FÜNFTES BUCH MIT FLÜGELN WIE ADLER

Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.

JESAJA


I.

Der gesamte Maschinenpark der Arctic Circle Airways in Nome, Alaska, bestand aus drei ausrangierten Transportmaschinen der U.S. Army, die Stretch Thompson auf Kredit gekauft hatte.

Stretch war während des Krieges als Soldat in Alaska gewesen. Er galt als ein junger Mann, dessen Phantasie unerschöpflich war, wenn es sich darum handelte, Mittel und Wege zu finden, um sich vor ehrlicher Arbeit zu drücken. Die Nächte in Alaska waren lang, und Stretch Thompson hatte viel Zeit, nachzudenken. Die meiste Zeit dachte er darüber nach, wie man den ungenutzten Reichtum von Alaska ausbeuten könne, ohne zu arbeiten. Je länger die Nächte wurden, desto eifriger dachte Stretch nach. Eines Nachts hatte er es: Krebse.

An der ganzen Küste von Alaska wimmelte es von Königskrebsen, die bisher noch niemand in ihrer Ruhe gestört hatte. Es waren Tiere, die teilweise einen Durchmesser von dreißig bis vierzig Zentimetern erreichten. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn man das amerikanische Publikum mit ein bißchen Unternehmungsgeist nicht dazu bringen konnte, sich nach diesen Krebsen die Finger zu lecken. Innerhalb eines Jahres würde er daraus eine ebenso begehrte Delikatesse machen wie Hummer, Schildkröten oder Muscheln. Man konnte die riesigen Schalentiere in Eis verpackt per Flugzeug in die Vereinigten Staaten bringen. Eifrige Einzelhändler würden ihm die Ware aus den Händen reißen. Er würde reich werden, reich und berühmt: Stretch Thompson, der Königskrebsekönig.

Die Sache klappte nicht ganz so, wie Stretch sie sich gedacht hatte. Offenbar war die menschliche Rasse noch nicht genügend entwickelt, um den richtigen Sinn für seine Krebse zu haben. Die Kosten für ein Flugzeug, das Benzin und den Piloten schienen immer etwas mehr auszumachen als das, was er an den Krebsen verdiente. Aber Stretch war kein Mann, der die Flinte ins Korn warf. Mit geschickter Buchführung und kesser Schnauze verstand er es, sich seine Gläubiger vom Halse zu halten. Er war nun einmal Inhaber einer Airline, und er blieb es auch. Irgendwie gelang es ihm, die drei Maschinen der Arctic Circle in Gang zu halten. Jedesmal, wenn ihm das Wasser bis an den Hals stieg, kam irgendeine gutbezahlte Fracht, die ihn über die Runden brachte.

Der einzige dauerhafte Aktivposten in Stretch Thompsons Rechnung war sein erster und gelegentlich einziger Pilot, Fester J. MacWilliams, genannt »Tex« — weil er aus Texas war. Foster J. war, wie Stretch es ausdrückte, »der verdammt beste Chefpilot, den irgendeine verdammte Fluglinie jemals gehabt hatte«. Der Ruf, der Foster J. MacWilliams vorausging, war ungewöhnlich. Niemand in Nome hatte Lust, mit ihm darüber zu wetten, daß er mit einer C-47 im dicksten Schneesturm auf dem schmalen Ende eines Eisberges nicht landen könne, dazu in betrunkenem Zustand. Tatsächlich hatte Stretch mehrmals versucht, genügend Leute zusammenzubekommen, die dagegen hielten, damit sich die Sache auch lohne; aber irgendwie kam immer irgend etwas dazwischen — entweder ließ der Schneesturm nach, oder es gelang Foster nicht, richtig besoffen zu werden.

MacWilliams war ein Vagabund. Und er war ein begeisterter Flieger. Er hatte nichts für zahme Sachen übrig, etwa mit erstklassigen Maschinen nach festem Fahrplan bestimmte Strecken abzufliegen. Viel zu langweilig. Ihm machte es nur Spaß, wenn ein Risiko dabei war, und in diesem Punkt kam er bei der Arctic Circle auf seine Kosten.

Eines Tages kam er in die Bretterbude am Ende der Rollbahn, die gleichzeitig das Büro, die Flugleitung und die Wohnung von Stretch Thompson darstellte.

»Tag, Stretch«, sagte er. »Eine Saukälte heute mal wieder.«

Stretch saß da und machte ein Gesicht wie eine Katze, die eben den Kanarienvogel der Familie gefressen hat. »Hättest du nicht Lust, Foster«, sagte er, »deine Tätigkeit in ein wärmeres Klima zu verlegen und deine gesamte Löhnung auf einmal ausgezahlt zu bekommen?«

»Laß deine unangebrachten Witze.«

»Nein, Tex, ganz im Ernst. Du ahnst es nicht —.«

»Was denn?«

»Rate mal.«

Foster zuckte die Schultern. »Du hast den Laden verkauft.«

»So ist es.«

Bester blieb der Mund offenstehen. »Und wem hast du die Klamotten angedreht?«

»Ich habe die Leute nicht nach ihrem Lebenslauf gefragt. Ich stellte fest, ihr Geld war gut — und das genügte mir, sagte das Mädchen.« »Ich werd' verrückt. Aber das ist prima, Stretch, denn die Sache hier oben wurde mir allmählich sowieso langweilig. Was meinst du denn, wieviel du mir schuldest?«

»Mit der Zulage, die ich dir gebe, ungefähr viertausend.«

Fester J. MacWilliams stieß einen leisen Pfiff aus. »Das reicht für eine Menge Schnaps, genug, um auf der ganzen Reise bis nach Südamerika nicht einmal nüchtern zu werden. Das ist nämlich meine nächste Station, Stretch. Ich will bei einer von diesen südamerikanischen Firmen anheuern. Wie ich höre, bezahlen die einem schweres bares Geld, wenn man Dynamit über die Anden schaukelt.«

»Die Sache hat allerdings einen Haken«, sagte Stretch.

»Hatte ich mir beinah schon gedacht.«

»Wir müssen die drei Maschinen bei dem neuen Eigentümer abliefern. Ich habe zwei Jungens angeheuert, die die Nummer Eins und die Nummer Zwei hinfliegen—und jetzt finde ich keinen Dritten.«

»Du meinst wohl, daß es außer mir niemanden gibt, der idiotisch genug ist, die Nummer Drei zu fliegen. Geht in Ordnung. Und wo soll ich die Kiste abliefern?«

»In Israel.«

»Wo?«

»Israel.«

»Nie gehört.«

»Ich suchte auch gerade auf der Karte danach, als du 'reinkamst.«

Stretch Thompson und Fester J. MacWilliams suchten kreuz und quer auf der Weltkarte. Als sie es nach einer halben Stunde noch immer nicht gefunden hatten, schüttelte Tex den Kopf und sagte: »Du, Stretch, mir scheint, da hat dir einer einen Bären aufgebunden.« Beide begaben sich nach Nome und fragten in den verschiedenen Kneipen, wo dieses Israel wohl sein könnte. Der eine oder andere hatte irgend etwas darüber gehört, aber Genaues wußte niemand. Stretch begann trotz der Kälte allmählich der Schweiß auszubrechen, bis schließlich jemand vorschlug, sie sollten doch mal den Bibliothekar wecken.

»Das ist Palästina!« sagte der Bibliothekar wütend. »Und Mitternacht ist keine Zeit, mich herauszutrommeln.«

Sie suchten erneut auf der Karte, und schließlich fanden sie es. »Teufel auch, Stretch«, sagte Fester und schüttelte bedenklich den Kopf. »Das ist ja kleiner als ein mittlerer Eisberg. Wenn man da nicht verdammt genau aufpaßt, fliegt man glatt darüber weg.«

Drei Wochen später landete Fester J. MacWilliams mit der Maschine Nummer Drei der Arctic Circle Airways auf dem Flugplatz Lydda. Stretch Thompson, der eine Woche früher geflogen war, nahm ihn in Empfang und führte ihn in ein Büro, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift hing: PALESTINE CENTRAL AIRWAYS, S. S. THOMPSON, GENERAL MANAGER.

»Freu' mich riesig, dich zu sehen, alter Junge! Na, und wie war der Flug?«

»Oh, prima. Ja, Alter, wenn du mir jetzt vielleicht meinen rückständigen Lohn auszahlen könntest — ich will mit der nächsten Gelegenheit weiter nach Paris. Ich hab' da eine ganz kesse Sache aufgetan und noch einen Monat Zeit, bevor ich nach Rio gehe.« »Aber sicher«, sagte Stretch. »Dein Geld liegt hier im Safe bereit.« Foster McWilliams machte große Augen, als er die Scheine zählte. »Mann — vier Tausender und fünf Hunderter!«

»Die fünfhundert habe ich zugelegt, um dir zu zeigen, daß Stretch Thompson kein Knicker ist«, sagte Stretch.

»Bist ein prima Kerl — hab' ich schon immer gesagt.«

»Übrigens, Tex, das ist 'ne interessante Gegend hier. Beinah jeder, der hier 'rumläuft, ist ein Jude. Bin jetzt schon seit einer Woche hier, und kann mich noch immer nicht so richtig dran gewöhnen.«

Foster wollte Stretch nicht fragen, wieso er eigentlich hier war — aber dann fragte er ihn doch.

»Sieh dir den Namen an der Tür an, dann weißt du alles. Palestine Central Airways — hab' ich mir selber ausgedacht. Siehst du, diese Burschen hier haben nicht allzuviel Ahnung, wie man eine erstklassige Fluglinie organisiert, und deshalb haben sie mich gefragt, ob ich die Sache in die Hand nehmen wollte. Das erste, was ich ihnen gesagt habe — Jungens, sagte ich, wenn ihr einen erstklassigen Flugdienst haben wollt, dann braucht ihr dazu einen erstklassigen Chefpiloten, und ich kann euch den verdammt besten Chefpiloten verschaffen, den irgendeine verdammte Airline jemals —.«

»Also, dann bis zum nächstenmal«, sagte Foster und stand rasch auf.

»Wo brennt's denn?«

»Ich bin auf dem Weg nach Paris.«

»Ich habe dir einen geschäftlichen Vorschlag zu machen.«

»Bin nicht interessiert.«

»Tu mir den Gefallen und hör dir die Sache wenigstens an.«

»Also gut, ich höre sie mir an, aber ich steige nicht ein. Ich gehe nach Paris, und wenn ich hinschwimmen müßte.«

»Hör zu. Wie schon gesagt, die Leute hier sind alles Juden. Sie haben die Arctic Circle gekauft, um noch mehr Juden herzubringen. Mann, überall auf der ganzen Welt sitzen welche von denen 'rum, und alle wollen sie hierher. Wir haben weiter nichts zu tun, als sie einzuladen und 'ranzubringen. Begreifst du denn das gar nicht? Jede Fuhre bringt gutes Geld — bar auf die Hand. Das ist eine einmalige Chance, mein Junge. Mach mit, und du schwimmst im Geld. Du kennst mich doch, Tex. Du weißt, ich erzähle keine Märchen und — ich bin kein Knicker.«

»Ich weiß, in was ich schwimmen werde. Ich schick dir mal 'ne Ansichtskarte aus Rio.«

»O. K., Foster — hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Nun sei nicht gleich böse, Stretch.«

»Böse? Wer ist denn böse?«

»War doch nett, die Zeit da oben in Nome.«

»Sicher — war prima. Hab' mir in der Saukälte alles mögliche abgefroren.«

»Dann leg dir 'ne Wärmflasche drauf«, sagte Foster und streckte die Hand aus. Stretch schüttelte sie mißmutig.

»Was hast du eigentlich, Stretch? Du tust, als würde ich dir ein Messer zwischen die Rippen rennen.«

»Ich will ganz aufrichtig sein, Foster. Ich sitze in der Klemme. Wir haben ein brandeiliges Telegramm bekommen, daß ein ganzer Haufen von diesen Juden in einem Ort namens Aden herumsitzt und darauf wartet, abgeholt zu werden. Ich hatte ein paar Piloten angeheuert, aber die haben mich sitzenlassen.«

»Das ist Pech. Aber mich kriegst du nicht 'rum. Ich gehe nach Paris.«

»Klar«, sagte Stretch. »Fahr nach Paris. Das würde ich an deiner Stelle auch tun. Ich nehm es dir nicht übel. Diese anderen Piloten bekamen es mit der Angst zu tun, als sie hörten, die Araber könnten unter Umständen auf sie schießen.«

Foster, der schon auf dem Weg zur Tür war, blieb stehen und drehte sich um.

»Du hast recht, Foster«, sagte Stretch, »hat ja keinen Sinn, daß du dir hier einen verpletten läßt. Das ist wirklich 'ne gefährliche Kiste — noch ein bißchen gefährlicher, als mit Dynamit über die Anden zu fliegen.«

Foster J. Mac Williams fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Stretch zog noch ein paar dramatische Register, doch er wußte, daß Foster schon angebissen hatte.

»Also, Stretch, ich will dir mal was sagen. Ich werde diese eine Tour für dich machen, um dir aus der Klemme zu helfen. Aber sieh zu, daß du ein paar Piloten erwischst, bis ich zurück bin. Ich mache nur diese eine Tour. Und wo liegt nun dieses Aden?«

»Keine Ahnung.«

»Dann wollen wir mal auf der Karte nachsehen.«

Als Fester J. MacWilliams, amerikanischer Tramp-Pilot der Palestine Central, vormals Arctic Circle, vom Flugplatz Lydda startete, begab er sich in ein Abenteuer des zwanzigsten Jahrhunderts, das so phantastisch war wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Er flog das Rote Meer hinunter, zum britischen Protektorat Aden am Südende der Arabischen Halbinsel. Genaugenommen hatte dieses Abenteuer vor dreitausend Jahren in dem alten Königreich Saba begonnen. Zur Zeit der Königin von Saba war der südliche Teil der Arabischen Halbinsel ein reiches Land gewesen. Die Bewohner dieses Landes hatten die Kunst erlernt, Abflußkanäle, Dämme und Zisternen zu bauen, um das Regenwasser aufzufangen, und hatten mit diesem Wasser das Land in einen blühenden Garten verwandelt.

Nach dem Besuch der Königin von Saba bei König Salomon machten sich einige von Salomons Leuten auf den Weg nach Saba, um längs des Roten Meeres eine Handelsstraße durch die Wüste zu eröffnen und in Saba eine Kolonie zu gründen. Diese Juden kamen schon in biblischer Zeit nach Saba, Jahrhunderte vor der Zerstörung des ersten Tempels.

Jahrhundertelang ging es den Juden in Saba sehr gut. Sie wohnten als wohlhabende Kolonisten in eigenen Siedlungen, und sie nahmen regen Anteil am Leben ihrer Umwelt. Sie stellten die obersten Richter und gehörten mit zu den angesehensten Bürgern des Landes. Doch dann kamen die schrecklichen Jahre. Der Sand der Wüste verschlang langsam und unaufhaltsam die fruchtbaren Böden. Die Wadis trockneten aus, und das Regenwasser verschwand spurlos in der verdorrten Erde. Menschen und Tiere schmachteten unter der erbarmungslosen Sonne, und der Kampf um einen Schluck Wasser wurde gleichbedeutend mit dem Kampf ums Leben. Das blühende Saba und die benachbarten Staaten zerfielen in feindliche Stämme, die sich ständig untereinander befehdeten. Als der Islam siegreich die Welt überzog, respektierte er zunächst die religiöse und kulturelle Eigenart der Juden. Die Gesetze, die Mohammed erließ und an die alle Moslems gebunden waren, ordneten an, den Juden freundlich zu begegnen.

Doch diese Gleichberechtigung der Juden war nur von kurzer Dauer. Bald sah man in allen islamischen Ländern auf jeden, der kein Moslem war, mit Geringschätzung herab wie auf einen Ungläubigen. Die Araber zollten den Juden, wenn auch widerwillig, einen gewissen Respekt und behandelten sie auch, auf arabische Weise, mit einer gewissen Toleranz. Trotzdem kam es auch hier zu blutigen Ausschreitungen, doch niemals in der Form planmäßigen Massenmords wie in Europa. Es handelte sich mehr um plötzliche Ausbrüche der Gewalttätigkeit. Auch waren die Araber viel zu sehr damit beschäftigt, sich untereinander zu befehden, als daß sie den freundlichen kleinen Juden in dem Teil des Landes, der inzwischen nicht mehr Saba, sondern Jemen hieß, allzuviel Aufmerksamkeit hätten schenken können.

Wie in allen arabischen Ländern waren auch die Juden im Jemen Bürger zweiter Ordnung. Sie unterlagen den üblichen Beschränkungen, man legte ihnen höhere Steuern auf und räumte ihnen geringere Rechte ein als den Moslems. Sie waren Verfolgungen ausgesetzt, wobei die Art und der Grad dieser Verfolgungen in den verschiedenen Gebieten und unter den verschiedenen Herrschern unterschiedlich waren.

