V I E R

Einen panischen Moment lang glaubte Jack, dass sein letztes Stündchen geschlagen hatte. Die Hände umklammerten ihn mit einer solchen Kraft, dass seine Beine schon fast taub waren. Seine linke Ferse wurde immer weiter in Richtung Boden gezogen und gegen den Beton gepresst. Der Schmerz war nahezu unerträglich – als wenn man seinen Fuß ungeschützt an einen sich drehenden Schleifstein hielt. Er schrie, trat um sich und wand sich, doch die Hände zogen ihn erbarmungslos weiter, bis beide Fersen den Boden erreicht hatten.

Seine Finger tasteten nach dem Holzgeländer. Das erste Mal verfehlte er es, doch dann streckte er sich bis zum Äußersten und es gelang ihm, sich mit den Fingerspitzen an der untersten Wandhalterung festzuhalten, an der das Geländer befestigt war. Er dehnte sich weiter, bis er es endlich schaffte, seinen Griff zu fixieren.

Karen schrie: »Jack! Jack!«, doch der Schmerz in seinen Füßen brachte ihn an den Rand einer Ohnmacht, sodass er sie kaum hören konnte.

Er trat immer und immer wieder um sich. Einen Moment lang lockerte sich der Griff um einen seiner Knöchel. Er bekam den rechten Fuß frei und schlug nach der Hand, die seinen linken festhielt. Die staubige, graue Fratze grinste jetzt noch irrer, als ob ihr der Kampf unbändigen Spaß bereitete, als ob sie sich an dem Schmerz regelrecht aufgeilte. Dann öffnete sie ihren Mund weit und stieß einen Laut aus, der Jack bis ins Mark erschütterte.

Es klang wie der gleichzeitige Schrei von 300 mit einem Flugzeug abstürzenden Menschen. Wie eine U-Bahn, die auf altertümlichen Gleisen quietschend aus einem Tunnel brauste. Es klang nach entsetzlicher Angst, grenzenloser Wut und erbärmlicher Qual.

»Jack!«, kreischte Karen, deren Stimme durch den ohrenbetäubenden Lärm trotzdem kaum hörbar war.

Indem er mit dem rechten Fuß um sich trat, konnte sich Jack von den Händen befreien, die ihn festhielten. Er rollte sich von seinem Angreifer weg und stolperte erneut die Kellertreppe hoch, wobei er sich übel das Knie aufschlug. Karen schlang die Arme um ihn und half ihm so schnell sie konnte durch die Kellertür. Sie wollte schon aus dem Haus rennen, doch Jack hielt sie zurück: »Warte, langsam, warte!« Er schlug die Kellertür zu und drehte den Schlüssel herum.

»Das sollte ihn etwas aufhalten«, keuchte er.

»Aber er kam direkt aus dem Boden!«, kreischte Karen panisch. »Er kam direkt aus dem Boden!«

Jack zitterte. Er wusste nicht, wo er sich befand, geschweige denn, ob er ausharren oder wegrennen sollte. Er war sich auch nicht sicher, ob er rennen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Sein ganzer Körper kam ihm völlig unkoordiniert vor. Karen stand ein Stück entfernt und hatte die Arme eng um ihre Brust geschlungen. Angst und Unsicherheit standen ihr ins Gesicht geschrieben.

»Das war wohl das, was Randy gemeint hat«, sagte er, doch seine Stimme klang noch nicht mal wie er selbst. »Du weißt schon, Lester.«

»Aber wie konnte er aus dem Boden kommen? Wie konnte er das?«

Jack schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht. Aber er wollte mich auch hineinziehen. Zumindest hat er das versucht. Ich konnte es an meinen Füßen spüren, den Schmerz, meine ich. Ich habe noch nie zuvor solche Schmerzen gehabt. Und er wollte mich wirklich in den Boden zerren.«

»Das ist unmöglich!«, widersprach ihm Karen.

»Natürlich ist es unmöglich! Mit Logik nicht zu begreifen und wissenschaftlicher Unsinn. Menschen können nicht durch Wände gehen und auch nicht … aus dem Boden wachsen.«

»Was sollen wir bloß tun?«, wollte Karen von ihm wissen. »Meinst du, dass er Randy erwischt hat?«

Jack lehnte sich gegen die Kellertür und kniff die Augen zusammen, doch er konnte trotzdem nicht vermeiden, dass ein grünlich-graues, zementfarbenes Gesicht vor ihm auftauchte. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, was es mit Randy angestellt haben konnte.

»Jack, wenn er Randy erwischt hat …«, begann Karen.

Jack öffnete die Augen wieder. »Ich bete einfach zu Gott, dass das nicht der Fall ist. Weißt du, wie stark dieses Ding war? Randy hätte nicht den Hauch einer Chance, sich dagegen zu wehren.«

»Also was sollen wir tun?«

»Ich weiß es nicht. Die Polizei rufen, würde ich sagen.« Er wünschte sich, dass sein Zittern am ganzen Körper endlich aufhörte.

Randy, mein armer Randy! Ich bete zu Gott, dass das Ding dich nicht erwischt hat; und ich bete zu Gott, dass du wenigstens nicht leiden musstest, falls doch.

Nach einer Weile gelang es Jack, sich ein wenig zu beruhigen. »Also komm!«, sagte er zu Karen, schniefte und räusperte sich. »Lass uns zu diesem Telefon fahren. Mehr können wir alleine ohnehin nicht ausrichten.«

Sie gingen durch die Halle in die Lounge und auf das Gewächshaus zu. Als sie sich ihren Weg zwischen den Lesetischen im Aufenthaltsraum hindurch bahnten, glaubte Jack, wieder dieses seltsame Schleifgeräusch zu hören. Sssssschhhhhhh – ssssssschhhhhhh – ssssschhhhhh! raste es die Wand entlang.

»Hör mal!«, befahl er Karen und legte ihr die Hand auf den Arm. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Das Geräusch erstarb, als ob jemand ihnen gefolgt wäre und nun darauf wartete, dass sie weitergingen. Jemand, der mit angehaltenem Atem in seinem Versteck lauerte und sie beobachtete.

»Lass uns einfach hier abhauen!«, drängte ihn Karen.

»Nein, warte. Hör mal hin. Kannst du etwas hören?«

»Ich kann nichts hören und ich will auch nichts hören. Oh Gott, Jack, ich habe solche Angst.«

Doch Jack stand ganz reglos da. Der Regen tropfte durch die zerbrochenen Scheiben des Gewächshauses und benetzte die Lorbeerbüsche im dunklen Garten. Doch da war noch etwas anderes zu hören, ganz leise und unscheinbar; wie uralter Putz, der durch die mit den Jahren steif gewordene Tapete rieselte, wie jemand, der sich hinter einem Vorhang versteckte und dabei nicht zu atmen wagte.

Jack drehte sich ganz langsam um. In der Empfangshalle war es so dunkel, dass man die Hand kaum vor Augen sehen konnte. Rattansessel, umgefallene Tische. Zeitschriftenständer voller vergilbter Zeitungen. Das bekannte Bild. Doch zwischen dem Bücherregal und der Tür glaubte er, eine Art Klumpen auf der cremefarben gestrichenen Wand zu erkennen.

»Jack!«, flehte Karen. Sie war inzwischen so verängstigt, dass sie sich schon fast in einer Schockstarre befand.

Schweigend trat Jack drei oder vier langsame Schritte auf die Tür zu und starrte die ganze Zeit auf die klumpige Kontur an der Wand. Für eine Taschenlampe mit frischen Batterien hätte er in diesem Moment sein letztes Hemd gegeben.

»Jack, bitte!«, flehte Karen erneut.

»Hast du Streichhölzer dabei?«, fragte Jack sie. Sein Mund war so trocken, dass er nur noch flüstern konnte.

»Streichhölzer?«

»Ja, Streichhölzer. Mit denen man Zigaretten anzündet.«

»Ich glaube, ich habe ein paar in meinem Geldbeutel, aber den habe ich im Auto gelassen.«

Jack machte noch einen Schritt in Richtung Tür, aber er wollte nicht zu dicht an die Öffnung herantreten. Seine Knöchel waren immer noch wund von der Umklammerung der Hände, die ihn im Keller erwischt hatten.

Karen wühlte in den Taschen ihres Regenmantels. »Ich hab noch ein paar Zündholzbriefchen gefunden.«

»Wunderbar, das ist perfekt.« Jack langte hinter sich, um die Streichhölzer in Empfang zu nehmen, ohne dabei den Blick von der Wand abzuwenden. Er öffnete das Briefchen, bog die Streichhölzer zurück und entzündete alle auf einmal. Sie loderten hell auf. Jack hob das Zündholzheftchen und hielt es in die Luft, so hoch wie er nur konnte.

Im kurzen, flackernden Feuerschein erkannte er, dass die cremefarbene Wand tatsächlich nach vorne ausgebeult war, und zwar in Form einer nackten jungen Frau. Sie hatte breite Hüften, dralle Brüste, enge Schultern und ein Gesicht, das afrikanisch wirkte. Ihr Haar stand von ihren Kopf ab wie Sonnenstrahlen.

»Oh Gott«, flüsterte Karen. »Oh Gott, sie ist direkt in der Wand.«

Tatsächlich sah die Wand so aus, als wäre sie nur ein dünner, glänzender, cremefarbener Gummiüberzug, dem sich das Mädchen von der anderen Seite aus entgegendrückte. Ihre ebenfalls cremefarbenen Augen waren geöffnet und sie starrte Jack regungslos und ohne erkennbaren Atemzug an.

»Wer bist du?«, flüsterte er und konnte sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben schon einmal so viel Angst verspürt zu haben.

Das Mädchen starrte ihn einfach weiter an, ohne zu blinzeln, und schwieg.

»Wer bist du?«, wiederholte Jack seine Frage.

Sie lebte, daran bestand kein Zweifel. Sie lebte und starrte ihn an. Aber wie konnte sie lebendig sein, wo sie doch in der Wand ... hmm ... steckte.

