junge aus Berlin zurück ist, hat er seinen Kummer in sich hineingefressen.«

»Hör mal, Ari«, sagte Avidan, »ich fürchte, wir werden darauf bestehen müssen, daß du dich meldest.«

»Warum sollte ich eine englische Uniform anziehen? Damit sie mich ein zweites Mal ins Gefängnis werfen als Dank dafür, daß ich für sie gekämpft habe?«

Barak hob beschwörend die Hände.

»Also gut, Vater — wenn du willst, daß wir offen darüber reden. Vor fünf Jahren hatte Onkel Akiba den Mut, den Namen unseres Feindes zu nennen.«

»Du hast diesen Namen in diesem Hause nicht zu erwähnen!« sagte Barak laut und wütend.

»Es wird allmählich Zeit, daß er hier erwähnt wird. Wenn ich nicht selbst zu den Makkabäern gegangen bin, dann nur, weil ich dich nicht kränken wollte.«

»Aber, hör mal, Ari«, sagte Avidan, »selbst Akiba und die Makkabäer haben mit den Engländern Waffenstillstand geschlossen.«

Ari stand auf und ging zur Tür. »Ich bin bei Taha und spiele Puff. Ruft mich, wenn die Deutschen einmarschieren.«

Selbst als der Jischuw all seine Energie aufbot, um die britischen Kriegsbemühungen zu unterstützen, war er noch immer gezwungen, Entwürdigungen durch die Engländer hinzunehmen. Eine Reihe entsetzlicher Zwischenfälle begann sogar diejenigen Juden aufzuwühlen, die bisher noch an die sprichwörtliche britische Fairneß geglaubt hatten.

Ein winziges, kaum fünfzehn Meter langes Donauschiff namens Struma war vor Istanbul aufgetaucht. Es hatte achthundert Juden an Bord, die aus Europa entkommen wollten. Der Dampfer war seeuntüchtig und die Menschen auf ihm in größter Bedrängnis.

Fast kniefällig bat der Jischuw-Zentralrat die Engländer um die erforderliche Einreisegenehmigung, doch die Engländer lehnten ab. Nicht genug damit, wurde die türkische Regierung von ihnen unter schärfsten diplomatischen Druck gesetzt, die Struma zur Räumung der Gewässer um Istanbul zu veranlassen. Türkische Polizei kam an Bord, schleppte die Struma durch den Bosporus und ließ das leichte Flußschiff im Schwarzen Meer treiben, ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne Brennstoff. Die Struma erlitt Schiffbruch, und 799 Menschen kamen ums Leben. Nur einer wurde gerettet.

Vom Seegang arg mitgenommen, hatten zwei andere Dampfer mit zweitausend Flüchtlingen an Bord endlich die Gewässer vor Palästina erreicht, doch die Engländer ließen sie nicht landen. Statt dessen schafften sie die Flüchtlinge auf die Patria, die sie nach Mauritius, eine östlich von Afrika gelegene Insel, bringen sollte. Auf der Höhe von Haifa, noch in Sichtweite der palästinischen Küste, erlitt auch die Patria Schiffbruch, und hundert Flüchtlinge fanden den Tod.

Und so ging es weiter. Die Engländer hielten an ihrem Weißbuch fest; denn die Araber durften nicht aufgebracht werden.

Der Krieg entwickelte sich für die Engländer sehr schlecht. Gegen Ende des Jahres 1941 hatten die Juden von Palästina ihren Weg zur kämpfenden Truppe gemacht, trotz der Warnung General Haven-Hursts. Denn die Engländer befanden sich in verzweifelter Lage, und von den Arabern bekamen sie nicht einen Mann. Während die Araber untätig dasaßen, trugen fünfzigtausend Juden der Jischuw-Elite britische Uniformen.

Nach dem Zusammenbruch Westeuropas warteten die deutschen Truppen am Ärmelkanal auf den Befehl zur Invasion. England kämpfte mit dem Rücken zur Wand.

Wie einst die Engländer das Reich der Ottomanen untergraben hatten, so schickten sich jetzt die Deutschen an, das Britische Empire zu unterhöhlen. Rommels starkes Afrikakorps setzte zu einer Reihe von Schlägen an, die die Engländer aus dem Nahen Osten vertreiben und den Weg zum Orient und nach Indien öffnen sollte.

Hadsch Amin el Husseini ging, auf der Suche nach grüneren Weiden, aus dem Libanon fort. Er landete in Bagdad, im Staate Irak, der dem Namen nach ein Verbündeter der Engländer war; aber wirklich nur dem Namen nach.

