F Ü N F

Jack fischte eine Miniflasche Jack Daniel’s aus dem Handschuhfach seines Wagens. Er trank einen Schluck, hustete und gab sie dann an Karen weiter.

»Nein, danke«, lehnte sie sein Angebot ab. »Mir ist echt schon schlecht genug.«

»Wir müssen die Polizei alarmieren«, sagte Jack. Er konnte seine Stimme kaum unter Kontrolle halten. Sein Gehirn fühlte sich an, als ob es bei einer rasanten Achterbahnfahrt Schaden genommen hätte. »Uns bleibt keine andere Wahl.«

»Okay«, stimmte Karen zu, während sie sich einen neuen Kaugummi in den Mund schob. »Wenn du das wirklich willst.«

»Na ja, was bleibt uns schon anderes übrig, verdammt noch mal? Da unten im Keller ist etwas, das Menschen jagt und erbarmungslos tötet.«

»Klar«, antwortete Karen. Ihre Stimme klang auffallend neutral. »Etwas, das aus massivem Beton herausspringt.«

»Karen – die Polizei wird doch selbst sehen können, was passiert ist.«

»Aber sicher doch.«

»Er wurde an der Wand hochgezogen, Liebling, und dann daran entlanggeschleift, bis er in Fetzen zerschreddert war, Herrgott noch mal.«

Karen beobachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe und die verbeulte Motorhaube des Electra. Karens Make-up war verwischt und hatte unter ihren Augen dunkle Ränder gebildet. Zum ersten Mal, seit er sie kannte, fand er, dass sie alt aussah.

»Was glaubst du, was die Beamten zu der ganzen Sache sagen werden?«, fragte sie ihn. »Vor allem dazu, dass Lovelittle gegen die Wand geraspelt wurde?«

»Die Beweise sind doch da, Karen. Die Leiche. Alles. Sie müssen doch einfach nur auf die Wand schauen.«

»Und du meinst, sie glauben dir, wenn du ihnen erzählst, dass ihn etwas auf dem Gewissen hat, das sich in der Mauer versteckt hält?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Sie werden also nicht unterstellen, dass du es warst, der ihn getötet hat?«

Jack nahm einen weiteren Schluck Jack Daniel’s. Inzwischen befand sich nur noch ein winziger Rest in der Flasche. Er zögerte kurz und leerte sie dann komplett.

»Ach komm …«, sagte Jack. »Ich denke schon, dass die Polizei mit Logik an die Sache herangeht.« Er schraubte die leere Flasche zu und legte sie ins Handschuhfach zurück. »Sie müssen mich ja bloß ansehen, um zu erkennen, dass ich nicht stark genug wäre, um einen Mann von Lovelittles Größe eine 60 Meter lange Wand entlangzuschleifen. Und selbst, wenn ich vorgehabt hätte, ihn zu töten, warum ausgerechnet auf diese Weise? Ich hätte ihn ja schließlich genauso gut erschießen oder mit einem Baseballschläger erschlagen können. Ich bin ja kein Verrückter.«

»Tja, vielleicht bin ich wirklich einfach voreingenommen«, bemerkte Karen.

Sie saßen eine Weile schweigend im Auto. Von The Oaks war hier nichts außer einem nebligen Umriss hinter den Eichenbäumen zu sehen.

Nach einiger Zeit sagte Jack: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Randy irgendwo da unten ist.«

»Im Keller?«

»Der Hund hat gebellt; es war das einzige Mal, dass er gebellt hat. Ich habe ihn an der Kackwurst schnüffeln lassen und er ist danach schnurstracks auf die Wand zugelaufen.«

»Glaubst du, dass Randy auch in der Wand steckt?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Jack, während er sich die Augen rieb. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Ich weiß, was ich gesehen habe, aber ich will es immer noch nicht wahrhaben.«

»Aber du bist trotzdem überzeugt, dass die Polizei dir glauben wird?«

»Karen, die Indizien …«

»Jack, Schätzchen, wenn’s nach meiner bescheidenen Erfahrung geht, schert sich die Polizei einen Scheißdreck um Indizien.«

Wieder schwiegen sie sich an. Der Regen rieselte auf die Bäume. Jack kramte seinen Autoschlüssel hervor und steckte ihn in die Zündung. »Er ist mein Sohn, Karen«, sagte er. »Alleine schaffe ich es nicht, ihn zu finden. Ich denke, dass er sich tatsächlich in der Wand verbirgt und Gott allein weiß, wie er da hineingeraten ist. Dieser Lester, über den er die ganze Zeit redete …«

»Schau!«, keuchte Karen.

Stirnrunzelnd sah Jack auf. Zwischen den dunklen Eichenstämmen konnte er eben noch eine grau-weiße, gesichtslose Gestalt mit Kapuze erkennen, die allein im Regen stand. Sie war nicht größer als ein siebenjähriges Kind. Doch warum sollte ein siebenjähriges Kind hier draußen sein und sie beobachten?

Jack öffnete die Tür des Kombis, doch in diesem Moment hielt ihn Karen am Arm fest. »Warte, es winkt uns zu.«

Die kleine Gestalt hatte beide Arme erhoben. Es winkt nicht nur, dachte Jack. Es winkt uns zu sich.

»Es will, dass wir ihm folgen«, stellte er fest.

»Was, hast du jetzt völlig den Verstand verloren? Du willst doch nicht noch mal dorthin zurück?«

»Du musst ja nicht mit«, erklärte ihr Jack. »Aber Karen … solange es auch nur den Hauch einer Chance gibt, dass ich Randy finde …«

Müde sah Karen ihn an. Sie wusste, dass er gehen musste. »Ich werde das Radio einschalten und auf dich warten, Jack. Aber wenn du in 20 Minuten nicht zurück bist …«

»Wenn ich in 20 Minuten nicht zurück bin, dann ruf die Bullen. Ich mein es ernst. Das musst du tun. Komm bloß nicht hinterher, um mich zu suchen.«

Er stieg aus dem Auto. Die kleine grau-weiße Gestalt stand immer noch zwischen den Eichen und gab ihm Zeichen. Jack zwängte sich durch die Lücke neben dem Tor und stapfte mit hochgestelltem Kragen die Kieseinfahrt entlang. Die Gestalt ließ die Hände herabsinken und wartete auf ihn. Durch die Bäume und den Regen konnte man sie kaum erkennen, doch es schien, dass Randy recht gehabt hatte. Die Gestalt besaß kein Gesicht. Vielleicht war es wieder nur eine Zeitung, die völlig durchgeweicht im Wind flatterte.

Bevor er noch näher herankommen konnte, hielt die Gestalt auf die Rückseite von The Oaks zu. Sie bewegte sich merkwürdig ruckhaft, so ähnlich wie ein Kind in einem neuen Regenmantel, der ihm viel zu groß war, gleichzeitig wirkten die Gesten seltsam unkoordiniert. Ein bisschen wie eine Zeichentrickfigur im Zeitraffer.

Jack näherte sich ebenfalls dem hinteren Teil des Gebäudes. Die kleine Erscheinung wartete neben der geöffneten Tür des Gewächshauses auf ihn. Sie gestikulierte nicht mehr. Als Jack nur noch 20 Meter von ihr entfernt war, sprang sie ins Innere und verschwand aus seinem Blickfeld.

Jack graute es, denn er wusste genau, wohin ihn dieses Versteckspiel führen würde. Am Eingang zum Anbau zögerte er und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Du musst nicht wieder hineingehen. Du könntest genauso gut die Polizei anrufen.

Die kleine grau-weiße Gestalt war nirgendwo in Sicht. Sie konnte sich höchstens direkt hinter der Tür verstecken, falls sie noch in der Nähe war. Auf dem Boden des Gewächshauses zeichneten sich zu seinem Erstaunen keine nassen Fußstapfen ab.

Doch Randy war irgendwo im Haus, da war Jack sich absolut sicher. Er konnte es regelrecht spüren. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf die Suche nach seinem Sohn zu machen.

Er durchquerte das verlassene Gewächshaus und betrat durch den Empfangsraum die Halle. Es schien noch stiller als sonst zu sein. Die Kellertür stand immer noch halb offen, so wie er sie vorhin zurückgelassen hatte. Er näherte sich ihr mit schnellen Schritten und öffnete sie mit den Fingerspitzen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Er wollte gerade hinuntersteigen, als eine Stimme zu flüstern begann.

