D R E I

Als er drei Tage später nach Hause zurückkehrte, erwartete ihn Maggie im Wohnzimmer. Sie trug ihren Regenmantel und ihr blauer Vinylkoffer stand ordentlich gepackt neben ihr. »Was soll das?«, wollte er von ihr wissen, als ob es nicht offensichtlich war.

Maggie antwortete mit sorgfältig einstudierter Tapferkeit: »Ich würde sagen, man nennt es etwas frische Luft schnappen gehen.«

»So nennt man es also?«, erwiderte er. »Aha, so nennt man es!« Er hatte drüben in der Hunting Lodge mindestens ein Bier zu viel getrunken. »Das ist ja lustig. Ich würde eher sagen, man nennt das: den Ehemann im Stich lassen.«

»Jack«, sagte sie, und als seine Frau zu ihm aufsah, erkannte er zum ersten Mal, dass all die Auseinandersetzungen im Laufe ihres Zusammenlebens sich deutlich in ihrem Gesicht abzeichneten. Oder vielleicht war es auch einfach nur das unvorteilhafte Deckenlicht.

Er sagte nichts und blickte sich im Raum um. Das Zimmer besaß nicht einen Hauch von Charme. Ausdruckslose, beige Wände, ein Zottelteppich in einer Farbe, die wohl einmal honiggelb gewesen war, aber mit der Zeit ebenfalls eine beige Färbung angenommen hatte. Verblasste Bilder an der Wand, eine ebenfalls beige Couch mit braunen und weißen Flecken darauf; davor stand eine Ehefrau, die er nicht wirklich liebte und die ihre wenigen Habseligkeiten in einem Koffer verstaut hatte.

Maggie hielt ihre einstudierte Rede, während sie an ihren Fingernägeln herumspielte. »Ich habe mich wirklich bemüht, dich zu verstehen, Jack. Ich habe versucht zu begreifen, was du vom Leben erwartest, und es dir zu geben. Zumindest dir zu helfen, dass du findest, wonach du suchst. Aber du scheinst trotzdem nicht zu wissen, was du willst.

Und wenn du es schon nicht weißt, wie soll ich dir da helfen, es herauszufinden? Ich fühle mich so, als würde ich meine ganze wertvolle Zeit und Energie dafür verschwenden, dir zu helfen, um etwas zu finden, was es noch nicht einmal gibt.«

Jack wartete. Vielleicht rechnete sie mit einer Antwort. »Ja?«, brachte er schließlich hervor.

»Ich werde nicht jünger«, fuhr sie mit Tränen in den Augen fort. »Ich will mein Leben genießen, bevor ich zu alt dafür bin.«

»Oooh …«, sagte Jack. »Davon wusste ich ja noch gar nichts! Du willst das Leben genießen! Warum zum Teufel hast du mir das nicht vorher gesagt? Ich hätte dich nicht meine Hemden waschen lassen, Herrgott noch mal, geschweige denn darum gebeten, mir Essen zu kochen oder das Haus zu putzen! Ich hätte dir Randy nicht geschenkt! Schließlich kannst du dich ja schlecht amüsieren mit einem Kind im Nacken, was?«

»Randy wartet draußen vor der Tür im Auto«, sagte Maggie, stand auf und nahm ihren Koffer.

»Was meinst du damit? Wessen Auto?«

»Wir werden bei meiner Schwester unterkommen.«

»Oh Gott. Die gute Velma. Ganz zu schweigen vom guten Herman.«

»Jack, ich muss von dir weg. Du erstickst mich. Ich will dich nicht verlassen, nicht endgültig. Ich liebe dich, aber du machst mich verrückt. Seit du dieses Haus gefunden hast, ist alles noch viel schlimmer geworden. Du redest nur noch darüber, wie du das Hotel finanzieren und das Wasser aus dem Swimmingpool abpumpen willst. Wie du es deinen Leuten in der Firma verklickern willst, dass du ans Verkaufen denkst, oder davon, wie du den verdammten Marmor sauber bekommst oder das Dach abdecken wirst. Jack, ich kann es einfach nicht mehr ertragen!«

Jack packte sie am Arm. »Maggie, hörst du mir mal zu, verdammt noch mal?«

»Velma wartet.«

»Hör mir zu, verdammt!«

Sie befreite sich aus seinem Griff. »Ich hab dir jahrelang zugehört, Jack. Das war nie eine gute Idee und jetzt wäre es noch schlechter. Wenn du dieses dieses Urlaubshotel – oder wie auch immer du es nennst – bauen willst, nur zu, dann tu’s, aber lass Randy und mich nicht darunter leiden. Lebe dein Leben! Los doch! Aber erwarte nicht von mir, dass ich es mit dir teile! Du bist zu erbärmlich, zu besessen und überhaupt, verdammt noch mal! Und abgesehen davon hast du mit Karen geschlafen, oder nicht?«