In Bagdad wurde Hadsch Amin als Märtyrer für die Sache des Islam begrüßt. Gemeinsam mit einer Reihe irakischer Offiziere inszenierte er eine Revolte, um das Land den Deutschen in die Hände zu spielen. Mit knapper Not konnten die Engländer das Gelingen dieses Planes in letzter Minute verhindern.

Hadsch Amin begab sich von neuem auf die Flucht. Diesmal fuhr er nach Deutschland, wo ihn Adolf Hitler persönlich als brüderlichen Freund begrüßte. Die beiden Irren verbanden sich miteinander zu beiderseitigem Nutzen. Der Mufti erblickte in den militärischen Plänen der Deutschen eine neue Chance für sich selbst, die Macht über die ganze arabische Welt zu gewinnen. Hitler brauchte den Mufti, um zu demonstrieren, welche warme und herzliche Freundschaft zwischen einem Araber und einem Deutschen möglich war. Als Propagandist der Nazis hielt Hadsch Amin von Berlin aus an alle Araber eine Ansprache nach der anderen. Alle Araber schienen den Worten des Mufti aufmerksam zu lauschen. Syrien und der Libanon waren in der Hand der Vichy-Regierung, und in Massen kam aus Deutschland alles heran, was zur Vorbereitung einer Invasion in Palästina und Ägypten erforderlich war. Der ägyptische Generalstab verkaufte den Deutschen Kriegsgeheimnisse. König Faruk von Ägypten weigerte sich, den Engländern auch nur einen einzigen Soldaten zur Verfügung zu stellen, um Ägypten gegen Rommel zu verteidigen. Im Irak wurden weitere Komplotte ausgeheckt.

Der einzige treue Freund der Alliierten war der alte Despot Ibn Saud, der mit amerikanischen Dollars gekauft worden war. Doch für die britische Achte Armee, die um ihr Leben kämpfte, hatte Ibn Saud nicht einmal ein einziges Kamel übrig.

Im ganzen Nahen Osten hatten die Alliierten nur einen wirklichen Freund, der Seite an Seite mit ihnen kämpfte — die jüdische Bevölkerung von Palästina!

Rommel, von Stolz geschwellt über den Sieg in Libyen, war zum Durchbruch nach Alexandria angetreten, wo die Einwohner bereits deutsche Fahnen nähten, um die »Befreier« gebührend begrüßen zu können.

In Rußland stand die deutsche Wehrmacht vor den Toren von Stalingrad! Es war die dunkelste Stunde der Alliierten.

Die Deutschen hatten es in erster Linie auf den Suez-Kanal abgesehen, auf Ägypten und Palästina — den Solarplexus des Britischen Imperiums. Ein Durchbruch bei Stalingrad konnte die andere Seite einer Zange ergeben, die über den Kaukasus griff und die Tür nach Indien und dem Orient öffnete.

Schließlich kamen die Engländer zum Jischuw-Zentralrat und baten die Juden, Guerilla-Einheiten zu bilden, um den Rückzug der Engländer zu decken und der deutschen Besatzungsmacht Schwierigkeiten zu verursachen. Diese Guerilla-Truppe erhielt den Namen Palmach und sollte sich zur aktiven Elite der Hagana entwickeln. Eines Abends, als sich die Familie gerade zum Essen setzte, teilte Ari ben Kanaan beiläufig mit: »Ich bin heute in das britische Heer eingetreten.«

Am nächsten Tag meldete sich Ari zum Dienst im Kibbuz Beth Alonim, wo sich junge Männer und Frauen aus ganz Palästina versammelt hatten, um den Palmach zu bilden.

XVIII.

Beth Alonim lag in der Mitte des Jesreel-Tales, am Fuße des Berges Tabor. Die Engländer gaben Ari ein Offizierspatent in der britischen Armee und übertrugen ihm das Kommando über die Operationen der Guerilla-Einheiten. Diese Einheiten bestanden aus jungen Männern und Mädchen, von denen die meisten noch keine Zwanzig waren. Die Offiziere gehörten größtenteils zur »Alten Garde« und waren, genau wie Ari, Mitte Zwanzig.

Viele ehemalige Angehörige der Kommandotruppe traten in den Palmach ein, um die jungen Leute in der Kriegführung auszubilden, die sie von Major P. P. Malcolm gelernt hatten. Der Palmach trug keine Uniformen; im Mannschaftsstand gab es keine Rangunterschiede; und die Mädchen wurden genauso behandelt wie die jungen Männer.

Zwei der Soldaten zeigten so hervorragende Fähigkeiten, daß Ari sie zu Einheitsführern und zu seinen unmittelbaren Stellvertretern ernannte. Der eine war ein vierschrötiger Siedler aus Galiläa. Sein Name war Seew Gilboa. Er trug den mächtigen schwarzen Schnurrbart, der später das Kennzeichen eines männlichen PalmachAngehörigen werden sollte. Der andere war ein schmalgliedriger, feinnerviger Student aus Jerusalem namens David ben Ami. Beide waren noch keine Zwanzig.