Jack unternahm zwei weitere zögerliche Schritte in ihre Richtung. Die Streichhölzer waren mittlerweile fast erloschen.

»Wer bist du?«, brüllte er das Mädchen an. »Wo ist mein Sohn?«

Das Mädchen drehte sich plötzlich mit einem schwachen Sssssschhhhhh-Geräusch um. Jack sprang verängstigt zurück. Doch sie versuchte nicht, ihn zu packen. Sie drehte sich lediglich um und er starrte ihre nackte Gestalt von hinten an. Dann glättete sich die Wand, die Flammen versengten seine Finger und sie war verschwunden.

Jack berührte die Wand mit seiner Handfläche. Sie war kalt und unnachgiebig. Er konnte sogar die Pinselspuren ertasten, die beim Streichen zurückgeblieben waren. Nur eine Wand, mehr nicht. Er hörte, wie der Ssssssschhhhhhh-Laut wieder erstarb.

»Hast du das gesehen?«, fragte er Karen mit zittriger Stimme.

»Habe ich«, antwortete sie. »Ein Mädchen, das einfach so dastand. Und dann ist es verschwunden.«

Jack trat von der Wand weg und ergriff Karens Hand. »Was denkst du, haben wir was Falsches gegessen und dabei den Verstand verloren? Vielleicht entweicht ja auch irgendwo im Haus Gas oder etwas anderes, wovon man Halluzinationen bekommt.«

»Ich habe es gesehen«, beharrte Karen. »Es war real. Ein echtes Mädchen, das einfach aus dem Nichts aufgetaucht ist.«

Sie verließen den Aufenthaltsraum in Richtung des Gewächshauses. Draußen auf dem Kiesweg sah Jack auf die Uhr. Es war fast drei. Sie standen einige Minuten im Regen und atmeten die kühle Nachtluft ein. Jack sah hoch zu den dunklen Türmen des Hauses. Seine Augen hielt er halb geschlossen, um sie vor den Tropfen zu schützen. Er wusste nicht recht, was er von The Oaks halten sollte; ob er es immer noch kaufen wollte oder sich inzwischen davor fürchtete. Er wusste nur, dass er Randy um jeden Preis zurückbekommen musste. Am liebsten hätte er geweint, so entsetzt und hilflos fühlte er sich, weil sein Sohn spurlos verschwunden war.

»Meinst du, dass es Geister waren?«, fragte Karen ihn.

Jack wischte sich mit der Hand den Regen aus den Haaren. »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ich habe noch nie vorher einen Geist gesehen und ich kenne auch niemanden, der schon mal einen zu Gesicht bekommen hätte. Wer sagt, dass sie nicht aus der Wand hervortreten können? Schließlich kennt man das aus vielen Filmen, dass sie durch Wände gehen können. Vielleicht ist das ja ganz typisch für sie.«

»Die Bullen werden uns jedenfalls nicht glauben, so viel steht fest. Sie werden denken, dass wir völlig den Verstand verloren haben«, gab Karen zu bedenken.

»Aber es stimmt, es ist passiert und wir haben es mit eigenen Augen gesehen.«

»Vergiss es!«, sagte Karen. »Ich hab die Schnauze voll von Bullen, seit Cecil mich damals regelmäßig verprügelt hat. Die meiste Zeit verbrachten sie damit, mir einreden zu wollen, es sei meine Schuld gewesen, weil ich ihn ja schließlich provoziert hätte. Er war ein Bär von einem Mann! Und den soll ich provoziert haben? Ein Bulle wollte mir sogar erzählen, das geschehe mir ganz recht, dass Cecil mich verdrischt. Und wenn ich seine Frau wäre, würde er mir eine Tracht Prügel verpassen, die ich meinen Lebtag nicht mehr vergesse.«

»Uns bleibt aber gar keine andere Wahl, Karen. Falls jemand Randy entführt hat oder er sich irgendwo in der Nähe des Hauses versteckt hält, werden wir ihn ohne die Hilfe der Polizei niemals finden.«

»Und was willst du ihnen erzählen? Dass da ein Mann im Boden steckt, der versucht, einen an den Füßen zu packen, und eine nackte Frau in der Wand?«

»Ich werde ihnen die Wahrheit erzählen.«

»Jack …«, unterbrach ihn Karen. »Denk doch mal nach. Randy wird vermisst und du musst ihnen erklären, warum wir ihn mitten in der Nacht zu diesem merkwürdigen, alten Gebäude geschleppt haben.«

»Wir waren auf der Suche nach einem Landstreicher namens Lester, hast du das schon vergessen?«

»Ja, ja, schon klar. Ein Hausbesetzer. Aber du hast doch selbst gesehen, dass hier niemand untergeschlüpft ist, oder? Warum haben wir Randy also allein in dem Zimmer zurückgelassen?«

Jack sah sie kurz an. »Das müssen wir der Polizei ja nicht auf die Nase binden.«

»Natürlich nicht. Aber wir müssen erklären, warum wir ihn zwischenzeitlich aus den Augen verloren haben.«

»Er war müde, mehr nicht. Komm schon, Karen, er ist mein Sohn, Herrgott noch mal. Ich hoffe und bete, dass er nicht hinunter in den Keller gegangen ist. Die Polizei wird mir sofort ansehen, wie elend mir zumute ist.«

»Klar geht’s dir schlecht, aber das hilft uns auch nicht weiter. Die Bullen werden denken, wir hätten Randy hierher geschleppt, um ihn loszuwerden. Du hast dich mit Maggie gestritten, wolltest sie verletzen und dann wurde dir noch die Verantwortung für ein Kind aufgebürdet, was du gar nicht wolltest. Den Rest kannst du dir selbst ausmalen.«

»Ja, du vergisst dabei nur eins«, unterbrach sie Jack, »nämlich, dass es nicht wahr ist.«

»Die Wahrheit war den Bullen, mit denen ich bisher zu tun hatte, immer herzlich egal.«

Jack fuhr sich müde mit der Hand durchs nasse Haar. »Wir kümmern uns später um die Bullen, okay? Jetzt sollten wir mal den Swimmingpool genauer unter die Lupe nehmen. Vielleicht streunt er irgendwo dort in der Nähe herum.«

»Jack … es tut mir leid!«, sagte Karen. »Bitte, Schatz, sei nicht sauer auf mich. Mir liegt genauso viel daran, Randy wiederzufinden, wie dir. Aber ich weiß, wie es ist, wenn die Bullen ins Spiel kommen. Sie drehen einem die Worte im Mund herum. Nach einer Weile weißt du selbst nicht mehr so genau, was du getan hast und was nicht.«

»Herrgott, er könnte überall sein!«, fügte Jack hinzu, mehr an sich selbst als an Karen gerichtet. Die Nässe unter seinen Augen rührte nicht nur vom Regen her. »Lass uns noch die Umgebung vom Pool ablaufen, dann gehen wir zum Auto zurück.«

Hand in Hand wanderten sie an den Tennisplätzen vorbei zum Schwimmbecken. Es war so dunkel, dass Jack sich mit der Hand am Netz orientieren musste. Der Stoff fühlte sich klamm, labbrig und unangenehm an. Sie sagten nichts, bis sie den Pool erreichten. Man konnte kaum die Wasseroberfläche erkennen, auf der die herabfallenden Tropfen Muster bildeten. Das Wasser war schwarz, abgestanden und stank nach Ammoniak.

»Du hast nicht zufällig noch mehr von diesen Streichhölzern dabei?«, fragte Jack.

»Vielleicht noch ein angebrochenes Briefchen«, erwiderte Karen, während sie erneut in ihren Manteltaschen wühlte. »Ich trag sie immer bei mir, weißt du? Ist so eine Macke von mir. Ich hatte mal eine ganze Sammlung davon. Weißt du was? Ich hatte sogar welche aus William Holdens Haus. Allerdings aus der Zeit, bevor er sich betrunken den Kopf aufschlug und dadurch selbst ins Jenseits beförderte.«

Sie zog das Zündholzbriefchen heraus. Das erste Streichholz war zu feucht. Der Kopf zerbröselte, als Jack versuchte, es anzuzünden. Beim zweiten Holz klappte es schließlich. Er hielt es in die Luft und spähte durch den Rauch auf das Wasser im Becken.

»Da drin schwimmt etwas!«, bemerkte Karen. »Schau, da drüben!«

Jack starrte angestrengt ins dunkle Nass, doch das Streichholz erlosch. Er wollte ein weiteres anzünden, ohne Erfolg, und dann noch eins. Es war das letzte, brannte aber zumindest lange genug, dass er eine dunkle, gekrümmte Gestalt erkennen konnte, die auf der Oberfläche trieb.

»Glaubst du etwa, dass das Randy ist?«, erkundigte sich Karen besorgt. »Vielleicht hat er etwas im Haus gesehen und war so verängstigt, dass er ins Freie rannte und den Pool übersehen hat.«

Jack blieb, wo er war, und zitterte vor Kälte und Unschlüssigkeit. »Als ich das erste Mal hier war, habe ich auch schon etwas im Wasser gesehen. Nur aus dem Augenwinkel. Keine Ahnung, was genau. Vielleicht ist es das Gleiche. Ein Baumstumpf oder etwas anderes, das jemand irgendwann mal reingeworfen hat.«

»Aber was, wenn es doch Randy ist?«, wollte Karen wissen.

Jack zögerte noch einen Moment. Dann knöpfte er hastig seinen Mantel auf und zog ihn aus. Er legte auch Sakko, Krawatte und Hemd ab. Der Regen prasselte auf seine entblößte Brust. Er zog sich Schuhe und Socken und schließlich auch Hose und Boxershorts aus.

»Oh Jack, Liebling, sei bloß vorsichtig!«, flehte ihn Karen an.