Willkommen zurück, Jack.

Er wirbelte herum. Die blinde Statue gegenüber der Halle hatte ihre Marmoraugen geöffnet und blickte ihm direkt ins Gesicht.

Schön, dass du kommen konntest, Jack, sagte die Statue.

Jack zwang sich dazu, die Halle in ihre Richtung zu durchqueren. Seine Füße schienen kaum vorwärtszukommen, als ob er gelähmt wäre. Er stellte sich vor der Skulptur auf und starrte sie ebenfalls an. Ihr Gesicht war weiß, kalt und schien ihn spöttisch zu mustern. Sie lebte und sah aus wie eine Frau – und doch hatte sie etwas sehr Unmenschliches an sich. Eine marmorne Visage mit einem Herz aus Stein.

Du bist auf der Suche nach Randy, mutmaßte die Statue.

»Er ist hier?«, brachte Jack mit heiserer Stimme hervor.

Natürlich ist er hier. Wir haben ihn versteckt.

»Wer sind ›wir‹?«

Nun, mein Name ist Lester … aber es gibt noch viele von uns hier. Mach dir keine Sorgen, Jack, deinem Randy geht es gut.

»Wo ist er? Ich will ihn sehen.«

Alles zu seiner Zeit.

»Ich will ihn zurück, verdammt! Mir ist es egal, wer oder was ihr seid, ihr besitzt kein Recht, ihn hier festzuhalten!«

Heldenhafte Worte, Jack! Aber jetzt übertreib es mal nicht. Wir haben Randy, vergiss das nicht, und einige von uns brennen darauf, ihm etwas anzutun! Einige der Frauen … nun, selbst Quintus hat Schwierigkeiten, einige von ihnen unter Kontrolle zu halten.

»Quintus? Wer ist Quintus?«

Lass es mich so ausdrücken, Jack – die Statue schielte ihn an – jede soziale Gruppe hat einen Anführer. Quintus ist zufällig unserer. Natürlich nur, solange es uns passt.

»Was wollt ihr?«, wollte Jack wissen. »Geht es um Geld? Sag mir einfach, was zur Hölle ihr verlangt!«

Wir wollen den Priester, zischelte die Statue. Jetzt schien sie über jemanden zu sprechen, den sie wirklich verabscheute. Du musst uns den Priester bringen. Sonst wird Randy zermalmt; genauso wie wir Joseph Lovelittle den Garaus gemacht haben. Und auch dir würde dann etwas Schreckliches zustoßen.

»Priester? Was denn für ein Priester? Wovon redest du?«, wollte Jack von dem Standbild wissen.

Wir wollen den Priester! Bring uns den Priester! Wenn du uns nicht den Priester bringst, wird dein Randy zermalmt, zermalmt, zu Staub zermalmt!

Jack hob beide Hände. »Bitte! Hör mir zu! Wenn du willst, dass ich euch einen Priester bringe, werde ich euch einen bringen! Aber welchen genau? Einen bestimmten? Oder ist euch jeder Priester recht?«

Den Priester!, schrie die Statue und riss dabei den Mund so weit auf, dass man ihre weiße Marmorzunge sehen konnte. Den Priester! Den Priester! Du musst uns den Priester bringen!

Jack brüllte zurück: »Ich bringe euch gar niemanden – nicht, bevor ihr den Beweis angetreten habt, dass Randy wirklich bei euch ist – zeigt mir, dass es ihm gut geht! Habt ihr mich verstanden? Sonst könnt ihr es vergessen! Dann verschwinde ich jetzt und komme nie wieder zurück!«

Du Narr!, schalt ihn die Statue. Und in diesem Moment hörte Jack Randys Stimme. Sie klang unnatürlich hoch und gurgelte, als würde er versuchen, unter Wasser zu schreien. Randys Kopf schoss aus dem schwarz-weißen Marmorboden hervor, dann seine Schultern, seine Arme und schließlich seine Hüfte, als ob der Junge in einem flachen See stand.

Daddy!, rief er und hob beide Hände, um auf sich aufmerksam zu machen. Daddy, rette mich!

»Randy! Halt durch!«, schrie Jack und rannte durch die Halle auf ihn zu. Doch bevor er Randys ausgestreckte Hände ergreifen konnte, versank sein Sohn wieder im Marmorboden, als ob ihm jemand die Beine weggezogen hätte.

Jack fiel auf die Knie und hämmerte mit seinen bloßen Fäusten verzweifelt auf das Kalkgestein ein. Es war hart, glatt und kalt – und gab keinen Zentimeter nach.

»Lasst ihn gehen!«, brüllte er den Boden an. »Ihr Dreckskerle! Ihr Dreckskerle! Lasst ihn gehen!«

Es kam keine Antwort. Nach einigen Minuten, die ihm sehr lange vorkamen, wischte sich Jack die Tränen aus den Augen, stand auf und ging wieder zur Statue zurück. Ihre Augen waren wieder geschlossen und sie rührte sich nicht.

»Welcher Priester?«, fragte er erschöpft und bekümmert. »Welcher Priester, verdammt noch mal?«

Doch die Statue schwieg. Im Haus war es still. Die Menschen aus der Wand hatten ihm ihre Lösegeldforderung mitgeteilt und auf die eine oder andere Art musste er selbst herausfinden, welcher Priester der richtige war.

Jack machte sich auf den Rückweg. Gerade als er die Halle verlassen wollte, ging die Kellertür auf. Überrascht wich er einen Schritt zurück.

Boy, der Dobermann, trottete ihm entgegen. Ein Klicken und Klacken ertönte, als das Tier auf dem gefliesten Boden auf ihn zuhielt. Es trug etwas im Maul.

»Boy … guter Junge … was hast du denn da?«

Der Dobermann legte das Objekt, das er trug, vorsichtig zu Jacks Füßen ab und sah ihn dann flehentlich an, als ob sein Leben davon abhinge, dass Jack jetzt Hol das Stöckchen! mit ihm spielte.

Jack sah sich das Ding zu seinen Füßen genauer an. Es war blau-weiß und glänzte und an jedem Ende befanden sich ein paar rote Knorpelstücke. Es war einer von Joseph Lovelittles Hüftknochen.

»Also keine Polizei?«, erkundigte sich Karen, während sie ihren Rock hochzog, um bequemer zu sitzen.

»Keine Polizei. Noch nicht. Ich will ihnen erst einen Priester suchen.«

»Aber sie haben dir doch gar nicht gesagt, welchen Priester sie wollen.«

»Keine Ahnung. Vielleicht irgendeinen. Wer weiß. Wir müssen es einfach herausfinden.«

»Jack … ich muss zurück nach Hause. Bessy wird sonst an die Decke gehen.«

Sie erreichten die Hauptstraße. Jack sagte: »Klar. Tut mir leid. Ich hätte dich gar nicht erst überreden dürfen, mit uns mitten in der Nacht hier rauszufahren.«

Karen beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange. »Ich bin mitgekommen, weil ich es wollte

Jack küsste sie auf den Rücken und drückte ihren Oberschenkel. »Weißt du was? Ich hätte dich ein paar Jahre früher kennenlernen sollen.«

»Wenn du meinst …«, erwiderte Karen, aber es war offensichtlich, dass sie sich über diese Aussage freute. Vielleicht, nur vielleicht, wenn Randy wieder in Sicherheit war …

Er fuhr sie nach Madison. Es sah idyllisch aus, als der Lake Mendota mit dem grauen Himmel vor ihnen auftauchte. Wie ein Postkartenmotiv. Studenten radelten durch die nassen Straßen. Sie hielten sich ihre Umhängetaschen als Regenschirmersatz über den Kopf. Im Zentrum rief Jack Karen ein Taxi und reichte dem Fahrer 75 Dollar, damit er sie zurück nach Milwaukee fuhr. »Du«, sagte er zu Karen, »ich ruf dich später an, okay? Richte Mike bitte aus, dass ich mich heute Abend bei ihm melden werde. Sag ihm, dass ich Familienangelegenheiten zu erledigen habe.«

»Na ja, damit tischst du ihm ja nicht mal eine Lüge auf!«, erwiderte Karen. Mit kalten Lippen küsste sie ihn durch das halb geöffnete Taxifenster. Keiner von beiden traute sich »Ich liebe dich!« zu sagen, nicht solange Randy immer noch verschwunden war und das Leben so bedrohlich und befremdlich schien.

