4. JUNI’78

Der Abschluss der Operation

Nachdem er das Gebäude der KomKon 2 verlassen hatte, ging Lew Abalkin ohne Eile und langsamen Schrittes die Rotahornstraße entlang. Dann betrat er die Kabine eines öffentlichen Videofons und führte ein Gespräch von etwas mehr als zwei Minuten. Dann ging er, wiederum langsam und die Hände hinter dem Rücken verschränkt, in Richtung Allee, bog ein und setzte sich auf eine Bank neben dem Basrelief Strogows. Er las anscheinend alles, was in den Sockel gemeißelt war, aufmerksam durch und schaute dann eine Weile ziellos umher. Etwa zwanzig Minuten lang saß er da wie jemand, der von einer schweren Arbeit ausruht: die Arme auf der Rückenlehne der Bank ausgebreitet, den Kopf zurückgelegt und die gekreuzten Beine zur Allee hin ausgestreckt. Um ihn sammelten sich Eichhörnchen, eins sprang ihm auf die Schulter und stupste ihm mit der Schnauze gegen das Ohr. Abalkin lachte laut auf, nahm das Eichhörnchen in die Hand, zog die Beine an und setzte es sich aufs Knie. Dort blieb es sitzen, und mir schien, dass er sich mit dem Eichhörnchen unterhielt. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, die Straßen waren leer und auf der Allee befand sich außer Abalkin keine Menschenseele.

Ich gab mich nicht der Illusion hin zu glauben, ich sei unbemerkt geblieben. Natürlich wusste er, dass ich ihn nicht aus den Augen ließ, und sicher hatte er sich auch schon überlegt, wie er mich, falls nötig, loswerden konnte. Doch nicht das beschäftigte mich. Mich beunruhigte Seine Exzellenz. Ich wusste nicht, was er vorhatte.

Zuerst hatte er mir befohlen, Abalkin ausfindig zu machen, und sich dann mit ihm treffen wollen, um mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Zumindest war es anfangs so geplant gewesen, d. h. vor drei Tagen. Dann gewann er die Überzeugung,

Er lässt Abalkin also laufen, anstatt ihn gleich im Arbeitszimmer, an Ort und Stelle, festzusetzen und ihn den Ärzten und Psychologen zu übergeben. Lässt ihn einfach laufen. Über der Erde schwebt eine Gefahr. Um sie abzuwenden, hätte es genügt, Abalkin zu isolieren, was sich mit den einfachsten Mitteln hätte bewerkstelligen lassen. Damit wäre zumindest unter diesen Fall ein Schlussstrich gezogen. Seine Exzellenz aber lässt ihn laufen und macht sich auf den Weg ins Museum. Das kann nur eins bedeuten: Dass er sich vollkommen sicher ist, dass Abalkin in allernächster Zeit ebenfalls dort erscheinen wird. Wegen der Zünder. Weswegen sonst? (Dabei schien doch nichts einfacher, als dieses Bernsteinfutteral in ein ausrangiertes Raumschiff vom Typ »Gespenst« zu stecken und es bis ans Ende der Zeiten in den Subraum zu jagen. Aber das ging natürlich nicht, denn es wäre ja eine unumkehrbare Tat gewesen …)

Abalkin erscheint im Museum (oder verschafft sich gewaltsam Zutritt, weil ja Grischa Serossowin dort auf ihn wartet). Jedenfalls erscheint er im Museum und sieht dort wieder Seine Exzellenz. Was für ein Bild. Und dann findet das richtige Gespräch statt.

Seine Exzellenz wird ihn umbringen, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Gott im Himmel, dachte ich in Panik, Abalkin sitzt hier und spielt mit den Eichhörnchen, und in einer Stunde bringt Seine Exzellenz ihn um. Das ist ganz klar. Deshalb wartet Seine Exzellenz auch im Museum auf ihn - um sich diesen Film zu Ende anzusehen: um zu begreifen und mit eigenen Augen zu verfolgen, wie sich Abalkin, das Werkzeug der Wanderer, seinen Weg sucht, wie er das Bernsteinfutteral findet (mit den Augen? Nach dem Geruch? Mit dem sechsten Sinn?), wie er das Futteral öffnet, dann seinen Zünder wählt, und wie er beginnt, mit dem Zünder etwas zu tun - nicht mehr, denn in derselben Sekunde wird Seine Exzellenz auf den Abzug drücken, um kein weiteres Risiko mehr einzugehen.