»Was?«, brüllte er sie an. »Was? Du denkst, dass ich mit Karen ins Bett steige?«

»Du bist betrunken«, entgegnete sie mit zusammengekniffenen Lippen. »Und ich gehe. Ich kann schlecht mit dir diskutieren, wenn du betrunken bist. Auf Wiedersehen, Jack.«

Er ergriff sie am Ärmel und verdrehte ihr den Arm. Voller Hass starrte Jack sie an. Am liebsten hätte er sie auf der Stelle umgebracht.

»Lass mich los!«, verlangte sie. Er konnte die Angst in ihrer Stimme hören und das machte ihn noch wütender.

»Du denkst, dass ich mit Karen ins Bett steige?«, wiederholte er mit so sanfter, vernünftiger Stimme, dass Maggie es sogar noch mehr mit der Angst zu tun bekam.

»Randy hat gesagt …« Sie wandte den Kopf ab. Allein der Gedanke daran ließ sie zusammenzucken.

»Randy hat was gesagt? Sag’s mir, was hat Randy gesagt?«

»Randy hat gesagt, dass du Karen mitgenommen hast, um das Haus anzusehen. Und er hat gesagt … dass du sie geküsst hast.«

Ohne ein Wort ließ Jack Maggies Ärmel los, hob beschwichtigend die Hände und trat zurück. Er war nicht mehr wütend, sondern fast schon erleichtert darüber, dass Maggie sich zum Gehen entschlossen hatte. Er war nicht mit Karen im Bett gelandet und es sah ganz danach aus, als würde es auch nie dazu kommen. Jack konnte nicht wütend sein. Man brauchte Schuldgefühle, um Wut zu empfinden. Schuldgefühle, Frustration und Verzweiflung, doch er fühlte nichts von alledem.

Stattdessen konnte er nur denken: Wenn Maggie und Randy eine Weile bei Velma bleiben, kann ich mich voll und ganz auf The Oaks konzentrieren. Ich kann die Werkstatt in aller Ruhe abwickeln. Und wenn ich das Anwesen erst gekauft habe und wir eröffnen, braucht mir doch keiner erzählen, dass Maggie dann nicht glücklich ist. Kann mir keiner erzählen, dass sie nicht auf der Veranda herumspaziert wie die Königin des Merrimac Court Country Clubs, während die Sonne scheint und der Pool glitzert und die Gäste sie alle mit einem Kopfnicken begrüßen.

Maggie riss ihn aus seinen Gedanken: »Übrigens, jemand namens Bufo hat angerufen. Er sagte, dass sie dein Angebot akzeptiert haben, wer auch immer sie sind.«

»Daniel Bufo, das ist der Immobilienmakler«, erklärte Jack. »Sie haben es akzeptiert? Das hat er gesagt?«

Maggie öffnete die Eingangstür und starrte ihn einen Moment lang an. »Gott steh dir bei, Jack!«, sagte sie zum Abschied, verließ das Haus und zog die Tür mit lobenswerter Gelassenheit hinter sich zu. Jack blieb, wo er war. Dann – als er hörte, wie Velmas Volkswagen draußen losknatterte – ging er zum Kühlschrank, öffnete ihn und besah sich den Inhalt mit dem philosophischen Blick eines Mannes, der weiß, dass er sich vermutlich für eine Weile auswärts ernähren muss.

Denn was konnte selbst der beste Chefkoch aus einem halben Päckchen Lyonern, fünf Kumquats, einer Sprühdose Sahne und einem Stück sehr altem Roquefort zaubern? Jack starrte immer noch gedankenverloren in den offenen Kühlschrank, als er hörte, wie der Volkswagen wieder vor dem Haus hielt. Er schloss den Kühlschrank, ging aber nicht zur Tür. In der Küche wartete er, bis Maggie aufgeschlossen hatte und wieder hereinmarschiert kam. Sie zog Randy an der Hand hinter sich her und trug in der anderen seine Reisetasche. Randys Wimpern waren mit Tränen verklebt. Maggies Gesicht wirkte angespannt und blass.

»Er will bei dir bleiben!«, verkündete sie mit einer Stimme, die an jemanden erinnerte, dem ein teures Weinglas auf eine Betonveranda gedonnert war.