Jack sah zu, wie das Taxi wegfuhr, und ging dann über die Straße zur Buchhandlung, um sich eine Tasse Kaffee zu gönnen und einen Donut zu essen. Im Laden wimmelte es von Studenten, die rauchten, sich unterhielten und lachten. Jack setzte sich alleine an einen Tisch und zwang sich, seinen Donut zu essen, obwohl er sich nicht wie Essen anfühlte, sondern wie dickflüssiger, vertrockneter Kleber. Eine hübsche Studentin mit hüftlangen blonden Haaren und einer Brille mit Drahtgestell kam zu ihm herüber und erkundigte sich, ob es ihm gut ging.

Er hob den Kopf. »Klar geht’s mir gut. Stimmt was nicht?«

Sie lächelte ihn an. Sie war so jung, dass sie fast schon seine Tochter hätte sein können. »Sie weinen, deshalb. Haben Sie das gar nicht bemerkt?«

Jack tastete nach seinen Augen und war überrascht, als er feststellte, dass ihm tatsächlich Tränen über die Wangen liefen. Er sagte nichts, sondern kramte sein Taschentuch hervor und wischte sich das Gesicht ab. Das Mädchen betrachtete ihn noch eine Weile besorgt und verließ dann den Laden.

Capitol Realtors war nicht schwer zu finden. Der Makler hatte sein Quartier nur zwei Blocks vom Buchladen entfernt in einem eleganten kleinen Bürokomplex mit getönten Scheiben, Klimaanlage und einer von Bäumen gesäumten Vorhalle mit Mosaikboden bezogen. Daniel Bufo saß an seinem Schreibtisch und frühstückte, als Jack in sein Büro geführt wurde. Er gönnte sich zwei riesige Plunderteilchen mit Zitronenfüllung und eine heiße Schokolade. Auf der Tasse prangte das Logo der Green Bay Packers, eines Football-Teams aus Wisconsin. Er schob die Teilchen auf ein herumliegendes Exposé und ließ es vorsichtig in der obersten Schublade seines Schreibtischs verschwinden.

»Lassen Sie sich von mir nicht stören!«, sagte Jack.

Daniel Bufo wischte mit der Hand die Krümel von seinem Notizblock. Hinter ihm konnte man durch die Jalousien ganz deutlich ein anderes Bürogebäude erkennen, in dem ein Mann sich ein hitziges Wortgefecht mit seiner Sekretärin lieferte. Auf Daniel Bufos Schreibtisch stand eine gerahmte Tafel, die ihn als besten Immobilienmakler von Madison im Jahr 1975 auswies.

»Hab nicht mit Ihnen gerechnet!«, begrüßte ihn Daniel Bufo mit einem breiten, doch gleichzeitig nicht besonders überzeugenden Lächeln.

»Ich benötige ein paar Informationen!«, ließ Jack ihn wissen. Es war unübersehbar, dass Daniel Bufo an seiner äußeren Erscheinung Anstoß nahm. Jack war unrasiert, seine Kleidung völlig zerknittert und er machte einen übernächtigten Eindruck.

»Wie wär’s mit einer Tasse Schokolade?«, bot Daniel Bufo ihm an. »Es ist belgische – so nahrhaft wie eine ganze Mahlzeit.«

Jack lehnte dankend ab. »Ich will nur ein paar Hintergrundinformationen, mehr nicht.«

»Über The Oaks? Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass es da nicht viel zu erzählen gibt. Das Haus steht seit 1926 leer.«

»Und damals war es ein Irrenhaus.«

»Ah!«, machte Daniel Bufo und rieb sich die Wange.

»Na es stimmt doch, oder nicht? Es war ein Zuhause für geistesgestörte Kriminelle.«

Daniel Bufo nahm einen Kugelschreiber und drehte ihn zwischen seinen dicken Fingern. »Es war ein Pflegeheim, sicher.«

»Eine Irrenanstalt. Eine Klapsmühle.«

»Na gut, es war ein Irrenhaus. Aber ich verstehe nicht, was das für einen Unterschied macht. Es wurde seit über 60 Jahren nicht mehr bewohnt. Und Sie werden doch den Namen ohnehin ändern, oder?«

»Ich muss wissen, wo ich die Eigentümer finde«, platzte Jack heraus.

»Ich glaube nicht, dass sie das gutheißen würden, Mr. Reed, bei allem Respekt. Sie leben, nun ja, sehr zurückgezogen. Ich denke, das habe ich Ihnen deutlich zu verstehen gegeben.«

Jack senkte einen Moment lang den Kopf. Daniel Bufo nippte an seiner Tasse und wartete auf eine Reaktion.

Schließlich antwortete Jack: »Entweder Sie stellen den Kontakt zu den Eigentümern her oder das Geschäft ist geplatzt.«

»Wie bitte?«

»Sie haben mich schon verstanden. Ich will jetzt sofort Adresse und Telefonnummer der Besitzer oder wir blasen die ganze Sache ab.«

»Mr. Reed, Sie bringen mich damit in eine ausgesprochen schwierige Situation. Ich muss die Privatsphäre meiner Klienten wahren. Sie haben den ausdrücklichen Wunsch geäußert, diesen Verkauf nur mithilfe von Anwälten und nicht von Angesicht zu Angesicht abzuschließen.«

Jack stand auf. »Okay, das war’s. Vergessen Sie’s. Was mich angeht, gibt es keinen Immobilienverkauf mehr.«

»Mr. Reed, bitte glauben Sie mir, die Eigentümer möchten Ihnen sehr gerne das Grundstück verkaufen. Der Preis passt ihnen auch und sie freuen sich über Ihren Entschluss, das ursprüngliche Gebäude zu erhalten und in ein Ferienressort zu verwandeln. Sie unterstützen diesen Plan ausdrücklich! Aber wenn mich ein Kunde darum bittet, seine Privatsphäre zu wahren – nun, was bleibt mir denn da anderes übrig? Es gibt im Immobiliengeschäft einen Ehrenkodex, wissen Sie? Es ist fast so, als ob ich ein Arzt wäre.«

»Dann aber wohl eindeutig ein Proktologe!«, konterte Jack und öffnete die Tür. Daniel Bufo sprang auf, um ihm zu folgen, doch Jack hob abwehrend die Hand.

»Falls Ihre Klienten die Meinung doch noch ändern sollten, erreichen Sie mich im Howard-Johnson’s-Motel an der Route 94.« Er griff in seine Manteltasche und warf Daniel Bufo ein Zündholzheftchen zu. »Da steht die Nummer drauf.«

»Mr. Reed, ich glaube wirklich nicht …«

»Mr. Bufo, ich brauche ganz dringend Informationen. Es geht um Leben und Tod. Fragen Sie Ihre so auf Privatsphäre bedachten Klienten doch wenigstens mal, ob sie sich vorstellen könnten, mich zu treffen. Ob sie es zumindest in Erwägung ziehen würden, okay?«

Er zog die Tür hinter sich zu und ließ einen ausgesprochen nachdenklichen Daniel Bufo wie einen frustrierten Dreikäsehoch vor seiner Tasse Schokolade zurück.

Seine nächste Station war das Archiv der Madison Times. Der Verlag war in einem unansehnlichen Betongebäude untergebracht, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft einiger halbseidener Ersatzteilhändler und Chinarestaurants befand. Jack brachte den Großteil des Nachmittags in einem winzigen Hinterzimmer zu, um sich durch die Zeitungen von 1926 zu wühlen. Das Mikrofilm-Archiv reichte lediglich bis 1943 zurück.

Eine ältere Dame in einer schwarzen Wolljacke und einem grauen Rock war damit beschäftigt, Zeitungsausschnitte aufzukleben. Sie gackerte und schnaufte jedes Mal, wenn er einen neuen Band aus dem Regal zog. Das Zimmer roch nach modrigem Papier und Alte-Damen-Parfüm. Der Regen prasselte gegen das einzige Fenster und Jack wurde langsam von Müdigkeit übermannt.

