4. JUNI’78

Das Museum für Außerirdische Kulturen. Nachts

Um 1:08 Uhr piepste der Armbandsender an meinem Handgelenk, und Seine Exzellenz flüsterte hastig: »Mak, Museum, Haupteingang, schnell …«

Ich klappte die Kabinenhaube zu, um mich vor dem Fahrtwind zu schützen, und schaltete das Triebwerk auf Schnellstart. Der Gleiter zischte in den Himmel. Drei Sekunden bremsen. Zweiundzwanzig Sekunden Gleitflug und Orientierung. Der Platz der Sterne war leer. Vor dem Haupteingang auch niemand. Seltsam … Aha. Aus der Null-T-Kabine an der Ecke des Museums stieg jetzt eine schwarze hagere Figur. Bewegte sich zum Haupteingang. Seine Exzellenz.

Die Maschine landete lautlos vor dem Haupteingang. Sofort leuchtete im Bedienfeld ein Signallämpchen auf, und die sanfte Stimme des Kontrollkybers sagte vorwurfsvoll: »Die Landung von Gleitern auf dem Platz der Sterne ist nicht erlaubt …« Ich klappte das Kabinendach zurück und sprang auf das Pflaster. Seine Exzellenz machte sich schon an der Tür zu schaffen und hantierte mit einem Magnetdietrich. »Die Landung von Gleitern auf dem Platz der Sterne …«, verkündete der Kontrollkyber penetrant.

»Stopf ihm den Mund«, presste Seine Exzellenz zwischen den Zähnen hervor, ohne sich umzuwenden.

Ich schlug das Kabinendach zu. In derselben Sekunde öffnete sich der Haupteingang.

»Mir nach!«, befahl Seine Exzellenz und verschwand in der Dunkelheit.

Ich folgte ihm. Ganz wie in alten Zeiten.

In langen, lautlosen Sätzen eilte er vor mir her - groß und hager, gewandt und völlig schwarz gekleidet glich er dem Schatten eines mittelalterlichen Dämons. Mir schoss plötzlich durch den Kopf, dass wohl noch keiner von unseren Grünschnäbeln Seine Exzellenz so zu Gesicht bekommen hatte. Nur der alte Turm, Pjotr Angelow und ich hatten ihn so erlebt - vor fünfzehn Jahren …

Er führte mich auf einem komplizierten, verschlungenen Weg von Saal zu Saal, von Korridor zu Korridor, und konnte sich inmitten all der Stände und Vitrinen fehlerlos orientieren; zwischen all den Statuen und Attrappen, die aussahen wie groteske Mechanismen, und all den Apparaten und Mechanismen, die aussahen wie groteske Statuen. Nirgends war Licht - offenbar war die Automatik vorher abgeschaltet worden -, aber er irrte sich kein einziges Mal und kam nicht vom Weg ab, obwohl ich wusste, dass er nachts wesentlich schlechter sah als ich. Seine Exzellenz hatte sich gründlich auf diesen nächtlichen Exkurs vorbereitet, und bisher war ihm alles bestens

Plötzlich hielt er inne, und kaum dass ich neben ihm stand, krallte er die Finger in meine Schulter. Im ersten Moment bekam ich einen Schreck und dachte, sein Herz könnte ihm zu schaffen machen; doch dann begriff ich: Wir waren angekommen, und er wollte warten, bis er wieder zu Atem käme.

Ich schaute mich um. Leere Tische. An den Wänden entlang standen Regale voller exoplanetarer Wunderdinge. Xenografische Projektoren an der entfernteren Schmalseite. Das alles hatte ich schon gesehen. Ich war hier gewesen. Es war das Arbeitszimmer von Maja Toivowna Glumowa. Da stand ihr Tisch, und in diesem Sessel hatte der Journalist Kammerer gesessen …

Seine Exzellenz ließ meine Schulter los, trat zu den Regalen, bückte sich und ging in gebückter Haltung die Reihen entlang - er hielt nach etwas Ausschau. Dann blieb er stehen, hob angestrengt etwas hoch und ging langsam zu dem Tisch, der unmittelbar vor dem Eingang stand. Den Oberkörper leicht zurückgeneigt, hielt er einen langen Gegenstand in seinen Händen - eine Art flachen Klotz mit abgerundeten Ecken. Vorsichtig, ohne die geringste Erschütterung, legte er den Gegenstand auf den Tisch, verharrte einen Augenblick reglos und lauschte; dann zog er plötzlich wie ein Zauberkünstler ein langes Halstuch mit Fransen aus der Brusttasche. Mit einer geschickten Bewegung faltete er es auseinander und warf es über den Klotz. Dann kehrte er zu mir zurück, beugte sich zu meinem Ohr herab und flüsterte kaum hörbar: »Wenn er dieses Tuch berührt - dann fasse ihn. Wenn er uns vorher bemerkt - fasse ihn. Stell dich hier hin.«

Ich bezog auf der einen Seite der Tür Stellung, Seine Exzellenz auf der anderen.