Ein Jude durfte in Gegenwart eines Moslems seine Stimme nicht erheben, er durfte kein Haus bauen, das höher war als das Haus eines Moslems, er durfte einen Moslem nicht berühren und auch nicht an seiner rechten Seite vorbeigehen. Ein Jude durfte nicht auf einem Kamel reiten, weil er dabei das Haupt höher getragen hätte als ein Moslem. In einem Land, in dem das Kamel das entscheidende Fortbewegungsmittel war, war das eine sehr spürbare Einschränkung. Die meisten Juden lebten in »Mellahs«, der orientalischen Art des Ghettos.

Die Welt veränderte und entwickelte sich. Im Jemen stand die Zeit still. Das Land blieb so primitiv wie der Dschungel, so fern und unerreichbar wie Nepal oder die äußere Mongolei. Es gab im Jemen kein Krankenhaus, keine Schule und keine Zeitung, weder Radio noch Telefon oder Autostraßen. Es war ein Land wüster Einöden und unzugänglicher Hochgebirge. Einsame Ortschaften lagen in mehr als dreitausend Meter Höhe, rings umgeben von völliger Wildnis. Fast alle Bewohner waren Analphabeten. Nicht einmal alle Grenzen dieses rückständigen, von Gott und der Welt verlassenen Landes waren genau festgelegt worden.

Regiert wurde Jemen von einem Imam, der ein Verwandter Mohammeds und der Stellvertreter Allahs, des Barmherzigen, war. Der Imam von Jemen war ein absoluter Herrscher. Er hatte die Macht über Leben und Tod aller seiner Untertanen. Er war keinem Kabinett verantwortlich. Er hielt sich an der Macht, indem er geschickt die einzelnen Stämme gegeneinander ausspielte, die beständig miteinander im Streit lagen. Er hatte an seinem Hof Hunderte von Sklaven. Er verabscheute die Zivilisation und tat alles, was in seiner Macht stand, um zu verhindern, daß zivilisatorische Neuerungen Eingang in sein Reich fanden, obwohl er gelegentlich, aus Angst vor seinem mächtigen saudi-arabischen Nachbarn im Norden, dessen Herrscher sich aus Liebhaberei am internationalen Ränkespiel beteiligten, Konzessionen machen mußte.

Die Furcht des Imam vor der Zivilisation hatte ihren Grund teilweise darin, daß die Zivilisation ein begehrliches Auge auf sein Land geworfen hatte. So verlassen dieses Land auch war, so lag es doch an einer Ecke der Welt, die einen Zugang zum Orient durch das Rote Meer darstellte.

Den Juden gegenüber spielte der Imam die Rolle des wohlwollenden Despoten. Solange die Juden unterwürfig und dienstwillig waren, genossen sie einen gewissen Schutz; denn die Juden stellten die besten Handwerker, die es im Jemen gab. Sie waren Silberschmiede, Juweliere, Kürschner, Tischler und Schuhmacher, und sie überlieferten von Generation zu Generation alle möglichen handwerklichen Künste, die die meisten Araber nicht erlernt hatten. Daß die Juden von Jemen Juden blieben, war allerdings erstaunlich. Dreitausend Jahre lang lebten diese Menschen ohne jeden Kontakt mit der äußeren Welt. Sie hätten es sehr viel einfacher gehabt, wenn sie Moslems geworden wären. Doch die jemenitischen Juden hielten durch alle Jahrhunderte der Isolierung hindurch an der Thora fest, befolgten die Gesetze und hielten den Sabbat ein. Viele von ihnen verstanden kein Arabisch, doch alle sprachen Hebräisch. Es gab keine Möglichkeit, Bücher zu drucken; alle heiligen Schriften wurden mit der Hand geschrieben und von Generation zu Generation überliefert.

Ihrer äußeren Erscheinung, ihrem Verhalten und ihrer Denkweise nach hätte man die heutigen Juden von Jemen für Propheten aus biblischen Zeiten halten können. Wie in den Tagen der Bibel betrieben sie noch immer Vielweiberei. Sie glaubten an den bösen Blick, an feindliche Winde und an alle möglichen Dämonen, gegen die sie sich durch das Tragen von Amuletten schützten. Die Bibel befolgten sie buchstabengetreu. Niemals hörten sie auf, mit Sehnsucht ihre Blicke nach Jerusalem zu richten. Jahrhundertelang warteten sie geduldig und ergeben auf das Wort des Herrn, durch das er ihnen befehlen würde, sich aufzumachen und nach Jerusalem zurückzukehren. Von Zeit zu Zeit gelang es kleinen Gruppen oder einzelnen, den Weg aus Jemen hinaus nach Palästina zu finden.

Und dann kam eines Tages das erwartete Wort, genau, wie es die Propheten vorausgesagt hatten.

Nach der Unabhängigkeitserklärung des jüdischen Staates erklärte Jemen Israel den Krieg.

Das war für die Juden von Jemen die Bestätigung, daß die Wiedergeburt Israels Wirklichkeit geworden war. Ihre Rabbis verkündeten ihnen, dies sei Gottes Botschaft; König David sei nach Jerusalem zurückgekehrt! Die lange Zeit des Wartens sei vorbei! Die Chachamim — die Weisen — sagten dem Volk, der Tag des Aufbruchs sei gekommen, um auf Adlerflügeln in das Gelobte Land heimzukehren.

Als die erste Kunde dieses Auszugs der Juden vom Jemen nach Israel drang, war der Freiheitskrieg noch in vollem Gang. Man wußte wenig darüber, wie groß die Anzahl dieser Jemeniten war, wie man sie aus Jemen herausbekommen und was man mit ihnen anfangen sollte.

Im Jemen begab sich der oberste Chacham zum Imam und bat, der Allbarmherzige möge den Juden erlauben, heimzukehren. Dem Imam schien es aus einer Reihe politischer und wirtschaftlicher Gründe besser, die Juden im Lande zu behalten. Daraufhin gab der Chacham dem Imam den guten Rat, sich das Alte Testament vorzunehmen und genau die entsprechenden Kapitel des Buches Exodus zu lesen.

Tagelang saß der Imam mit untergeschlagenen Beinen in seinem Harem und überlegte. Was der Rabbi gesagt hatte, gab ihm zu denken. Sein Herz war schwer bei dem Gedanken an die Zehn Plagen. Erst kürzlich hatte eine Typhusepidemie ein Viertel der Bevölkerung seines Landes hinweggerafft. Der Imam hielt sie für eine Warnung Allahs. Er erklärte sich daher damit einverstanden, daß die Juden das Land verließen, allerdings unter der Bedingung, daß das gesamte jüdische Eigentum an ihn überging, daß die Auswanderer eine Kopfsteuer entrichteten und daß mehrere hundert Handwerker und Spezialisten dablieben, die den Moslems ihre Kunst beibringen sollten.

Die Juden von Jemen verließen Heim und Hof. Sie packten, was sie tragen konnten, in ein Bündel und begaben sich in langen Trecks durch die Wildnis des Gebirges, die Glut der Sonne und die Stürme der Wüste.

Diese freundlichen kleinen Leute mit der olivfarbenen Haut und den feingeschnittenen Gesichtern machten sich auf den Weg zur Grenze des Protektorats Aden. Auf dem Kopf trugen sie einen Turban, und ihre langen gestreiften Gewänder waren von der gleichen Art, wie man sie im Palast des Königs Salomon getragen hatte. Die Frauen waren in schwarze Umhänge mit weißen Rändern gekleidet, und ihre Babys trugen sie in Tüchern auf dem Rücken. So wanderten sie mühsam durch das Land, gehorsam den Worten der Weissagung, eine leichte Beute für die Beduinen, die ihnen ihre kümmerliche Habe als Wegzoll abnahmen.

Ziel des Auszugs der Jemeniten war die Hafenstadt Aden. Die Briten wußten zunächst nicht recht, was sie mit diesen Leuten anfangen sollten, die da in Scharen über die Grenze ihres Protektoratgebiets hereingeströmt kamen. Zwar waren sie auf die Juden wegen des Palästina-Mandats noch immer nicht gut zu sprechen, doch diesen Jemeniten gegenüber vermochten sie keinerlei Haß zu empfinden. Sie erklärten sich bedingt damit einverstanden, daß die Jemeniten ins Land kämen und ein Lager errichteten, vorausgesetzt, daß die Israelis sie in Aden abholten.

Diese Menschen boten einen bejammernswerten Anblick, als sie am Ende ihrer Wanderung angelangt waren. Sie waren zerlumpt, verwahrlost und halbtot vor Hunger und Durst. Was sie mitgenommen hatten, war ihnen von den Arabern gestohlen worden; doch jeder hatte noch seine Bibel bei sich, und jede Dorfgemeinschaft brachte die heilige Thora ihrer Synagoge mit.

In aller Eile wurde in der Nähe von Aden, bei Hashed, ein Lager errichtet. Leute aus Israel patrouillierten an der Grenze zwischen dem Protektorat und Jemen. Sobald die Nachricht von der Ankunft einer weiteren Gruppe eintraf, schickte man eilig Lastwagen an die Grenze, die die Auswanderer nach Hashed brachten. In Hashed fehlte es an Personal und allem anderen. Die Organisatoren waren nicht imstande, mit den Bedürfnissen der herbeiströmenden Massen Schritt zu halten.

Wasserleitung, WC oder elektrisches Licht waren für die Jemeniten unbegreifliche Dinge. Innerhalb von Stunden sahen sich diese Menschen mit dem Fortschritt von fast dreitausend Jahren konfrontiert. Motorisierte Fahrzeuge, westliche Kleidung, Medikamente und tausend andere Dinge waren ihnen fremd und unheimlich.

Die Frauen wehrten sich schreiend, als man versuchte, ihnen die verlausten Lumpen auszuziehen und gegen saubere Kleidung auszutauschen. Sie lehnten es ab, sich untersuchen zu lassen, und protestierten gegen Einspritzungen und Schutzimpfungen. Sie widersetzten sich immer wieder den Pflegern, die versuchten, Kinder, die wegen schwerer Unterernährung dringend behandelt werden mußten, vorübergehend in eine Krankenstation zu bringen. Glücklicherweise fand man wenigstens eine Teillösung, durch die verhindert wurde, daß die Bemühungen der Ärzte und des Pflegepersonals völlig vergeblich waren. Das Pflegepersonal des Lagers, größtenteils Israelis mit einer sehr genauen Kenntnis der Bibel, lernte es sehr bald, zu den Rabbis der Jemeniten zu gehen und sie auf eine passende Bibelstelle hinzuweisen. Mit diesem Mittel ließ sich beinahe alles erreichen. Wenn es nur in »dem Buch« geschrieben stand, waren die Jemeniten mit allem einverstanden. Das Lager von Hashed wurde größer und größer, und von der Grenze meldete man, daß immer neue Gruppen von Jemeniten im Anmarsch waren. Die Provisorische Regierung von Israel mußte die Jemeniten, gemäß der Vereinbarung mit den Engländern, schleunigst aus Aden abtransportieren. So kam es, daß aus den Arctic Circle Airways die Palestine Central Airways wurden, und daß Fester J. Mac Williams, ohne es zu ahnen, eine jahrtausendealte Prophezeiung in Erfüllung gehen ließ, indem er mit dem ersten der »großen Adler« aus dem Himmel zur Erde herniederschwebte.

Die Ankunft des Flugzeuges löste ungeheure Aufregung aus. Die Leute der ersten Gruppe nahmen ihre Thora und ihre Wasserflaschen und begaben sich zum Flugplatz. Sie sahen den Adler und nickten sich bedeutungsvoll zu: Gott hatte ihn gesandt, wie er es versprochen hatte. Doch sie weigerten sich, an Bord zu gehen. Der Rabbi erinnerte daran, daß Sabbat war. Es entspann sich eine aufgeregte Diskussion. Der Lagerleiter erklärte, daß Tausende von Menschen darauf warteten, nach Israel zu kommen, und daß es diesen Menschen gegenüber nicht gerecht wäre, den Adler auch nur einen Tag lang aufzuhalten. Doch was immer man geltend machte, nichts konnte die Jemeniten veranlassen, gegen den Sabbat zu verstoßen. Sie saßen eisern unter den Flügeln des Adlers und waren nicht von der Stelle zu bewegen. Nachdem sie dreitausend Jahre lang gewartet hatten, konnten sie auch diesen einen Tag noch warten.

Fester J. Mac Williams warf einen Blick auf diese sonderbaren Gestalten, hörte sich das unverständliche Palaver an, bedachte Stretch Thompson mit einem kurzen, aber kräftigen Fluch, begab sich in die Stadt und betrank sich sinnlos.

Am nächsten Morgen erwachte er mit einem furchtbaren Kater, da er griechischen Ouzo, Reiswein und Whisky gemixt hatte. Er fuhr mit brummendem Schädel zum Flugplatz. Er sah zu, wie die Jemeniten mit ihren Wasserflaschen und ihrer Thora an Bord gingen. »Heiliger Herr Jesus«, war sein Kommentar zu dieser Prozession. »Herr Flugkapitän«, sagte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und sah sich einem großgewachsenen, gutgebauten Mädchen gegenüber, die sich ihm als Hanna vorstellte. Sie war Mitte Zwanzig, trug die im Kibbuz üblichen blauen Shorts und Sandalen an den Füßen. »Ich fliege mit Ihnen und kümmere mich um die Passagiere.« In diesem Augenblick fing die Sache an, für Fester interessant zu werden. Hanna schien nicht zu bemerken, mit welcher Aufmerksamkeit er sie musterte. »Haben Sie irgendwelche besonderen Anweisungen? Es ist schließlich das erstemal, daß wir mit diesen Leuten einen Flug unternehmen.« »Besondere Anweisungen? Nein. Wenn Sie nur dafür sorgen, daß diese seltsamen Gestalten da nicht nach vorn in die Kanzel kommen. Bei Ihnen ist das natürlich was anderes — Sie sind jederzeit herzlich willkommen. Und bitte nennen Sie mich einfach Tex.«

Fester beobachtete das Einsteigen der Leute. Die Reihe der Jemeniten schien kein Ende zu nehmen. »He — was ist hier eigentlich los! Was denken Sie denn, wieviel von diesen Leuten in der Maschine Platz haben?«

»Auf der Liste stehen hundertvierzig.«

»Sind Sie wahnsinnig? Damit bekomme ich die Kiste nicht vom Boden hoch. Also, Hanna, laufen Sie hin und sagen sie dem, der dafür zuständig ist, er soll die Hälfte wieder ausladen.«

»Aber diese Leute wiegen doch so wenig«, sagte das Mädchen bittend.

»Erdnüsse wiegen auch wenig. Das bedeutet noch lange nicht, daß ich eine Milliarde Erdnüsse einladen könnte.«

»Bitte — ich verspreche Ihnen, daß sie keinerlei Ärger mit ihnen haben werden.«

»Nein, bestimmt nicht. Am Ende der Rollbahn werden wir nämlich alle miteinander tot sein.«

»Herr Flugkapitän — unsere Situation ist verzweifelt. Die Engländer verlangen von uns, daß wir die Leute aus Aden abtransportieren. Jeden Tag kommen Hunderte von ihnen über die Grenze.«

Fester brummte vor sich hin und studierte die Gewichtstabelle. Die israelischen Helfer, die in seiner Nähe standen, hielten den Atem an, während er rechnete. Er beging den Fehler, den Blick zu heben und Hanna in die Augen zu sehen. Er machte einen neuen Überschlag, schummelte dabei ein bißchen und meinte dann, daß er der alten Kiste mit ein bißchen Glück genügend Dampf machen könne, um sie dazu zu bewegen, sich in die Luft zu heben. Und wenn er erst einmal mit ihr oben war, würde er es schon irgendwie fertigbringen, auch oben zu bleiben. »Von mir aus sollen sie einsteigen«, sagte er. »Das ist sowieso meine erste und letzte Tour.«

Der Lagerleiter überreichte ihm die Liste. Insgesamt einhundertzweiundvierzig Jemeniten befanden sich an Bord. Fester stieg die Leiter hinauf.

Der Gestank, der ihm an der Kabinentür entgegenschlug, ließ ihn zurückfahren.

»Wir hatten nicht Zeit, alle Leute zu baden«, sagte Hanna entschuldigend. »Wir wußten nicht, wann Sie kommen würden.« Foster steckte den Kopf durch die Tür. Der Passagierraum war vollgestopft mit den kleinen Leuten. Sie saßen voller Angst auf dem Fußboden.

Der Geruch war grauenhaft.