»Essen Sie eigentlich nie?«, wollte die alte Dame gegen 14:00 Uhr von ihm wissen.

Jack versuchte zu lächeln. »Es gibt Wichtigeres im Leben als Essen.«

Schließlich entdeckte er in einem Sammelband mit kaputtem Rücken, auf dem ein Zettel mit dem Vermerk »Bitte neu binden!« klebte, die Ausgaben der Madison Times aus dem Juni 1926. Er legte sie auf den Tisch und studierte sie in aller Gründlichkeit – Seite für Seite, Spalte für Spalte.

Doch auch nach einer geschlagenen Stunde hatte er nirgendwo eine Meldung über The Oaks oder Dr. Estergomy gefunden.

Er lehnte sich zurück und ließ den Band frustriert zuklappen.

Da erkundigte sich die alte Jungfer bei ihm: »Nicht gefunden, was Sie gesucht haben?« Es war inzwischen fast 16:00 Uhr.

Jack schüttelte den Kopf. »Da drin steht wirklich alles Mögliche. Babywettbewerbe, Heiratsanzeigen, wer gestorben ist und wer nicht. Ich hätte nur gedacht – ach, ich weiß auch nicht.«

Sie sah ihn durch ihre verschmierten Brillengläser an. »Nach was genau haben Sie denn gesucht? Um welches Jahr geht es denn?«

»1926.«

»1926 lebte ich schon hier in Madison. Mein Vater war Professor für Geschichte an der Universität. Douglas Manfield, vielleicht haben Sie schon von ihm gehört. Er hat ein berühmtes Standardwerk über etruskische Inschriften verfasst.«

Sie stand auf, ging zu ihm hinüber und streckte ihm die Hand entgegen. »Helena Manfield«, stellte sie sich vor.

Jack erhob sich von seinem Stuhl und gab ihr die Hand. »Jack Reed.«

»Sie sind nicht von hier?«

»Nein, aus Milwaukee. Reed Muffler & Tire. Es gibt fünf Läden in der Stadt.«

Helena Manfield ließ sich auf der Kante seines Schreibtischs nieder. Trotz ihres Alters wirkte sie dabei graziös wie eine Tänzerin. Ihr graues Haar hielt sie mit einer schwarzen Samtschleife zusammen und obwohl ihre Haut mit Falten überzogen war, musste sie einmal wunderschön gewesen sein. Irgendwie fühlte sich Jack an Katharine Hepburn erinnert, wenn er sie ansah.

»Warum wühlt sich ein Werkstattbesitzer hier in Madison durch die Zeitungen von 1926?«

»Ich habe nach Artikeln über The Oaks gesucht. Es ist ein Pflegeheim in der Nähe des Lake Wisconsin.«

»Ich kenne The Oaks. Oder besser: Ich kenne die Geschichte von The Oaks.«

»Wirklich? Die scheint fast niemand zu kennen. Und wenn doch, dann rückt er nicht mit der Sprache raus.«

»Na ja, weil es ein Irrenhaus und kein Pflegeheim war, deshalb. Viele der Ortsansässigen waren strikt dagegen, als sie von den Plänen erfuhren. Aber letzten Endes wurde es dann ja sowieso geschlossen.«

»Das weiß ich«, sagte Jack. »Ich will wissen, weshalb es geschlossen wurde und unter welchen Umständen.«

Helena Manfield legte fragend den Kopf auf die Seite.

»Wissen Sie, ich hatte vor, das Anwesen zu kaufen. Mein Plan war, das Gebäude in ein Luxushotel umzubauen. Deshalb wollte ich etwas mehr über seine Geschichte erfahren«, klärte Jack sie auf.

Helena Manfield dachte eine Weile nach, während sie den Diamantring an ihrem linken Finger musterte. Dann sagte sie übertrieben höflich: »Bitte verzeihen Sie mir, Mr. Reed, wenn ich neugierig erscheine. Doch ich habe den Eindruck, dass Sie sich mit einem Eifer durch die Aufzeichnungen gewühlt haben, der geschäftliches Interesse weit übersteigt.«

Jack lächelte schief. »Ist das so offensichtlich?«

»Na ja … Sie haben fast den ganzen Nachmittag hier verbracht, ohne etwas zu essen. Sie sehen etwas ungepflegt aus für jemanden, der ein Luxushotel kaufen will, muss ich sagen. Und außer sich. Bitte entschuldigen Sie meine offenen Worte.«

»Miss Manfield …«, begann Jack. »Wissen Sie zufällig, wer die Eigentümer von The Oaks sind?«

»Aber sicher. Ich kenne die Eigentümerin seit Jahren, schon seit sie hierhergekommen ist. Olive Estergomy. Sie war die Mittlere der drei Estergomy-Schwestern.«

»Und das sind sicherlich die Töchter von Dr. Estergomy, dem früheren Besitzer von The Oaks?«

»Das stimmt. Wunderschöne Mädchen, alle drei. Alice, Olive und Lucy. Bildhübsch! Aber ihre Mutter war ja schließlich auch ausgesprochen gut aussehend.«

»Wissen Sie zufällig, warum Dr. Estergomy The Oaks so plötzlich geschlossen hat?«, erkundigte sich Jack.

Helena Manfield schüttelte den Kopf. »Das weiß niemand so genau. Es dauerte viele Monate, bis wir davon erfuhren. Es kam erst heraus, als einer der Ladenbesitzer im Ort sich verplapperte und jemandem erzählte, dass die Estergomys all ihre Lieferungen abbestellt hatten.«

Sie stand auf und ging zu dem Tisch zurück, an dem sie beschäftigt gewesen war. »Die Estergomys kehrten der Gegend zu dieser Zeit den Rücken. Die einzige von ihnen, die jemals zurückkehrte, war Olive. Sie hielt sich bedeckt, wenn ich mich bei ihr nach The Oaks erkundigte. Und über ihre Familie sprach sie auch nicht gern. Irgendwann sah ich ein, dass sie das Thema nervös machte, also ließ ich sie damit in Ruhe. Aber es war trotzdem traurig. Früher einmal waren die Estergomys sehr gute Freunde von uns gewesen. Mein Vater und Dr. Estergomy verstanden sich prächtig. Doch als sie weggingen, hielten sie es nicht einmal für nötig, sich von uns zu verabschieden.«

»Also haben Sie nie herausgefunden, was damals passiert ist?«

»Nein!«, sagte Helena Manfield. »Die Gerüchteküche brodelte natürlich. Aber ich würde darauf tippen, dass die Ortsansässigen es geschafft haben, genügend Druck auf den Staat auszuüben, sodass die Subventionen gestrichen wurden.«

Für eine Weile schwieg Jack. Während Helena Manfield geredet hatte, war plötzlich und ganz unerwartet ein Bild von Randy vor seinem geistigen Auge aufgetaucht. Seine großen, ernsthaften Augen, das kurze Zögern, bevor er anfing zu reden. Er konnte ihn beinahe fühlen, ihn fast riechen. Sein warmes Haar, das immer nach Keksen zu duften schien.

»Sie weinen«, stellte Helena Manfield nüchtern fest.

»Ich bin müde, das ist alles.« Diesmal versuchte er nicht, die Tränen wegzuwischen.

»Sie müssen mir erzählen, wo der Schuh drückt. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

»Ich weiß nicht recht«, antwortete Jack. »Ich fürchte, das kann niemand.«

»Na ja, wir können es doch zumindest einmal miteinander versuchen«, schlug Helena Manfield im Plauderton vor. »Ich glaube, von Herzschmerz verstehe ich eine ganze Menge.«

»Wissen Sie, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu verlieren?«, erkundigte sich Jack.