Jack sagte nichts, drehte sich jedoch um, um sie anzusehen.

»Er sagt, dass ihm das Haus gefällt, dass er dort einen Freund gefunden hat und dass er bleiben will.«

Jack sah Randy fragend an. »Einen Freund? Was für einen Freund?«

Randy zuckte die Achseln. »Da war so ein Mann dort, nichts weiter.«

Jack sah Maggie an. »Was hat Randy getan? Einen Aufstand gemacht?«

»Einen Aufstand? Ein Cop ist hergekommen und wollte unsere Ausweise sehen. Er dachte, dass wir ihn entführen wollten, in Gottes Namen.«

Ihre Nasenlöcher weiteten sich.

Jack nickte. Doch wie ein großer Sieger konnte er sich nicht fühlen. Tatsächlich wäre es ihm lieber gewesen, wenn Randy mit Maggie gegangen wäre. Aber er wollte sich nicht streiten, nicht jetzt. Ihm war klar geworden, dass sein bisheriges Leben zumindest teilweise so erfolglos verlaufen war, weil er unmöglich mit mehr als einer Sache gleichzeitig fertig werden konnte. Er war dazu imstande, ein liebender Gatte, ein guter Liebhaber und ein fürsorglicher Vater zu sein. Er besaß auch die Gabe, als Chef vertrauenerweckend zu wirken und sich ein Immobilienprojekt in allen Details auszumalen. Aber er konnte nicht beides auf einmal angehen. Zu versuchen, seine Frau zu lieben, seinen Sohn zu erziehen, seine Angestellten zu trösten und gleichzeitig in die Zukunft zu investieren, das brachte ihn nur durcheinander. Dann trank er nur zu viel mit Karen und erreichte letztlich keines seiner Ziele.

Diesmal schlug Maggie die Tür so schwungvoll hinter sich zu, dass das Glasfenster klirrte. Randy stand unbeholfen im Gang und stemmte die Hände in die Hüften. Er trug ein Sweatshirt mit dem passenden Aufdruck: »Man kann es Fehler nennen ... oder wichtige Erfahrung!«

»Wie alt bist du, Kumpel?«, fragte Jack ihn. Zum ersten Mal nahm er Randy als gleichwertiges Gegenüber wahr, als Menschen, der ihn genauso musterte wie er ihn.

»Neun!«, antwortete Randy. Im Gegensatz zu Erwachsenen ärgerten sich Kinder nicht, wenn man ihnen Fragen stellte, auf die man ganz offensichtlich selbst die Antwort kannte. Lehrer machten das ja schließlich den ganzen Tag lang.

»Neun!«, wiederholte Jack. »Herrgott! Wenn ich nur deinen Mumm gehabt hätte, als ich so alt war wie du.«

Er hob Randys Rambo-Tasche hoch und öffnete den Reißverschluss. Darin befanden sich Pyjamas, eine saubere Jeans, ein roter Sweater und ein T-Shirt sowie drei Paar sorgfältig zusammengelegte Socken.

»Wenn du bei mir bleiben willst, musst du deine Socken selbst sortieren, verstanden, Partner?«

»Ja, Sir.«

»Willst du ein Chili-Hotdog?«

»Nichts dagegen.«

Im fluoreszierenden Licht des Cap’n Dogg stützten sie ihre Ellenbogen mit prahlerischer Geste auf dem Resopaltisch auf, während die Jukebox leichtfüßige Sommerhits aus der Hippie-Ära wie Salisbury Hill oder Bummer in the Summer schmetterte. Sie gönnten sich eine großartige kulinarische Vater-und-Sohn-Orgie mit riesigen Chili-Dogs, einem gewaltigen Haufen Pommes und einem Nachtisch mit neun verschiedenen, ineinandergeschmolzenen Eiscreme-Sorten und Kakifrucht, bei dem sie sich mächtig einsauten.

»Mir ist schlecht«, stöhnte Jack, als er den letzten Schluck Bier austrank.

»Mir nicht«, erwiderte Randy.