Und ich sagte mir: Aber nein, das wird nicht geschehen …

Ich kann nicht behaupten, dass ich alle Konsequenzen meines Tuns im Voraus sorgfältig durchdacht hatte. Ehrlich gesagt, hatte ich sie überhaupt nicht durchdacht. Ich trat einfach auf die Allee hinaus und ging geradewegs auf Abalkin zu.

Als ich an ihn herantrat, blickte er mich von der Seite her an und wandte sich dann wieder ab. Ich setzte mich neben ihn.

»Ljowa«, sagte ich. »Reisen Sie ab. Sofort.«

»Ich hatte darum gebeten, in Ruhe gelassen zu werden«, sagte er mit unverändert leiser und ausdrucksloser Stimme.

»Man wird Sie nicht in Ruhe lassen. Dazu ist es zu spät, es ist zu viel geschehen. Niemand zweifelt an Ihnen persönlich, aber Sie sind für uns nicht länger Ljowa Abalkin. Den gibt es nicht mehr. Für uns sind Sie ein Werkzeug der Wanderer

»Und ihr seid für mich eine Bande von vor Angst Amok laufender Idioten.«

»Zugegeben«, sagte ich. »Und gerade darum sollten Sie sich möglichst schnell möglichst weit weg von hier begeben. Fliegen Sie auf die Pandora, Ljowa, bleiben Sie ein paar Monate

»Wozu?«, fragte er. »Wie komme ich dazu, jemandem etwas beweisen zu müssen? Das ist erniedrigend.«

»Ljowa«, sagte ich. »Wenn Sie verängstigten Kindern begegnen, finden Sie es dann auch erniedrigend, Faxen zu machen und den Clown zu spielen, um sie zu beruhigen?«

Zum ersten Mal schaute er mir in die Augen - lange und ohne zu zwinkern. Mir wurde klar, dass er mir kein Wort glaubte. Vor ihm saß ein vor Angst Amok laufender Idiot und gab sich Mühe zu lügen, um ihn wieder an den Rand des Weltalls zu schicken, diesmal für immer und ohne die geringste Hoffnung auf Rückkehr.

»Es ist zwecklos«, sagte er. »Hören Sie mit dem Geschwätz auf und lassen Sie mich in Ruhe. Es ist Zeit für mich.«

Vorsichtig scheuchte er die Eichhörnchen weg und stand auf. Auch ich erhob mich.

»Ljowa«, sagte ich. »Man wird Sie umbringen.«

»Das ist nicht so einfach«, sagte er lässig und setzte seinen Weg auf der Allee fort.

Ich ging neben ihm und redete die ganze Zeit. Gab Unsinn von mir, das wäre ja wohl nicht der Moment, wo man es sich leisten könnte, beleidigt zu sein, dass es doch wohl dumm sei, aus Stolz sein Leben aufs Spiel zu setzen, dass man die Alten ja wohl auch verstehen müsse - seit vierzig Jahren säßen sie wie auf Kohlen … Abalkin schwieg oder gab bissige Antworten. Ein paarmal lächelte er sogar - es schien ihn zu amüsieren, wie ich mich benahm. Wir kamen ans Ende der Allee und bogen in die Fliederstraße ein. Dann gingen wir zum Platz der Sterne.

Es befanden sich schon ziemlich viele Menschen auf der Straße. In meinen Plänen war das nicht vorgesehen, aber es würde auch nicht weiter stören. Schließlich kann jemandem ja auf der Straße schlecht werden, und dann bringt man den

Als ich wieder zur Besinnung kam, ruhte mein Kopf auf den warmen Knien einer mir unbekannten älteren Frau. Ich fühlte mich, als läge ich auf dem Grund eines Brunnens: Von oben blickten unbekannte Gesichter besorgt auf mich herab; jemand verlangte, sie sollten nicht so drängeln und mir mehr Luft lassen; jemand anders hielt mir fürsorglich eine Ampulle unter die Nase, die stechend roch. Und eine besonnene Stimme äußerte sich dahingehend, dass kein Grund zur Beunruhigung bestünde: Schließlich könne ja jemandem auf der Straße schlecht werden …

Mein ganzer Körper kam mir vor wie ein prall gefüllter Luftballon, der mit leisem Klingen dicht über dem Erdboden schaukelt. Schmerz fühlte ich nicht. Anscheinend war ich auf eine ganz gewöhnliche »Wende nach unten« hereingefallen - aber die Position, aus der heraus Abalkin sie ausgeführt hatte, war ungewöhnlich gewesen, das heißt, so führte eigentlich niemand eine Wende aus …