Helena Manfield richtete sich auf. »Ich bin eine unverheiratete Frau, wissen Sie? Aber es hätte anders kommen sollen. Mein Verlobter fiel im Zweiten Weltkrieg. Er war bei der Luftwaffe und wurde über Ploieşti in Rumänien abgeschossen. In jener Nacht starben über 300 junge Soldaten der Luftwaffe; und das nur, weil die Alliierten behauptet hatten, dass dort kaum Einheiten stationiert seien.«

Sie atmete scharf ein. Nach 45 Jahren war sie noch immer verbittert über die Geschehnisse der Vergangenheit. »Und danach – na ja, niemand konnte ihm das Wasser reichen. Ich habe es vorgezogen, alleine zu bleiben.«

Jack sagte: »Das tut mir leid.«

Helena Manfield lächelte abwesend. »Das muss es nicht. Es ist schon so lange her. Ich sollte nicht so viel herumjammern. Haben Sie auch jemanden verloren?«

»Meinen Sohn, Randy. Er ist neun Jahre alt. Ich habe ihn zu The Oaks mitgenommen.«

»Und?«

»Na ja, ich weiß, dass es völlig verrückt klingt. Aber er ist spurlos verschwunden.«

»Wann?«, wollte Helena Manfield wissen.

»Letzte Nacht. Spät in der letzten Nacht. Wir haben das Gebäude zweimal von oben bis unten durchsucht, aber wir konnten ihn nicht finden. Er versteckt sich vermutlich Gott weiß wo.«

»Haben Sie die Polizei verständigt?«

Jack schüttelte den Kopf. »Er ist immer noch im Haus, da bin ich mir absolut sicher. Und abgesehen davon wurde mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht mit der Kooperation der örtlichen Beamten rechnen darf. Nicht, wenn es um The Oaks geht.«

»Sie haben Ihren neunjährigen Sohn verloren und wollen nicht die Polizei alarmieren?«

Jack zuckte die Achseln. »Wenn man es so betrachtet, klingt es unverantwortlich, nicht wahr? Doch ich bin ganz ehrlich der Meinung, dass die Polizei mir in diesem konkreten Fall nicht helfen kann.«

Helena Manfield betrachtete ihn schweigend.

»Lassen Sie es mich mal so sagen«, fuhr Jack fort. »Zuallererst würden mich die Polizisten mit der Frage konfrontieren, was ich zu so später Stunde mit einem Neunjährigen in The Oaks verloren hatte. Danach würden Sie wissen wollen, warum ich ihn umgebracht habe.«

»Sie glauben nicht, dass er tot ist?«

»Nein, er ist nicht tot. Zumindest glaube ich, dass er nicht tot ist. Ich bete darum, dass er noch lebt. Aber die Angelegenheit ist nicht so einfach, wie sie sich anhört.«

»Glauben Sie mir«, antwortete Helena Manfield. »Sie hört sich auch alles andere als einfach an.«

Sie dachte einen Moment nach und sagte dann: »Was halten Sie davon, wenn ich Sie mit Olive bekannt mache? Sie ist zwar sehr schüchtern, aber sie redet Klartext. Vielleicht kann sie Ihnen ein paar Tipps geben, wo sich Ihr Junge versteckt halten könnte. Vielleicht gibt es in The Oaks ein verborgenes Zimmer oder einen Geheimgang oder so etwas.«

»Olive Estergomy lebt immer noch hier in der Gegend?«

»Aber sicher, sie hat ein Haus draußen in Sun Prairie.«

Jack erwiderte: »Das ist ja tatsächlich ganz in der Nähe. Höchstens 15 oder 20 Meilen. Können Sie sie anrufen?«

»Natürlich kann ich sie anrufen.« Sie hob ihre Tasche vom Boden auf, öffnete sie und nahm ein kleines Adressbuch mit einem Einband aus Krokodilleder heraus. »Und bevor Sie mich fragen, weshalb ich sie anrufe, verrate ich Ihnen gerne, das ich schon seit ewigen Zeiten nach einem Vorwand suche, um mich bei ihr zu melden. Ich langweile mich hier zu Tode und stecke außerdem liebend gerne meine Nase in Dinge, die mich nichts angehen.«

»Klingt doch gut«, stellte Jack fest.

Sie ging zum Münztelefon im Gang. Jack stand neben ihr, als sie eine Münze in den Schlitz warf und die Nummer wählte. Aus dem nächstgelegenen Büro konnte er das monotone Klappern von Plastik hören; vermutlich ein Redakteur, der eine Story in die Tastatur hackte.

Schließlich sprach die alte Dame in den Hörer: »Olive? Bist du das? Olive, hier ist Helena! Helena Manfield, ganz genau!«

Sie fuhren unter einem dunklen, wolkenverhangenen Himmel nach Sun Prairie, vorbei an rot gestrichenen Schuppen und dunkelgrünen Kohlfeldern, an silberfarbenen Silos und mit Regentropfen besprenkelten Gewächshäusern. Helena Manfield war ausgesprochen wortkarg und boykottierte den Sicherheitsgurt. Ihre Hände lagen im Schoß wie zwei extrem unruhig schlafende Vögel.

Jacks Fahrstil ließ sehr zu wünschen übrig. Vor Kreuzungen trat er oft erst in buchstäblich letzter Sekunde auf die Bremse und zweimal überfuhr er eine rote Ampel. Erst jetzt wurde ihm seine enorme Müdigkeit richtig bewusst.

Es war schon fast dunkel, als sie Sun Prairie erreichten. Helena lotste Jack von der 151 auf die 19 und dann ein holpriges, unasphaltiertes Sträßchen herunter, das sich auf den höchsten Punkt eines Hügels schlängelte, auf dem nur ein einziges, grün gestrichenes Haus stand. Es war von Gras und Blumen umgeben und schien geradewegs vom Himmel gefallen zu sein wie Dorothys Bauernhaus im Zauberer von Oz.

Jack parkte neben einer längst stillgelegten Egge und einem rostigen Futtertrog. Helena Manfield hakte sich bei ihm ein und gemeinsam kämpften sie sich im eisigen Regen zur Veranda durch.

Die Vordertür öffnete sich beinahe sofort. Auf den nassen Holzbrettern der Veranda spiegelte sich das Licht, das aus der Wohnung nach draußen drang. Die Stimme einer Frau ertönte: »Kommt rein! Kommt rein!«, und schon schälte sich Jack im kleinsten Gang, den er jemals gesehen hatte, aus seinem Mantel.

»Ach, Helena!«, rief Olive. Sie war groß und grobknochig, viel größer und weniger zierlich als Helena Manfield, aber doch ebenfalls attraktiv. Ihr graues Haar hatte sie mit einem blauen Seidenband zurückgebunden, die Augen wiesen eine geheimnisvolle Färbung in Lilatönen auf. Sie besaß das runde, intelligente Gesicht einer Frau, die sich nichts vormachen ließ, aber die Gabe besaß, über sich selbst lachen zu können.

Olive Estergomy trug ein weites Kleid mit blau-schwarzen Blumen darauf. Reizend, aber es wirkte doch irgendwie abgetragen und ein wenig schmuddelig.

»Kommt rein! Helena, meine Liebe! Ich habe mich so über deinen Anruf gefreut. Es ist viel zu lange her!«

Olive geleitete sie in ein Wohnzimmer, in dem hochwertige, allerdings schlecht aufeinander abgestimmte Möbel standen. Eine französische Chaiselongue, die mit grün gemusterter Seide gepolstert war, ein brauner Ledersessel und verschiedene Tische in allen erdenklichen Formen und Größen. An der Wand hingen grelle Aquarelle mit den größten Seen Wisconsins, eingerahmte Zeugnisse und Ehrendiplome. Jack beugte sich über die Couch, um eines der Diplome genauer zu inspizieren. Es handelte sich um eine Ehrendoktorwürde in klinischer Psychologie der Universität von Edinburgh, die am 12. März 1921 an Elmer J. Estergomy verliehen worden war.

Ein Feuer glomm schwach im Kaminrost. Olive Estergomy stocherte mit dem Schürhaken darin herum und erklärte dann: »Das Holz ist noch viel zu feucht.«

»Ich bin Jack Reed«, stellte sich Jack vor. »Ich bin derjenige, der sich für The Oaks interessiert.«

»Ich verstehe«, antwortete Olive Estergomy. Sie bedachte ihre Freundin mit einem fragenden Blick, während sie ihre lange Bernsteinkette zwischen den Fingern drehte. »Wie haben Sie Miss Manfield kennengelernt?« Als sie die Frage stellte, ließ sie durchklingen, dass sie davon ausging, Helena und er hätten sich gegen sie verschworen.