»Du bist neun, deshalb ist dir nicht schlecht. Niemandem, der neun Jahre alt ist, wird schlecht, wenn er nicht gerade Essen für Erwachsene wie Tintenfisch oder Escargots futtert. Davon wird ihm schlecht.«

»Was ist ein Escargot?«

»Eine Schnecke. Das ist das französische Wort für Schnecke. Man backt sie in ihrem Haus und serviert sie in Knoblauchbutter, weißt du? Und das ist etwas Besonderes. Mmmmh! Die solltest du bei Gelegenheit unbedingt mal probieren!«

»Und du hast sie mal gegessen? Schnecken?!«

»Nicht mehr, seit ich Mitglied bei Greenpeace bin. Da habe ich mir geschworen, dass ich nie wieder etwas esse, das langsamer ist als ich selbst.«

Randy löffelte den Rest seines Eisbechers aus. Jack beobachtete ihn stolz, aber auch mit einer gewissen Unsicherheit. Es war nicht leicht, einen Sohn von seiner Mutter zu trennen. Wenn man das tat, musste man mit ihm vorsichtiger als gewöhnlich umgehen. Man musste Vater und Mutter zugleich sein und noch irgendetwas dazwischen. Freund, guter Zuhörer und Schmusedecke.

Als Randy fertig war, lehnte sich Jack in seinem Stuhl zurück, sah ihn an und lächelte. »Was für ein Freund?«, wollte er schließlich wissen.

Randy lief rot an.

»Komm schon«, drängte Jack, »was für ein Freund? Du weißt, wovon ich rede. Du hast deiner Mutter erzählt, dass du in The Oaks einen Freund gefunden hättest. Das war ja wohl eine faustdicke Lüge, wie sie im Buche steht.«

»Ich darf es dir eigentlich nicht erzählen«, brachte Randy hervor.

»Was darfst du mir nicht erzählen?«

Randy schwieg lange. Da tauchte die Kellnerin vor ihrem Tisch auf und fragte: »Seid ihr beiden Jungs denn auch satt geworden?«

Sie trug einen sehr kurzen Rock und gewährte tiefen Einblick in ihr Dekolleté. Sie hatte schwarzes, wuscheliges Haar und eine Nase, mit der man eine Dose Tomaten hätte öffnen können. Als sie sich über ihn beugte, um das leere Geschirr abzuräumen, fragte sich Jack, ob sie jemals mit jemandem ins Bett gestiegen war und falls ja, was sie davon gehalten hatte. Es lag eine gewaltige Kluft zwischen dem Abräumen von eingesautem Geschirr und dem Erreichen eines sexuellen Höhepunkts.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass man ihm seine Frustration deutlich ansehen konnte. Er setzte sich aufrecht hin und versuchte mit aller Macht, desinteressiert und distinguiert zu wirken.

»Ist dir wirklich schlecht?«, wollte Randy wissen.

Er verfluchte Gott dafür, dass Kinder so feine Antennen besaßen. Jack schüttelte den Kopf. »Ich will wissen, was für ein Freund. Und wer sagt, dass du es mir nicht verraten sollst?«

»Lester«, antwortete Randy zögernd.

»Lester? Wer zum Teufel ist Lester?«

»Na ja, manchmal nennt er sich Lester und manchmal so etwas wie … Belfried.«

Jack drehte seinen Eislöffel zwischen den Fingern.

»Randy … ich will, dass du mir jetzt die Wahrheit sagst. Diesen – wie heißt er gleich – Lester, den hast du erfunden, oder? Du hast ihn erfunden, damit Mom dir erlaubt, bei mir zu bleiben, richtig?«

Randy schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn gesehen.«

»In The Oaks?«

Randy nickte. »Er hat gesagt, dass ich es niemandem verraten darf. Nicht meiner Mutter oder meinem Vater oder irgendjemandem sonst.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß es nicht. Eben drum. Er hat gesagt, dass ich es auch den anderen nicht sagen darf, denn die sind gemein und gefährlich. Er sagte, dass man einige von ihnen hinter Schloss und Riegel bringen sollte.«

Eine elterliche Alarmglocke begann in Jacks Kopf zu läuten. Es wurde ihm bewusst, dass Randy durchaus die Wahrheit sagen mochte oder eine Geschichte erzählte, die teilweise aus kleinen Flunkereien bestand und teilweise den Tatsachen entsprach. Kinder in Randys Alter verwendeten in der Regel keine Ausdrücke wie »hinter Schloss und Riegel«, es sei denn, ein Erwachsener hatte sie ihnen in den Mund gelegt.

Es war durchaus möglich, dass Randy jemanden getroffen hatte, während sie The Oaks besichtigten. Das Haus war groß genug und Randy war allein unterwegs gewesen. Aber wer zum Teufel war es? Vielleicht ein Hausbesetzer? Oder ein Perverser, der sich in der Gegend herumtrieb? Mal ehrlich, wie vertrieben sich denn die Hell’s Angels, Pädophile oder Serienmörder bei schlechtem Wetter die Zeit?