Foster ging hinein, machte die Tür hinter sich zu und riegelte sie ab. In der unbewegten Luft und in der Hitze von mehr als fünfzig Grad begannen sich die Gerüche voll zu entfalten. Foster stieg über Arme und Beine hinweg und bahnte sich mühsam den Weg nach vorn. Er stieß das Fenster der Kanzel auf, um frische Luft zu bekommen. Er brachte die Motoren auf Touren, und während er mit der Maschine langsam an den Anfang der Startbahn rollte, hielt er den Kopf aus dem Fenster und übergab sich. Er mußte noch immer würgen, als er die Startbahn entlangbrauste und die Maschine im letzten Augenblick mit knapper Not vom Boden losbekam. Er lutschte eine Zitrone, während er sich abmühte, Höhe zu gewinnen. Als kühlere Luft hereinkam, beruhigte sich endlich auch sein Magen wieder.

Die Luft war unruhig, und die Maschine rüttelte heftig im Steigflug. Er »bog um die Ecke« über der Straße von Bab el Mandeb und flog dann geradeaus in Richtung des Roten Meeres, Saudi-Arabien auf der einen und Ägypten auf der anderen Seite.

Hanna kam nach vorn in die Kanzel. Auch ihr war übel. »Können Sie es diesem Flugzeug nicht abgewöhnen, solche Sprünge zu machen?« sagte sie. »Da drin übergeben sich alle.«

Foster stellte die Heizung im Passagierraum ab. »Machen Sie die Luftklappen auf. Ich werde versuchen, noch ein bißchen höher zu gehen. Durch die kalte Luft wird den Leuten wieder besser werden.« Sein Schädel brummte noch immer. Warum hatte er sich bloß von Stretch Thompson überreden lassen!

Nach einer halben Stunde erschien Hanna von neuem. »Jetzt jammern sie alle darüber, daß es so kalt ist — und ich selbst friere auch.«

»Entweder oder — wenn ich die Heizung anstelle, fangen sie wieder an zu kotzen.«

»Dann sollen sie lieber frieren«, sagte Hanna mit matter Stimme und begab sich zu ihren Passagieren zurück.

Wenige Augenblicke später kam sie in die Kanzel gerannt und schrie Fester aufgeregt irgend etwas in hebräischer Sprache zu. »Reden Sie englisch!«

»Feuer!« rief Hanna und zeigte zur Kabine. »Sie haben ein Feuer angemacht, um sich zu wärmen!«

Fester schaltete die automatische Steuerung ein und war mit einem Satz in der Kabine. In der Mitte brannte auf dem Fußboden ein kleines Feuer. Er stieß die freundlichen kleinen Leute wütend beiseite und trat das Feuer aus. Dann ging er zu Hanna, die mit weichen Knien an der Tür der Kanzel lehnte.

»Können Sie sich mit diesen Leuten da irgendwie verständigen?« »Ja, auf Hebräisch.«

Fester drückte ihr das Mikrofon der Sprechanlage in die Hand. »Machen Sie den Leuten gefälligst klar, daß der nächste, der seinen Platz verlassen sollte, sich auf ein Bad im Roten Meer gefaßt machen kann!«

Die Jemeniten hatten noch nie in ihrem Leben einen Lautsprecher zu Gesicht bekommen. Als sie Hannas Stimme hörten, begannen sie alle nach oben zu zeigen, schrien auf und duckten sich angstvoll. »Was ist los? Was haben Sie denen denn erzählt?«

»Sie haben noch nie einen Lautsprecher gehört und meinten, es sei die Stimme Gottes.«

»Sehr gut. Lassen Sie sie ruhig dabei.«

Während der nächsten Stunden verlief alles ziemlich reibungslos. Es gab einige kleinere Zwischenfälle, aber es passierte nichts, was eine Gefahr für die Maschine bedeutet hätte. Foster hatte gerade angefangen, sich ein wenig zu entspannen, als er erneut Lärm aus der Kabine hörte. Er machte die Augen zu. »Lieber Gott«, sagte er seufzend, »ich will in Zukunft ein guter Christ sein — nur laß bitte diesen Tag zu Ende gehen.«

Hanna erschien von neuem bei ihm in der Kanzel.

»Ich wage nicht, zu fragen, was jetzt wieder los ist«, sagte Foster. »Tex«, sagte sie, »Sie sind Patenonkel.«

»Was!«

»Ja, eine der Frauen hat eben einen Sohn geboren.«

»Nein — nein — nein!«

»Sie brauchen sich nicht aufzuregen«, sagte Hanna. »Ein Kind zur Welt zu bringen ist für diese Menschen nichts Besonderes. Mutter und Sohn sind wohlauf.« Fester schloß die Augen und schluckte. Danach passierte eine Stunde lang nichts. Fester kam das verdächtig vor. Die kleinen Leute gewöhnten sich an das Geräusch der Motoren des »Adlers« und nickten einer nach dem anderen ein, erschöpft von all dem Aufregenden, das sie erlebt hatten. Hanna kam mit einer heißen Fleischbrühe zu Foster, und sie lachten gemeinsam über die Ereignisse dieses Tages. Foster hatte eine Menge Fragen an Hanna zu stellen, über die Jemeniten und über den Krieg.

»Wo sind wir jetzt eigentlich?« fragte Hanna schließlich.

Foster, erster Pilot, zweiter Pilot, Nautiker und Funker in einer Person, sah auf die Karte. »Wir werden sehr bald um die Ecke biegen und dann den Golf von Akaba hinauffliegen. Auf dem Flug nach Aden konnte ich die Stellungen in der Wüste sehen.« »Hoffentlich ist der Krieg bald zu Ende.«

»Ja, Krieg ist 'ne üble Sache. Sagen Sie mal, wie sind Sie eigentlich zu diesem Job hier gekommen? Ganz gleich, was Ihnen die Leute zahlen, Ihre Arbeit ist das Doppelte wert.«

Hanna lächelte. »Ich werde dafür nicht bezahlt.«

»Sie werden nicht dafür bezahlt?«

»Nein, es ist ein Auftrag, den ich ausführe. Möglicherweise gehe ich mit diesen Leuten hinaus aufs Land, um irgendwo eine Siedlung zu errichten, vielleicht aber fliege ich auf dieser Route auch weiter.« »Ich verstehe kein Wort.«

»Es ist schwer zu erklären. Und für einen Außenstehenden ist es manchmal auch kaum zu verstehen. Geld bedeutet uns nichts. Aber diese Menschen nach Israel hereinzubekommen, das bedeutet uns alles. Vielleicht kann ich es Ihnen irgendwann einmal noch besser erklären.«

Foster zuckte die Achseln. Lauter sonderbare Sachen erlebte er da. Aber schließlich, was ging es ihn an. Ein interessanter Flug, aber eine einzige solche Tour war genug.

Nach einer Weile zeigte er nach unten. »Das da ist Israel«, sagte er. Hanna griff hastig nach dem Mikrofon.

»He, was haben Sie denn vor!«

»Bitte, Tex, erlauben Sie mir, es den Leuten zu sagen. Sie haben so lange auf diesen Augenblick gewartet—jahrtausendelang.«

»Sie werden die Maschine in Stücke schlagen!«

»Ich werde dafür sorgen, daß sie ruhig bleiben — das verspreche ich Ihnen.«

»Also gut — erzählen Sie es den Leuten.«

Er schaltete erneut die automatische Steuerung ein und ging an die Tür zur Kabine, um sich davon zu überzeugen, daß seine Passagiere die Maschine nicht in die Luft sprengten.

Hanna machte die Durchsage.

Es erhob sich ein unvorstellbarer Jubel. Die Menschen weinten, sangen, lachten, beteten. Sie umarmten sich und jauchzten vor Freude.

»Mein Gott«, meinte Fester erstaunt, »so ein Theater haben die Leute nicht einmal gemacht, als wir die Mannschaft der Technischen Hochschule von Georgia geschlagen haben.«

Eine der Frauen ergriff seine Hand und küßte sie. Er wich zurück und begab sich wieder zu seinen Instrumenten. Auf dem ganzen Weg bis nach Lydda hörte das Singen und Jubeln in der Kabine nicht mehr auf. Als die Maschine am Anfang der Rollbahn aufsetzte, übertönten der Freudenlärm und die lauten Gebete das Geräusch der Motoren.

Fester sah zu, wie sie aus der Kabine nach draußen drängten, wie sie, unten angelangt, auf die Knie fielen und weinend den Boden Israels küßten.

»Leben Sie wohl, Tex«, sagte Hanna. »Ich finde es schade, daß Sie wegfahren — aber ich wünsche Ihnen viel Spaß in Paris.«

Fester J. MacWilliams stieg langsam die Treppe hinunter. Er betrachtete das geschäftige Treiben auf dem Flugplatz. Busse und Krankenwagen standen bereit. Dutzende von Mädchen, in der gleichen blauen Uniform wie Hanna, mischten sich unter die Jemeniten, beruhigten sie und freuten sich mit ihnen. Foster blieb unbeweglich am Ende der Treppe stehen, und eine sonderbare Empfindung, neu und ungewohnt, stieg in ihm auf.

Er sah Stretch Thompson überhaupt nicht, der eilig auf ihn zukam. »Gratuliere, alter Knabe! Wie hat sie sich denn gemacht?«

»Hm?«

»Ich meine, wie die Kiste geflogen ist?«

»Wie ein Adler.«

Mehrere Beamte der Einwanderungsbehörde drückten Foster die Hand und klopften ihm auf den Rücken.

»Wie haben sich die Leute denn benommen?«

»War es für Sie ein Flug wie jeder andere?«

Fester zog die Schultern hoch. »Klar«, sagte er, »ein Flug wie jeder andere.« Stretch nahm Fester am Arm und ging mit ihm auf das Büro zu. Foster blieb einen Augenblick stehen und sah sich um; Hanna winkte ihm zu, er winkte zurück.

»Ja, Foster«, sagte Stretch, »jetzt kannst du nach Paris. Ich habe meine Leute beisammen, und eine neue Maschine haben wir auch noch bekommen.«

»Also Stretch, wenn du in Verlegenheit bist — eine Tour würde ich schließlich noch machen. Aber das ist dann die letzte.«

Stretch kratzte sich am Kopf. »Ich weiß nicht — vielleicht könnte ich dich für eine Tour noch mal einsetzen — um die neue Maschine auszuprobieren.« Er hat angebissen, dachte Stretch triumphierend. Jetzt habe ich den Himmelhund an der Leine!

Dieser Flug war der Beginn des Unternehmens »Fliegender Teppich«.

Stretch Thompson, der ehemalige Königskrebsekönig, holte ausgekochte amerikanische Piloten heran, die bei der Berliner Luftbrücke mitgeflogen waren. Jeder neue Pilot und jede Crew wurde leidenschaftlich von der Aufgabe ergriffen, die Jemeniten in ihr Gelobtes Land zu bringen.

Oft waren die Maschinen nahe daran, aus den Fugen zu gehen. Doch ungeachtet aller Überbeanspruchung und ungenügenden Wartungen fiel keine der Maschinen jemals aus. Den Piloten des »Fliegenden Teppichs« kam es allmählich so vor, als stünden die Maschinen, solange sie Jemeniten beförderten, unter einer besonderen göttlichen Vorsehung.

Foster J. MacWilliams kam nicht nach Paris. Er flog die Route nach Aden, bis alle Jemeniten von dort abtransportiert waren, und dann machte er bei dem Unternehmen »Ali Baba« weiter, der Luftbrücke zum Abtransport der irakischen Juden aus Bagdad. Foster arbeitete so pausenlos und angestrengt wie kaum ein anderer Pilot in der Geschichte der Luftfahrt. Wenn er mit einer Fuhre von Einwanderern gelandet war, legte er sich gleich auf dem Flugplatz in eine Koje, um ein paar Stunden zu schlafen, während seine Maschine wieder startklar gemacht wurde. Sobald das Bodenpersonal mit der Maschine fertig war, startete er erneut. Im Lauf der nächsten Jahre brachte Foster Millionen von Flugmeilen hinter sich und annähernd fünfzigtausend Juden nach Israel.

Er erklärte jedesmal, daß dies endgültig der letzte Flug sei — bis er dann Hanna heiratete und sich in Tel Aviv eine Wohnung nahm. Das Unternehmen »Fliegender Teppich« war nur ein Anfang. Aus Kurdistan kamen Juden, aus dem Irak und der Türkei.

Aus Hadramaut, im östlichen Teil des Protektorats, fand ein versprengter jüdischer Haufen den Weg nach Aden.

Sie kamen in Scharen aus den DP-Lagern in Europa.

Sie kamen aus Frankreich und Italien, aus Jugoslawien und aus der Tschechoslowakei, aus Rumänien und Bulgarien, aus Griechenland und aus Skandinavien.

Überall in Nordafrika kamen sie aus den Mellahs von Algerien und Marokko, Ägypten und Tunesien.

In Südafrika machten sich die Angehörigen der wohlhabenden jüdischen Gemeinde, die begeistertsten Zionisten der Welt, auf nach Israel.

Sie kamen aus China und Indien, wo sie vor dreitausend Jahren seßhaft geworden waren.

Sie kamen aus Australien, aus Kanada und aus England.

Sie kamen aus Argentinien.

Sie kamen durch brennende Wüsten gezogen.

Sie kamen in klapprigen Flugzeugen geflogen.

Sie kamen mit alten Frachtdampfern, wie die Heringe in den Ladeluken zusammengepfercht.

Sie kamen in den Kabinen der Luxusdampfer.

Sie kamen aus vierundsiebzig verschiedenen Ländern.

Aus der Diaspora, aus dem Exil kamen sie, die überall Unerwünschten, zu diesem einzigen kleinen Fleck auf der ganzen Welt, wo das Wort Jude kein Schimpfwort war.

II.

Immer mächtiger schwoll der Strom der neuen Einwanderer an. Bald war die Bevölkerung von Israel ums Doppelte, ja ums Dreifache angestiegen. Die durch den Krieg geschwächte Wirtschaft des Landes brach unter dieser Belastung fast zusammen.

Viele besaßen kaum mehr als das, was sie auf dem Leibe trugen. Viele waren alt und krank, und viele waren des Lesens und Schreibens unkundig; doch so schwierig die Lage auch war und so sehr sie durch die zusätzliche Last erschwert werden mochte — nicht ein Jude, der an die Tür Israels klopfte, wurde abgewiesen. Überall sprangen Zeltstädte aus dem Boden, und häßliche Dörfer aus verrosteten Wellblechbaracken überzogen bald das ganze Land, von Galiläa bis zur Negev-Wüste. Hunderttausende von Menschen lebten in notdürftigen Behelfsheimen und stellten das Gesundheitswesen, das Erziehungswesen und die Wohlfahrtspflege vor schier unlösbar organisatorische Probleme.

Und doch war die Stimmung überall optimistisch. Sobald die Gedemütigten, die Unterdrückten den Fuß auf den Boden von Israel gesetzt hatten, fanden sie menschliche Würde und Freiheit, wie die meisten von ihnen sie niemals kennengelernt hatten, und diese Anerkennung als gleichberechtigte Wesen beflügelte sie mit einer zielstrebigen Energie, die einzigartig war.

Täglich entstanden neue landwirtschaftliche Siedlungen. Die Einwanderer zogen mit der gleichen Begeisterung hinaus, um die Wildnis und die Wüste in Angriff zu nehmen, mit der einst die ersten Pioniere den Sümpfen zu Leibe gegangen waren.

Kleine und größere Orte, ganze Städte schienen wie Pilze aus dem Boden zu schießen.

Südafrikanische, südamerikanische und kanadische Gelder strömten in die Wirtschaft. Fabriken wurden gebaut. Die Naturwissenschaften, die medizinische und die landwirtschaftliche Forschung wurden gefördert und erreichten bald hohes Niveau.

Tel Aviv entwickelte sich zu einer betriebsamen Metropole mit einer Viertelmillion Einwohner, und Haifa wurde zu einem der wichtigsten Häfen des Mittelmeeres. In beiden Städten entstand eine Schwerindustrie. Jerusalem, Hauptstadt und kulturelles Zentrum der jungen Nation, dehnte sich bis zu den Hügeln aus.

Chemikalien, Medikamente, Textilien, Schuhe, Kleider, Anzüge — die Liste der Produktion umfaßte an die tausend verschiedene Waren. Autos wurden hergestellt, Busse gebaut, und ein Netz von Straßen überzog das Land.

Wohnraum, Wohnraum, Wohnraum — die Menschen brauchten Wohnungen, und die Umrisse der Neubauten schoben sich unablässig weiter in die Vorstädte hinaus. Das Hämmern und Bohren, das Geräusch der Betonmischmaschinen und der Schweißapparate verstummte in Israel nicht einen Augenblick. Von Metulla bis nach Elath, von Jerusalem bis Tel Aviv, überall herrschte die erregende Atmosphäre eines großen, unablässig arbeitenden Landes. Gleichzeitig aber war das Leben außerordentlich hart. Israel war ein armes und unfruchtbares Land, und jeder einzelne Schritt vorwärts mußte mit Schweiß errungen werden. Die Arbeiter hatten bei geringem Lohn schwerste Arbeit zu leisten. Noch härter waren die Arbeitsbedingungen der Siedler, die draußen in der Wildnis dem dürren Erdreich anbaufähigen Boden abzuringen versuchten. Allen Bürgern wurden hohe Steuern auferlegt, um die erforderlichen Geldmittel für die in Massen hereinströmenden neuen Einwanderer aufzubringen.