»Olive, wir haben uns im Archiv der Times kennengelernt. Es war purer Zufall«, erklärte ihr Helena. »Ich habe Ausrisse für den Pressespiegel aufgeklebt und Mr. Reed suchte zur selben Zeit nach Artikeln über The Oaks.«

»Ihre Pläne beeindrucken mich sehr, Mr. Reed«, sagte Olive Estergomy. »Ich würde das alte Gebäude gerne restauriert sehen.«

»Hat sich Mr. Bufo mit Ihnen in Verbindung gesetzt?«, erkundigte Jack sich.

»Er hat mir Ihren Preis genannt und ich habe ihn akzeptiert.«

»Hat er Sie heute angerufen?«

Olive Estergomy lehnte sich an den Kamin und vermittelte den Eindruck einer Sportlehrerin, die am liebsten eine Übung vorturnen würde. »Heute nicht, nein. Stimmt etwas nicht?«

»Ich habe ihm gesagt, dass ich Sie treffen muss. Und dass ich das Geschäft platzen lasse, wenn er sich nicht darum kümmert.«

Olive Estergomy ließ sich mit einer langsamen Bewegung auf das Sofa herabsinken. Das Feuer begann zu knistern und prasselte. »Mr. Bufo hat kein Wort davon gesagt. Kein einziges Wort.«

»Ich hatte zudem betont, dass es ausgesprochen dringend ist«, ergänzte Jack.

»Vielleicht hat er gedacht, dass es mich beunruhigen würde. Und tatsächlich bin ich in diesem Moment einigermaßen beunruhigt. Aus welchem Grund wollten Sie mich denn unbedingt sehen?«

Jack vollführte mit seiner linken Hand das alte britische Fingerspiel: Hier ist die Kirche, hier ist der Turm, öffne die Türe …

»Miss Estergomy, ich muss wissen, was in der Nacht geschehen ist, in der The Oaks geschlossen wurde.«

Olive Estergomy starrte Jack ausdruckslos an. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihr linkes Augenlid zuckte, ein dauerhaftes Signal unterdrückter Nervosität. »Nichts ist geschehen. Wir haben das Heim geschlossen, weiter nichts.«

»Aus einem bestimmten Grund?«

»Es gab nicht mehr genügend Patienten, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, das ist alles. Es waren rein wirtschaftliche Gründe.«

Jack zückte sein Taschentuch und wischte sich die Nase ab. »Mir wurde aber gesagt, dass am Tag der Schließung 137 Patienten eingewiesen waren. Mehr als je zuvor.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Joseph Lovelittle, der Hausmeister.«

»Oh, er. Ich hoffe doch, Ihnen ist bewusst, dass Joseph selbst lange Zeit zu unseren Patienten zählte?«

»Er war sich seiner Sache aber ziemlich sicher und macht inzwischen einen ausgesprochen stabilen Eindruck.«

Olive Estergomy senkte den Blick und antwortete nicht.

»Miss Estergomy …«, begann Jack. »Mein neun Jahre alter Sohn ist spurlos verschwunden. Ich habe ihn gestern Abend nach The Oaks mitgenommen und seitdem ist er weg. Ich bin ungeheuer verzweifelt.«

»Sie haben ihn nach The Oaks gebracht?«, erkundigte sich Olive Estergomy ungläubig.

»Miss Estergomy, etwas stimmt nicht mit dem Gebäude. Ich habe es selbst erlebt. Geräusche, Stimmen, Halluzinationen.« Er sagte nichts weiter, denn er wollte ihr nicht den Eindruck vermitteln, dass er selbst reif für die Klapsmühle war.

Olive Estergomy sagte lange Zeit überhaupt nichts. Dann schien sie sich zu einer Entscheidung durchgerungen zu haben und eröffnete ihm: »Sie sind verschwunden. Alle miteinander.«

Jack verstand nicht ganz. »Wer ist verschwunden, Miss Estergomy?«

Sie sah auf. »Die Patienten natürlich. Und zwar lückenlos. Erst waren sie noch alle da – und im nächsten Moment waren sie weg.«

Sie schwieg abermals sehr lange. Eine Minute, mehr als eine Minute.

»Können Sie mir erzählen, was genau passiert ist?«, drängte Jack. Es war kaum zu übersehen, dass die Erinnerung an die Vorfälle die alte Frau nach wie vor sehr stark aufwühlte.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir saßen an dem Abend zusammen im Salon, als einer der Pfleger an die Tür klopfte – er schrie hysterisch und machte einen extrem verängstigten Eindruck. Er eröffnete uns, dass die Patienten entkommen waren. Natürlich konnte mein Vater es nicht glauben. Doch als wir in den zweiten Stock hinaufgingen, stellten wir fest, dass jedes einzelne Krankenzimmer leer stand.«

Helena Manfield setzte sich ebenfalls. »Olive«, rief sie. »Das hast du mir nie erzählt.«

»Niemand hätte es mir geglaubt, meine Liebe, nicht einmal du.«

»Aber wenn all die Verrückten entkommen wären …«

»Sie sind spurlos verschwunden, aber nicht entkommen. Sie haben jedenfalls nicht ihre Türen geöffnet oder sind aus den Fenstern geklettert. Jeder einzelne Raum war nach wie vor verriegelt, ein Öffnen von innen aufgrund des speziellen Mechanismus unmöglich. Auch die Fenster wiesen keine Beschädigungen auf, keine einzige Glasscheibe gesplittert. Im Foyer fanden wir lediglich halb geleerte Tassen mit heißem Kaffee vor, auf dem Boden lagen heruntergefallene Zeitungen. Als ob sie sich alle von einem Moment auf den nächsten in Luft aufgelöst hätten.«

»Aber wenn es über hundert waren, wo sind sie dann hin?«, erkundigte sich Helena Manfield ungläubig.

Olive Estergomy schüttelte den Kopf. »Bis heute weiß ich es einfach nicht, Helena. Mein armer Vater wurde auf der Suche nach ihnen bald selbst verrückt. Wohin mochten sie nur gegangen sein? Er rief die Polizei und die fand natürlich die Türen verschlossen und die Fenster unberührt vor. Also dachten sie, dass mein Vater einen Zusammenbruch erlitten und alle Patienten selbst auf freien Fuß gesetzt hätte. Die Polizei zeigte sich nicht besonders verständnisvoll, schließlich setzte sich mein Vater für die Resozialisierung geisteskranker Krimineller ein. Er glaubte tatsächlich, dass man sie heilen und wieder in die Gesellschaft integrieren könnte. Die Beamten hätten sie lieber auf dem elektrischen Stuhl enden sehen.«

»Und was passierte dann?«, wollte Jack wissen.

»Die Polizei durchkämmte die gesamte Gegend. Doch sie fand keinen einzigen Fußabdruck – nicht einen – geschweige denn irgendein anderes Indiz dafür, dass über hundert Menschen aus The Oaks geflohen waren. Die Polizei traf bereits weniger als eine Stunde nach dem Verschwinden der Patienten ein. Da viele sowohl mit physischen als auch geistigen Beeinträchtigungen zu kämpfen hatten, trugen sie in der Regel lediglich ihre Anstaltskleidung. Einige liefen sogar komplett nackt herum, da sie sich mit Hemden oder Hosen sonst selbst stranguliert hätten. Die Chance, dass sie den Zaun um das Anwesen aus eigener Kraft überwanden, lag bei nahezu null.«

»Aber?«, fragte Jack.

»Aber sie waren weg«, entgegnete Olive Estergomy. »137 Patienten schienen von jetzt auf gleich vom Erdboden verschwunden zu sein.«

»Und Sie haben keine Theorie?«

»Vielleicht hat Gott sie zu sich geholt. Oder auch der Teufel. Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Olive Estergomy.

»Und was hat die Polizei dann unternommen?«, hakte Jack nach.