Das Sssschhhhhh-Geräusch – vielleicht war er das gewesen, vielleicht war das Lester, der irgendwelche Geheimgänge entlanglief. Ein verdammter Perversling namens Lester, der versucht hatte, Randy mit gutem Zureden und merkwürdigen Drohungen für sich einzunehmen.

Und Herrgott noch mal, wer konnte wissen, was für makabre Dummheiten jemandem wie ihm im Kopf herumspukten?

»Randy«, sagte Jack, »bist du dir da ganz sicher? Dass du einen Mann dort gesehen hast? Das ist eine ernste Angelegenheit, du würdest mich doch nicht anschwindeln?«

Randy nickte. »Ich schwöre es bei meinem Leben.«

»Na ja, das musst du jetzt auch wieder nicht sagen«, erklärte ihm Jack und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ich würde sagen, du und ich, wir sollten The Oaks noch mal einen Besuch abstatten. Was hältst du davon? Einen Überraschungs-Besuch, sodass Lester gar nicht weiß, dass wir kommen.«

»Wann denn?«, wollte Randy wissen.

Jack sah auf seine Rolex. Sie hatte seinem Vater gehört und war immer etwas zu langsam gegangen. Sein Vater hatte behauptet, dass diese Uhr ihn unsterblich machte. Wann immer seine Zeit gekommen war, blieben ihm auf der Rolex immer noch zwei Minuten übrig.

»Es ist jetzt halb neun. Wenn wir uns sofort auf den Weg machen, könnten wir gegen zehn dort sein. Meinst du, dass du so lange wach bleiben kannst?«

Randy senkte den Kopf. »Und du wirst es Lester nicht verraten?«

»Was? Dass du ihn verpfiffen hast? Herrgott, ich bin dein Vater. Und das Gebäude gehört jetzt mir. Na ja, fast jedenfalls. Daniel Bufo hat mein Angebot angenommen; ich muss ihn nur noch ein oder zwei Wochen hinhalten, bis ich die finanziellen Mittel aufgetan habe, dann haben wir es geschafft. Und dann sollte sich im Haus besser kein Lester oder Belfried oder wie auch immer du ihn nennst mehr herumtreiben. Dann habe ich nämlich das volle Recht, ihn rausschmeißen zu lassen.«

»Müssen wir wirklich hingehen?«, jammerte Randy.

Jack zog zwei Dollarscheine aus der Tasche, faltete sie zusammen und legte sie unter seinen Teller. »Eines musst du noch lernen, Randy, und zwar, dich allem zu stellen, was dir Angst einjagt. Ob es nun Ratten sind oder Hunde oder Spinnen. Jetzt musst du dich Lester stellen, wer auch immer er ist, und ihn in die Schranken weisen. Und ich werde dort sein, direkt an deiner Seite, um dich zu unterstützen.«

»Aber er ist …«, setzte Randy an.

»Er ist nichts, mit dem du und ich nicht fertig werden könnten«, unterbrach ihn Jack.

»Er ist in der Wand«, beendete Randy verzweifelt seinen Satz, viel zu leise, als dass Jack es hätte hören können.

Sie waren nach Westen unterwegs, als Jack plötzlich seine Meinung änderte und auf der 76. Straße in die West Good Hope Road Richtung Norden einbog. Die Scheibenwischer schabten mit ihrem Gummi stotternd über die Scheibe. Es regnete zu stark, um sie komplett auszuschalten, aber das Glas wurde doch nicht wirklich nass, sodass sich das Wischen kaum lohnte. Vor ihnen spiegelten sich auf dem Asphalt die scharlachroten Rücklichter anderer Autos wie Auspuffflammen aus Buck Rogers’ Raketenantrieb.

»Dachte, wir können vielleicht noch Karen mitnehmen«, erklärte Jack, der mit nur einer Hand den Wagen lenkte.

Randy nickte. Schließlich blieb ihm sowieso nichts anderes übrig. Wenn sie Karen mitnahmen, bedeutete das, dass er allein nach hinten auf den Rücksitz verbannt wurde. Er starrte aus dem Fenster auf die Läden und Tankstellen und die hell erleuchteten Straßenkreuzungen und vermisste seine Mutter mehr, als er jemals hätte zugeben können – jedenfalls nicht, ohne sofort in Tränen auszubrechen. Und weinen wollte er definitiv nicht.

Jack legte eine Kassette ein. Die Eagles mit Hotel California.