Anfangs hörte ich nichts. Ich stand da, den Rücken an die Wand gepresst, ging in Gedanken mechanisch die Varianten für den weiteren Verlauf der Ereignisse durch und schaute auf das Tuch, das über den Tisch gebreitet war. Interessant, was Lew Abalkin wohl dazu bewegen mochte, es zu berühren? Wenn er diesen Klotz gar so dringend brauchte, wie sollte er erfahren, dass er unter dem Tuch verborgen war? Und was ist das für ein Klotz? Sieht aus wie ein Futteral für einen tragbaren Intravisor. Oder für irgendein Musikinstrument. Das heißt, dafür wohl kaum. Zu schwer. Ich begreife nichts. Das ist offensichtlich ein Köder, aber wenn es ein Köder ist, dann nicht für einen Menschen …

Da hörte ich Lärm, und zwar ziemlich lauten Lärm: Irgendwo im Innern des Museums war etwas Großes aus Metall umgestürzt und dabei auseinandergebrochen. Sofort fiel mir die riesige Rolle Stacheldraht ein, an der die Mädchen so sorgsam mit ihren Molekularlötkolben gearbeitet hatten. Ich blickte Seine Exzellenz an. Er lauschte und war ebenfalls irritiert.

Das Klingen, Scheppern und Klirren verebbte allmählich, und es wurde wieder still. Sonderbar. Dass ein Progressor, ein Profi, ein Meister in der Kunst, sich unbemerkt zu bewegen, ein Ninja, blindlings in eine derart sperrige Vorrichtung laufen sollte? Sehr unwahrscheinlich. Freilich, er könnte mit dem Ärmel an einem hervorstehenden kleinen Drahtstachel hängen geblieben sein … Nein, könnte er nicht. Einem Progressor passiert so etwas nicht. Oder der Progressor ist hier, auf der gefahrlosen Erde, schon ein bisschen sorglos geworden. Zweifelhaft. Wir werden sehen. Jetzt ist er jedenfalls erstarrt, auf einem Bein stehend, und horcht. Und so wird er ungefähr fünf Minuten lang horchen.

Aber er dachte gar nicht daran, auf einem Bein zu stehen und zu horchen. Er kam näher, und seine Bewegungen wurden von einer ganzen Kakophonie lauter Geräusche begleitet,

»Das ist er nicht«, sagte ich ziemlich laut zu Seiner Exzellenz.

Seine Exzellenz nickte. Er wirkte irritiert, finster. Jetzt stand er seitlich zur Wand, mit dem Gesicht zu mir, breitbeinig und etwas nach vorn geneigt, und man konnte sich leicht vorstellen, wie er in einer Minute den falschen Progressor mit beiden Händen am Kragen packen, ihn durchschütteln und ihm ins Gesicht brüllen würde: »Wer bist du, und was machst du hier, elender Hundesohn?«

Und ich malte mir dieses Bild so deutlich aus, dass ich mich anfangs nicht einmal wunderte, als er mit der linken Hand den schwarzen Anorak zurückschlug und mit der rechten seine geliebte 26er »Herzog« in die Brusttasche schob - als mache er die Hände frei fürs Zupacken und Durchschütteln.

Als mir jedoch klarwurde, dass er die ganze Zeit über mit der achtschüssigen »Herzog« in der Hand dagestanden hatte, erstarrte ich plötzlich vor Schreck. Das konnte nur eins bedeuten: Seine Exzellenz war bereit gewesen, Lew Abalkin zu töten. Ja, zu töten, denn Seine Exzellenz zog die Waffe niemals, um jemanden zu erschrecken, zu bedrohen oder zu beeindrucken - er zog sie nur, um zu töten.

Ich war so schockiert, dass ich alles um mich herum vergaß. Aber da drang ein breiter Strahl hellen Lichts in das Arbeitszimmer, und zum letzten Mal am Türrahmen anstoßend, trat der falsche Abalkin herein.