»Vorsichtig? Willst du mich verarschen?« Er zitterte, nahm seine Rolex-Uhr ab und gab sie ihr. »Lass sie nicht fallen, es ist ein Erbstück von meinem Vater.«

Nackt rannte er zur anderen Seite des Pools, wo sich die Stufen befanden. Karen sagte: »Es war ungefähr da … vielleicht zwei oder drei Meter von der Stelle, wo du stehst.«

Seine Zähne klapperten heftig. Er kletterte die Metallleiter herab, bis sein Fuß das Wasser berührte. Es war eiskalt und stank so übel, dass es einen Würgereiz in ihm auslöste. Jack spähte in die Dunkelheit. Gott allein wusste, was da unter der Oberfläche lauerte. Er bewältigte zwei weitere Sprossen, bis das Wasser seine Knöchel wie Strumpfhalter aus kaltem Stahl umschloss. Seine Hoden schrumpften so stark zusammen, dass sie fast in seiner Leiste zu verschwinden schienen.

Während er die Leiter immer noch mit einer Hand festhielt, lehnte er sich über das Wasser und tastete mit der anderen durch das kalte Nass in der Hoffnung, den mysteriösen Klumpen im Dunklen zu erfühlen.

»Ich glaube, ich kann es sehen!«, sagte Karen. »Es ist etwa einen Meter von dir entfernt. Du wirst wohl hinschwimmen müssen.«

Er schluckte und erwiderte dann: »Na gut, ich versuch’s.«

Jack wollte eine weitere Stufe auf der Leiter herabklettern, doch auf einmal gab es keine Sprossen mehr, sodass er hineinfiel und mit dem Kopf untertauchte. Jack schrie unter Wasser, ein blubberndes Gurgeln aus Luftblasen. Er fühlte, wie weiche, unförmige Dinge in der Dunkelheit gegen ihn stießen, und kam schließlich voller Angst, Ekel und Verzweiflung wieder an die Oberfläche.

»Ah!«, schrie er und sog gierig Luft ein.

»Jack, ist alles in Ordnung?«, rief Karen. »Jack!«

»Ah!«, rief er erneut. »Ah! Ah! Scheiße, ich ertrinke! Bah, ist das widerlich!«

Karen rief: »Es ist da drüben, ich kann es sehen. Schau mal, genau dort. Du bist schon direkt davor.«

»Ich kann gar nichts sehen, verflucht noch mal.«

»Da! Schau, da!«

Widerwillig versuchte Jack die Stelle zu erreichen, welche Karens ausgestreckter Finger ihm anzeigte. Das Wasser klebte an seiner Haut, die Konsistenz glich eher eiskaltem Gelee, und dann hing plötzlich etwas Glitschiges zwischen seinen Beinen. Er zappelte und wand sich voller Abscheu.

Schließlich berührten seine Finger etwas, das im Schleim umhertrieb. Etwas, das in strapazierfähige Baumwolle eingepackt war. Das könnte Randys Anorak sein. Es trieb weich und leblos auf der Oberfläche wie ein ertrunkener Junge.

Jack bekam es zu packen. Dann schwamm er langsam wieder zum Rand des Pools zurück, während er das Ding hinter sich herzog. Seine Arme waren schon ganz steif vor Kälte.

Karen kam herüber, um ihm zu helfen. Er zitterte, nicht nur weil er völlig durchgefroren war, sondern auch vor Ekel. Er kletterte zuerst selbst die Leiter herauf und hievte dann sein Mitbringsel auf die Fliesen. Es gab ein tiefes, schmatzendes Geräusch von sich. Danach war das stetige, leichte Tropfen von Wasser zu hören.

Es war ein Postsack, kein Junge, doch war er schwer genug, um den Körper eines Jungen enthalten zu können. In seinem Inneren befand sich etwas, das so abscheulich weich und unförmig war und so bestialisch nach Verfall stank, dass Jack ein Teil seines letzten Essens wieder hochkam.

»Es ist nicht Randy«, flüsterte Karen, ihr regennasses Gesicht aschfahl in der Dunkelheit. »Es kann nicht Randy sein.«

»Ich ziehe mir wieder was an«, sagte Jack zu ihr. »dann müssen wir das Scheißteil einfach aufmachen, um zu sehen, was drin ist.«

Karen erwiderte nichts, doch sie reichte Jack seine Klamotten, die sie unter ihrem Regenmantel trocken gehalten hatte. Er zitterte wie Espenlaub, sodass er kaum noch klar denken konnte, Hemd und Hose klebten auf seiner nassen Haut. Aber als er erst einmal seine Socken und Schuhe wieder angezogen und seinen Mantel zugeknöpft hatte, wurde ihm etwas wärmer und er fühlte sich nicht mehr ganz so erbärmlich.

»Also gut!« Schnaubend ging er neben dem Postbeutel in die Hocke. »Lass uns rausfinden, was ich da aus dieser trüben Brühe gefischt habe.«

Mit steifen Fingern löste er das Band um den Sack und zog ihn weit auf.

»Oh Gott!«, stöhnte er. Das widerwärtig süßliche Aroma von verrottetem Fleisch drang ihm in Mund und Nase.

»Ich kann«, keuchte er, »ich kann noch nicht einmal erkennen, was es ist.«

Jack hielt sich eine Hand vors Gesicht und spähte angestrengt in den dunklen Sack hinein. Er konnte etwas Glänzendes ausmachen, aber das war auch schon alles. Karen hielt sich in sicherer Distanz.

»Herr im Himmel, es muss etwas Schreckliches sein, was auch immer es ist«, flüsterte sie.

Jack erhob sich wieder. »Du hast nicht zufällig noch ein paar Streichhölzer?«

Sie schüttelte den Kopf, doch dann rief sie triumphierend aus: »Mein Schlüsselbund! Mensch, warum ist mir das nicht längst eingefallen! Guck mal, da ist eine kleine Taschenlampe dran!«

Ihre Finger tasteten, fanden, wonach sie suchten, dann erleuchtete ein schmaler Kegel die Nacht. »Cecil hat sie mir gekauft. Vor meiner Haustür war es immer so dunkel, dass ich nie das Schlüsselloch finden konnte.«

Jack nahm die Lampe entgegen und kniete sich wieder neben den Sack. Er richtete den runden Strahl darauf und versuchte zu erkennen, was er da vor sich hatte.

Es war ein Wirrwarr aus blassem, grau-rosafarbenem Fleisch, das hier und da von hellen Blau- und Grüntönen als Zeichen des einsetzenden Verfalls durchsetzt war. Ein breiter Fellstreifen, ein unnatürlich in die Höhe ragendes Bein, dessen Haut am Knochen verfaulte. Irgendein Hund, vermutlich ein Schäferhund. Definitiv kein kleiner Junge.

Doch als er sich mit dem Strahl der Taschenlampe weiter in die Tiefen des Sacks vorwagte, bekam er eine Gänsehaut vor Entsetzen. Zwar befand sich nur ein Körper darin, aber zwei halb verrottete Köpfe starrten ihn an; zwei Mäuler; zwei gewaltige Gebisse mit schiefen Zahnreihen; zwei schwarze Zungen. Vier gelbe, mit Schleim verschmierte Augen.

Abrupt schaltete er die Taschenlampe aus und stand auf. »Ein Hund«, sagte er zu Karen. »Jemand hat seinen Hund ertränkt.«

»Wie kann man nur so grausam sein?«, erwiderte sie zitternd.

Jack konnte ihr in diesem Moment nicht antworten. Sein Mund war voller Gallenflüssigkeit und Speichel. »Es handelt sich um eine Art Missbildung. Wahrscheinlich war es besser so.«

Karen berührte ihn am Arm. »Zumindest ist es nicht Randy.«

»Lass uns zum Auto zurückgehen!«, schlug Jack vor.

Karen sah auf den Postsack. »Und was hast du damit vor?«

»Ich weiß es nicht. Erst mal hierlassen. Was soll ich sonst damit machen?«

Doch genau in diesem Augenblick blendete sie ein greller Lichtstrahl und eine Stimme sagte trocken: »Sie könnten ihn wegwerfen, Mister, und sich um Ihre eigenen Angelegenheiten scheren.«

Die Taschenlampe ruckelte näher. Jack hob schützend die Hand vor die Augen, doch er konnte nur die dunkle Silhouette eines Mannes in einer schwarzen, wasserdichten Feuerwehrjacke mit einem riesigen, schlottrigen Regenhut erkennen. An einer kurzen Leine befand sich etwas, das aussah wie ein Dobermann, der schnaufte und winselte und darauf drängte, dass sein Besitzer ihn endlich laufen ließ.

»Das war mein Hund!«, bemerkte die trockene Stimme und richtete die Lampe kurz auf die gegenüberliegende Seite des Swimmingpools. »Vielleicht haben Sie schon von Hunden mit zwei Schwänzen gehört, denen es gut ging. Aber ein Hund mit zwei Köpfen, das ist nicht mehr witzig. Er lebte sieben Monate und ich habe noch nie eine Kreatur Gottes so leiden sehen.«

Der Mann hielt inne und fuhr dann fort: »Darf ich Sie fragen, was Sie um 03:00 Uhr nachts auf fremdem Gelände verloren haben?«

»Wer sind Sie?«, erkundigte sich Jack.

»Tut mir leid, Freundchen. Ich hab zuerst gefragt.«

»Ich heiße Jack Reed. Ich kaufe The Oaks.«

Der Mann schwieg erneut, diesmal deutlich länger. Dann: »Sie kaufen The Oaks?«

»Ganz recht. Das können Sie sich von Mr. Bufo von Capitol Realtors bestätigen lassen.«

»Davon hat mir Mr. Bufo nie etwas gesagt.«

»Tja, vermutlich, weil das Geschäft noch nicht offiziell abgeschlossen wurde. Doch die Eigentümer haben mein Angebot akzeptiert.«

»Hm-hm!«, sagte der Mann. »Das haben sie bestimmt.«

»Was wollen Sie denn damit sagen?«

»Genau das, was ich gesagt habe. Das haben sie bestimmt, das war zu erwarten. Wahrscheinlich konnten sie ihr Glück kaum fassen.«

Gereizt entgegnete Jack: »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu verraten, wer Sie sind?«

»Kein Problem«, antwortete der Mann. Er richtete unvermittelt den Strahl der Taschenlampe auf sein eigenes Gesicht. Er war ziemlich alt, Jack schätzte ihn auf Mitte 70, trug deutsche oder auch slawische Züge im Gesicht. Seine Augen waren blassblau und seine Haut besaß die Farbe von Leberwurst. An beiden Seiten der Nase zogen sich zwei Reihen blutroter Narben nach unten.