Eines Tages kam General Haven-Hurst zu Besuch. Haven-Hurst war ein schlanker, blonder Mann von etwas über Fünfzig. Während er das Lager inspizierte, spürte er die kühle Ablehnung, mit der die Palmach-Leute seine Anwesenheit zur Kenntnis nahmen. Haven-Hurst bat Ari, sich im Anschluß an die Inspektion im Dienstzimmer des Lagers bei ihm zu melden.

Als Ari den Raum betrat, begrüßten sich die beiden Männer mit einem steifen Nicken, und keiner von ihnen machte einen Hehl daraus, wie wenig er für den anderen übrig hatte.

»Nehmen Sie Platz, Leutnant Ben Kanaan«, sagte Haven-Hurst. »Ich muß Ihnen mein Kompliment über Ihre Arbeit hier mit dieser Palmach-Truppe machen.«

»Danke, Sir.«

»Der eigentliche Anlaß meines heutigen Kommens war, Sie zu fragen, ob Sie bereit wären, einen Sonderauftrag zu übernehmen. Ich weiß, daß Sie in das britische Heer unter der Voraussetzung eingetreten sind, daß man Ihnen die Ausbildung der PalmachTruppen anvertraut; doch wir sind der Meinung, daß es sich hier um eine so vordringliche Sache handelt, daß Sie bereit sein sollten, von diesem Vorbehalt abzugehen.«

»Ich bin Soldat im britischen Heer, Sir. Ich werde jeden Auftrag akzeptieren, den man mir erteilt.«

»Also gut. Es handelt sich um Folgendes. Die Deutschen haben starke Kräfte in Syrien zusammengezogen. Wir halten es für möglich, daß sie in diesem Frühling eine Invasion in Palästina versuchen werden.«

Ari nickte.

»Wir befinden uns mit Vichy-Frankreich nicht im Krieg und können also auch keine Invasion in Syrien machen, doch wir haben im Nahen Osten in ausreichender Menge Streitkräfte des unbesetzten Frankreichs, die dazu in der Lage wären, vorausgesetzt, daß wir einen Abwehrdienst aufziehen könnten, der die Feindlage einwandfrei klärt. Wir haben Sie für diese Aufgabe gewählt, da Sie Syrien und den Libanon von Ihrer Zeit in Hamischmar her kennen und außerdem gut arabisch sprechen. Wir möchten, daß Sie die Leute, die mit Ihnen in Hamischmar waren, zusammenholen und mit Ihnen wieder nach Hamischmar gehen, um von dort aus die Feindaufklärung vorzunehmen. Bei Beginn der Invasion ist außerdem vorgesehen, Sie zum Captain zu befördern.«

»Die Sache hat einen Haken, Sir.«

»Das wäre?«

»Eine große Anzahl meiner Kameraden von Hamischmar sind von den Engländern ins Gefängnis geworfen worden.«

Das Gesicht des Generals lief dunkelrot an. »Wir werden ihre Entlassung veranlassen.«

»Jawohl, Sir. Und noch etwas. Ich habe hier zwei Leute, die ungewöhnlich befähigte Soldaten sind. Ich würde sie gern nach Hamischmar mitnehmen und bitte darum, die beiden in das britische Heer zu übernehmen.«

»Bitte«, sagte Haven-Hurst, »nehmen Sie die beiden mit.«

Ari erhob sich und ging zur Tür. »Eine Invasion in Syrien zu diesem Zeitpunkt ist eine strategisch hervorragende Maßnahme, Sir. Die britische Achte Armee bekommt dadurch ausreichenden Spielraum, um sich nach Indien abzusetzen.«

Haven-Hurst starrte den Juden feindlich an. »Ich glaube, Ben Kanaan, ich brauche Ihnen kaum zu erklären, daß wir uns beide eines Tages auf gegnerischen Fronten gegenüberstehen werden.« »Das tun wir bereits, Sir.«

Ari verließ Beth Alonim, »mit Seew Gilboa und David ben Ami als seinen Sergeanten, und ging wieder nach Hamischmar, auf den Berg, mit dem ihn so bittere Erinnerungen verbanden. Von Hamischmar aus, dem Stützpunkt und Hauptquartier, gingen Aris Aufklärungskommandos bis nach Damaskus vor. Sie mußten dabei mit größter Vorsicht zu Wege gehen, denn die Invasion sollte völlig überraschend kommen.