Doch die Menschen ließen nicht locker. Sie opferten ihren Schweiß und ihr Blut, und sie schafften es, daß die winzige Nation lebte und wuchs.

Die Maschinen einer nationalen Fluglinie stiegen in den Himmel. Fahrzeuge einer Handelsflotte, die den Davidstern führten, befuhren die Meere.

Das israelische Volk erkämpfte sich seinen Weg mit einer Entschlossenheit, die die Hochachtung der gesamten zivilisierten Welt errang. Und niemand in Israel arbeitete, um es zu seinen eigenen Lebzeiten besser zu haben: Alles geschah im Gedanken an die Zukunft, für die heranwachsende Generation, für die neuen Einwanderer, die ins Land kamen.

Die Negev-Wüste nahm die Hälfte des Gebiets von Israel ein. Sie war größtenteils unbelebte Wildnis und erinnerte teilweise an die Oberfläche des Mondes. Hier war Moses auf der Suche nach dem Gelobten Land gewandert. Sengende Hitze von mehr als fünfzig Grad stand über den endlosen Schieferfeldern, den tiefen Schluchten und Canons. Auf den steinigen Plateaus wuchs kein Halm. Keine Lebewesen, nicht einmal ein Aasgeier, wagten sich in diese Einsamkeit.

Die Negev-Wüste war eine Herausforderung, und Israel nahm diese Herausforderung an. Die Israelis machten sich auf in die Wüste. Sie lebten in der erbarmungslosen Hitze und errichteten Siedlungen auf dem felsigen Boden. Sie machten es wie Moses: sie schlugen Wasser aus den Felsen und ließen Leben in der unbelebten Einöde entstehen. Sie suchten nach Mineralien. Aus dem Toten Meer holten sie Pottasche. In den Kupfergruben König Salomons, die seit Ewigkeiten stillgelegen hatten, wurde wieder das grüne Erz gewonnen. Spuren von Erdöl wurden gefunden und riesige Mengen von Eisenerz entdeckt. Ber Scheba, am nördlichen Eingang der Negev-Wüste gelegen, erlebte einen plötzlichen Aufschwung, und fast über Nacht wuchs aus der Wüste eine Industriestadt.

Die größte Hoffnung der Juden richtete sich auf Elath am südlichen Ende der Negev-Wüste und am Rande des Golfs von Akaba. Als israelische Truppen am Ende des Freiheitskrieges hierhergekommen waren, hatte Elath aus zwei Lehmhütten bestanden. Man träumte in Israel davon, aus Elath eines Tages, wenn die Ägypter die Blockade des Golfs von Akaba aufhoben, einen Hafen mit direkter Schiffahrtsverbindung zum Fernen Osten zu machen. Man begann bereits jetzt mit dem Bau.

Hier in der Negev-Wüste tat Colonel Ari ben Kanaan nach der Beendigung des Freiheitskrieges freiwillig Dienst. Sein Auftrag war, jeden Fußbreit dieses Gebietes kennenzulernen, das für Israel von vitaler Bedeutung und rings von drei erbitterten Feinden — Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien — umgeben war.

Ari marschierte mit seinen Soldaten über die mörderischen Schieferfelder und durch die Wadis und führte sie in Gegenden, die noch nie ein menschlicher Fuß betreten hatte. Er unterzog seine Truppe einer Ausbildung von so grausamer Härte, wie sie ihresgleichen nur in wenigen Armeen der Welt hatte. Alle Offiziersanwärter wurden zu Ari geschickt, der sie den schwersten körperlichen Erprobungen unterzog, die ein Mensch aushalten konnte. Aris stehende Truppe wurde unter dem Namen »Wüstenwölfe« bekannt. Es waren harte Burschen, die die Negev-Wüste haßten, solange sie sich dort befanden und sich nach ihr sehnten, wenn sie fort waren. Zu der Ausbildung der Wüstenwölfe gehörten Fallschirmabsprünge, Eilmärsche, Nahkampf und Pionierdienst. Nur die Zähesten waren den Ansprüchen gewachsen.

In der israelischen Armee gab es keine Tapferkeitsauszeichnungen — man setzte voraus, daß ein Soldat so tapfer war wie der andere —, doch wer das Abzeichen der Wüstenwölfe trug, der stand in besonderem Ansehen.

Aris Stützpunkt war Elath. Er erlebte, wie es sich zu einer Stadt von kühnen Pionieren entwickelte. Eine Wasserleitung wurde angelegt, in den Kupfergruben lief die Förderung auf vollen Touren und aus Fußpfaden wurden Straßen. Die Juden waren dabei, ihren südlichsten Stützpunkt auszubauen.

Die Leute wunderten sich über das seltsame Wesen von Colonel Ben Kanaan. Er schien nie zu lachen und selten zu lächeln. Es war, als ob irgend etwas an ihm nage, ein Kummer oder eine Sehnsucht, und als ob dies der Grund war, daß er sich und seinen Leuten diese fast unmenschlichen Strapazen abverlangte. Zwei volle Jahre lang vergrub er sich in der Wüste.

Im Januar 1949, zu Beginn des Unternehmens »Fliegender Teppich«, hatte man Kitty Fremont gebeten, nach Aden zu gehen, um dort das Gesundheitswesen für die Kinder im Lager Hashed zu organisieren. Kitty machte ihre Sache großartig. Sie brachte Ordnung in das Chaos. Sie war fest und energisch in ihren Anordnungen, aber sanft und freundlich im Umgang mit den Jugendlichen, die zu Fuß den weiten Weg vom Jemen zurückgelegt hatten. Innerhalb weniger Monate wurde sie einer der wichtigsten Mitarbeiter der Zionistischen Siedlungsgesellschaft. Von Aden aus begab sie sich direkt nach Bagdad, zu dem Unternehmen »Ali Baba«, das den doppelten Umfang des Unternehmens »Fliegender Teppich« hatte. Nachdem sie im Auffanglager in Bagdad die Kinder-Fürsorge organisiert hatte, fuhr sie eiligst nach Marokko, wo die Juden zu Zehntausenden aus den Mellahs von Casablanca aufbrachen, um nach Israel zu gehen. Sie unternahm eilige Flüge zu DP-Lagern in Europa, um in schwierigen Situationen Abhilfe zu schaffen, und sie fuhr kreuz und quer durch Europa auf der Suche nach Pflegepersonal und allem, was für das Kinder-Gesundheitswesen sonst noch benötigt wurde. Als der Strom der Einwanderer nachzulassen begann, wurde Kitty nach Jerusalem zurückberufen, wo man ihr einen leitenden Posten in der Jugend-Aliyah übertrug.

Sie hatte geholfen, die Kinder und die Jugendlichen nach Israel hereinzubringen. Jetzt machte sie sich an die Aufgabe, diesen jungen Menschen zu helfen, sich als Mitglieder in die israelische Gemeinschaft einzuordnen. Die Lösung des Problems waren Jugenddörfer wie Gan Dafna, doch für all die vielen, die jetzt kamen, gab es zu wenige dieser Dörfer. Bei den Erwachsenen übernahm die israelische Armee, die unter anderem jedem neuen Soldaten Hebräisch beibrachte, diese Aufgabe.

Kitty Fremont sprach inzwischen fließend Hebräisch. Es war für sie nichts Neues mehr, mit Fester J. MacWilliams und einem Transport tuberkulöser Kinder nach Israel zu fliegen oder eine Siedlung an der Grenze zu besuchen, um den Gesundheitszustand der Kinder zu inspizieren.

Und dann mußte Kitty etwas erleben, das sie zugleich froh und traurig machte. Sie traf einige der älteren Mädchen, mit denen sie in Gan Dafna zusammengewesen war, Mädchen, die inzwischen geheiratet hatten und in den verschiedenen Siedlungen lebten. Kitty hatte diese Mädchen im Lager auf Zypern und auf der Exodus bemuttert; sie waren sozusagen ihre Babys gewesen, und jetzt hatten sie selbst Babys. Kitty hatte beim Ausbau der Jugend-Aliyah und der Ausbildung des Pflegepersonals mitgearbeitet, von den ersten unsicheren Versuchen bis zu dem Punkt, wo alles vorbildlich und reibungslos funktionierte. Und jetzt erkannte Kitty Fremont plötzlich mit schwerem Herzen, daß sie ihre Schuldigkeit getan hatte. Sowohl Karen als auch Israel würden von nun an ohne ihre Hilfe auskommen. Kitty fand, es sei Zeit, ihre Zelte hier abzubrechen.

III.

Barak ben Kanaan wurde fünfundachtzig Jahre alt. Er zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück und war zufrieden, sich mit der Leitung seiner Farm in Yad El beschäftigen zu können. Das hatte er sich ein halbes Jahrhundert lang gewünscht. Ungeachtet seines hohen Alters war Barak noch immer ein Mann voller Kraft, geistig rege und körperlich durchaus in der Lage, den ganzen Tag über auf den Feldern seiner Farm zu arbeiten. Sein riesiger Bart war inzwischen fast ganz weiß geworden, zeigte aber immer noch Spuren des früheren flammenden Rots, und seine Hand hatte noch immer einen stahlharten Griff. Die Jahre nach der Beendigung des Freiheitskrieges gewährten ihm große Befriedigung. Er hatte endlich Zeit für sich und Sara.

Sein Glück war allerdings durch den Gedanken an Jordana und Ari getrübt, die nicht glücklich waren. Jordana konnte über den Tod von David ben Ami nicht hinwegkommen. Sie war eine Zeitlang in Frankreich herumgereist, und sie war mehrere unüberlegte Verbindungen mit Männern eingegangen, die sich sehr bald als unhaltbar erwiesen hatten. Schließlich war sie nach Jerusalem, der Stadt Davids, zurückgekehrt, und hatte wieder an der Universität zu arbeiten angefangen; doch war in ihr eine innere Leere geblieben. Ari hatte sich selbst in die Verbannung der Negev-Wüste geschickt. Barak wußte, warum; doch an seinen Sohn konnte er nicht heran. Kurze Zeit nach seinem fünfundachtzigsten Geburtstag machten sich bei Barak Magenschmerzen bemerkbar. Viele Wochen lang sagte er nichts davon. Er fand es ganz in Ordnung, daß sich in seinem Alter einige Beschwerden einstellten. Den Schmerzen folgte ein quälender Husten, den er trotz aller Anstrengungen vor Sara nicht verheimlichen konnte. Sie bestand darauf, daß er zum Arzt ging, und Barak versprach es ihr schließlich, fand aber immer wieder einen Grund, den Besuch beim Arzt zu verschieben. Eines Tages rief Ben Gurion bei Barak an und fragte ihn, ob er Lust hätte, mit Sara nach Haifa zu kommen, um an der Feier des dritten Jahrestages der Unabhängigkeitserklärung teilzunehmen und bei der Parade auf der Ehrentribüne zu sitzen. Das war eine außerordentliche Ehrung und Barak sagte zu. Sara benutzte die Gelegenheit der Reise nach Haifa, um Barak das Versprechen abzuverlangen, zum Arzt zu gehen. Fünf Tage vor dem Fest fuhren sie nach Haifa. Barak begab sich in ein Krankenhaus, um sich gründlich untersuchen zu lassen, und er blieb dort bis zum Vorabend des Jahrestages der Unabhängigkeit.

»Nun«, fragte Sara, »was haben die Ärzte gesagt?«

»Schlechte Verdauung und Altersbeschwerden«, sagte Barak lachend. »Sie haben mir irgendwelche Pillen verordnet.«

Sara wollte es genau wissen.

»Nun laß schon, altes Mädchen. Wir sind hier, um den Tag der Unabhängigkeit zu feiern.«

Den ganzen Tag über waren Massen von Menschen nach Haifa geströmt: per Anhalter, im Auto, mit dem Zug und mit dem Flugzeug. Die Stadt wimmelte von Menschen. Den ganzen Tag über erschienen Besucher in Baraks Hotelzimmer, die ihn begrüßten und ihm ihre Hochachtung bezeugen wollten.

Am Abend wurden die Feierlichkeiten durch einen Fackelzug der Jugendgruppen eröffnet. Sie marschierten am Rathaus auf dem Karmelberg vorbei, und nach den üblichen Ansprachen wurde auf dem Gipfel des Karmel ein Feuerwerk abgebrannt.

Die ganze Herzlstraße entlang drängten sich Zehntausende von Menschen. Aus Lautsprechern ertönte Musik, und überall tanzten fröhliche Menschen Horra. Auch Barak und Sara reihten sich in den Kreis der Horratänzer ein, und die umstehende Menge spendete begeistert Beifall.

Spät in der Nacht begaben sich Sara und Barak in ihr Hotel, um sich noch ein wenig auszuruhen. Am nächsten Vormittag fuhren die beiden, im offenen Wagen jubelnd von der Menge begrüßt, die Paradestrecke entlang und begaben sich zur Ehrentribüne, wo sie ihre Plätze neben dem Präsidenten einnahmen.

Und dann marschierte das neue Israel vorbei, mit Bannern wie die Stämme aus biblischer Zeit: die Jemeniten, inzwischen stolze Soldaten, und die großgewachsenen kräftigen Männer und Frauen der Sabre-Generation, die Flieger aus Südafrika und Amerika, und die jüdischen Kämpfer, die aus allen Teilen der Welt in die neue Heimat gekommen waren. Die Fallschirmjäger mit ihren roten Baskenmützen kamen vorbei, und die Männer des Grenzschutzes in ihren grünen Uniformen. Tanks rasselten und Flugzeuge dröhnten. Und dann schlug Baraks Herz heftiger, und die jubelnden Zurufe der Menge wurden lauter: die bärtigen, braungebrannten Wüstenwölfe marschierten vorbei und grüßten den Vater ihres Kommandeurs.

Nach der Parade gab es weitere Ansprachen und festliche Veranstaltungen. Als Barak und Sara zwei Tage später Haifa verließen, um nach Yad El zurückzufahren, tanzten die Menschen noch immer auf den Straßen.

Kaum waren sie zu Hause angelangt, als Barak einen langen krampfhaften Hustenanfall bekam, so heftig, als hätte er ihn während der Feierlichkeiten mit aller Macht zurückgehalten. Erschöpft sank er in seinen Lehnstuhl, während Sara ihm eine Medizin brachte. »Ich hatte dir doch gleich gesagt, die Aufregung würde zuviel für dich werden«, sagte sie. »Du solltest endlich anfangen, dich deinem Alter entsprechend zu benehmen.«

Barak war mit seinen Gedanken bei den braungebrannten, drahtigen jungen Männern, die an der Tribüne vorbeimarschiert waren.

»Das Heer Israels«, murmelte er.

»Ich werde uns einen Tee machen«, sagte Sara und fuhr ihm zärtlich durchs Haar.

Barak ergriff ihr Handgelenk und zog sie auf seinen Schoß. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und sah dann fragend zu ihm auf. Barak wandte den Blick beiseite.

»Die Feier ist vorbei«, sagte Sara. »Und jetzt erzähle mir bitte, was dir die Ärzte wirklich gesagt haben.«

»Es ist mir nie sonderlich gut gelungen, dich anzuschwindeln«, sagte er.

»Ich werde auch ganz vernünftig sein, das verspreche ich dir.«

»Dann darf ich dir sagen, daß ich bereit bin«, sagte Barak. »Ich glaube, ich habe es schon die ganze Zeit gewußt.«

Sara stieß einen kleinen Schrei aus und biß sich auf die Lippen.

»Es ist wohl besser, wenn du Ari und Jordana Bescheid gibst, daß sie herkommen«, sagte Barak.

»Krebs?«

»Ja.«

»Und — wie lange?«

»Ein paar Monate noch, ein paar wunderbare Monate.«

Es war schwer, sich Barak anders als stark und riesig vorzustellen. Doch in den folgenden Wochen machte sich sein Alter erschreckend bemerkbar. Er war hager und gebeugt, und sein Gesicht war bleich geworden. Er hatte große Schmerzen auszustehen, doch er verheimlichte sie und weigerte sich standhaft, in ein Krankenhaus gebracht zu werden.

Man hatte sein Bett ans Fenster gerückt, damit er hinaussehen konnte auf die Felder seiner Farm und hinauf zu den Bergen an der libanesischen Grenze. Als Ari nach Hause kam, sah er, wie Barak bekümmert zu der Stelle hinstarrte, wo einst Abu Yesha gestanden hatte.