»Ich heiße Joseph Lovelittle«, stellte er sich vor. »Meine Eltern haben den Namen Kleinlieb während des Ersten Weltkriegs abgelegt. Nicht klein genug, zu wenig Liebe. So ziemlich die Einzigen in Milwaukee, die das getan haben. Denn die meisten von ihnen sind stolz auf ihre deutsche Abstammung. Auch heute noch.«

Er senkte die Taschenlampe. »Ich sah Ihren Wagen da hinten auf der Straße stehen. Wissen Sie, ich schlafe so gut wie gar nicht, damit habe ich echte Probleme. Das war schon immer so. Und deshalb bekam ich den Job als Wachmann. Um etwa 02:00 Uhr morgens drehe ich mit Boy hier üblicherweise meine Runde. Er geht gerne nachts spazieren, genau wie ich. Nachts sieht man einfach mehr.«

»Haben Sie einen kleinen Jungen bei meinem Auto gesehen?«, erkundigte sich Jack. »Neun Jahre alt, helles Haar, blauer Anorak?«

Joseph Lovelittle schien darüber nachzudenken. »Nein, kann ich nicht behaupten«, antwortete er schließlich. »Ich habe auch durchs Fenster reingespäht. Vermissen Sie ihn?«

Jack nickte.

»Nun«, fuhr Joseph Lovelittle fort, »The Oaks ist kein idealer Ort, um nachts herumzustreunen. Ab und zu kommen Hausbesetzer hierher. Na ja, sagen wir besser Möchtegern-Hausbesetzer. Hippies, Drogensüchtige, Rocker, Sie wissen schon. Doch Boy und ich, wir geben unser Bestes, um sie von dort zu vertreiben. Und The Oaks ist wirklich kein Fleckchen Erde, an dem man sich gerne dauerhaft aufhält, selbst wenn man ein hartgesottener Rocker ist.«

»Haben Sie eine Idee, wo mein Sohn sich verstecken könnte?«, wollte Jack wissen. »Wir haben das ganze Gebäude nach ihm abgesucht.«

Jack sah zu Karen und fragte sich, ob er Joseph Lovelittle von den Händen erzählen sollte, die aus dem Kellerboden gekommen waren, und von dem Abdruck der Frau in der Wand, die sie angestarrt hatte. Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf. Sie wussten ja noch gar nicht so genau, wer dieser »Joseph Lovelittle« überhaupt war, und durften bei einem Wildfremden auf keinen Fall einen exzentrischen oder ausgetickten Eindruck hinterlassen. Schließlich konnte er jederzeit die Polizei rufen, die sie dann wegen Hausfriedensbruch drankriegen konnte. Und außerdem: Vielleicht lag Jack mit seiner Vermutung gar nicht so falsch, dass irgendwo Gas austrat oder eine atmosphärische Besonderheit im Gebäude daran schuld war, dass man kurzzeitig erschreckende Halluzinationen durchlitt.

Hier draußen auf dem verregneten Tennisplatz kam selbst Jack die Vorstellung völlig bescheuert vor, dass ihn ein graugesichtiger Mann, der aus dem Betonboden gekommen war, gepackt hatte.

Joseph Lovelittle schnappte sich den durchnässten Postsack und warf ihn erstaunlich geschickt mit nur einer Hand zurück in den Pool. Dann setzte er sich in Richtung Haus in Bewegung und zerrte seinen halb erstickten Dobermann hinter sich her. Jack und Karen folgten ihm.

»Es hat keinen großen Sinn, nachts das Haus zu durchsuchen«, bemerkte Joseph Lovelittle. »Erst recht nicht ohne Schlüssel.«

»Randy kann ja wohl schlecht in einen Raum gelangen, der verschlossen ist«, gab Jack zu bedenken.

Joseph Lovelittles Regenmantel gab ein gummiartiges Quietschen von sich, während er lief. »Da bin ich mir nicht so sicher«, verriet er Jack. »Die Türen besitzen eine Selbstverriegelung, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie schließen automatisch, sobald man sie hinter sich zuzieht, und lassen sich dann nur noch von außen mit einem Schlüssel öffnen. Also kann es durchaus sein, dass Ihr Junge eine offene Tür entdeckt hat, in das entsprechende Zimmer lief und sich dann selbst eingeschlossen hat.«

»Ich bin mir sicher, dass wir ihn rufen oder klopfen gehört hätten, wenn das passiert wäre.«

Joseph Lovelittle grunzte amüsiert. »Diese Zimmer sind ziemlich schalldicht, wenn sie geschlossen sind. Das wurde damals extra so gemacht. Spezialanfertigung.«

Als sie den Kiesweg hinter dem Gewächshaus erreichten, sah Jack auf die Uhr. »Hören Sie! Wenn wir zurückkommen, sobald es wieder hell ist, würden Sie uns dann dabei helfen, das Gebäude zu durchsuchen?«

»Nur gegen Bezahlung«, antwortete Joseph Lovelittle sofort.

Jack griff hinten in seine Hosentasche und zog seine Geldklammer hervor. Er nahm einen 20-Dollar-Schein und reichte ihn Joseph Lovelittle wortlos. Joseph Lovelittle inspizierte ihn im Licht seiner Taschenlampe.

»In Ordnung, kommen Sie um sieben Uhr zurück. Bis dahin ist es hell genug, vorausgesetzt, dass der Regen irgendwann mal aufhört.« Er nieste zweimal in seine Hand und fuhr dann fort. »Ich werde genau hier auf Sie warten. Kommen Sie pünktlich, okay? Ich habe schon genug zu tun, ohne nach Kindern zu suchen, die eigentlich gar nicht hier sein sollten.«

»Ich könnte auch immer noch die Polizei rufen«, meinte Jack provozierend, obwohl er es nicht wirklich ernst meinte.

Joseph Lovelittle lachte. »Den Bullen müssten Sie fünfmal so viel zahlen wie mir, damit sie überhaupt erst mal hier rausfahren. Tsss! Sie hassen diesen Ort. Sie hassen ihn wirklich.«

»Wir werden um Punkt sieben hier sein«, bestätigte Jack. »In der Zwischenzeit – halten Sie doch nach meinem Jungen Ausschau, ja?«

Joseph Lovelittle leuchtete Jack direkt ins Gesicht. »Sie sind ziemlich nass, oder? Gehen Sie lieber mal ganz schnell duschen, bevor Sie sich noch eine Lungenentzündung einfangen.« Er schwieg und fügte dann hinzu: »Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern? An Dick Van Dyke, an den erinnern Sie mich.«

»Ich bin etwas jünger als Dick Van Dyke«, verriet ihm Jack.

»Ich meine Dick Van Dyke in der Zeit, als er noch in seiner eigenen Sitcom, der Dick Van Dyke Show, mitspielte. Sie wissen schon, mit Morey Amsterdam, dieser Rosemary – wie hieß die noch gleich? – und Mary Tyler Moore.«

Der Dobermann namens Boy zerrte an seiner Leine und schlug mit dem Schwanz gegen Joseph Lovelittles Regenmantel.

»Bis später dann!«, verabschiedete sich Jack. Er fühlte sich wie gerädert, ihm war eiskalt und eine bleierne Müdigkeit steckte ihm in den Knochen. Er hätte alles dafür gegeben, Randy in Sicherheit zu wissen, sich für die nächsten zwei Tage ins Bett verkriechen zu dürfen und einfach nur durchzuschlafen.

»Ich werde da sein!«, sagte Joseph Lovelittle. »Darauf können Sie sich verlassen.«

Er richtete die Taschenlampe pflichtbewusst auf die Allee aus Eichenbäumen, die zurück zum Auto führte. Jack drehte sich ein- oder zweimal zu ihm um, konnte aber nur den blendenden Strahl seiner Taschenlampe erkennen.

»Na der war ja mal wirklich unheimlich, oder?«, bemerkte Karen, als sie den unregelmäßig beleuchteten Zufahrtsweg auf ihren 15-Zentimeter-Absätzen entlangstöckelte.

Jack entgegnete: »Ich würde zu gern wissen, warum er meint, die Eigentümer wären so verdammt entzückt darüber, einen Käufer für The Oaks zu finden.«

»Ach komm, Jack!«, sagte Karen. »Du hast doch gesehen, was im Keller passiert ist. Erzähl mir nicht, dass die Besitzer nichts davon wissen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher … wenn jemand das schon mal gesehen hat … glaubst du nicht, dass er sich mit der Presse oder dem Fernsehen in Verbindung gesetzt hätte? Schließlich ist das ein Gebäude, in dem es ganz ordentlich spukt.«

»Wahrscheinlich haben wir das alles nur geträumt. Hast du noch nie einen dieser Schocker mit Freddy Krueger gesehen?«

»Mensch, Karen, das sind doch nur Filme. Das hier ist die Realität.«

Sie quetschten sich durch die Lücke im Zaun und Jack schloss den Wagen auf. Wie Joseph Lovelittle ihnen schon prophezeit hatte, war er leer. Sie stiegen ein, um dem Regen endlich zu entkommen. Jack startete den Motor und die Scheibenwischer. Es war 03:37 Uhr morgens.

»Zurück in Richtung Madison ist auf der 94 ein Motel«, sagte Jack. »Du kannst von dort aus Bessy anrufen und dann duschen wir beide heiß und versuchen, ein bisschen zu schlafen.«

Karen beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn. »Es tut mir leid, Jack. Es tut mir leid, wie alles gekommen ist. Aber wir werden Randy finden, glaub mir. Wenn man ihn finden kann, werden wir ihn finden.«

»Und was ist mit den Geistern?«, fragte Jack. Er sah sich selbst im Rückspiegel an. Blass und erschöpft, das war er.