»Nicht so schlimm, er ist schon zu sich gekommen, es wird wieder …«

»Bleiben Sie liegen, bitte, bleiben Sie liegen, Ihnen ist schlecht geworden …«

»Gleich kommt ein Arzt, Ihr Freund ist losgelaufen, einen zu holen …«

Ich setzte mich auf. Man stützte mich an den Schultern. Noch immer hörte ich dieses Klingen, doch der Kopf war völlig

Mit pfeifendem Ton ging neben mir ein Gleiter nieder. Ein hagerer Mann sprang heraus auf die Straße, bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmenge und fragte: »Was ist passiert? Ich bin Arzt! Was ist los?«

Wie war ich so plötzlich wieder auf die Beine gekommen? Ich weiß es nicht, aber ich sprang auf ihn zu, packte ihn am Ärmel und stieß ihn zu der älteren Frau, die meinen Kopf gehalten hatte und nach wie vor auf dem Boden kniete.

»Der Frau geht es schlecht, helfen Sie ihr …«

Die Zunge gehorchte mir kaum. Die Leute waren verblüfft, ja sprachlos, und in der eingetretenen Stille schlug ich mich zum Gleiter durch, ließ mich über die Bordwand direkt auf den Sitz fallen und schaltete das Triebwerk ein. Ich hörte gerade noch einen erstaunten Protest: »Aber, erlauben Sie …!«

Und im nächsten Augenblick sah ich schon den Platz der Sterne unter mir, eingetaucht in das helle Licht der Morgensonne. Alles war genauso wie sechs Stunden zuvor. Wie in einem wiederkehrenden Traum lief ich von Saal zu Saal, von Korridor zu Korridor. Lavierte zwischen Ständen und Vitrinen. Zwischen Statuen und Attrappen, die sinnlosen Mechanismen ähnelten, und zwischen Mechanismen und Apparaten, die hässlichen Statuen ähnelten, nur dass jetzt alles in helles Sonnenlicht getaucht und ich allein war, dass mir die Beine zitterten und ich keine Angst hatte, zu spät zu kommen, weil ich schon wusste, dass ich zu spät käme.

Ich war schon zu spät gekommen.

Es knallte ein Schuss. Nicht besonders laut, es war ein trockener Schuss aus einer »Herzog«. Ich stockte mitten im Laufen. Aus. Vorbei. Aus letzter Kraft lief ich weiter. Vorne rechts huschte zwischen grotesken Formen eine Person in weißem Laborkittel vorbei. Grischa Serossowin, genannt Wassermann. War anscheinend auch zu spät gekommen.

Noch zwei Schüsse knallten, einer nach dem anderen … »Ljowa. Man wird Sie umbringen.« - »Das ist nicht so einfach …« Und dann stürzten Grischa und ich gleichzeitig in Maja Toivowna Glumowas Arbeitszimmer.

Lew Abalkin lag mitten im Zimmer auf dem Rücken. Seine Exzellenz, groß, gebeugt, die Pistole in der gesenkten Hand, näherte sich ihm vorsichtig mit kleinen Schritten. Von der anderen Seite ging, sich mit beiden Händen am Tisch festhaltend, Maja Glumowa auf Abalkin zu.

Ihr Gesicht war starr und vollkommen gleichgültig; ihre Augen aber schielten furchtbar und ganz unnatürlich zur Nasenwurzel hin.

Die Glatze Seiner Exzellenz und die leicht herabhängende, mir zugewandte Wange waren von großen Schweißtropfen bedeckt.

Im Zimmer stank es scharf und säuerlich nach verbranntem Pulver.

Und es war still.

Lew Abalkin lebte noch. Die Finger seiner rechten Hand kratzten schwach, aber unermüdlich auf dem Fußboden, als wollten sie die graue Scheibe des Zünders erreichen, die etwa einen Zentimeter entfernt lag. Es war die mit dem Zeichen in Form eines stilisierten kyrillischen »she«, beziehungsweise des japanischen Zeichens »sanju«.

Ich trat auf Abalkin zu und hockte mich neben ihn auf den Boden. (Seine Exzellenz rief mir irgendeine Warnung zu.) Abalkin blickte aus glasigen Augen zur Decke. Sein Gesicht

»Ljowa«, rief ich.

»Ein Mann stand am Tor, die Tiere davor«, wiederholte er beharrlich. »Die Tiere …«

Und da begann Maja Toivowna Glumowa zu schreien.

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