Aris Methode war sehr einfach. Die meisten seiner Leute sprachen fließend Arabisch und kannten das Gebiet sehr genau. Er schickte sie bei Tage los, verkleidet als Araber, und sie gingen einfach die Straßen entlang und machten Augen und Ohren auf. Obwohl Ari auf diese Weise Informationsmaterial erhielt, das sich als lückenlos und exakt erwies, wollte er es gern noch durch einen Mann bestätigt haben, der sich bis in die Innenstadt von Damaskus und Beirut vorwagte. Es war eine sehr riskante Sache, für die Ari einen Einzelgänger mit besonderen Voraussetzungen brauchte. Der Betreffende mußte in der Lage sein, sich völlig frei zu bewegen, ohne Verdacht zu erregen. Ari setzte sich mit der Hagana in Verbindung, und man schickte ihm einen jungen Mann von siebzehn Jahren namens Joab Yarkoni.

Yarkoni war ein marokkanischer Jude, geboren und aufgewachsen in Casablanca, der überall glatt als Araber passieren konnte. Er war klein und schmal, hatte große leuchtende schwarze Augen und einen geradezu unverschämten Humor. In Casablanca hatten er und seine Familie in einer Mellah gelebt, der orientalisch-afrikanischen Abart eines Ghettos. Diese orientalischen und afrikanischen Juden hatten kulturell wenig mit ihren russischen oder deutschen Glaubensgenossen gemein. Sie stammten größtenteils von spanischen Juden ab, die vor der Inquisition geflohen waren.

Viele von ihnen hatten noch immer spanische Namen. In den meisten arabischen Ländern wurden die Juden menschenwürdig, fast als Gleichberechtigte behandelt. Sie wurden Hofärzte, Philosophen und Künstler und zählten zur Elite der Gesellschaft. Mit dem Untergang der arabischen Größe büßten auch die Juden ihre Bedeutung in den arabischen Ländern ein.

Es gab Juden in Bagdad und Kairo, und in Damaskus und Fez, in Kurdistan und in Casablanca, an der ganzen afrikanischen Küste und tief im Innern der Länder des Nahen Ostens.

Gewiß hatte es auch Feindschaft gegeben. Doch die Moslems hatten nie so viele Juden getötet wie die Christen. Die arabischen Pogrome waren immer in Grenzen geblieben; man hatte jeweils nur ein paar Dutzend Juden totgeschlagen.

Joab Yarkoni war mit seinen Eltern aus der Mellah von Casablanca geflohen, als er noch ein kleiner Junge war. Die Familie ging in einen Kibbuz an der Küste von Samaria. Der Kibbuz war eine Fischersiedlung bei Caesarea und hieß Sdot Yam. In der Nähe von Caesarea gingen viele Schiffe mit illegalen Einwanderern an Land, und Joab begann als Waffenschmuggler für Aliyah Bet zu arbeiten, als er kaum zwölf Jahre alt war.

Mit fünfzehn leistete er sich ein Husarenstück, das seinen Namen bei allen Juden in Palästina berühmt machte. Er zog von Sdot Yam mit seinem Esel los und begab sich nach Bagdad. Dort stahl er eine Anzahl junger Dattelpalmenschößlinge, über die die Iraker mit Eifersucht wachten, und schmuggelte sie nach Palästina hinein. Diese Schößlinge wurden nach dem Kibbuz Schoschana gebracht und bildeten die Grundlage für einen ganz neuen Exportzweig.

Die Aufgabe, die Ari ihm stellte, war für den siebzehnjährigen Joab eine Kleinigkeit. Er begab sich nach Damaskus, nach Beirut und nach Tyra und kam drei Wochen später wieder nach Hamischmar zurück. Seine Feststellungen bestätigten das, was sie bereits wußten, in allen Einzelheiten und erbrachten außerdem lückenlose Informationen über die Stationierung und die zahlenmäßige Stärke der Vichy-Truppen.

In aller Stille bewegten sich Streitkräfte des unbesetzten Frankreichs nach Palästina und massierten sich in Galiläa für die geplante Invasion. Aris fünfzig Leute wurden durch vierzig ausgesuchte Australier verstärkt, die Fachleute im Umgang mit Landminen, automatischen Waffen und Sprengstoffen waren. Diese neunzig Mann wurden in drei Gruppen zu je dreißig Mann aufgeteilt. Jede dieser Gruppen erhielt einen Sonderauftrag, als Vortrupp der Invasion über die Grenze nach Syrien und in den Libanon zu gehen, um entscheidende Straßen und Brücken so lange gegen einen etwaigen Gegenangriff zu halten, bis die Invasionsarmee herangerückt war.