»Was ist mit den Dingern, die aus dem Boden kommen und einen packen? Was ist mit nackten Frauen in gottverdammten Wänden?«

»Jack, Liebling, wir werden in aller Ruhe eine Lösung finden, okay? Dieser merkwürdige Wachmann hatte absolut recht. Wenn es hell ist, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«

Jack schaltete das Automatikgetriebe seines Electra in den Rückwärtsgang, wendete und stellte den Hebel dann auf »Drive«.

»Weißt du was?«, meinte er. »Es wird nie aufhören zu regnen. Nie wieder, solange wir leben. Nie mehr.«

Jack nahm einen gelben Plastikbarhocker mit unter die Dusche und setzte sich mit vorgestrecktem Kinn und fest geschlossenen Augen unter das heiße Wasser. Karen packte einen neuen Kaugummi aus und ließ sich mit nichts weiter als ihrem schwarzen Nylon-BH aufs Bett fallen, um mit Bessy mit den dicken Knöcheln zu telefonieren.

»Glaub mir, Bessy – wenn ich gewusst hätte, was passiert! Bessy! Du bist ein Engel, Bessy, weißt du das? Erinnerst du dich an die Kette, die dir so gut gefiel? Ich werde sie dir kaufen, ich verspreche es dir! Ich weiß, dass ich dir Umstände mache! Bessy, es tut mir leid! Aber Sherrywine liebt dich doch so sehr!«

Als Jack schließlich aus der Dusche kam, legte sie auf. »Blöde Kuh!«, schimpfte sie und schmatzte laut.

»Was – hat sie dir das Leben schwer gemacht?«, erkundigte sich Jack, während er sich die Haare trocken rubbelte.

»Oh, nicht direkt. Zumindest nicht mit Worten. Sie versucht mir einzureden, dass ich eine schlechte Mutter bin, nichts weiter.«

»Du bist aber keine schlechte Mutter.«

»Du hast blaue Flecken an den Knöcheln, hast du das schon bemerkt?«

Jack sah an sich hinunter. Beide Knöchel waren über und über mit rot-blauen Stellen bedeckt.

»Das Ding war wirklich da, oder?«

Jack nickte. »Ja, es war wirklich da. Kein Geist. Keine Halluzination. Alles verdammt real.«

Er setzte sich direkt neben ihr auf die billige grüne Nylon-Tagesdecke. Sie drehte sich zu ihm und sah ihn an, während ihre Kiefer den Kaugummi zermalmten. Sie war sehr hübsch, und das, obwohl sich ihre falschen Wimpern an einer Stelle gelöst hatten und über einem Auge herabhingen. Sie hatte feste, spitze Brüste mit braun-rosa Nippeln, die so groß waren wie Untertassen; obwohl ihr Bauch nach der Geburt etwas schlaffer geworden war, wirkte sie sehr schlank. Zum ersten Mal fiel ihm die herzförmige Rasur ihrer Schamhaare auf. Das musste sie sich bei den Mädchen im Playboy abgeschaut haben.

»Du kannst die Bullen anrufen, wenn du willst«, sagte sie. »Es ist schließlich dein Sohn und du solltest dich von mir nicht davon abhalten lassen. Wenn das mit Sherrywine passiert wäre …«

»Zuerst möchte ich The Oaks noch einmal gründlich durchsuchen«, erklärte Jack. Seine Stimme klang schroff und ganz erbärmlich. So mochte sich Richard Burton auf dem Sterbebett anhören. »Ich weiß nicht – ich bin mir ziemlich sicher, dass er noch da ist. Diese Leute in der Wand. Und die Kackwurst, wie sie da in den Mauersteinen hing.«

»Der Wachmann – wie hieß er noch gleich?«, fragte Karen.

»Littlelove, Lovelittle?«

»Genau, das war’s, Lovelittle. Hast du gehört, was er gesagt hat? Selbst die Bullen sind nicht gern in The Oaks. Du müsstest ihnen fünfmal mehr zahlen als ihm. Tja, und warum bloß, wenn sich da nicht etwas total Merkwürdiges abspielt? Ich meine, da muss doch etwas abgehen, das ihnen Angst einjagt?«

Jack warf das kratzige Motel-Handtuch auf den Boden und legte sich im Bett auf den Rücken. Eine Weile starrte er an die Decke und schloss dann die Augen. Es war 04:40 Uhr morgens und hinter den orangeroten, lose wehenden Vorhängen wurde es bereits hell. Allerdings eher in einem trüben Grau, weil es immer noch regnete.

Karen kniete eine Weile neben ihm und beobachtete ihn. Sie schob ihren Kaugummi von einer Seite zur anderen. Sie mochte Jack. Wahrscheinlich würde sie ihn sogar lieben, wenn das Schicksal es erlaubte. Jeden Sonntag las sie in der Zeitung ihr Horoskop, doch sie traute dem Schicksal nicht recht über den Weg. Nach ein paar Minuten bemerkte sie, dass er eingedöst war. Seine Finger entspannten sich und er begann zu schnarchen. Mit einem Griff öffnete sie ihren BH.

Jack murmelte im Schlaf etwas vor sich hin. Nichts, was man verstehen konnte. Karen strich ihm mit den Fingerspitzen übers Gesicht, berührte seine Lider und fuhr ihm über den Mund. Er schürzte die Lippen, während er träumte. Sie glitt mit den Fingernägeln über sein Brustbein, kratzte sanft über seinen Bauch. Dann nahm sie seinen Penis in die Hand, drückte ihn und fing an, ihn zu massieren. Als er steif wurde, umfasste Karen ihn noch fester, doch Jack wachte trotzdem nicht auf. Er war viel zu erschöpft, stand unter Schock, war verängstigt und völlig ausgelaugt.

Karen fuhr mit der Fingerspitze immer wieder über seine feuchte Eichel, doch dann ließ sie es bleiben und legte sich neben ihn. Sie beobachtete, wie die Lichter von vorbeifahrenden Lastwagen über die Decke huschten.

Sie sah erneut auf Jack. Er würde ihr niemals gehören. Sie war sich nicht sicher, ob sie es überhaupt mit einem Mann aushalten konnte, der so ein ausgeprägtes Gewissen besaß. Doch sie schmiegte sich eng an ihn, als es im Zimmer langsam heller wurde. Schlafen konnte sie nicht. Als er um 06:20 Uhr wieder die Augen öffnete und sie anstarrte, lächelte sie, küsste ihn und sagte: »Guten Morgen, mein Liebling.«

Bei Tageslicht wirkte Joseph Lovelittle noch einmal deutlich älter und verwahrloster. Er erwartete sie im Windschatten des Gewächshauses. Den Kragen seiner Feuerwehrjacke hatte er hochgestellt. Sein Dobermann Boy saß neben ihm und zitterte wie im Fieber. Der Himmel war relativ klar, wenn auch immer noch grau, und der Regen prasselte herunter wie Wasser aus einem Springbrunnen. Ihre Schuhe knirschten auf dem Kies.

»Aha«, schnaubte Joseph Lovelittle. »Ich dachte schon, Sie würden gar nicht kommen.«

»Ich suche nach meinem Sohn«, erinnerte ihn Jack mit ernster Miene.

»Das tun Sie, das tun Sie.« Joseph Lovelittle wandte sich der Tür des Anbaus zu. An der Spitze seiner gebogenen Nase hing ein Tropfen durchsichtiger Rotz. »Sind Sie hier das letzte Mal reingegangen? Manchmal ist da abgeschlossen, manchmal auch nicht.«

»Schließen Sie ab?«, wollte Jack wissen.

Joseph Lovelittle drehte sich in seine Richtung um, ohne die Schultern nachzuziehen. Das sah ziemlich beunruhigend aus. »Manchmal ja, manchmal nein.«

Der alte Mann schwang die Tür auf. Jack fragte: »Wer schließt ab, wenn Sie es nicht tun? Daniel Bufo?«

»Manchmal.«

»Und wer noch?«

Joseph Lovelittle sah ihn aus seinen blassblauen Augen herausfordernd an.

»Was glauben Sie?«

Sie betraten das Gewächshaus. Joseph Lovelittle atmete mühsam tief ein. »Sie hätten das hier mal sehen sollen, damals 1925. Tropische Pflanzen, Kakteen, wie Sie die Welt zuvor noch nicht gesehen hatte. Dr. Estergomys ganzer Stolz.«

»Wer war Dr. Estergomy?«

Joseph Lovelittle wandte sich wieder zu Jack um und starrte ihn an.

»Sie wollen dieses Haus kaufen und kennen Dr. Estergomy nicht?«

»Sollte ich ihn denn kennen?«

Joseph Lovelittle dachte darüber nach und zuckte dann die Achseln. »Vermutlich nicht, wenn man genauer darüber nachdenkt.«

»Aber wer war er denn?«, wollte Karen wissen.

»Sie wissen, dass das hier ein Heim war? Das hat Ihnen Mr. Bufo doch bestimmt erzählt?«

»Das stimmt. Pflegeheim The Oaks, so hat er es gesagt.«

»Nun … Estergomy war der Chefarzt. Wissen Sie, was ich meine? Der absolute Herr im Haus.«

»Alles klar«, antwortete Jack. »Und dieses Gewächshaus hier …«

Joseph Lovelittle lächelte ihn geduldig an, als wäre er etwas schwer von Begriff.

»So ist es, Mr. Reed; Sie haben es verstanden. Dr. Estergomys ganzer Stolz.«

»Sie erinnern sich daran?«, erkundigte sich Jack, während er auf die verwelkten Blätter, das zerbrochene Glas und die kaputten Blumentöpfe blickte.

»Klar. Ich fing 1923 an, hier zu arbeiten. War damals zwölf Jahre alt. Ich putzte, spülte Geschirr, half hier und da. Mädchen für alles, könnte man sagen. Ich las den Patienten auch Geschichten vor, zumindest denen, die was damit anfangen konnten.«

Er nahm seinen Hut ab und seine Augen wirkten blasser denn je.