»Schalom, Aba«, sagte Ari und umarmte seinen Vater. »Ich bin so rasch gekommen, wie ich konnte.«

»Schalom, Ari. Laß dich ansehen, Sohn. Es ist so lange her — über zwei Jahre. Ich hatte gedacht, du würdest vielleicht mit deinen Leuten an der Parade teilnehmen.«

»Die Ägypter hatten bei Nitzana mehrere Überfälle unternommen. Wir mußten Vergeltungsmaßnahmen ergreifen.«

Barak musterte seinen Sohn. Ari war von der Wüstensonne dunkel gebräunt und sah prachtvoll aus, stark wie ein Löwe.

»Die Wüste scheint dir gut zu bekommen«, sagte Barak.

»Was ist das für ein Unsinn, den mir die Ima da erzählt?«

»Denke bitte nicht, du müßtest mich aufheitern, Ari. Ich bin alt genug, um mit Anstand zu sterben.«

Ari schenkte sich einen Cognak ein und zündete sich eine Zigarette an, während ihn Barak weiterhin aufmerksam beobachtete. Die Tränen stiegen dem alten Mann in die Augen.

»Ich bin die letzte Zeit heiter und ruhig gewesen«, sagte er. »Nur der Gedanke an dich und Jordana machte mir zu schaffen. Wenn ich doch nur in dem Bewußtsein sterben könnte, daß ihr glücklich seid.« Ari nahm einen Schluck von seinem Cognak und sah beiseite. Barak ergriff die Hand seines Sohnes.

»Man sagt mir, du könntest eines Tages Chef des Generalstabs werden, wenn du dich nur entschließen wolltest, aus der Wüste herauszukommen.«

»Es gibt viel zu tun in der Negev-Wüste, Vater. Irgend jemand muß es schließlich machen. Die Ägypter stellen Mörderbanden auf, die über die Grenze herüberschleichen und unsere Siedlungen überfallen.«

»Ja, Ari — aber du bist nicht glücklich.«

»Glücklich? Du kennst mich doch, Vater. Es ist mir nun einmal nicht gegeben, mein Glück offen zu zeigen, wie das die neuen Einwanderer tun.«

»Warum hast du dich zwei Jahre lang von mir und deiner Mutter ferngehalten?«

»Ja, das war falsch, und das tut mir auch leid.« »Weißt du, Ari, in diesen letzten beiden Jahren habe ich mir zum erstenmal in meinem ganzen Leben den Luxus leisten können, einfach dazusitzen und nachzudenken. Es ist etwas Wunderbares, wenn man die Möglichkeit hat, in Ruhe und Frieden zu meditieren. Und in den letzten Wochen habe ich noch mehr Zeit dazu gehabt. Ich habe über alles nachgedacht. Und ich bin mir klar geworden, daß ich dir und Jordana kein guter Vater gewesen bin.«

»Vater, was redest du denn da. Hör doch auf mit diesen unsinnigen Selbstvorwürfen.«

»Nein, es ist etwas Wahres daran, was ich sage. Ich sehe jetzt alles so deutlich. Wenn ich daran denke, wie wenig Zeit ich dir und Jordana widmen konnte — und Sara. Glaub mir, Ari, für eine Familie ist das nicht gut.«

»Ich bitte dich, Vater. Kein Sohn hat so viel Liebe und Verständnis erfahren wie ich. Vielleicht sind alle Väter der Meinung, sie hätten mehr tun können.«

Barak schüttelte den Kopf. »Du warst noch ein kleiner Junge, da mußtest du schon ein Mann sein. Mit zwölf Jahren hast du neben mir in den Sümpfen gearbeitet. Du hast mich nicht mehr gebraucht, seit ich dir einen Ochsenziemer in die Hand gab.«

»Ich will nichts mehr davon hören. Unser Leben in diesem Lande ist dem gewidmet, was wir für die Zukunft tun können. So hast du leben müssen, und so lebe ich jetzt. Du hast keinerlei Grund, dir irgendeinen Vorwurf zu machen. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als so zu leben.«

»Das versuche ich mir ja auch zu sagen, Ari. Denn, sage ich mir, was denn sonst? Ein Ghetto? Konzentrationslager? Gaskammern? Das, was wir hier haben, sage ich mir, lohnt jeden Einsatz. Und doch, diese unsere Freiheit — der Preis dafür ist hoch.«

»Kein Preis ist zu hoch für Israel«, sagte Ari.

»Doch, er ist zu hoch — wenn ich die Trauer in den Augen meines Sohnes sehe.«

»Es ist nicht deine Schuld, wenn deiner Tochter der Geliebte genommen wurde. Es ist der Preis, den man dafür zahlt, als Jude geboren zu sein. Aber ist es nicht besser, kämpfend für das Vaterland zu sterben, als so zu sterben, wie dein Vater starb, in einem Ghetto, unter den Händen einer wütenden Meute?«

»Doch die Trauer meines Sohnes ist meine Schuld, Ari.« Barak machte eine kleine Pause und fuhr dann zögernd fort: »Jordana hat sich mit Kitty Fremont sehr angefreundet.«

Ari blinzelte bei der Erwähnung ihres Namens.

»Sie besucht uns jedesmal, wenn sie im Hule-Tal ist. Schade, daß du dich gar nicht mehr um sie gekümmert hast.«

»Vater, ich —.«

»Meinst du, ich würde nicht sehen, wie sich diese Frau vor Sehnsucht nach dir verzehrt? Und ist das die Art, wie man als Mann seine Liebe zeigt, indem man sich in der Wüste versteckt? Ja, Ari, laß uns endlich einmal darüber reden. Du bist vor ihr davongelaufen und hast dich versteckt. Gestehe es doch ein. Sage es mir, und sage es auch dir selber.«

Ari stand vom Bettrand auf und ging an das andere Ende des Zimmers.

»Was in dir ist es eigentlich, das es dir unmöglich macht, zu dieser Frau hinzugehen und ihr zu sagen, daß dir vor Sehnsucht nach ihr das Herz bricht.«

Ari fühlte den brennenden Blick seines Vaters im Rücken. Er wandte sich langsam um und schlug die Augen nieder. »Sie hat einmal zu mir gesagt, ich müßte solche Sehnsucht nach ihr haben, daß ich auf den Knien zu ihr krieche.«

»Dann tue es doch! Krieche zu ihr!«

»Das kann ich nicht! Ich weiß gar nicht, wie man das macht! Verstehst du denn nicht, Vater — ich kann doch niemals der Mann sein, den sie sich wünscht.«

»Und das ist der Punkt, wo ich unrecht an dir gehandelt habe, Ari«, sagte Barak und seufzte bekümmert. »Siehst du, ich wäre zu deiner Mutter auf den Knien gekrochen, tausendmal. Ich würde zu ihr kriechen, weil ich ohne sie nicht leben kann. Gott verzeih mir, Ari — ich habe ein Geschlecht von Männern und Frauen gegründet, die so hart sind, daß sie nicht mehr wissen, was es heißt, weinen zu können.«

»Dasselbe hat sie mir auch einmal gesagt«, sagte Ari leise.

»Für euch ist Zärtlichkeit gleichbedeutend mit Schwäche. Ihr haltet Tränen für etwas Unehrenhaftes. Doch das ist ein Irrtum, und in diesem Irrtum befindest du dich auch. Du bist so verblendet, daß du nicht einmal fähig bist, deine Liebe zu zeigen.«

»Wenn ich es nicht kann, dann kann ich es eben nicht«, rief Ari heftig.

»Und mir tut es leid um dich, Ari. Es tut mir leid um dich und um mich.«

Am nächsten Tag trug Ari seinen Vater auf seinen Armen zum Wagen und fuhr mit ihm nach Tel Chaj hinauf, dem Ort, über den Barak mit seinem Bruder Akiba vor mehr als einem halben Jahrhundert vom Libanon her nach Palästina gekommen war. Dort befanden sich die Gräber der Wächter, der ersten bewaffneten Juden, die um die Wende des Jahrhunderts die jüdischen Siedlungen gegen die Beduinen verteidigt hatten. Die Grabsteine der Toten bildeten zwei Reihen, und ein Dutzend weiterer Grabstellen erwartete diejenigen Wächter, die noch am Leben waren. Auch die sterblichen Überreste von Akiba waren hierhergebracht und auf diesem Ehrenhain beigesetzt worden. Der Platz neben Akiba war für Barak reserviert.

Ari trug seinen Vater an den Gräbern vorbei zu einer Stelle, wo ein riesiger steinerner Löwe stand, der in das Tal hinabblickte, Symbol eines Königs, der das Land beschützt. Auf dem Sockel standen die Worte: »ES IST EHRENVOLL, FÜR SEINE HEIMAT STERBEN ZU KÖNNEN.«

Barak sah ins Tal hinunter. Überall lagen Ortschaften, und überall entstanden neue Siedlungen. »Es ist schön, eine Heimat zu haben, für die man sterben kann«, sagte Barak.

Ari trug seinen Vater vom Gipfel wieder hinunter zum Wagen. Zwei Tage später entschlummerte Barak ben Kanaan. Man brachte ihn nach Tel Chaj und bestattete ihn neben Akiba.

IV.

Dov Landau, der gegen Ende des Freiheitskrieges in die israelische Armee eingetreten war, nahm am Kampf gegen die ägyptischen Streitkräfte teil. Auf Grund seiner Tapferkeit bei der Erstürmung von Fort Suweidan war er zum Offizier befördert worden. Dann blieb er mehrere Monate lang als einer der Wüstenwölfe Colonel Ben Kanaans in der Negev-Wüste. Ari, der Dov Landaus ungewöhnliche Begabung erkannte, schickte ihn zum Oberkommando, um ihn testen zu lassen. Das Oberkommando schickte Dov auf die Technische Hochschule in Haifa, wo er an Speziallehrgängen teilnehmen konnte, die mit den großen Projekten der Bewässerung und Erschließung der Negev-Wüste zusammenhingen. Dov zeigte dabei eine außerordentliche Befähigung für wissenschaftliche Arbeit. Er hatte seine Menschenscheu völlig überwunden. Er war jetzt aufgeschlossen, voller Humor und von tiefem Mitgefühl für das Leiden anderer. Er war ein ausgesprochen gut aussehender junger Mann geworden, noch immer sehr schlank und mit sensiblen Gesichtszügen; er und Karen liebten sich heiß und innig und verbrachten so viel Zeit miteinander wie möglich.

Doch das junge Paar litt unter der ständigen Trennung, der Ungewißheit und der ewig gespannten Lage. Wie das Land, so befanden auch sie sich in ständigem Aufruhr: jeder von ihnen hatte seine eigenen schweren Pflichten. Es war die alte Geschichte in Israel, die Geschichte von Ari und Dafna, die Geschichte von David und Jordana. Jedesmal, wenn sie sich sahen, wuchs ihre Sehnsucht und zugleich ihre Enttäuschung. Dov, der Karen geradezu anbetete, wurde zum Stärkeren von ihnen.

Als er fünfundzwanzig Jahre alt wurde, war er Hauptmann im Pionierkorps und galt als eine der verheißungsvollsten Begabungen auf seinem Spezialgebiet. Seine Zeit war dem Studium an der Technischen Hochschule und am Weizmann-Institut in Rechowot gewidmet.

Nach dem Ende des Freiheitskrieges verließ Karen Gan Dafna und trat gleichfalls in die Armee ein. Dort setzte sie ihre Ausbildung als Krankenschwester fort. Sie hatte bei der Arbeit mit Kitty wertvolle Erfahrungen gesammelt und konnte die Grundausbildung daher sehr rasch abschließen. Die Krankenpflege sagte ihr sehr zu, und sie wünschte sich, eines Tages in Kittys Fußstapfen zu treten und sich als Kinderpflegerin zu spezialisieren. Sie arbeitete in einem Krankenhaus im Scharon-Tal. Von hier aus konnte sie per Anhalter nach Jerusalem fahren, um Kitty zu besuchen, wenn sie gerade dort war, und es war auch nicht weit nach Haifa, so daß sie Dov häufig sehen konnte.

Kitty wußte, daß Karen sie nicht mehr brauchte. Ebenso wußte sie, daß auch sie selbst Karen nicht mehr als Lebensinhalt nötig hatte. Sie wagte zu hoffen, daß sie irgendwann und irgendwo ein normales Leben und echtes Glück erwarteten.

Nein, was Karen und sie selbst anging, so hatte Kitty keine Sorge, abzureisen. Doch jetzt bewegte sie eine neue Furcht — die Sorge um die Zukunft Israels.

Die Araber saßen an den Grenzen Israels und warteten nur auf den Tag, an dem sie sich auf die kleine Nation stürzen und sie in der mit großem Trara angekündigten »Zweiten Runde« zerstören könnten. Die arabischen Führer drückten den Massen Schußwaffen an Stelle von Pflugscharen in die Hand. Die wenigen, die die Chancen erkannten, die in der Zusammenarbeit mit Israel lagen, wurden umgebracht. Die Presse und das Radio der arabischen Länder wiederholten die alten Haßgesänge. Das Flüchtlingsproblem wurde zusätzlich so verschärft, daß es unlösbar wurde. In offener Verletzung des internationalen Rechts sperrten die Ägypter den Suezkanal für israelische Schiffe und für Schiffe anderer Nationen, deren Ladung für Israel bestimmt war.

Der Golf von Akaba wurde blockiert, um die Juden daran zu hindern, Elath als Hafen zu benutzen.

Die Arabische Legion ignorierte unverfroren die beim Waffenstillstand getroffene Vereinbarung, daß die Juden zur Altstadt von Jerusalem freien Zugang haben sollten, um an der heiligsten Stätte der Judenheit, der Klagemauer des Tempels, ihre Gebete verrichten zu können.

Sämtliche arabischen Nationen lehnten es ab, die Existenz des Staates Israel anzuerkennen; sie betonten vielmehr bei jeder Gelegenheit ihre Entschlossenheit, Israel zu vernichten.

Die Araber, hauptsächlich die Ägypter im Gebiet von Gaza, stellten organisierte Banden auf, deren Aufgabe es war, nachts über die Grenze zu gehen, um die Felder der Israelis in Brand zu stecken, Wasserleitungen zu unterbrechen, Verheerung anzurichten und Menschen im Hinterhalt aufzulauern, um sie umzubringen. Für diese Banden verwendete man die drangsalierten, von Demagogen aufgehetzten Palästinaflüchtlinge.

Die Untaten der Banden erreichten schließlich ein solches Ausmaß, daß Israel nichts anderes übrigblieb, als Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen. Die israelische Armee erklärte, daß für jeden ermordeten Juden zehn Araber getötet werden würden. Vergeltung schien leider die einzige Sprache zu sein, die die Araber verstanden, die einzige Maßnahme, die ihrem Treiben möglicherweise Einhalt gebieten konnte.

Eine der Abwehrmaßnahmen, die man in Israel entwickelte, hieß Nahal. Hierbei handelte es sich um die beschleunigte Errichtung wehrhafter Siedlungen an strategisch wichtigen Punkten. Viele Jugendgruppen, junge Männer und junge Frauen, gingen geschlossen zum Heer, um als militärische Einheit die Grundausbildung durchzumachen. Nach Abschluß der Grundausbildung wurden sie an die Grenzen des Landes geschickt, um dort Wehrsiedlungen zu errichten, also mit der doppelten Aufgabe, den Boden zu bearbeiten und die Grenze zu verteidigen. Die Siedlungen dieser jungen Leute, die meist noch keine Zwanzig waren, lagen unmittelbar an der Grenze, nur wenige Meter vom Feind entfernt.

Die Lebensbedingungen waren außerordentlich hart. Der Sold der jungen Farmer-Soldaten betrug dreißig Dollar im Jahr. Vor ihnen lag der Tod, hinter ihnen unfruchtbares Land, das erst urbar gemacht werden mußte. Und doch — ein weiteres Wunder der jungen Nation —: die Jugend Israels meldete sich freiwillig dazu, ihr Leben in solchen Siedlungen an den Grenzen zu verbringen. Unauffällig und ohne jedes heroische Pathos begaben sie sich auf diesen entsagungsvollen Posten. Sie betrachteten es als ihre selbstverständliche Pflicht, in dieser Gefahr zu leben. Es war ihre Aufgabe. Sie hatten keinerlei Gedanken an irgendeinen persönlichen materiellen Gewinn, sondern dachten ausschließlich an Israel und die Zukunft. Die härteste dieser Fronten bildete die Grenze im Gebiet von Gaza, diesem schmalen Landstrich, der wie ein Finger in das Gebiet Israels hineinstieß. Das alte Gaza, wo Samson einst die Tore aus den Angeln gehoben hatte, hatte jetzt neue Tore bekommen: die Tore der Lager für Palästinaflüchtlinge. Diese Flüchtlinge saßen untätig herum und lebten von den Spenden der internationalen Organisationen, während sie von den ägyptischen Lagerleitern voll Haß gepumpt wurden. Gaza war der entscheidende Stützpunkt für die Aufstellung und Ausbildung der von den Ägyptern geförderten Fedayin — der Banden, die nachts illegal zu Raub und Mord über die Grenze gingen.