Aris Gruppe hatte den gefährlichsten dieser Sonderaufträge. Sein Auftrag lautete, mit seinen dreißig Mann an der libanesischen Küste vorzugehen, bis an eine Garnison der Vichy-Truppen heran, um diese daran zu hindern, ein halbes Dutzend wichtiger Brücken in den Bergen zu besetzen oder zu sprengen und dadurch das Vorgehen der Invasionsarmee aufzuhalten. Ari nahm Joab, Seew und David mit, außerdem noch sechzehn Juden und zehn Australier.

Sie setzten sich vierundzwanzig Stunden vor Beginn der Invasion in Bewegung und gingen ohne jede Schwierigkeit an der Küste vor, da sie jeden Meter des Geländes genau kannten. Unangefochten überschritten sie die sechs wichtigsten Brücken und machten drei Meilen vor Fort Henried, einer Garnison der Vichy-Streitkräfte, bei einem Übergang über das Gebirge halt. Sie verminten die Straßen, brachten ihre Maschinengewehre in Stellung und warteten auf das Eintreffen der Invasionsarmee.

Wie so oft bei einem großangelegten kriegerischen Unternehmen passierte eine Panne: der östliche Keil der Invasionsarmee begab sich von Transjordanien aus zwölf Stunden vor dem planmäßigen Zeitpunkt X nach Syrien hinein, marschierte auf Damaskus zu und verriet dadurch die gesamte Operation.

Für Ari bedeutete das, den Paß über das Gebirge zwölf Stunden lang und noch weitere drei bis vier Stunden halten zu müssen, bis die Hauptmacht bei ihm angelangt war. Die Vichy-Leute hatten, nachdem die Panne passiert war, innerhalb weniger Stunden in Fort Henried zwei Bataillone mit Tanks und Artillerie aufgestellt und kamen damit auf der Küstenstraße heran, um die Brücken in den Bergen zu zerstören. Als Ari sie herankommen sah, schickte er eilig David und Seew nach Palästina zurück, um Verstärkung heranzuholen.

Die Vichy-Truppen marschierten ahnungslos auf den Paß zu, wurden von den Straßenminen hochgejagt und von den Höhen rechts und links des Passes mit Maschinengewehrfeuer empfangen. Sie wurden in die Flucht geschlagen, sammelten sich wieder und belegten den Paß mit Artilleriebeschuß. Sechs höllische Stunden vergingen, bis David und Seew mit einem Bataillon der Streitkräfte des unbesetzten Frankreichs zurückgekommen waren.

Sämtliche Brücken waren intakt. Es war den Vichy-Truppen nicht gelungen, durchzubrechen. Der Paß war mit den Leichen von mehr als vierhundert Vichy-Soldaten übersät, die versucht hatten, Aris Stellung zu überrennen. Als die Hilfe kam, waren von Aris Leuten nur noch fünf am Leben. Ari selbst hing zwischen Leben und Tod. Sein Rücken saß voll von Schrapnell-Splittern, er hatte zwei Steckschüsse im Körper, und ein Bein und seine Nase waren gebrechen. Die Streitkräfte des freien Frankreichs gingen über den Paß vor und führten die Invasion in Syrien zu Ende.

Für Ari ben Kanaan war der Krieg vorbei. Er wurde nach Palästina gebracht, wo er lange im Lazarett lag und sich nur langsam erholte. Die Engländer beförderten ihn zum Major und verliehen ihm für die heldenhafte Verteidigung des Passes einen Orden.

Nicht nur Ari hatte für den Sieg der Alliierten gekämpft. Mitglieder des Jischuw gehörten zu Selbstmord-Kommandos, die bei der Einnahme von Tobruk und Bardia beteiligt waren. Später nahm ein Bataillon palästinischer Juden an der heldenhaften Verteidigung von Tobruk teil.

Sie kämpften in Italien, in Griechenland, in Kreta und in den Niederlanden. Tausende von ihnen waren Angehörige der Royal Air Force. Die Hagana hielt die Araber in Palästina in Schach. Sie kämpften in der Wüste und waren bei der Einnahme von Siddi Barrani, von Sollum und Fort Capuzzo dabei.

Jüdische Selbstmord-Einheiten wurden ihrer besonderen Tapferkeit wegen bei den Kämpfen in Eritrea und Äthiopien verwendet. Dreitausend Juden aus Palästina kämpften bei den tschechischen, den holländischen, den französischen, ja sogar bei den polnischen Widerstandskämpfern mit. Ein Selbstmord-Kommando, nur aus Juden bestehend, machte sich auf, um die Ölraffinerie von Tripolis zu zerstören. Sämtliche Mitglieder des Kommandos fanden dabei den Tod. Juden wurden von den Engländern auch für besondere Spionageaufgaben verwendet. Deutsche Juden wurden in deutsche Uniformen gesteckt und arbeiteten direkt in Rommels Hauptquartier. Juden bewachten die Erdölfelder von Mossul gegen die beständigen Versuche der Araber, die Produktion zu stören.