»Dr. Estergomys ganzer Stolz. Er baute hier drin sogar Trauben an. Kleine, grüne Trauben. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mich im Sommer immer hier reingeschlichen habe, um sie zu klauen.«

Der Alte öffnete die Tür zum Salon und ließ Karen und Jack eintreten. Boy, der Dobermann, fuhr mit seinem Maul hinten an Karens Rock hoch. Sie herrschte ihn an: »Hau ab, Kaltschnauze!« Joseph Lovelittle lachte und zwinkerte ihr zu.

Sie betraten die Halle. Der Alte knöpfte seinen Regenmantel auf und hängte ihn übers Geländer. Darunter trug er eine schlabbrige orangefarbene Strickweste und eine Jeans, die an seinen dürren Beinen herumschlotterte.

»Am besten wir fangen auf dem Dachboden an und arbeiten uns von dort nach unten vor.« Er hielt einen Bund mit einem halben Dutzend merkwürdig geformter Schlüssel hoch. »Das sind Generalschlüssel, einer für jede Etage.«

Sie erklommen die Stufen bis zum Dachboden. Auf dem Weg sagte Joseph Lovelittle: »Als dieses Haus Mr. Krüger gehörte, nannte man es das Labyrinth. Niemand wusste genau warum, denn es gab gar kein Labyrinth. Deshalb änderte Dr. Estergomy den Namen, als er es übernahm. Dr. Estergomy war ziemlich praktisch veranlagt. Ihm gefiel es nicht, wenn sich etwas nicht erklären ließ.«

»Wann wurde das Heim geschlossen?«, fragte Jack. »Ich habe ein paar Zeitungen im Salon gesehen, die von 1926 stammten.«

»Genau, das stimmt. Am 25. Juni 1926. Um 23:30 Uhr.«

Jack sah stirnrunzelnd in Karens Richtung hinüber. »Das ist eine sehr merkwürdige Zeit, um ein Heim zu schließen, 23:30 Uhr.«

Sie waren im zweiten Stock angelangt. Joseph Lovelittle ließ seinen Dobermann von der Leine, der sofort die Treppe hinaufflitzte. Seine Pfoten kratzten dabei über das Linoleum. »Wenn Ihr Sohn hier irgendwo ist, Mr. Reed, können Sie darauf wetten, dass Boy ihn aufspürt.«

»Und er wird ihm nicht wehtun?«

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Mr. Reed? Dieser harmlose Köter?«

Sie hörten, wie Boy den ganzen Weg zum Dachboden hoch wie wild tollte. Dort angekommen, bellte er zweimal vernehmlich, um ihnen mitzuteilen, dass er das Ziel erreicht hatte. Sie trabten hinter ihm her. Joseph Lovelittle war ziemlich außer Atem und musste immer wieder Pausen einlegen. Seine Augen traten hervor und Luft strömte pfeifend in seine Lungen und entwich dann wieder ähnlich geräuschvoll. »Als ich noch jünger war, rauchte ich 100 Zigaretten am Tag. Ich wünschte bei Gott, ich hätte es nicht getan.«

»Haben Sie hier schon mal ein kleines Mädchen spielen sehen? Eines, das eine Art weißen Regenmantel mit Kapuze trug?«, erkundigte sich Jack.

Joseph Lovelittle hielt einige Schritte vor dem Treppenende jäh inne, atmete schwer und starrte ihn an. »Ein kleines Mädchen? Ganz allein, meinen Sie?«

»Genau. Nicht älter als sechs oder sieben Jahre, würde ich mal schätzen.«

Joseph Lovelittle schnaubte. »Was sollte ein Kind in diesem Alter ohne seine Eltern hier draußen tun?«

»Ich weiß es nicht. Ich wollte nur wissen, ob Sie es gesehen haben. Oder ihn. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Mädchen ist.«

»Tja, Mr. Reed, die Dinge sind nicht immer das, was sie zu sein scheinen.«

»Nein, vermutlich nicht.«

Joseph Lovelittle holte seinen Schlüsselbund hervor und begann, die Türen zu öffnen, eine nach der anderen. Er ließ sie offen stehen. Jack und Karen folgten ihm und spähten in jeden Raum hinein. Die meisten waren völlig leer, doch in einigen standen noch Betten und Nachttische. In einem Zimmer entdeckten sie sogar eine Pinnwand aus Kork, an der Postkarten hingen, außerdem ein zusammengerolltes Aktfoto, das Eine Ägyptische Huri, 1926 zeigte.

Karen rollte das Pin-up auf und lächelte. »Sexy, was?«

Sie gingen weiter. Joseph Lovelittle sagte: »Noch keine Spur. Boy bellt immer wie verrückt, wenn er Witterung aufnimmt.«

Jack sah in ein weiteres verwaistes Zimmer. »War das hier eine private Einrichtung? Oder gehörte sie dem Staat?«

»Sie war privat, aber Dr. Estergomy wurde vom Bundesstaat Wisconsin für einige der Patienten bezahlt.«

»War sie immer gut belegt?«

»Oh, sicher, sie war immer gut belegt. Brechend voll. In der Nacht, als sie schloss, hatten wir 137 Patienten.«

»Estergomy muss ein ziemlich guter Arzt gewesen sein.«

»Na ja, sicher. Er hatte all diese neumodischen Behandlungsmethoden. Zumindest waren sie das 1926. Heutzutage sind sie sicher genauso antiquiert wie ich.«

Sie erreichten das Ende des Dachbodens, doch von Randy keine Spur. »Lassen Sie es uns ein Stockwerk weiter unten versuchen«, schlug Joseph Lovelittle vor und suchte den passenden Generalschlüssel heraus.

Schlurfend ging er als Erster die Stufen hinunter. Jack sagte zu Karen: »Wenn wir Randy im Haus nicht finden, dann rufe ich die Bullen und fertig. Selbst wenn ich sie bestechen muss, damit sie herkommen.«

Joseph Lovelittle drehte sich zu ihm um und sagte: »Haben Sie etwas, das Ihrem Sohn gehörte, Mr. Reed? Vielleicht würde es Boy helfen, ihn aufzuspüren.«

Jack griff in seine Manteltasche und zog die zerfetzten Überreste der Kackwurst hervor. Er hielt sie dem Hund unter die Nase und Boy schnüffelte daran, leckte sie ab und biss dann hinein.

»Was war das mal?«, fragte Lovelittle, während er einen skeptischen Blick auf die waffelförmigen Wollreste warf.

»Ein konfessionsloses, nicht-rassistisches, asexuelles, ganz natürliches Spielzeug«, antwortete Jack.

Joseph Lovelittle starrte ihn an. »Ich bekam eine Jack-Armstrong-Spielzeugpistole mit Propeller geschenkt, als ich neun war.«

»Tja, das Glück hat halt nicht jeder«, gab Jack trocken zurück. Die Müdigkeit ließ ihn leichtsinnig, fast schon hysterisch werden.

Sie schritten den ganzen nächsten Gang ab, während Joseph Lovelittle jede Tür öffnete und Boy schnüffelnd zwischen ihren Beinen umherlief. Wieder fanden sie nichts. Doch Jack war überrascht, dass die Wände in jedem der Zimmer auf dieser Etage dick mit einem grau-weißlichen Stoff ausgelegt waren.

»Ruheräume«, bemerkte ihr Begleiter mit einem schiefen Lächeln, als er sah, dass Jack die Wände berührte. »So nannte sie Dr. Estergomy gern.«

Sie gingen wieder zurück ins Erdgeschoss. Dort gelangten sie an die Doppeltür, die zu dem Turm führte, den Jack bei seinem letzten Besuch so sorgfältig abgeriegelt vorgefunden hatte.

»Vermutlich konnte er hier nicht hinein!«, bemerkte er.

»Wollen Sie trotzdem nachschauen?«, wollte Joseph Lovelittle wissen. Er schnaubte und der Rotztropfen, der vorher an seiner Nase gehangen hatte, verschwand wie von Zauberhand. »Das war Dr. Estergomys Klinik, Sie wissen schon, wo er all seine Behandlungen vornahm. Er hielt die Tür wegen der Medikamente und dem ganzen anderen Zeug immer gut verschlossen.«

Joseph Lovelittle fuchtelte mit den Schlüsseln herum und fand schließlich den richtigen. Er schloss auf und öffnete die rechte Pforte. Jack zögerte. »Gehen Sie nur«, ermutigte ihn Joseph Lovelittle. »Nichts, wovor man Angst haben müsste.«

Jack trat ein und fand sich in einer trüben, staubigen Halle wieder, deren Decke zwei Stockwerke hoch war. Fenster mit schweren Vorhängen gaben den Blick auf die Allee frei, die von der Straße zum Haus führte. Die Äste mit den nassen Eichenblättern bogen sich unter der Last des Regens.

In einer Ecke stand ein großer Schreibtisch mit Lederbespannung. Darauf lagen vergilbte Papiere, als hätte noch heute Morgen jemand dort gearbeitet. Ein Füllfederhalter lag mit offener Kappe auf dem tintenbefleckten Untergrund. Die verrostete Feder war das einzige Indiz dafür, dass er schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt worden war.

Nicht weit vom Schreibtisch entfernt stand eine hohe Untersuchungsliege, auf der ein Laken mit ausgefranstem Saum ausgebreitet lag. Vermutlich hatten sich Mäuse daran zu schaffen gemacht. In der Mitte des Raumes thronte das mit Abstand beeindruckendste Möbelstück: ein riesiger, quadratischer Stuhl aus Eichenholz. An seiner Rückseite war mithilfe einer gebogenen Messinghalterung eine Metallhaube befestigt worden. Für die Fuß- und Handgelenke gab es Lederbänder zum Fixieren. Ein Kabel, das in dicken, braunen Stoff eingehüllt war, verband den Stuhl mit einem riesigen, elektrischen Schaltpult. Es wirkte wie das Cockpit eines altmodischen Flugboots. Es gab unzählige Reihen von Hebeln und anderen Bedienelementen sowie etliche kleine, rote Signallämpchen. Weitere Kabel führten zu einer Reihe von gläsernen Akkumulatorenbatterien. Die meisten davon waren eingestaubt, zerbrochen und mit Chlorsalz verkrustet.