An diese bedrohte Grenze zogen zweiundzwanzig junge Männer und sechzehn Mädchen, um hier, knapp zehn Kilometer vom Zentrum des Feindes entfernt, eine Nahal-Siedlung zu errichten. Sie bekam den Namen Nahal Midbar — Strom in der Wüste.

Eines der sechzehn Mädchen war die Sanitäterin Karen HansenClement.

Dov hatte seine Studien am Weizmann-Institut beendet und wurde in das Hule-Tal versetzt, um dort an einem großen Wasserbauprojekt mitzuarbeiten. Er ließ sich fünf Tage Urlaub geben, um nach Nahal Midbar zu fahren und Karen zu besuchen, bevor er sich bei seiner neuen Dienststelle melden mußte. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit Karen vor sechs Wochen mit ihrer Gruppe losgezogen war.

Dov brauchte einen ganzen Tag, um diese abgelegene Ecke der Negev-Wüste per Anhalter zu erreichen. Von der Landstraße, die an der Grenze des Gaza-Gebiets entlangführte, zweigte ein Landweg ab, der rund vier Kilometer weit zu der Siedlung führte.

Nahal Midbar bestand größtenteils noch aus Zelten. An Gebäuden gab es bisher nur eine Speisebaracke, einen Geräteschuppen und zwei Wachttürme. Diese wenigen Gebäude standen verloren inmitten einer windigen, unbelebten, ausgedörrten Einsamkeit, die am Ende der Welt zu liegen schien, am Rande des Nichts. Bedrohlich erhob sich der Umriß von Gaza am Horizont. Auf der dem Feind zugewandten Seite der Siedlung zogen sich Schützengräben und Stacheldrahthindernisse entlang.

Ein erstes Stück Land war unter dem Pflug. Dov blieb am Tor stehen. Nahal Midbar machte einen trostlosen Eindruck. Doch dann verwandelte es sich für ihn plötzlich in den herrlichsten Garten der Welt, denn er sah Karen, die von ihrem Lazarettzelt auf ihn zugelaufen kam.

»Dov! Dov!« rief sie, während sie rasch über die nackte braune Erde der Anhöhe lief. Sie warf sich in seine ausgebreiteten Arme; sie hielten sich eng umschlungen, und ihre Herzen klopften vor Erregung und Freude.

Dann nahm Karen ihn an der Hand und führte ihn an die Wasserstelle; er wusch sich das verschwitzte Gesicht und nahm einen tiefen Schluck. Anschließend ging sie mit ihm einen Weg entlang, der über den Hügel zu einer Stelle führte, wo Ruinen aus der Zeit der Nabatäer standen. Diese Stelle war der vorderste Beobachtungsposten, direkt an der Grenze gelegen, und ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare.

Karen gab dem Posten durch ein Zeichen zu verstehen, daß sie die Wache übernehmen werde; der Posten verstand und zog ab.

Karen und Dov gingen zu den Mauerresten eines alten Tempels, und dort warteten sie, bis der Posten außer Sicht war. Karen spähte durch den Stacheldraht nach vorn. Alles war ruhig.

Beide lehnten ihre Gewehre gegen die Mauer und umarmten und küßten sich.

»Oh, Dov!« sagte Karen atemlos. »Endlich!«

»Ich bin vor Sehnsucht nach dir fast gestorben!« sagte er.

Sie küßten sich wieder und wieder, spürten die mittäglich brennende Wüstensonne nicht mehr, spürten nur noch die Nähe des anderen. Dov ging mit Karen in eine Ecke des Tempels. Sie setzten sich auf die Erde, und Karen lag in seinen Armen.

Nach einer Weile sagte Dov: »Ich muß dir etwas erzählen — eine großartige Sache.«

»Was denn?«

»Du weißt, daß ich zu diesem Wasserbauprojekt im Hule-Tal abkommandiert bin?«

»Ja, natürlich.«

»Also, gestern mußte ich mich beim Stab melden. Ich soll nur bis zum Ende des Sommers im Hule-Tal bleiben — dann soll ich nach Amerika gehen, um dort mein Studium fortzusetzen! An der Technischen Hochschule von Massachusetts!«

Karen machte große Augen. »Nach Amerika? Um zu studieren?«

»Ja. Für zwei Jahre. Ich konnte es kaum erwarten, herzukommen, um es dir zu erzählen.«

Karen faßte sich rasch und zwang sich, zu lächeln. »Wie wunderbar, Dov. Ich bin so stolz auf dich. Dann wirst du also in sechs bis sieben Monaten nach Amerika gehen.«

»Ich habe noch keine Zusage gegeben«, sagte er. »Ich wollte es erst mit dir besprechen.«

»Zwei Jahre, das ist ja nicht für immer«, sagte Karen. »Und was meinst du, wie unser Kibbuz hier aussehen wird, wenn du zurückkommst. Wir werden dann zweitausend Dunam Land unterm Pflug haben, und eine Bibliothek, und ein Kinderheim voller Babys.« »Sachte, sachte«, sagte Dov. »Ich gehe nicht nach Amerika oder sonstwohin ohne dich. Wir heiraten, und du gehst mit. Es wird natürlich nicht ganz einfach werden in Amerika. Man wird mir kein großes Stipendium geben können. Ich werde nebenbei arbeiten müssen, aber du kannst Kurse in Krankenpflege nehmen und auch praktisch arbeiten — wir werden es schon schaffen.«

Karen sagte nichts. Sie sah in die Ferne, wo sich Gaza erhob, und sie sah die Wachttürme und die Schützengräben.

»Ich kann nicht fort von Nahal Midbar«, sagte sie leise. »Wir haben gerade erst angefangen. Die Jungens arbeiten zwanzig Stunden täglich.«

»Karen — du mußt Urlaub nehmen.«

»Nein, Dov, das kann ich nicht. Wenn ich weggehe, wird es für alle anderen hier um so schwerer.«

»Du mußt mitkommen. Ich gehe nicht ohne dich. Verstehst du denn gar nicht, was das bedeutet? Wenn ich in zwei Jahren wieder hierherkomme, dann werde ich ein Fachmann auf dem Gebiet des Wasserbaues sein. Wir werden zusammen in Nahal Midbar wohnen, und ich werde hier in der Nähe an den Bewässerungsprojekten arbeiten. Begreife doch, Karen — ich werde dann für Israel fünfzigmal mehr wert sein als jetzt.«

Karen stand auf. »Für dich ist das richtig. Es ist wichtig, daß du nach Amerika gehst. Ich bin im Augenblick hier wichtiger.«

Dov wurde blaß und ließ die Arme hängen. »Ich dachte, du würdest dich darüber freuen —.«

Karen, die mit dem Rücken zu ihm stand, drehte sich um und sah ihn an. »Du weißt genau, daß du nach Amerika mußt, und ebenso genau weißt du, daß ich hierbleiben muß.«

»Nein, verdammt noch mal! Ich kann nicht zwei Jahre lang von dir getrennt sein. Ich halte es nicht einmal mehr aus, zwei Tage ohne dich zu sein.« Er riß sie an sich, bedeckte ihr Gesicht mit seinen Küssen, und sie erwiderte Kuß um Kuß, und beide flüsterten immer wieder: »Ich liebe dich«; ihre Gesichter waren naß vor Schweiß und naß vor Tränen, und ihre Hände waren ruhelos und hungrig, und eng umklammert sanken sie auf die Erde.

»Ja!« rief Karen.

»Nein!« Dov sprang auf. Er ballte die Hände zur Faust und zitterte. »Wir müssen aufhören damit.«

Dann waren beide stumm, und nur das leise Schluchzen von Karen war zu hören. Dov kniete sich zu ihr. »Bitte weine nicht, Karen«, sagte er.

»Ach, Dov, was sollen wir bloß machen? Es ist, als ob ich gar nicht lebte, wenn du nicht da bist, und jedesmal, wenn wir uns wie jetzt sehen, ist es dasselbe. Wenn du wieder wegfährst, bin ich tagelang krank vor Sehnsucht nach dir.«

»Für mich ist es genauso schlimm« sagte er. »Aber es ist meine Schuld. Wir müssen vorsichtiger sein.«

Er ergriff ihre Hand und half ihr, aufzustehen.

»Sieh mich nicht so an, Karen. Ich werde nie etwas tun, was nicht gut für dich wäre.«

»Ich liebe dich, Dov. Ich schäme mich nicht, daß ich Sehnsucht nach dir habe, und ich habe auch keine Angst davor.«

»Es ist wohl besser, wir gehen jetzt wieder zurück«, sagte er.

Kitty Fremont war in fast ganz Israel herumgefahren und hatte Siedlungen besucht, die mit den denkbar schwierigsten Bedingungen zu kämpfen hatten. Als sie jetzt nach Nahal Midbar fuhr, ahnte sie, was sie zu erwarten hatte. Doch obwohl sie auf das Schlimmste gefaßt gewesen war, sank ihr Herz beim Anblick von Nahal Midbar, dieses Backofens am Rande der Hölle, der von haßerfüllten arabischen Horden bedroht war.

Karen führte Kitty überall herum und zeigte ihr mit spürbarem Stolz, was in drei Monaten hier erreicht worden war. Trotz der hölzernen Hütten und einem kleinen Stück bebauten Landes bot das Ganze noch einen bedrückenden Anblick. Was hier entstand, war das Werk junger Männer und junger Frauen, die von früh bis spät über ihre Kräfte arbeiteten und nachts Wache standen. Ihr ganzes Leben war diesem Aufbau gewidmet.

»In ein paar Jahren«, sagte Karen, »werden hier überall Blumen sein und Sträucher und Bäume, wenn wir nur genug Wasser bekommen.« Sie gingen aus der glühenden Sonne in Karens Lazarettzelt, und beide tranken ein Glas Wasser. Kitty sah durch den Eingang des Zeltes nach draußen. Ihr Blick fiel auf Schützengräben und Stacheldrahtverhaue. Draußen auf den Feldern arbeiteten Männer und Frauen in der Hitze, während andere mit Gewehren in ihrer Nähe standen und Wache hielten. Die eine Hand am Schwert und die andere am Pflug.

Kitty sah zu Karen hinüber. Das Mädchen war so jung und schön. Hier an diesem Ort würde es innerhalb weniger Jahre vorzeitig altern.

»Du willst also wirklich nach Amerika zurück?« sagte Karen. »Ich kann es einfach nicht glauben.«

»Ich habe den Leuten gesagt, ich wollte ein Jahr Urlaub nehmen. Ich habe seit einiger Zeit großes Heimweh. Und jetzt, wo du nicht mehr da bist — möchte ich es mir einfach mal für eine Weile etwas leichter machen. Vielleicht komme ich wieder nach Israel zurück, wer weiß.«

»Und wann willst du fahren?«

»Nach dem Pessach-Fest.«

»So bald schon? Es wird schrecklich sein, Kitty, wenn du nicht mehr bei mir bist.«

»Du bist inzwischen erwachsen, Karen, und hast dein eigenes Leben vor dir.«

»Ich kann es mir ohne dich nicht vorstellen.«

»Oh, wir werden uns schreiben. Wir werden uns immer nahe sein. Und wer weiß, vielleicht wird es für mich auf der ganzen übrigen Welt viel zu langweilig sein, nachdem ich vier Jahre hier in diesem Hexenkessel gelebt habe.«

»Du mußt zurückkommen, Kitty.«

»Das wird die Zeit lehren«, sagte Kitty. »Und was macht Dov? Wie ich höre, ist er mit seiner Ausbildung fertig.«

Karen vermied es, Kitty zu erzählen, daß man Dov vorgeschlagen hatte, nach Amerika zu gehen. Sie wußte, daß sich Kitty auf Dovs Seite stellen würde.

»Er ist am Hule-See. Man plant dort ein großes Projekt zur Senkung des Wasserspiegels, um Neuland zu gewinnen. Er hat einen Auftrag bekommen, daran mitzuarbeiten.«

»Dov ist ein sehr bedeutender junger Mann geworden. Ich habe erstaunliche Dinge über ihn gehört. Wird es ihm möglich sein, zum Pessach-Fest herzukommen?«

»Es sieht nicht danach aus.«

Kitty schnippte mit den Fingern. »Hör mal! Ich habe eine großartige Idee. Jordana hat mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, zu Pessach nach Yad El zu kommen, und ich habe zugesagt. Dov arbeitet ganz in der Nähe. Wie wäre es, wenn auch du nach Yad El kämst?«

»Zum Pessach-Fest sollte ich eigentlich hier sein.«

»Du kannst noch so oft zum Pessach-Fest hier sein. Und diesmal wäre es ein Abschiedsgeschenk für mich.«

Karen lächelte. »Ich werde kommen.« »Gut. Und jetzt — wie steht es denn mit dir und deinem jungen Mann?«

»Alles in Ordnung — nehme ich an«, meinte Karen. Es klang nicht sehr glücklich.

»Habt ihr Streit miteinander gehabt?«

»Nein. Er würde nie mit mir streiten. Ach, Kitty, er ist ja so schrecklich anständig und korrekt — ich könnte manchmal direkt schreien.«

»Ach, so ist das also«, sagte Kitty. »Du bist die typische erwachsene Frau von achtzehn Jahren.«

»Ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll. Kitty, ich — ich werde verrückt, wenn ich an ihn denke. Und wenn wir uns endlich einmal sehen, dann bekommt er es jedesmal mit dem Anstand. Man — vielleicht schickt man ihn eines Tages fort. Es kann zwei Jahre dauern, ehe wir heiraten können. Ich glaube, ich halte das einfach nicht mehr aus.«

»Du liebst ihn sehr, nicht wahr?«

»Ich sterbe vor Sehnsucht nach ihm. Ist es sehr schlimm von mir, daß ich so rede?«

»Aber nein, Karen. Jemanden so sehr zu lieben, ist das Schönste, was es auf der Welt gibt.«

»Kitty, ich — ich wünsche mir so sehr, ihm meine Liebe geben zu können. Ist das etwas Unrechtes?«

Etwas Unrechtes? Wer konnte wissen, wieviel Zeit den beiden blieb, sich zu lieben? Dieser haßerfüllte Feind auf der anderen Seite des Stacheldrahtes — würde er den beiden erlauben, zu leben?

»Liebe ihn, Karen«, sagte Kitty. »Gib ihm all die Liebe, die du in dir hast.«

»Oh, Kitty! Aber er hat solche Angst.«

»Dann hilf ihm, seine Angst zu überwinden. Du gehörst zu ihm, und er gehört zu dir.«

Kitty fühlte sich leer und einsam. Sie hatte Karen, ihre Karen, endgültig fortgegeben. Plötzlich spürte sie Karens Hand auf ihrer Schulter.

»Und du, Kitty — kannst du Ari nicht helfen?«

Kitty stockte einen Augenblick das Herz. »Das ist nicht Liebe, wenn nur der eine liebt und der andere nicht«, sagte sie.

Lange saßen beide schweigend. Kitty ging an den Eingang des Zeltes und sah nach draußen. Schwärme von Fliegen schwirrten durch die Luft. Kitty drehte sich plötzlich um und sah Karen an.

»Ich kann nicht fortgehen, ohne dir zu sagen, daß es mich krank macht, dich hier zu wissen.«

»Die Grenzen müssen verteidigt werden. Es ist sehr leicht, zu sagen: sollen es doch die anderen machen.«

»Drei Monate ist diese Siedlung alt, und schon habt ihr einen Jungen und ein Mädchen auf eurem Friedhof liegen, die von Arabern ermordet wurden.«

»Wir denken anders darüber, Kitty. Zwei haben wir verloren, aber fünfzig sind neu nach Nahal Midbar gekommen, und weitere fünfzig sind gekommen, um fünf Kilometer von hier eine Siedlung zu errichten — weil wir den Anfang gemacht haben. In einem Jahr werden wir ein Kinderheim haben und tausend Dunam Ackerland.« »Und du wirst in einem Jahr anfangen, alt zu werden. Du wirst täglich achtzehn Stunden arbeiten und die Nächte im Schützengraben verbringen. Und alles, was ihr beide, Dov und du, von dieser ganzen Schufterei haben werdet, wird ein kleines Zimmerchen sein, zweifünfzig mal drei Meter. Nicht einmal die Sachen, die ihr anhabt, werden euch gehören.«

»Du irrst dich, Kitty. Dov und ich werden alles haben, was wir uns wünschen.«

»Einschließlich einer Viertelmillion Araber, die nur darauf versessen sind, euch die Kehle durchzuschneiden.«

»Wir können diesen armen Menschen gegenüber keinen Haß empfinden«, sagte Karen. »Tag für Tag und Monat für Monat sitzen sie da, eingesperrt wie Tiere im Käfig, und müssen zusehen, wie unsere Felder grün werden.«

Kitty ließ sich auf ein Feldbett sinken und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.