Als die Engländer Spione auf dem Balkan brauchten, wandten sie sich an die Juden und bildeten sie zu Fallschirmspringern aus. Sie gingen dabei von der Überlegung aus, daß ein jüdischer Agent, den man irgendwo mit dem Fallschirm abspringen ließ, von allen anderen Juden in dem betreffenden Land in Schutz genommen werden würde. Eine ganze Reihe solcher Agenten sprangen mit dem Fallschirm ab — nur wenige kamen wieder zurück. Ein Mädchen, Hanna Senesch, aus Joab Yarkonis Kibbuz, wurde mit dem Fallschirm über Ungarn abgeworfen und geschnappt. Sie wurde zur Märtyrerin, da sie sich selbst unter den grausamsten Folterungen durch die Nazis bis zu ihrem Tode standhaft weigerte, irgend etwas zu verraten.

Die jüdische Bevölkerung von Palästina schlug sich heldenhaft und verdiente sich ihren Ruhm. Doch während die Engländer im ersten Weltkrieg die Revolte der Araber über den grünen Klee gelobt hatten, so versuchten sie jetzt die Leistungen des Jischuw im zweiten Weltkrieg unter den Scheffel zu stellen. Kein anderes Land leistete einen so entschiedenen Kriegsbeitrag wie die Juden. Doch die englische Regierung wollte vermeiden, daß die Juden diesen Beitrag später einmal für die Sache ihrer nationalen Heimat ausschlachteten. Daher bewahrten Whitehall und Chatham House den Kriegsbeitrag der Juden von Palästina als eines der bestgehüteten Kriegsgeheimnisse.

Als sich das Kriegsglück zugunsten der Engländer wendete, warteten die Araber nicht mehr darauf, daß die Deutschen kommen sollten, um sie zu befreien. Sie beeilten sich vielmehr, Deutschland den Krieg zu erklären. Der eigentliche Zweck dieser arabischen Kriegserklärung war, bei den kommenden Friedenskonferenzen eine Stimme zu haben und gegen die Zionisten arbeiten zu können, die keine Stimme hatten.

Weder der hervorragende Beitrag der Juden noch der Verrat der Araber, die keinen Finger für den Sieg der Alliierten gerührt hatten, konnte die Engländer bewegen, ihre Palästinapolitik zu revidieren. Selbst die grauenhafte Nachricht von der Ermordung von sechs Millionen Juden vermochte die Engländer nicht zu veranlassen, den wenigen Überlebenden die Einreise nach Palästina zu gestatten.

Die Hagana wurde unruhig. Ihre Angehörigen bestanden jetzt zu einem großen Teil aus Soldaten mit Fronterfahrung. Doch nicht die Hagana, sondern die Makkabäer waren es, die den mit den Engländern geschlossenen Burgfrieden aufkündigten! Eine rasche Folge terroristischer Bombenattentate ließ ganz Palästina erzittern und die Engländer erneut die Sicherheit ihrer Teggart-Forts aufsuchen. Die Makkabäer, deren Mitglieder jetzt in die Tausende gingen, jagten eine britische Anlage nach der anderen in die Luft. General Haven-Hurst nahm sich die Makkabäer vor. Es gelang ihm mit überraschender Schnelligkeit, mehrere hundert führender Makkabäer festzunehmen und nach dem Sudan zu deportieren. Doch Akiba und seine Leute ließen sich dadurch nicht einschüchtern. Haven-Hurst gab Befehl, alle Makkabäer, deren man habhaft wurde, auszupeitschen. Die Makkabäer schlugen zurück, indem sie britische Soldaten fingen und öffentlich auspeitschen ließen.

Die Engländer gingen dazu über, gefangene Makkabäer aufzuhängen. Nun hängten die Makkabäer britische Soldaten auf. Ein Dutzend ausgesprochen judenfeindlicher britischer Offiziere fiel den Gewehrschüssen oder den Handgranaten der Makkabäer zum Opfer. Die Araber antworteten auf die Maßnahmen der Makkabäer mit wildem Morden. Das Heilige Land erzitterte unter dem Terror. Hadsch Amin el Husseini wurde von der jugoslawischen Regie auf die Liste der Kriegsverbrecher gesetzt. Er hatte sich zum Oberhaupt der jugoslawischen Moslems gemacht, die auf deutscher Seite gekämpft hatten. Hadsch Amin wurde in Frankreich verhaftet. Doch die Engländer, denen daran gelegen war, daß der Mufti am Leben blieb, damit er notfalls in Palästina neue Unruhen inszeniere, waren ihm behilflich, nach Ägypten zu entfliehen, wo man ihn als heldenhaften Kämpfer für die Sache des Islams willkommen hieß. In Palästina brachte sein Neffe Gamal die Macht über die dortigen Araber an sich.