Jack blickte nach oben. Über dem Stuhl schwebte eine Ansammlung schwarz bemalter Scheinwerfer, die in verwaiste Spinnennetze eingehüllt waren. Selbst die achtbeinigen Bewohner hatten diesem Ort den Rücken gekehrt.

»Erinnert mich an eine Szene aus Frankenstein«, stellte Jack fest.

»Für mich sieht es aus wie ein elektrischer Stuhl!«, warf Karen ein.

Joseph Lovelittle lehnte sich altklug und mit verschränkten Armen gegen die Tür und sah sich im Behandlungszimmer um. Boy steckte seinen Kopf in einen Weidenpapierkorb und brachte einige zusammengekrumpelte Notizen durcheinander.

»Ich würde sagen, Sie haben beide recht«, äußerte sich Joseph Lovelittle.

»Das war eine von Mr. Estergomys großen neuen Behandlungsmethoden. Man konnte damit Hirnzellen so manipulieren, dass sie sich anders anordneten. Er hat es mir einmal mit einem Magneten und ein paar Eisenspänen demonstriert. Er fuhr mit dem Magneten über die Eisenspäne und sie ordneten sich nach einem bestimmten Muster an. So hat er es mir zumindest zu erklären versucht. Ich war wahrscheinlich zu jung, um es zu begreifen, vielleicht auch zu dumm, oder beides. Ich bin eher der Typ fürs Grobe. Denken ist nicht so meine Stärke.«

»Das war also ein Irrenhaus?«, fragte Jack.

»Hat Mr. Bufo Ihnen das nicht gesagt? Es war ein berühmtes Irrenhaus. Drüben in der Universität nannten sie es nicht The Oaks, sondern The Walnuts. Wegen der vielen tauben Nüsse, hehe.«

»Das erklärt natürlich die gepolsterten Wände in den Krankenzimmern und die Türen, die sich nicht von innen öffnen lassen«, bemerkte Jack. »Was für ein Idiot ich bin, das hätte mir doch auffallen müssen.«

»Sie waren alle gewalttätig«, erzählte Joseph Lovelittle. »Jeder einzelne von ihnen, totale Scheißkerle, bitte entschuldigen Sie meine Wortwahl. Das Staatsgefängnis hat sie hierhin abgeschoben, weil die Wächter nicht mit ihnen fertig wurden. Alle Sorten von Verbrechern hatten wir hier. Axtmörder, welche, die ihre Mutter erstickten oder Babys erwürgten, Brandstifter und so weiter. Männer, Frauen und sogar Kinder. 137 waren’s in der Nacht, als wir dichtmachten.«

»Ich hatte ja keine Ahnung«, erwiderte Jack kopfschüttelnd. »Von dieser Anstalt höre ich gerade zum ersten Mal.«

»Ist doch völlig klar. Dafür hat damals niemand die Werbetrommel gerührt. Die Anwohner wären sicher nicht sonderlich begeistert über ein Ferienheim für gefährliche, verrückte Kriminelle in ihrer direkten Nachbarschaft gewesen, oder? Und nach dem, was dann passiert ist, gab’s erst recht keinen Grund mehr, die Angelegenheit an die große Glocke zu hängen.«

»Was ist denn passiert?«, hakte Jack nach.

Joseph Lovelittle ignorierte ihn und pfiff durch die Zähne, um Boy zu rufen.

»Sind Sie hier fertig?«, wollte er dann von Jack wissen.

»Ja, ich denke, wir sind fertig.«

Sie verließen das großzügige Behandlungszimmer der Klinik und Joseph Lovelittle schloss wieder hinter ihnen ab. »Sie können auch einen Blick in den Westturm werfen, wenn Sie möchten, aber da gibt es nur Bücher. Mr. Krüger hat den Großteil seiner Bibliothek zurückgelassen, als er das Haus verkaufte. Ich glaube, er ist nach Europa ausgewandert oder so. Er zog sich auch aus dem Biergeschäft zurück.«

»Wäre es denn möglich, dass Randy in den Westturm gelangt ist? Oder ist der auch so gut verriegelt wie hier?«

»Auch so gut verriegelt.«

»Also gut, dann belassen wir es dabei und schauen uns erst mal noch die restlichen Räume unten und dann den Keller an.«

Karen sagte: »Du willst doch nicht wieder runter in den Keller gehen?«

»Ich muss. Die Kackwurst war dort.«

Joseph Lovelittle sah Jack fragend von der Seite an. Jack konnte sich immer noch nicht erklären, wie sein Gegenüber den Kopf drehen konnte, ohne seine Schultern zu bewegen.

»Das Spielzeug meines Sohns, das ich Ihnen vorhin gezeigt habe«, erklärte Jack.

Mit einem bellenden Husten führte Joseph Lovelittle sie in die Empfangshalle zurück und schlurfte dann vor ihnen durch Küchen, Toiletten, Kunstwerkstätten und Kämmerchen, in denen einmal Mäntel und Stiefel aufbewahrt worden waren.

Schließlich gelangten sie zum Badehaus am Ende des Gebäudes. Darin gab es ein Echo, es war kalt und fühlte sich an wie in einer Höhle. Es gab lediglich ein paar winzige Fenster, durch die man die dahinterliegenden Tennisplätze erkennen konnte. In fünf weiß gefliesten Öffnungen im Boden befand sich jeweils eine riesige emaillierte Badewanne. Jede von ihnen war mit einem hölzernen Deckel mit ovaler Öffnung versehen – gerade eben groß genug, dass ein Kopf hindurchpasste. Am Ende der Deckel waren jeweils vier Messinghalterungen angebracht, vermutlich, um den Badenden am Rand der Wanne fesseln zu können, damit er nicht herausklettern konnte. Sie waren allesamt völlig zerkratzt, zerborsten und mit dunklen Flecken besprenkelt.

»Falls einer der Patienten mal total durchdrehte, ließ Mr. Estergomy ihn hier drin bis zum Hals in kaltem Wasser schmoren. Mann, wie die schrien! Manchmal konnte man sie noch draußen am Swimmingpool hören. Sie brüllten, kratzten, schlugen um sich; wenn die Schwestern sie später aus der Wanne holten, war meistens das ganze Wasser voll Blut und ihre Finger bis auf die Knochen abgeschabt.«

Karen schüttelte sich. »Das ist ja grausig.«

Boy, der Dobermann, schlich um die Wannen herum und tappte dabei mit seinen Pfoten über die Fliesen. »Sieht nicht so aus, als ob Ihr Sohn hier drin wäre«, bemerkte Joseph Lovelittle. »Der letzte Ort, an dem er noch sein könnte, ist der Keller.«

»Haben Sie hier im Haus schon jemals jemanden gesehen?«, erkundigte sich Jack, als sie das Badehaus wieder verließen.

»Drogensüchtige und Rocker, aber nicht besonders viele.«

»Nein, nein. Ich meinte eher, ob Sie jemals etwas Ungewöhnliches bemerkt haben?« Er konnte sich nicht zu der Bemerkung durchringen, die ihm auf der Zunge lag: »Jemanden in der Wand.«

Joseph Lovelittle schloss die Kellertür auf. »Kommt darauf an, was Sie unter ungewöhnlich verstehen. Ich könnte zum Beispiel sagen, dass Sie und Ihre Freundin ziemlich ungewöhnlich sind, weil Sie herkommen und nach einem Sohn suchen, von dem Sie nicht einmal beweisen können, dass Sie ihn jemals hatten. Woher soll ich wissen, weshalb Sie wirklich hier sind?«

»Jetzt machen Sie aber mal halblang«, sagte Jack. »Ich habe Sie sogar bezahlt, oder nicht? Dafür, dass Sie mir helfen, meinen Sohn wiederzufinden. Sie haben das Geld dankend angenommen. Also erwarte ich ein bisschen mehr Kooperation von Ihrer Seite, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.«

Joseph Lovelittle steckte sofort zwei Finger in die Tasche seiner Strickjacke und klaubte Jacks 20-Dollar-Schein heraus.

»Sie sind nicht zufrieden? Dann bekommen Sie Ihr Geld zurück. Ich würde nie Geld von jemandem annehmen, der nicht zufrieden ist.«

Jack wollte es nicht zurück. »Schon gut, es tut mir leid. Ich will doch nur meinen Jungen wieder.«

Karen sagte: »Jack … ich denke, ich bleibe hier. Ich will nicht noch mal runter in diesen Keller.«

»Hey … es gibt nichts, wovor man sich fürchten müsste.« Joseph Lovelittle grinste und entblößte dabei Zähne, die die Farbe von alten Klaviertasten hatten. »Es ist nur ein Keller, mehr nicht.«

»Trotzdem«, meinte Karen mit einer Stimme, die vor Aufregung ganz schräg klang. »Ich würde dann doch lieber hierbleiben.«

»Wie Sie möchten«, entgegnete Joseph Lovelittle schnaubend. Er fasste in eine Nische neben der Kellertür und zog eine grün-emaillierte Stablampe hervor. Gott, dachte Jack, wenn wir bloß letzte Nacht gewusst hätten, dass da eine Lampe ist!

»Kommen Sie, Mr. Reed? Oder haben Sie etwa auch Angst?«

Der alte Wachmann schritt entschlossen die Kellertreppe hinunter und schwenkte den breiten Strahl der Lampe beunruhigend von einer Seite des Gewölbes zur anderen, sodass es aussah, als würden die Wände wackeln. Einen Moment lang beschien die Lampe seine Ohren, sodass sie rot und haarig aussahen und dunkelrote Adern hervortraten.