Im Grunde hatte er sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Lew Abalkin: stämmig, wohlproportioniert, nicht besonders

Er hatte eine kratzige Stimme, und sie klang betont munter. In diesem Ton sprechen für gewöhnlich Menschen mit sich selbst, wenn sie sich ein bisschen fürchten, unsicher sind oder sich schämen - kurzum, wenn ihnen nicht wohl ist in ihrer Haut. »Mit einem Bein im Straßengraben«, wie man in Honti sagt.

Jetzt sah ich, dass es ein alter Mann war. Vielleicht sogar älter als Seine Exzellenz. Er hatte eine lange spitze Nase mit einem kleinen Höcker darauf, ein langes spitzes Kinn, eingefallene Wangen und eine hohe, sehr weiße Stirn. Er ähnelte weniger Lew Abalkin als vielmehr Sherlock Holmes. Vorerst konnte ich nur eines mit absoluter Gewissheit sagen: Diesen Menschen hatte ich nie zuvor im Leben gesehen.

Nachdem er sich flüchtig umgeschaut hatte, trat er an den Tisch, stellte sein Köfferchen auf das geblümte Tuch direkt neben unseren Klotz und fing an, im Schein der Taschenlampe die Regale zu betrachten, ohne Eile und methodisch, Bord für Bord, Sektion für Sektion. Dabei brummte er unablässig etwas in seinen Bart, zu verstehen aber waren nur einzelne Worte: »… Nun, das ist allgemein bekannt … hmm-hmm-hmm … Gewöhnliches Illisium … hmm-hmm-hmm … Trödel über Trödel … hmm-hmm … Haben es versteckt, verkramt, verborgen … hmm-hmm-hmm …«

Seine Exzellenz verfolgte das alles sehr aufmerksam, hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt, und auf seinem Gesicht erkannte ich einen sehr ungewohnten und ihm gar nicht eigenen Ausdruck hoffnungsloser Müdigkeit. Es schien, als sehe er etwas, dessen er schon jetzt überdrüssig sei, das

Als der Greis die letzte Sektion erreicht hatte, atmete Seine Exzellenz tief durch, trat an den Tisch, setzte sich auf die Kante neben das Köfferchen und sagte mürrisch: »Na, was suchen Sie denn da, Bromberg? Die Zünder?«

Der alte Bromberg schrie piepsig auf und schreckte zur Seite, wobei er einen Stuhl umwarf. »Wer ist da?«, kreischte er los und fuchtelte wild mit der Taschenlampe herum. »Wer?«

»Ja, ich bin es doch, ich!«, antwortete Seine Exzellenz noch mürrischer. »Hören Sie schon auf zu zittern!«

»Wer? Sie? Was zum Teufel …« Der Lichtstrahl traf auf Seine Exzellenz. »Ah, Sikorsky! Habe ich’s mir doch gedacht!«

»Nehmen Sie die Lampe weg«, befahl Seine Exzellenz und schirmte das Gesicht mit der Hand ab.

»Habe ich’s mir doch gedacht, dass das Ihre faulen Tricks sind!«, schrie der alte Bromberg. »Mir war gleich klar, wer hinter diesem ganzen Theater steckt!«

»Nehmen Sie die Lampe weg, oder ich zerschlage sie in tausend Stücke!«, sagte Seine Exzellenz scharf.

»Schreien Sie mich gefälligst nicht an!«, kreischte Bromberg, lenkte aber den Strahl zur Seite. »Und wagen Sie ja nicht, meine Tasche anzurühren!«

Seine Exzellenz stand auf und ging auf ihn zu.

»Kommen Sie mir nicht zu nahe!«, schrie Bromberg. »Ich bin für Sie kein kleiner Junge! Dass Sie sich nicht schämen! Schließlich sind Sie ein alter Mann!«

Seine Exzellenz trat auf ihn zu, nahm ihm die Taschenlampe aus der Hand und stellte sie auf das nächste Tischchen, mit dem Strahl nach oben.

»Setzen Sie sich, Bromberg«, sagte er. »Wir müssen miteinander sprechen.«

»Diese Gespräche mit Ihnen …«, brummte Bromberg und setzte sich.

Erstaunlich, aber jetzt war er völlig ruhig. Ein munterer, geachteter alter Mann. Ich glaube, er war sogar fröhlich.

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