»Kitty, hör doch zu —.«

»Ich kann nicht.«

»Bitte — hör mich bitte an. Du weißt, daß ich mich schon als kleines Mädchen in Dänemark gefragt habe, was es eigentlich zu bedeuten hat, daß ich als Jüdin zur Welt gekommen bin. Jetzt weiß ich die Antwort auf diese Frage. Gott hat die Juden nicht deshalb auserwählt, weil sie vor der Gefahr davonlaufen. Wir haben sechstausend Jahre lang Verfolgung und Erniedrigung ertragen und sind unserem Glauben treu geblieben. Wir haben jeden überlebt, der versuchte, uns zu vernichten. Begreifst du denn gar nicht, Kitty — dieses kleine Land hier wurde uns bestimmt, weil sich hier die Wege der Welt scheiden und die Wildnis beginnt. Hier an dieser Stelle wünschte Gott Sein Volk zu sehen — an den Grenzen, damit es über Seine Gesetze wache, die das Rückgrat der moralischen Existenz der Menschen darstellen. Wo sollten wir sein, wenn nicht hier?«

»Israel steht mit dem Rücken gegen die Wand«, sagte Kitty heftig. »So hat es immer gestanden, und so wird es immer stehen — und immer werdet ihr von unversöhnlichen Gegnern umgeben sein, die entschlossen sind, euch zu vernichten.«

»Nein, Kitty, nein! Israel ist die Brücke zwischen der Finsternis und dem Licht.«

Und auf einmal begriff Kitty, sah es so deutlich — so wunderbar klar. Das also war die Antwort: Israel, die Brücke zwischen der Finsternis und dem Licht.

V.

Einen Abend gibt es, der sich für jeden Juden von allen anderen unterscheidet und von besonderer Bedeutung ist: der Beginn des Pessach-Festes. Das Pessach-Fest wird zur Erinnerung an die Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten begangen. Die damaligen Unterdrücker, die alten Ägypter, wurden zum Symbol für alle Unterdrücker der Juden durch die Jahrtausende.

Der Höhepunkt dieses Festes ist der Seder — die Feier der Befreiung, die am Vorabend des Pessach-Festes begangen wird, um dem Dank für die Freiheit Ausdruck zu geben und um denen Hoffnung zu verleihen, die in der Unfreiheit leben. In der Verbannung und in der Diaspora, vor der Wiedergeburt des Staates Israel, endete diese Feier stets mit den Worten: »Nächstes Jahr in Jerusalem.«

An diesem Abend wird aus der Haggada vorgelesen, einem Buch, das besondere Gebete, Erzählungen und Lieder für das Pessach-Fest enthält, die zum Teil dreitausend Jahre alt sind. Das Oberhaupt der Familie liest die Geschichte vom Auszug der Kinder Israels aus Ägypten.

Die Seder-Feier war immer und überall der Höhepunkt des Jahres. Wochenlang waren die Hausfrauen mit den Vorbereitungen für diesen Abend beschäftigt. Das Haus mußte peinlich gesäubert werden, die Räume wurden geschmückt, und besondere Passach-Speisen wurden bereitet.

Überall in Israel war man fieberhaft mit den Vorbereitungen für den Seder beschäftigt. In Yad El, im Haus der Familie Ben Kanaan, sollte der Seder in diesem Jahre in einem verhältnismäßig kleinen Kreis gefeiert werden. Dennoch mußte Sara die rituellen Vorschriften bis auf das I-Tüpfelchen erfüllen. Diese Arbeit war ihr eine Herzenspflicht, die sie sich nicht nehmen ließ. Das Haus wurde innen und außen gescheuert. Am Tage der Feier schmückte sie die Räume mit riesigen Galiläarosen. Der siebenarmige Menora-Leuchter war glänzend geputzt. Alle besonderen Pessach-Speisen standen bereit: verschiedene Kuchen, Plätzchen und Süßigkeiten, und Sara hatte ihr bestes Kleid angelegt.

Sutherland fuhr mit Kitty im Wagen von seinem Haus in Safed nach Yad El.

»Daß Sie Israel verlassen wollen, gefällt mir gar nicht«, brummte Sutherland. »Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.«

»Ich habe lange darüber nachgedacht, Bruce. Es ist das Beste so. Und jetzt scheint mir der richtige Augenblick dafür zu sein.« »Meinen Sie wirklich, daß die Einwanderung ihren Höhepunkt überschritten hat?«

»Der erste Ansturm ist jedenfalls vorbei. Es gibt noch viele kleinere jüdische Gruppen, die hierherkommen wollen, aber in Europa festsitzen — wie etwa die Juden in Polen. Für die Juden in Ägypten kann die Lage jederzeit unhaltbar werden. Doch die Hauptsache ist, daß die entsprechenden Organisationen in Israel jetzt soweit sind und so fest auf eigenen Füßen stehen, daß man allen Schwierigkeiten gewachsen ist.«

»Sie meinen die Schwierigkeiten kleineren Ausmaßes«, sagte Sutherland. »Wie steht es mit den großen?«

»Ich verstehe Sie nicht ganz.«

»In den Vereinigten Staaten leben sechs Millionen Juden, und in Rußland vier. Wie steht es damit?«

Kitty dachte eine Weile intensiv nach, ehe sie antwortete. »Bei den paar amerikanischen Juden, die nach Israel gekommen sind, handelt es sich entweder um Idealisten oder um Neurotiker. Ich glaube nicht, daß der Tag jemals kommen wird, an dem amerikanische Juden aus Angst vor Verfolgung nach Israel kommen müßten. Ich möchte diesen Tag jedenfalls nicht erleben. Was Rußland angeht, so gibt es da eine seltsame und ergreifende Geschichte, die verhältnismäßig wenig Menschen kennen.«

»Sie machen mich neugierig«, sagte Sutherland.

»Nun, Sie wissen sicherlich, daß man in Rußland versucht hat, das jüdische Problem dadurch aus der Welt zu schaffen, daß man die Alten einfach aussterben ließ und die Jungen von frühester Kindheit an ideologisch zu drillen begann. Und Sie wissen natürlich auch, daß der Antisemitismus in Rußland noch immer sehr heftig ist.«

»Ich habe davon gehört.«

»Diese unwahrscheinliche Geschichte, von der ich berichten will, ereignete sich bei den letzten hohen Festtagen, und sie zeigt, daß der Versuch der Sowjets völlig mißlungen ist. Der israelische Gesandte begab sich zu der einzigen Synagoge, die es in Moskau noch gibt. Nach dreißig Jahren des Schweigens erschienen auf den Straßen plötzlich dreißigtausend Juden, die den Abgesandten aus Israel nur einmal sehen und berühren wollten! Ja, ich glaube, daß es eines Tages eine große Einwanderungswelle von Juden aus Rußland geben wird.«

Was Kitty da erzählt hatte, berührte Sutherland zutiefst. Er dachte schweigend darüber nach. Ja, so war es: ein Jude hörte niemals auf, Jude zu sein. Und irgend einmal kam der Tag, an dem er sich zu seinem Judentum bekennen mußte. Sutherland dachte an seine geliebte Mutter.

Sie bogen von der Hauptstraße ab und fuhren nach Yad El hinein. Sara ben Kanaan kam aus dem Haus gestürzt, um sie zu begrüßen. »Sind wir die ersten?«

»Dov ist schon da. Aber nun kommt schon — herein, herein.«

Dov kam ihnen entgegen. Er schüttelte Sutherland die Hand und umarmte Kitty herzlich. Sie hielt ihn auf Armeslänge von sich. »Major Dov Landau, Sie sehen von Mal zu Mal besser aus.« Sutherland besah sich Saras Rosen im Wohnzimmer nicht ohne ein Gefühl des Neides.

»Wo sind denn all die andern?« fragte Kitty.

»Jordana ist gestern abend nach Haifa gefahren. Sie sagte, sie werde heute beizeiten zurück sein«, erklärte Sara.

»Karen schrieb mir, daß sie einen Tag vorher von Nahal Midbar fortfahren wollte«, sagte Dov. »Das wäre also gestern gewesen. Da hat sie an sich reichlich Zeit, herzukommen. Aber vielleicht hat sie in Haifa übernachtet.«

»Kein Grund zur Aufregung«, sagte Sutherland. »Sie wird bestimmt rechtzeitig zum Seder hier sein.«

Kitty war enttäuscht, daß Karen noch nicht da war, doch sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Das Verkehrsproblem war sehr schwierig, besonders an einem Festtag. »Kann ich Ihnen bei irgend etwas helfen?« fragte sie Sara.

»Ja, indem Sie sich hinsetzen und es sich gemütlich machen. Es sind schon ein Dutzend Anrufe für Sie gekommen. Im ganzen Hule-Tal wissen Ihre Kinder, daß Sie herkommen. Sie sagten, sie wollten auf einen Sprung hereinsehen, um Ihnen guten Tag zu sagen.«

Sara entfernte sich eilig wieder in ihre Küche.

Kitty wandte sich an Dov. »Ich habe viel Gutes über Sie gehört, Dov«, sagte sie.

Dov zog die Schultern hoch.

»Seien Sie nicht unnötig bescheiden. Man hat mir berichtet, daß Sie mit einem großen Projekt zur Regulierung des Jordan beschäftigt sind.«

»Ja, allerdings brauchen wir dazu das Einverständnis der Syrer, aber die werden natürlich nicht einverstanden sein. Dabei wäre der Vorteil für Syrien und Jordanien zehnmal größer als für uns. Trotzdem sind sie dagegen.«

»Und aus welchem Grund?« fragte Sutherland.

»Wir müssen den Lauf des Jordan einige Kilometer weit verändern. Die Araber behaupten, wir täten das aus strategischen Gründen, obwohl wir ihnen angeboten haben, Beobachter zu entsenden. Aber wir werden es schon schaffen.«

Dov holte tief Luft. Es war ihm deutlich anzumerken, daß er etwas auf dem Herzen hatte, über das er mit Kitty gern gesprochen hätte. Sutherland, dem das nicht entgangen war, begab sich an das andere Ende des Raumes und beschäftigte sich angelegentlich mit den Büchern, die dort standen.

»Hören Sie, Kitty«, sagte Dov, »ich hätte gern mit Ihnen über Karen gesprochen, bevor sie da ist.«

»Ja, Dov, gern.«

»Sie ist schrecklich eigensinnig.«

»Ich weiß. Ich war vor ein paar Wochen in Nahal Midbar, und wir hatten ein langes Gespräch miteinander.«

»Hat sie Ihnen erzählt, daß ich die Möglichkeit habe, in Amerika zu studieren?«

»Nein, sie hat mir nichts davon erzählt, doch ich wußte es ohnehin schon. Wissen Sie, ich habe so lange in Israel gelebt, daß ich mein eigenes Spionagesystem entwickelt habe.«

»Ich weiß nicht, was ich machen soll. Sie meint, sie könne die Siedlung nicht im Stich lassen. Ich fürchte, sie wird sich weigern, mit mir zu kommen. Ich — ich kann mich einfach nicht für zwei Jahre von ihr trennen.«

»Ich werde sie mir vornehmen«, sagte Kitty lächelnd. »Karens Widerstand wird von Minute zu Minute schwächer. Keine Sorge, Dov — das kommt bestimmt alles in Ordnung.«

Die Haustür wurde aufgerissen, und Jordana stürmte mit ausgebreiteten Armen herein.

»Schalom alle miteinander«, rief sie.

Kitty umarmte sie.

»Ima!« rief Jordana. »Komm her — ich habe eine Überraschung für dich!«

Sara kam eben aus der Küche gestürzt, als Ari zur Haustür hereinkam.

»Ari!«

Sara suchte nach ihrem Taschentuch, während ihr vor Freude die Tränen in die Augen stiegen und sie ihren Sohn umarmte.

»Ari! Oh, Jordana, du rothaariger Teufel! Warum hast du mir denn nichts davon gesagt, daß Ari kommt!«

»Weißt du, Mama«, sagte Ari, »wir hatten uns gedacht, daß du vielleicht auch für einen unerwarteten Gast etwas zu essen hast.«

»Ihr Teufel!« sagte Sara, drohte den beiden mit dem Finger und wischte sich mit dem Taschentuch verstohlen über die Augen. »Laß dich ansehen, mein Sohn. Du siehst müde aus, Ari. Du arbeitest zuviel.«

Ari nahm sie lachend in die Arme. Und dann entdeckte er Kitty Fremont.

Im Raum entstand ein unbehagliches Schweigen, während die beiden einander anstarrten. Jordana, die das Zusammentreffen sorgfältig arrangiert hatte, sah von einem zum andern.

Kitty erhob sich langsam. »Schalom, Ari«, sagte sie.

»Schalom«, flüsterte er.

»Macht es euch gemütlich«, sagte Jordana, hakte ihre Mutter unter und ging mit ihr in die Küche.

Dov begrüßte Ari. »Schalom, Brigadier Ben Kanaan«, sagte er.

Kitty beobachtete Dov. Seine Augen leuchteten vor Begeisterung, während er zu Ari, dem Kommandeur der »Wüstenwölfe« aufsah. »Schalom, Dov. Sie sehen gut aus. Wie ich höre, wollt ihr uns da unten in der Wüste Wasser bringen.«

»Wir werden uns große Mühe geben, Brigadier.«

Sutherland und Ari schüttelten sich die Hände.

»Ich habe Ihren Brief bekommen, Sutherland. Sie sind jederzeit herzlich in Elath willkommen.«

»Ich bin sehr begierig, mir die Negev-Wüste einmal genau anzusehen. Vielleicht können wir schon unser Treffen verabreden.« »Gern. Und wie macht sich Ihr Garten?«

»Also, ich muß sagen, die Rosen Ihrer Mutter sind die ersten, die ich mit einem gewissen Neid betrachtet habe. Aber hören Sie, alter Junge, Sie dürfen diesmal nicht wieder abfahren, ohne vorher einen Nachmittag bei mir gewesen zu sein.«

»Ich werde versuchen, es mir einzurichten.«

Wieder entstand ein betretenes Schweigen, als Bruce Sutherland den Blick von Ari auf Kitty richtete. Sie stand noch immer da und sah Ari an. Sutherland hakte Dov unter und ging mit ihm auf die Tür zum Nebenzimmer zu. »Also, Major Landau, das müssen Sie mir jetzt mal genau erklären, wie ihr Burschen es eigentlich anfangen wollt, den Hule-See zu senken und das Wasser in den See von Genezareth abzuleiten. Das ist keine Kleinigkeit —.«

Ari und Kitty waren allein.

»Sie sehen gut aus«, sagte Kitty schließlich.

»Sie auch.«

Danach verstummten beide wieder.

»Ich — wie geht es eigentlich der kleinen Karen? Kommt sie auch her?«

»Ja, sie kommt. Wir erwarten sie jeden Augenblick.«

»Hätten Sie Lust, einen kleinen Spaziergang zu machen? Es ist schöne frische Luft draußen.«

»Ja, warum nicht?« sagte Kitty.

Sie gingen stumm zum Gartentor hinaus, den Weg am Rande der Felder entlang und durch den Olivenhain, bis sie an den Jordan kamen. Überall roch es nach Frühling. Ari sah Kitty an. Sie war noch schöner, als er sie in Erinnerung gehabt hatte.

»Ich — ich schäme mich wirklich, daß ich noch nie in Elath war«, sagte Kitty. »Der Kommandant von Ber Scheba hat mir mehrfach angeboten, mich hinzufliegen. Ich glaube, ich sollte es mir wirklich einmal ansehen.«

»Der Blick auf das Wasser und die Berge ist sehr schön.«

»Wächst die Stadt?«

»Sie würde sich rascher entwickeln als irgendeine Stadt der Welt, wenn die Blockade nicht wäre und wir Elath als Tor zum Fernen Osten in Betrieb nehmen könnten.«

»Ari«, sagte Kitty ernst, »wie ist die Situation da unten?«

»Wie sie immer gewesen ist — und immer sein wird.«

»Das Unwesen der arabischen Banden nimmt zu, nicht wahr?« »Diese armen Teufel sind nicht unsere schlimmste Sorge. Aber der Gegner massiert seine Kräfte auf der Halbinsel Sinai, um den gesamten Mittleren Osten zu überrennen. Wir werden gezwungen sein, zuerst zuzuschlagen, wenn wir am Leben bleiben wollen.« Ari machte eine Pause und sagte dann lächelnd: »Wissen Sie, was meine Jungens sagen? Wir sollten über die Grenze gehen, zum Berge Sinai, und Gott die Tafel mit den Zehn Geboten zurückgeben — die ganze Sache hätte uns genug Ärger gemacht.«

Kitty starrte lange in das rauschende Wasser des Stroms. Sie seufzte bekümmert. »Ich bin krank vor Sorge um Karen. Sie ist da an der Grenze von Gaza — in Nahal Midbar.«

»Eine üble Ecke«, brummte Ari. »Aber es sind zähe junge Leute. Sie werden es schaffen.«

Ja, dachte Kitty, das war typisch Ari, diese Antwort.