Eine neue Phase der Geschichte brachte die Vereinigten Staaten als neue Großmacht in den Blickpunkt des Interesses im Nahen Osten. Da die europäischen Juden außerdem größtenteils vernichtet waren, wurden einfach nach dem Prinzip der Auslese die amerikanischen Juden zu den führenden Männern der zionistischen WeltOrganisation. Die Engländer machten daher den Vorschlag, in Palästina einen anglo-amerikanischen Untersuchungsausschuß einzusetzen. Dieser aus Engländern und Amerikanern zusammengesetzte Ausschuß stellte erneut umfangreiche Ermittlungen über die arabische und die jüdische Situation in Palästina an. Er besuchte außerdem die Flüchtlingslager in Europa, und er kam zu dem einzig möglichen und menschlichen Schluß, daß man unverzüglich hunderttausend Juden die Einreise nach Palästina gestatten müßte.

Die Engländer betrachteten dies als unerhörte Zumutung. Eine solche Maßnahme kam für sie nur in Frage, wenn die Hagana und der Palmach unverzüglich aufgelöst wurden. Sie fanden eine ganze Reihe weiterer Gründe, um die Empfehlungen der Kommission nicht zu befolgen.

Dem Jischuw-Zentralrat riß endlich die Geduld. Er setzte die Männer des Palmach und der Hagana in Bewegung, die eine Reihe von vernichtenden Überfällen auf britische Positionen vornahmen. Daraufhin brachten die Engländer Zehntausende von Fronttruppen nach Palästina und verwandelten das Land in einen Polizeistaat. Sie veranstalteten eine Großrazzia, bei der sie mehrere Hundert der prominenten Führer verhafteten und in das Latrun-Gefängnis warfen. In einem groß durchgeführten Gegenschlag sprengte die Hagana in einer einzigen Nacht sämtliche Brücken an den Grenzen von Palästina. Mossad Aliyah Bet ging mit immer größerer Energie gegen die britische Blockade an. Schließlich hielt sogar der englische Außenminister eine antisemitische Rede und verbot jede weitere Einwanderung.

Die Antwort darauf wurde ihm von den Makkabäern erteilt. Das englische Hauptquartier in Jerusalem befand sich im rechten Flügel des King-David-Hotels. Dieses Hotel lag in dem neuen Teil von Jerusalem, und seine Hinterfront und der Garten gingen auf die alte Stadtmauer. Ein Dutzend Makkabäer, als Araber verkleidet, kamen mit mehreren Dutzend riesiger Milchkannen, die sie in den Keller des Hotels brachten. Sie waren mit Dynamit gefüllt und wurden unter dem rechten Flügel des Hotels placiert, in dem sich das britische Hauptquartier befand. Die Makkabäer stellten die Zeitzünder ein, machten sich aus dem Staube und gaben den Engländern telefonisch den Rat, das Gebäude zu verlassen. Die Engländer lachten über diese Zumutung. Sie waren überzeugt, daß sich die Makkabäer diesmal nur über sie lustig machen wollten. Sie würden es gewiß nicht wagen, etwas gegen das britische Hauptquartier zu unternehmen!

Wenige Minuten später gab es eine Explosion, die in ganz Palästina zu hören war. Der rechte Flügel des King-David-Hotels war in die Luft geflogen!

XIX.

Die Exodus wurde zum Auslaufen nach Palästina klargemacht. Ari setzte als Zeitpunkt der Abfahrt den Morgen nach der ChanukkaFeier fest, die die Direktion des Dom-Hotels auf der Hotelterrasse abhielt.

Auf der Terrasse war die Festtafel für dreihundert Personen gedeckt. Die kleine jüdische Gemeinde von Zypern und die Crew der Exodus saßen an einem langen Tisch am Kopfende. Es herrschte großer Jubel, als die Kinder in ihren neuen Kleidern auf die Terrasse gelaufen kamen und von der Bevölkerung und den Soldaten der britischen Garnison mit Geschenken überhäuft wurden. Jedes der Kinder nahm eines der Geschenke für sich selbst, alle übrigen Pakete adressierten sie an Insassen des Lagers bei Caraolos. Die Tische quollen über von Speisen und Leckereien, und die Kinder jauchzten vor Vergnügen. Die schreckliche Zeit des Hungerstreiks lag hinter ihnen. Sie hatten die schwere Prüfung bestanden wie Erwachsene, und jetzt durften sie sich völlig ungehemmt wie glückliche Kinder benehmen. Rings um die Terrasse standen Dutzende neugieriger Griechen und englischer Soldaten und sahen der Feier zu. Karen suchte verzweifelt nach Kitty und strahlte, als sie sie ganz in der Nähe am Geländer der Terrasse mit Mark Parker stehen sah.