»Sie konnte nichts tun. Es gab keine Patienten. Es gab keine Spuren. Keiner der Patienten war auf der Straße oder in den Wäldern gesichtet worden oder hatte versucht, per Anhalter zu entkommen. Es gab keine auffälligen Diebstähle in der näheren Umgebung, keine Einbrüche. Rein gar nichts.«

Sie hielt einen Moment inne. Eine hübsche, kleine silberne Standuhr auf dem Kaminsims schlug sechs. »Um 22:30 Uhr am Abend des Verschwindens stattete eine ganze Delegation einflussreicher Persönlichkeiten aus dem Justizministerium der Anstalt einen Besuch ab und inspizierte das Gebäude. Sie sprachen zehn Minuten lang mit meinem Vater und erklärten dann The Oaks offiziell für geschlossen. Nun, natürlich mussten wir ohnehin schließen, denn es waren ja keine Patienten mehr da. Offiziell wurde die Schließung damit begründet, dass die Regierung das Vertrauen in das Resozialisierungsprogramm meines Vaters verloren habe.«

»Und wie erklärten sie das Verschwinden der Patienten? Gegenüber der Öffentlichkeit, meine ich?«

»Sie warteten eine ganze Woche lang ab, ob möglicherweise einzelne Vermisste wieder auftauchten. Als das nicht der Fall war, verkündete das Justizministerium, man habe sie in einen neuen Hochsicherheitstrakt am Lake Nokomis gebracht. Nach sechs Monaten, als weiterhin jede Spur von ihnen fehlte, erzählte man den Angehörigen der Patienten, sofern es noch welche gab und es sie überhaupt interessierte – und glauben Sie mir, das war eher die Ausnahme – dass ihre nicht ganz so lieben Verwandten einer Lebensmittelvergiftung erlegen seien. Ich glaube, dass sie sogar Beerdigungen inszenierten.«

»Sehr verwunderlich!«, befand Helena Manfield.

»Ja, aber was hätten sie sonst tun sollen? Wie sollten sie den Menschen vermitteln, dass sie 137 gemeingefährliche Geistesgestörte aus den Augen verloren hatten und jede Bemühung, sie wiederzufinden, im Sande verlaufen war?«

»Hatten sich die Ermittler der Polizei eine eigene Theorie zurechtgelegt?«, wollte Jack wissen.

»Nein«, antwortete Olive Estergomy. »Soweit ich weiß, haben sie sogar ihre Akten manipuliert, um den Fall komplett unter den Tisch zu kehren. Auch die Fallstudien und weitere Unterlagen meines Vaters wurden seinerzeit konfisziert. Sie können sich vorstellen, was damit passiert ist. Es brach ihm das Herz.«

»Was geschah mit Ihrem Vater?«, erkundigte sich Jack so taktvoll wie möglich.

»Er konnte nicht mehr arbeiten. Nach der Geschichte in The Oaks fand sich kein Bundesstaat mehr, der ihn praktizieren ließ. Wir gingen eine Weile nach England, wo er Geld an Schulen und Universitäten verdiente, dann zogen wir nach Frankreich. Mein Vater ertrank 1934 beim Schwimmen im Meer vor Arromanches. Meine Mutter starb im Jahr darauf.«

»Und Ihre Schwestern?«, fragte Jack.

»Sie blieben in Frankreich und lebten noch immer in der Nähe von Paris, als der Krieg ausbrach. Ich habe nie herausgefunden, was aus ihnen geworden ist.«

Mit sehr leiser Stimme fuhr sie fort: »An dem Abend im Jahr 1926, Mr. Reed, löste sich mein bisheriges Leben vollständig in Luft auf. Nicht nur die 137 Patienten, sondern auch der berufliche Erfolg meines Vaters, die Gesundheit meiner Mutter und meine zwei lieben Schwestern.«

»Es tut mir leid«, sagte Jack unbehaglich. »Es tut mir wirklich leid.«

»Aber Sie suchen Ihren Sohn«, wechselte Olive Estergomy abrupt das Thema.

»Er ist immer noch in The Oaks«, erwiderte Jack. »Deshalb wollte ich mit Ihnen reden.«

»Ich bin mir nicht sicher, wie Sie das meinen.«

»Ich weiß es selbst nicht genau. Doch ich glaube, dass ich weiß, wo er ist, und ich behaupte, auch zu wissen, was mit den Patienten Ihres Vaters geschehen ist.«

Olive Estergomy musterte ihn stirnrunzelnd. »Sie wissen, wohin sie gegangen sind?«

Jack nickte. »Ich habe eine Theorie – na ja, zumindest einige Anhaltspunkte. Sie werden vermutlich glauben, dass bei mir genauso viele Schrauben locker sind wie bei den Patienten Ihres Vaters.«

»Mr. Reed«, begann Olive Estergomy mit unverhohlener Neugier. »Möchten Sie vielleicht einen Drink?«

»Haben Sie Whiskey? Falls nicht: Ein Bier würde mir auch reichen. Und nennen Sie mich bitte Jack.«

»Olive«, sagte Olive Estergomy. »Aber meine Freunde sagen Essie zu mir.«

»Also gut, Essie«, nickte Jack. »Nur eine einzige Frage vorweg. Können Sie mir verraten, warum Sie sich all die Jahre nicht darum bemüht haben, The Oaks zu verkaufen?«

Essie öffnete eine Hausbar aus gebeiztem Eichenholz. »Ich hatte zwei oder drei Angebote«, antwortete sie. »Einmal habe ich sogar inseriert. Aber im Kaufvertrag gibt es eine Klausel, die besagt, dass das Gebäude nicht abgerissen werden darf. Bevor Sie kamen und ihre Idee mit dem Umbau präsentierten, konnte sich niemand dafür erwärmen, die Bausubstanz zu erhalten. Sie wissen selbst, dass es vermutlich Millionen kosten wird, das alte Gemäuer wieder in einen repräsentativen Zustand zu versetzen.«

»Waren Sie jemals wieder dort?«, fragte Jack. »Seit 1926, meine ich.«

»Vor etwa vier Jahren bin ich mal hingefahren, um einen Blick darauf zu werfen. Aber ich bin nicht reingegangen. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, verbinde ich keine allzu angenehmen Erinnerungen damit.«

»Sie sind übrigens immer noch dort«, sagte Jack.

Sie hielt mitten im Whiskey-Einschenken inne. Zwar hatte Olive ihm den Rücken zugewandt, doch an ihrer angespannten Körperhaltung konnte er sehen, dass sie genau verstand, worauf er anspielte. Sie wartete, dass er zu einer näheren Erklärung ansetzte.

»Der Grund, warum niemand die vermeintlich ausgebrochenen Patienten finden konnte, ist, dass sie nie wirklich ausgebrochen sind. Sie sind immer noch dort. Ich habe einige von ihnen gesehen. Sie befinden sich in den Wänden.«

Essie drehte sich zu ihm um und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Was meinen Sie damit, dass sie sich in den Wänden befinden?«, erkundigte sich Helena ängstlich. »Wie können sie denn noch da sein? Die ganze Sache ist jetzt über 60 Jahre her und inzwischen müssten die meisten längst an Altersschwäche gestorben sein. Von was sollten sie sich denn in der Zwischenzeit ernährt haben?«

Jack ließ Essie nicht aus den Augen. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sich in ihren Gedanken eine Tragödie abspielte. Mein Vater, meine Mutter, meine armen Schwestern. Und sie sind immer noch dort! Diese schreienden, wütenden Irren mit ihrem Schaum vor dem Mund! Sie sind immer noch dort!

»Ich wusste es«, keuchte sie. Sie zitterte am ganzen Körper. »Irgendwie habe ich es immer gewusst.«

»Aber wie kann das sein?«, erkundigte sich Helena. »Das ist doch unmöglich! In der Wand? In Geheimgängen oder was meinen Sie damit?«

Jack legte eine Hand auf ihren Arm. »Ich weiß nicht, wie sie in die Wand gelangt sind. Ich habe auch keine Ahnung, wie viele von ihnen tatsächlich noch am Leben sind. Aber sie befinden sich nicht in Geheimgängen, sondern leibhaftig in der Wand. Ich weiß, das klingt verrückt und widerspricht sämtlichen physikalischen Regeln und Naturgesetzen. Sie wissen schon, all diese Theoreme über materielle Gegenstände, die sich nicht zur selben Zeit im selben Raum befinden können. Und doch habe ich sie gesehen. Ich habe diese Wahnsinnigen wirklich gesehen. Mein Sohn ist in ihrer Gewalt. Und mich hätten sie auch beinahe erwischt.«

Er bückte sich, schob die Hosenbeine nach oben und zog seine Socken herunter. »Sehen Sie diese blauen Flecken? Einer der Irren kam mitten aus dem Betonboden heraus und attackierte mich.«

Essie reichte Jack ein Whiskeyglas. Helena sagte: »Dir macht es doch nichts aus, wenn ich mir einen Gin einschenke, meine Liebe? Ich zittere am ganzen Leib.«

»Nein, nein, mach ruhig«, antwortete Essie geistesabwesend. Dann sah sie Jack an und meinte: »Es ist Wahnsinn, oder? Vollkommener Irrsinn.«

»Ich weiß«, gestand er ihr. »Aber es ist wirklich passiert. Und Sie wissen, dass es wirklich passiert ist, weil Sie dabei waren, als all diese Menschen verschwunden sind, habe ich recht? Was für eine andere Erklärung gäbe es denn dafür?«

»So etwas habe ich noch nie gehört«, stellte Helena fest. »Das kommt mir alles völlig irreal vor.«

»Einer von ihnen heißt Lester«, berichtete Jack.