»Ich komme hier nicht mehr so oft hinunter«, sagte er über seine Schulter zu Jack. »Es gab mal eine Zeit, da war ich für die Wartung des Boilers zuständig. Aber während des Krieges war kein Heizöl mehr zu kriegen und es hatte sowieso nicht schrecklich viel Sinn, ein Gebäude zu beheizen, in dem nie wieder jemand leben würde.«

Am Fuß der Kellertreppe drehte er sich plötzlich um und sah Jack an, als ob er ihn noch nie in seinem Leben gesehen hätte. »Warum wollen Sie diesen Laden hier eigentlich kaufen?«, fragte er mit anklagender Stimme. »Man muss schon ziemlich bescheuert sein, um sich so etwas in den Kopf zu setzen.«

»Wollen Sie, dass ich Sie als Angestellten behalte?«, fragte Jack ihn. »Als Hausmeister, Sicherheitschef oder irgendwas in der Art?« Er hoffte, dass Joseph Lovelittle von der unterschwelligen Drohung beeindruckt genug sein würde, um sich ein wenig entgegenkommender zu verhalten.

Irgendwo tief unten im Keller begann Boy zu bellen.

Joseph Lovelittle wandte Jack den Rücken zu und sagte: »Sicherheitschef? Ist mir scheißegal, um die Wahrheit zu sagen. Ich geh eh bald in Rente.«

Jack folgte ihm über den mit Müll bedeckten Kellerboden, vorbei an dem gewölbten, schweigenden Boiler. Sie knirschten und knarzten über Sperrholzplatten und kletterten über drei kaputte Sofas. Joseph Lovelittle schien egal zu sein, worauf er trat. Er kickte zwei Glasakkumulatoren aus dem Weg und einer davon zerbrach, sodass sich Batteriesäure über den Betonboden ergoss. Jack kletterte so vorsichtig wie möglich über den Unrat, schwieg aber.

Boy stand vor der Kalkwand in einer der Nischen und bellte laut.

»Hast du etwas gefunden, Boy?«, fragte Joseph Lovelittle ihn. Er leuchtete mit der Stablampe auf die Mauersteine, doch an der Wand war nichts zu sehen. »Der Hund ist so dumm wie Brot, glauben Sie mir. Jeder andere Dobermann ist schlau wie ein Fuchs. Doch meiner nicht. Wenn er Eindringlinge sieht, was tut er dann? Er bringt ihnen Stöckchen, damit sie mit ihm spielen. Mit Hunden habe ich noch nie Glück gehabt. Hatte noch nie einen, mit dem es gut ausgegangen ist.«

»Vielleicht ist da etwas hinter der Mauer«, mutmaßte Jack. Ihm war heiß und gleichzeitig kalt und er wischte sich die Hände an seiner Hose ab.

»Hinter der Mauer, Mr. Reed, ist massiver Felsen. Das und nichts anderes befindet sich dahinter.«

Jack nahm die zerfetzten Überreste der Kackwurst heraus und hielt sie Boy vor die Schnauze, um seine Erinnerung aufzufrischen. Boy schnüffelte und schnappte eifrig danach, dann sprang er zur Kellerwand, bellte unaufhörlich und wedelte mit dem Schwanz.

»Wirst du wohl das Maul halten, du dummer Köter!«, brüllte Joseph Lovelittle ihn an und schlug mit der Leine nach ihm.

»Hab noch nie einen so blöden Köter gesehen!«

»Aber er glaubt, dass da etwas ist«, gab Jack zu bedenken.

»Ach ja?«, erwiderte Joseph Lovelittle. Er schien jetzt ernsthaft verärgert zu sein. »Was denn? Was glaubt er denn, was dort ist? Kommen Sie, Mr. Reed, was zum Teufel glaubt er denn, was dort ist?« Er trampelte über einen Haufen alter, hölzerner Kleiderbügel hinweg und stellte sich direkt an die Wand.

»Das ist eine unnachgiebige Mauer, absolut stabil! Ist seit 1924 nicht mehr gestrichen worden, nicht mehr angerührt worden. Hier ist nichts, Mr. Reed, glauben Sie mir. Nur eine extrem robuste Mauer!«

Er schnappte nach Boys Halsband, doch der Hund wich ihm aus, lief im Kreis, bellte und zog sich zurück.

»Jetzt reicht’s mir aber, du blöder Köter! Hör auf mit dem gottverdammten Lärm! Hörst du! Hör auf mit dem Krawall!«

Da war sich Jack plötzlich sicher, dass er das gruselige, altbekannte schleifende Geräusch wieder hörte. Das tiefe, zarte Sssssschhhhhhh – ssssssssschhhhhhh – ssssssschhhhhhh. Er drehte sich rasch um, um auszumachen, woher es kam. Doch Boys Gebell hallte von den Wänden wider, sodass Jack unmöglich den Ausgangspunkt festmachen konnte.

Doch es kam näher. Ein leiser, dumpfer, düsterer Ton.

»Mr. Lovelittle!«, rief er.

»Was? Was ist denn?«, fuhr ihn Joseph Lovelittle an.

»Mr. Lovelittle, ich glaube wirklich, dass wir besser daran täten, hier so schnell wie möglich zu verschwinden.«

»Was? Wovon zum Teufel reden Sie? Boy – hör auf mit dem verdammten Gebell, ich verstehe ja mein eigenes Wort nicht mehr!«

Sssssschhhhhh – sssssssschhhhhhh – sssssschhhhhh. Das schleifende Geräusch wurde immer noch lauter. Jack sah sich schnell und ängstlich um und wartete darauf, dass sich jede Sekunde der Müll teilen, eine graue Hand daraus hervorragen und seinen Fußknöchel packen würde.

»Mr. Lovelittle, kommen Sie!«, rief er und versuchte, seine Stimme besonders überzeugend klingen zu lassen. »Ich glaube, hier unten sind wir nicht wirklich sicher, wissen Sie? Kommen Sie! Ihr Hund wird schon nachkommen, wenn er sich wieder beruhigt hat.«

»Scheißblöder Hund!«, zeterte Joseph Lovelittle weiter.

In diesem Moment war das Ssssssschhhhhhh-Geräusch hinter dem alten Mann so laut, dass er sich überrascht umdrehte und zur Wand sah.

»Haben Sie das gehört?«, fragte er Jack. »Vielleicht ist …«

Zwei kräftige kalksteinfarbene Hände schnellten aus der Wand hervor und ergriffen Joseph Lovelittles Kopf.

»Hilfe!«, schrie er. Doch dann schmetterten die Hände sein Gesicht gegen das Mauerwerk. Jack hörte das entsetzliche Krachen, als seine Nase brach.

Mit gnadenloser Gewalt zogen die Hände Joseph Lovelittle unaufhörlich auf und ab, ritsch-ratsch, ritsch-ratsch, sodass sein Gesicht wie ein Kohl gegen eine Küchenreibe geschabt wurde. Er schrie und brüllte in hilfloser Pein, ein einziges lang gezogenes, schrilles Heulen. Seine Schreie brachten selbst Boy zum Verstummen, der reglos mit aufgestellten Ohren neben dem Müll stand.

»Halten Sie durch! Halten Sie durch!«, kreischte Jack hysterisch, polterte über die Kleiderbügel und versuchte, Lovelittle an den Schultern zu packen und ihn von der Mauer wegzuziehen. Doch der alte Mann wurde so brutal auf und nieder gezerrt, dass seine wild rudernden Arme den herannahenden Retter mit Wucht zur Seite stießen.

Joseph Lovelittles Gesichtshaut wurde in blutigen Fetzen über die Wand geschrammt, wo sie sich in Windeseile abscheuerte. Dann drang der sandige Mörtel durch die letzten Hautfetzen in das darunterliegende Fleisch und das Mauerwerk verwandelte sich in ein Gemälde aus grellroten, glänzenden Blutflecken.

Die grau-weißen Hände zerrten ihn von rechts nach links, von links nach rechts, immer und immer wieder. Ein Auge wurde aus dem Schädel des alten Mannes gerissen; ein blasses, farbloses Auge. Es hing einen Moment lang mit dem klebrigen Sehnerv an der Mauer und starrte auf surrealistische Weise nach unten. Doch dann fiel es plötzlich zu Boden und verschwand zwischen den verstreuten Kleiderbügeln.

Jack wich zurück, erst langsam und dann zunehmend schneller. Joseph Lovelittle schrie immer noch, versuchte nach wie vor, sich an der Wand festzukrallen, damit ihn die Hände nicht weiter über die Mauer schaben konnten. Doch Jack erkannte schnell, dass es hoffnungslos war und nichts gab, was er für den Wachmann tun konnte.

»Jack!«, brüllte Karen aus der Halle. Sie musste sich vorher schon bemerkbar gemacht haben, doch über Lovelittles Schmerzensschreie und das schreckliche Kohlschaben seines Kopfes an der Wand hinweg hatte er sie nicht gehört.

Jack war fast schon bei der Treppe angelangt, als Joseph Lovelittle den markerschütterndsten Schrei von allen ausstieß. Er klang in diesem Moment nicht einmal mehr wie ein Mensch. Die erbarmungslosen Hände schleiften ihn durch die komplette Kellerwand, zerfetzten seine Strickjacke, kratzten das fette, weiße, hervortretende Fleisch seines Bauchs auf, zerrissen seine Cordhose und verschmierten die Kalksteinmauer mit einer anderthalb Meter dicken Blutspur.

»Jack!«, schrie Karen. »Jack, was ist da unten bei euch los? Jack, um Gottes willen!«

Vor Angst hyperventilierend schwankte Jack so schnell er konnte auf den Treppenstufen nach oben. Als er dort angelangt war, hatte Joseph Lovelittle aufgehört zu schreien. Jack sah nicht mehr zurück. Er hechtete aus der Kellertür und kam in der Mitte der Halle zwischen den beiden blinden Statuen zum Stehen. Er schwankte wie ein Mann, der kurz vor dem Kollaps stand.

Karen hatte neben dem Durchgang zur Lounge Position bezogen, um jederzeit wegrennen zu können, wenn es nötig war. Er drehte sich zu ihr um und starrte sie an.

»Jack?«, flüsterte sie. »Jack, was ist passiert?«

Jack konnte lediglich den Kopf schütteln und den Mund wie ein Fisch auf- und zuschnappen lassen.

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