»Ich höre, Sie wollen nach Amerika zurück.«

Kitty nickte.

»Sie sind eine Berühmtheit geworden.«

»Mehr eine Kuriosität«, sagte Kitty.

»Sie sind sehr bescheiden.«

»Ich bin sicher, daß Israel auch ohne mich gut auskommt.«

»Und warum wollen Sie wieder nach Amerika?«

»Sie haben Dov gesehen — inzwischen Major Dov Landau. Er ist ein sehr erfreulicher junger Mann, und Karen wird bei ihm in guten Händen sein. Warum ich weggehe? Ich weiß nicht — vielleicht möchte ich nur vermeiden, so lange hier zu bleiben, bis man mich nicht mehr haben will. Vielleicht gehöre ich hier immer noch nicht so ganz dazu. Oder vielleicht habe ich Heimweh. Ich könnte alle möglichen Gründe anführen. Jedenfalls möchte ich mal ein Jahr lang Urlaub machen und meine Zeit damit verbringen, nachzudenken — einfach nur nachzudenken.«

»Vielleicht handeln Sie damit sehr weise. Es ist eine gute Sache, unbehindert vom Zwang der täglichen Pflichten nachdenken zu können. Mein Vater konnte sich diesen Luxus erst in seinen beiden letzten Lebensjahren leisten.«

Sie schienen auf einmal beide nicht mehr zu wissen, was sie sagen sollten.

»Es ist wohl besser, wir gehen jetzt wieder zurück«, sagte Kitty. »Ich möchte gern im Haus sein, wenn Karen kommt. Außerdem wollen mich einige von meinen Kindern besuchen kommen.«

»Kitty — einen Augenblick noch.«

»Ja?«

»Ich möchte Ihnen gern sagen, wie froh ich darüber bin, daß Sie sich mit Jordana so angefreundet haben. Sie sind ihr eine große Hilfe gewesen. Ich habe mir wegen der rastlosen Unruhe meiner Schwester oft Sorgen gemacht.«

»Sie ist sehr unglücklich. Niemand kann wirklich ganz ermessen, wie sehr sie David geliebt hat.«

»Wie lange wird es dauern, bis sie darüber hinwegkommt?« »Ich weiß es nicht, Ari. Aber ich bin nun schon so lange hier, daß ich ein hemmungsloser Optimist geworden bin. Eines Tages wird es auch für Jordana wieder ein neues Glück geben.«

Unausgesprochen stand zwischen ihren Worten die Frage: gab es eines Tages auch für sie ein neues Glück, für sie und für ihn?

»Gehen wir«, sagte Kitty.

Den ganzen Nachmittag über kamen aus Gan Dafna und einem Dutzend verschiedener Siedlungen im Hule-Tal Kittys »Kinder«, um sie zu begrüßen. Und die Leute von Yad El kamen, um Ari zu begrüßen. Im Haus der Familie Ben Kanaan herrschte ein beständiges Kommen und Gehen. Alle erinnerten sich daran, wie sie Kitty zum erstenmal hier erlebt hatten, eine Kitty, die sich fremd und unbehaglich gefühlt hatte. Jetzt unterhielt sie sich mit ihnen in ihrer Sprache, und alle sahen voller Bewunderung zu ihr auf.

Viele »ihrer« Kinder hatten eine weite Reise unternehmen müssen, um ein paar Minuten mit ihr verbringen zu können. Manche hatten inzwischen geheiratet und konnten ihr den Mann oder die Frau vorstellen. Fast alle von ihnen trugen die Uniform der israelischen Armee.

Je weiter der Nachmittag vorrückte, desto nervöser wurde Kitty, weil Karen noch immer nicht gekommen war. Dov ging wiederholt auf die Hauptstraße hinaus, um nach ihr Ausschau zu halten.

Am späten Nachmittag hatten sich alle Besucher verabschiedet und waren nach Hause gegangen, um den Seder mit ihrer Familie zu feiern.

»Wo zum Teufel bleibt eigentlich dieses Mädchen?« sagte Kitty, indem sie ihre tiefe Sorge mit vermeintlichem Ärger tarnte. »Wahrscheinlich ist sie ganz in der Nähe«, sagte Dov.

»Sie hätte wenigstens anrufen und Bescheid sagen können, daß sie später kommt. Diese Gedankenlosigkeit sieht Karen so gar nicht ähnlich«, sagte Kitty.

»Hören Sie mal, Kitty«, sagte Sutherland. »Sie wissen doch, daß es heute einen Parlamentsbeschluß erfordern würde, um mit einem Ferngespräch durchzukommen.«

»Ich werde mal zur Zentrale gehen und ein eiliges Dienstgespräch nach Nahal Midbar anmelden«, sagte Ari, der sah, wie besorgt Kitty war. »Vielleicht weiß man dort, wo sie unterwegs Station machen wollte, und wir können sie irgendwo abholen.«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar«, sagte Kitty.

Kurze Zeit, nachdem Ari gegangen war, kam Sara herein und gab bekannt, daß die Seder-Tafel fertig sei und besichtigt werden könne. Jetzt war für sie nach wochenlanger Arbeit der Augenblick des Triumphes gekommen. Sie öffnete die Tür zum Speisezimmer, und die Gäste traten vorsichtig und auf Zehenspitzen unter vielen »Ohs« und »Ahs« näher.

Auf der Tafel schimmerten die besten Silberbestecke und die schönsten Teller, die nur einmal im Jahr benutzt wurden. In der Mitte standen die silbernen Leuchter, und daneben ein großer, kostbar verzierter Silberpokal, der »Becher des Elias«. Er stand dort, mit Wein gefüllt, als Willkommenstrunk für den Propheten. Wenn der Prophet kam und aus dem Becher trank, so bedeutete es, daß die Ankunft des Messias nahe bevorstand.

An jedem Platz standen silberne Becher, die viermal während der Feier mit einem besonders schweren und köstlichen Wein gefüllt wurden. Diesen Wein, ein Symbol der Freude, trank man, während der Erzähler von den zehn Plagen berichtete, die Gott über Pharao verhängt hatte, und während man das Lied der Miriam sang, das erzählte, wie sich das Rote Meer über dem Heer des Pharao geschlossen hatte.

In der Mitte der Tafel und in der Nähe der Leuchter stand auch die goldene Seder-Schüssel mit den symbolischen Speisen: Matzen, das ungesäuerte Brot, zur Erinnerung daran, wie die Kinder Israels Ägypten so rasch verlassen mußten, daß keine Zeit blieb, um das Brot zu säuern, ein Ei als Symbol des freiwilligen Opfers, Kresse als Symbol des Frühlings und ein Lammschenkel zur Erinnerung an die Opfer, die Gott im Großen Tempel dargebracht wurden. Da gab es auch noch ein Gemisch aus kleingeschnittenen Nüssen und Äpfeln, zur Erinnerung an den Mörtel, den die Juden als Sklaven der Ägypter zum Bau von Häusern mischen mußten, und Maror, bittere Kräuter als Symbol der Bitterkeit des ägyptischen Jochs.

Als man alles bewundert hatte, scheuchte Sara sie wieder hinaus, und sie begaben sich in das Wohnzimmer zurück. Jordana war die erste, die Ari sah. Er lehnte bleich und mit erloschenem Blick in der Tür. Er versuchte zu sprechen, doch er brachte kein Wort heraus, und plötzlich wußten sie es alle.

»Karen!« rief Kitty. »Wo ist Karen?«

Ari ließ den Kopf sinken.

»Wo ist Karen?«

»Sie ist tot. Sie wurde gestern nacht von einer Fedayin-Bande ermordet.«

Kitty schrie auf und sank zu Boden.

Als Kitty die Augen wieder aufschlug, sah sie Sutherland und Jordana, die bleich und vor Kummer wie betäubt bei ihr knieten.

Kitty richtete sich langsam auf und erhob sich mühsam.

»Legen Sie sich wieder hin, bitte«, sagte Sutherland.

»Nein«, sagte Kitty, »nein.« Sie machte sich von Sutherland los.

»Ich muß zu Dov. Ich muß zu ihm.«

Mit unsicher schwankenden Schritten ging sie hinaus und fand Dov, der im Zimmer nebenan in einer Ecke hockte. Sie stürzte zu ihm, und nahm ihn in die Arme.

»Dov, mein armer Dov«, sagte sie weinend.

Dov vergrub sein Haupt an ihrer Brust und schluchzte verzweifelt. Kitty wiegte ihn in ihren Armen, und sie weinten miteinander, bis sich die Dunkelheit über das Haus der Familie Ben Kanaan senkte und keiner mehr Tränen hatte.

»Ich bleibe bei dir, Dov«, sagte Kitty. »Ich bin für dich da. Wir werden es schon schaffen, Dov.«

Dov erhob sich unsicher. »Es wird mich nicht umschmeißen, Kitty«, sagte er. »Ich mache weiter. Sie soll stolz auf mich sein.«

»Dov, ich bitte dich — werde jetzt nicht wieder so, wie du früher warst.«

»Nein«, sagte er. »Ich habe darüber nachgedacht. Ich kann diesen Menschen gegenüber keinen Haß empfinden, weil Karen es nicht konnte. Sie war nicht imstande, irgendeinem Lebewesen gegenüber Haß zu empfinden. Wir — hat sie mir einmal gesagt, wir könnten unser Ziel nie erreichen, wenn wir die anderen haßten.«

Sara ben Kanaan erschien in der Tür. »Ich weiß, wie schwer uns allen ums Herz ist«, sagte sie. »Aber wir wollen deshalb doch mit dem Seder beginnen.«

Kitty sah Dov an, und Dov nickte.

Schweigend, in Trauer begaben sie sich zum Eßzimmer. Vor der Tür nahm Jordana Kitty beiseite.

»Ari sitzt allein draußen in der Scheune«, sagte sie. »Willst du nicht zu ihm gehen?«

Kitty ging nach draußen. Sie sah, wie aus den Fenstern der Häuser der Lichtschein fiel. Überall hatte die Seder-Feier begonnen. In diesem Augenblick erzählten ringsum die Väter ihren Familien die jahrtausendealte Geschichte vom Auszug der Kinder Israels, wie sie seit jeher von den Oberhäuptern der Familie erzählt worden war, und wie sie auch in alle Zukunft erzählt werden würde.

Es begann zu nieseln, und Kitty ging rascher auf den flackernden Lichtschein zu, der aus der Scheune fiel. Ari saß, mit dem Rücken zu ihr, auf einem Heubündel. Sie ging zu ihm hin und legte ihm die Hand von hinten auf die Schulter.

»Ari, wir wollen mit dem Seder anfangen.«

Er wandte den Kopf, hob den Blick, und Kitty wich einen Schritt zurück, so sehr erschrak sie, als sie Aris Gesicht sah, in dem sich eine Qual spiegelte, wie sie sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Ari sah sie an, doch er schien sie kaum zu erkennen. Er wandte sich wieder ab, verbarg das Gesicht in den Händen und ließ die Schultern sinken.

»Ari — es ist Zeit für den Seder.«

»Mein Leben lang — mein ganzes Leben lang — habe ich mit ansehen müssen, wie man sie umgebracht hat, die ich liebe — einen nach dem andern — alle.«

Die Worte kamen aus der abgründigen Tiefe einer grenzenlosen Verzweiflung. Kitty war erschüttert und erschreckt. Dieser Mann, der von tiefer Qual geschüttelt wurde, war ihr unbekannt.

»Ich bin mit ihnen gestorben. Tausend Tode bin ich gestorben. Und jetzt bin ich innerlich leer — und allein.«

»Ari — Ari —.«

»Warum müssen wir halbe Kinder dazu verurteilen, an solchen Orten zu leben? Ich verstehe nichts mehr! — Dieses wunderbare Mädchen — dieser Engel — warum — warum mußte auch sie umgebracht werden?«

Ari erhob sich mühsam und unsicher. Alle Energie, alle Kraft und Selbstbeherrschung hatten ihn verlassen. Dieser Mann, das war nicht Ari ben Kanaan, das war ein müdes, zerschlagenes Wrack.

»Warum müssen wir kämpfen um das Recht zu leben — immer wieder, jeden Tag von neuem?«

Die Jahre der Spannung, die Jahre des Kampfes und des herzzerbrechenden Kummers schlugen wie eine Flut über ihm zusammen. Ari hob das schmerzerfüllte Gesicht zum Himmel auf und ballte die Hände zur Faust. »Warum, o Gott, warum läßt man uns nicht in Ruhe! Warum lassen uns die Menschen nicht leben!« Er ließ den Kopf auf die Brust sinken, stand da mit hängenden Schultern und zitterte.

»O Ari«, rief Kitty weinend. »Ari! Was habe ich dir angetan! Wie war es nur möglich, daß ich so gar nicht begriff! Ari, Liebster — was mußt du gelitten haben. Kannst du mir jemals verzeihen, daß ich dir so weh getan habe.«

»Ich bin nicht richtig bei mir«, sagte Ari mit schwacher Stimme. »Bitte sag den andern nichts von dem, was du hier gesehen hast.« »Nein«, sagte Kitty. »Aber wir müssen jetzt ins Haus. Sie warten auf uns.«

»Kitty!«

Sehr langsam kam er auf sie zu, bis er vor ihr stand und in ihre Augen sah. Langsam sank er auf seine Knie, schlang die Arme um sie und drückte seinen Kopf an ihren Schoß.

Ari ben Kanaan weinte.

Es hörte sich seltsam und erschreckend an. Er schüttete seine ganze Seele aus, er weinte für all die vielen Male in seinem Leben, da er es sich nicht gestattet hatte, zu weinen.

Kitty drückte seinen Kopf an sich, strich ihm durch das Haar und flüsterte ihm tröstend zu.

»Geh nicht fort von mir«, sagte Ari weinend.

Wie hatte sie sich danach gesehnt, solche Worte von ihm zu hören! Ja, dachte sie, ich werde bei dir bleiben, heute nacht und ein paar Tage lang, denn jetzt brauchst du mich, Ari. Doch selbst in diesem Augenblick, wo du zum erstenmal in deinem Leben zu weinen wagst, schämst du dich deiner Tränen. Du brauchst mich jetzt, in diesem Augenblick; doch morgen — morgen wirst du wieder Ari ben Kanaan sein. Du wirst wieder ganz der starke, trotzige Ari ben Kanaan sein, der sein Herz gegen die Tragik verhärtet. Und dann — dann wirst du mich nicht mehr nötig haben.

Sie half ihm aufstehen und trocknete seine Tränen. Er konnte sich kaum auf den Füßen halten. Kitty legte seinen Arm über ihre Schultern und stützte ihn. So gingen sie langsam aus der Scheune hinaus. Durch das Fenster konnten sie sehen, wie Sara die Kerzen der Menora ansteckte. Ari blieb stehen, ließ sie los, richtete sich auf und stand aufrecht, groß und stark. Schon jetzt war er wieder Ari ben Kanaan.

»Ehe wir hineingehen, Kitty, muß ich dir etwas sagen. Ich muß dir sagen, daß ich Dafna nie so geliebt habe, wie ich dich liebe. Du weißt, was für ein Leben du an meiner Seite zu erwarten hast?«

»Ja, Ari, ich weiß es.«

»Ich bin nicht wie andere Männer. Vielleicht dauert es Jahre — oder auch noch länger — bis es mir einmal möglich ist, zu sagen, daß mein Verlangen nach dir zuerst kommt, vor allem anderen — vor den Bedürfnissen dieses Landes. Wird es dir möglich sein, das zu verstehen?«

»Ja, Ari, ich werde es verstehen, immer.«

Alle betraten das Speisezimmer. Die Männer setzten kleine Kappen auf.

Dov und Jordana, und Ari und Kitty, Sutherland und Sara. Ihre Herzen waren schwer vor Kummer. Als Ari an das Kopfende der Tafel ging, um den Platz von Barak einzunehmen, berührte Sutherland seinen Arm.

»Falls Sie nichts dagegen haben«, sagte Sutherland. »Ich bin hier der Älteste — erlauben Sie, daß ich den Seder lese?«

»Es ist uns eine Ehre«, sagte Ari.

Sutherland ging an das Kopfende der Tafel, an den Platz des Oberhauptes der Familie. Alle setzten sich, und jeder öffnete sein Exemplar der Haggada. Er begann mit den vorgeschriebenen Segenssprüchen. Dann nickte Sutherland Dov Landau als dem Jüngsten der bei Tisch Versammelten zu, und Dov räusperte sich und las: »Warum ist dieser Abend anders als alle anderen Abende des Jahres?«

»Der heutige Abend ist anders als alle anderen, weil wir heute den wichtigsten Augenblick in der Geschichte unseres Volkes feiern. An diesem heutigen Abend feiern wir den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten, ihren Aufbruch aus der Sklaverei in die Freiheit.«

ENDE

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