»Sie haben mit Ihnen geredet?«, staunte Essie.

Jack nickte. »Jedenfalls haben wir miteinander kommuniziert. Ich bin mir nicht sicher, ob man es wirklich reden nennen kann.«

»Lester Franks, so hieß er mit vollem Namen«, erklärte Essie. »Ich erinnere mich sehr gut an Lester. Er wirkte immer so harmlos und normal. Er sang mir oft vor oder erzählte mir Geschichten. Er konnte damals nicht viel älter als 18, vielleicht 19 gewesen sein. Und er war stets äußerst zuvorkommend! Immer dazu bereit, Botengänge zu erledigen, vor denen sich jeder andere drückte! Und jetzt raten Sie mal, weshalb er in der Anstalt war. Als er mit 14 auf seine kleineren Geschwister aufpasste, hackte er seiner dreijährigen Schwester den Kopf ab. Sie fanden ihn, als er damit im Hof Ball spielte, ihn in die Luft warf und wieder auffing. Der ganze Hof war mit Blut besudelt.«

»Oh mein Gott, Essie, mir wird übel!«, keuchte Helena.

»Ach was, die meisten von ihnen hatten noch weitaus mehr auf dem Kerbholz«, konstatierte Essie nüchtern. »Stellt euch vor, als meine Schwestern und ich noch klein waren, ergötzten wir uns an all den unappetitlichen Details. Es gab da einen Mann. Wie hieß er gleich? Holman oder Hofman oder so ähnlich. Er hielt seine Frau für zu geschwätzig, weshalb er sie mit Händen und Füßen an den Esszimmertisch fesselte und ihre Zunge daran festnagelte. Es dauerte etliche Tage, bis man sie dort fand.«

»Essie, ich muss wirklich gleich kotzen«, verkündete Helena wenig damenhaft.

Doch Essie fuhr unbeirrt fort. »Mein Vater versuchte, diesen Holman oder Hofman oder wie auch immer er hieß, zu resozialisieren, indem er ihm den einen oder anderen Auftrag gab. Eines Abends kam er nicht zum Kaffee zurück und sie entdeckten ihn schließlich im Garten. Er konnte sich nicht bewegen, weil er seinen eigenen Penis an einen Baum genagelt hatte.«

»Essie!«

»Tut mir leid, Helena«, sagte Essie. »Aber solche Menschen waren damals eben in The Oaks zu Hause. Sie waren nicht in der Lage, Gefühle für andere zu entwickeln. Sie kannten den Unterschied zwischen Schmerz und Freude nicht. Einige von ihnen machten sich einen Spaß daraus, sich die eigenen Gliedmaßen abzuschneiden und sie als Spielzeuge zu benutzen. Sie waren völlig plemplem, Helena! Du hast ja keine Ahnung!«

»Das ist nicht die Art von Mensch, die dort zu Hause war«, korrigierte Jack, »sondern die Art Mensch, die dort zu Hause ist.«

»Nun, Jack«, sagte Essie. »Ich bin mir nicht sicher, wie ich auf diese Enthüllung reagieren soll. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen kann, wie ich mich damit fühle. Einerseits bin ich überzeugt davon, dass Sie mir die Wahrheit sagen, andererseits erlaubt es mir mein Verstand im Moment noch nicht, diese Geschichte tatsächlich zu glauben.«

»Es gibt etwas, das ich wissen muss«, eröffnete Jack. »Gab es jemals einen Priester, der für The Oaks zuständig war? Oder einen Geistlichen, den die Patienten gekannt haben könnten?«

»Aber ja, sicher doch. Es gab Pater Bell. Er war noch ein ganz junger Priester, doch er kam jeden Sonntag wegen der Patienten nach The Oaks, die die heilige Kommunion feiern wollten. Einige von ihnen waren nämlich religiöse Fanatiker. Einer von ihnen hielt sich sogar für die Reinkarnation Gottes auf Erden. Jedes Mal, wenn Pater Bell sagte ›Lobet den Herrn‹, antwortete er: ›Vielen Dank!‹«

»Wissen Sie, ob der Geistliche noch lebt?«

»Leider nicht. Ich habe ihn nicht mehr gesehen seit jener Nacht, in der die Patienten spurlos verschwanden. Wenn er noch lebt, müsste er bereits auf die 90 zugehen.«

»Er war in dieser Nacht in The Oaks?«

»Ja. Er tauchte plötzlich dort auf. Ich weiß bis heute nicht, wieso.«

»Sie hatten nicht mit ihm gerechnet?«

»Nein, es war ein Montag. Normalerweise kam er immer sonntags zu uns. Oh, ich glaube, einmal auch an einem Samstagnachmittag, um einen Weihnachtsgottesdienst zu zelebrieren. Das war vielleicht ein Desaster! Können Sie sich 150 gemeingefährliche Schizophrene vorstellen, die versuchen, ›Ihr Kinderlein kommet‹ zu singen?«

Jack rang sich ein Lächeln ab. In der gefährlichen Halbwelt, in der die Estergomys in The Oaks gelebt hatten, musste es für sie fast schon lebensnotwendig gewesen sein, sich einen Sinn für Humor zu bewahren.

»Wissen Sie noch, aus welcher Gemeinde Pater Bell kam?«

»Oh ja. St. Ignatius war es, glaube ich, drüben in Portage.«

Jack trank seinen Whiskey aus. »Essie«, sagte er. »es tut mir leid, dass ich in Ihre Privatsphäre eingedrungen bin. Aber Sie verstehen hoffentlich, dass es nur aus reiner Verzweiflung geschah. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«

Essie lächelte. »Ich möchte Sie bitten, mich auf dem Laufenden zu halten, Jack. Und ich bete zu Gott, dass Sie Ihren Sohn zurückbekommen.«

Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Und wenn Sie mit diesen Menschen zu tun haben … den Patienten von damals ... dann seien Sie bloß vorsichtig. Sie wurden nach The Oaks geschickt, weil sie für alle anderen Einrichtungen ein zu großes Risiko darstellten. Ihnen mangelt es an jeglichem Gewissen und manche von ihnen verfügen über ungeheure Kräfte.

Es gab da einen ganz speziellen Insassen, Quintus Miller. Hüten Sie sich vor ihm. Er war unglaublich intelligent, überaus stark und völlig meschugge. Einmal hat er fast eine Patientin umgebracht. Die Details erspare ich Ihnen.«

Jack ging zur Tür und knöpfte seinen Mantel zu.

»Quintus Miller«, wiederholte er. »Lester hat jemanden namens Quintus erwähnt. Alles klar, ich werde aufpassen und Sie anrufen, sobald ich mehr herausgefunden habe.«

Nachdem Jack und Helena gegangen waren, stand Olive Estergomy regungslos mitten in ihrem vollgestopften Wohnzimmer und presste die Hände gegeneinander, als wolle sie beten. Das Gefühl von Furcht, das sie seit rund 60 Jahren nicht mehr verspürt hatte, war wieder zu ihr zurückgekehrt, vertraut und doch eiskalt. Es war eine Furcht, welche die Angst vor dem Tod bei Weitem überstieg. Eine Angst vor immerwährenden, unerträglichen Schmerzen, vor Schreien, Schluchzern und manischem Gelächter.

Es war die Angst vor The Oaks, vor dem völligen Wahnsinn und an allererster Stelle vor Quintus Miller.

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