»Komm her, Kitty«, rief sie, »hier ist ein Platz für dich.«

»Nein«, sagte Kitty, »das ist euer Fest. Ich bin heute nur Zuschauer.«

Als alle Kinder ihre Pakete geöffnet hatten, erhob sich David ben Ami am Kopfende der Tafel. Es wurde sehr still auf der Terrasse, als er zu reden anfing. Nur das gleichmäßige Rauschen der Brandüng war noch zu hören.

»Heute abend feiern wir den ersten Tag des Chanukka-Festes«, sagte David. »Wir begehen dieses Fest zum ehrenden Angedenken an Juda Makkabi und seine mutigen und gläubigen Brüder und Mitstreiter, die von den Bergen Judäas herabgestiegen waren, um gegen die Griechen zu kämpfen, die unser Volk unterdrückten.« Einige der Jugendlichen applaudierten.

»Juda Makkabi hatte nur eine schwache Schar von Streitern zur Verfügung, und es war eigentlich unsinnig, es mit einem so überlegenen und machtvollen Gegner wie den Griechen aufzunehmen, die die ganze damalige Welt beherrschten. Doch Juda Makkabi vertraute auf seine gute Sache. Er glaubte daran, daß ihm der alleinige, der wahre Gott den Weg weisen werde. Juda war ein großartiger Kriegsmann. Immer wieder verstand er es, die Griechen zu überlisten. Und seine Männer waren überragende Streiter, denn ihre Herzen waren erfüllt vom Glauben an Gott. Die Makkabäer berannten Jerusalem, nahmen es im Sturm und vertrieben die Griechen aus Kleinasien.«

Stürmischer Beifall.

»Juda begab sich mit seinen Streitern in den Tempel, ließ die Statue des Zeus hinauswerfen und weihte den Tempel erneut dem einzigen wahren Gott — demselben Gott, der uns allen in unserem Kampf gegen die Engländer geholfen hat.«

David sprach weiter und berichtete von der Wiedergeburt der jüdischen Nation, und Kitty Fremont hörte ihm zu. Sie sah Karen an und Dov Landau — und sie sah Mark an und senkte den Blick. Dann bemerkte sie, daß jemand neben ihr stand. Es war Brigadier Bruce Sutherland.

»Heute abend entzünden wir die erste Kerze der Menora. Jeden Abend werden wir eine weitere Kerze entzünden, bis es acht sind. Wir nennen Chanukka das Fest der Lichter.«

David ben Ami entzündete die erste Kerze, und die Kinder sagten »Oh« und »Ah«.

»Morgen abend werden wir die zweite Chanukka-Kerze auf hoher See anzünden, und am Abend darauf die dritte in Erez Israel.«

David bedeckte den Kopf mit einer Kappe und schlug die Bibel auf. »Der Herr ist mein Hirte; Er schläft und schlummert nicht.«

Die alte Schiffsmaschine ächzte, als die Exodus rückwärts in die Mitte des Hafens von Kyrenia glitt, wendete und Kurs hinaus auf das Meer nahm, in Richtung Palästina.

Am Morgen des zweiten Tages kam Land in Sicht.

»Palästina!«

»Erez Israel!«

Die Kinder riefen aufgeregt durcheinander, jauchzten, lachten und sangen.

Auch für die Leute an Land wurde die Exodus sichtbar, und wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht unter den Juden von Palästina. Die Kinder kamen, die das mächtige Britische Empire in die Knie gezwungen hatten.

Die Exodus tuckerte in den Hafen von Haifa, empfangen von einem vielstimmigen Blas- und Pfeifkonzert. Der Salut lief von Haifa durch die Ortschaften, die Kibuzzim und Moschawim, bis zu dem Gebäude des Jischuw-Zentralrats in Jerusalem.

Fünfundzwanzigtausend Juden strömten zum Hafen, um das altersschwache kleine Fahrzeug zu begrüßen. Das jüdische Philharmonische Orchester spielte die jüdische Nationalhymne — »Hatikwa«, die Hoffnung.

Karen Hansen-Clement liefen die Tränen über die Wangen, während sie Kitty ansah.

Die Exodus war heimgekehrt!

Загрузка...