Sie erreichten Karens Haus. Es stand genau an der Ecke einer Seitenstraße, zwei Blocks nördlich der West Good Hope Road. Es war klein und heruntergekommen, erbsengrün angestrichen, konnte eine riesige Antenne auf dem Dach als einziges Prunkstück vorweisen und erinnerte mehr an eine Hütte als an ein vollwertiges Haus. Das Dreirad eines Kindes stand verlassen auf dem Bürgersteig. Als einziges Lebenszeichen flimmerte ein Fernseher hinter den Vorhängen.

Jack sagte: »Warte kurz, Großer. Ich brauche nicht lang!« Randy blieb geduldig im Wagen sitzen. Der Regen trommelte unaufhörlich und hartnäckig gegen die Windschutzscheibe und vernebelte ihm die Sicht. Er glaubte nicht, dass er sich in seinem Leben jemals zuvor so elend gefühlt hatte.

Nach zehn Minuten erschien sein Vater Arm in Arm mit Karen unter dem Vordach. Sie eilten schnell zum Auto, damit sie nicht nass wurden. Ohne die Anweisung abzuwarten, schnallte sich Randy los und kletterte auf den Rücksitz. Sein Vater schien es noch nicht einmal zu bemerken. Karen sprang mit einem kurzen, spitzen Schrei auf den Beifahrersitz und quietschte dann: »Oh Gott, meine Haare!«

»Deine Haare sitzen perfekt!«, versicherte ihr Jack und startete den Motor.

Karen schnallte sich an und drehte sich dann zu Randy um.

»Hi Randy! Was ein Abenteuer mitten in der Nacht, hmm?«

Randy nickte wortlos. »Er ist müde«, erklärte Jack. »Nicht besonders überraschend, so wie die Dinge gelaufen sind.« Er steuerte den Kombi wieder Richtung Süden und hielt auf die 94 zu. »Wenn ich doch nur früher gewusst hätte, wie sich seine Mutter fühlt. Wenn sie es mir nur gesagt hätte, mit mir kommuniziert hätte, weißt du?«

»Na ja, einige Frauen tun das halt nicht«, antwortete Karen, die ihre in schwarzen Netzstrumpfhosen verhüllten Beine übereinandergeschlagen hatte. Ihre goldenen Reifenohrringe reflektierten das Licht der Straßenlaternen, eine orangefarbene Kurve nach der anderen. »Meine Schwester war genauso, sie konnte über solche Dinge nicht reden.«

Jack schielte in den Rückspiegel. »Das Problem ist, dass man, wenn man einen Country Club führt, einfach kommunizieren muss, 24 Stunden am Tag mit den Menschen interagieren. Die Leute gehen an einen solchen Ort, um sich verwöhnen zu lassen, weißt du, wie ich meine? Genau so ist es ja auch, wenn sie einen Auspuff kaufen wollen. Sie wollen kein ›Vielleicht‹ hören oder stundenlang warten, geschweige denn erst am Dienstag wiederkommen. Sie wollen den richtigen Schalldämpfer und sie wollen ihn sofort.«

Karen leckte sich über die Lippen, sodass sie glänzten. »Glaubst du nicht, dass Du-weißt-schon-wer es dir vermasseln könnte?«

Jack zuckte die Achseln. »Ich will ihr doch gar nichts Böses. Glaub mir, ich will ihr um nichts auf der Welt wehtun.«

Sie fuhren auf die 94 und im Regen weiter Richtung Westen. Waukesha, Oconomowoc, Johnson Corner. Die Wegweiser rauschten schemenhaft an ihnen vorbei wie in einer Traumsequenz. Randy legte sich auf dem Rücksitz hin und schloss die Augen. Er hörte das Surren der Reifen auf dem Highway, das kratzende Gummi der Scheibenwischer und das Wusch-wusch des Windes, der gegen das verbeulte Heck blies, dort wo Jack mit dem Baum kollidiert war.

Jack war zwar ebenfalls müde, steckte aber gleichzeitig voller Tatendrang, als ob er zur Abwechslung einmal etwas Positives täte. Wenn es in The Oaks einen Hausbesetzer gab oder einen perversen Sexualstraftäter oder was auch immer, würde er ihn aufscheuchen und ihm eine saftige Tracht Prügel verpassen. Jack war entschlossen, jetzt die Kontrolle über sein Leben und sein Umfeld zu übernehmen. Vielleicht scherte sich Maggie nicht um ihn, doch Karen tat es und Randy auch. Es ging nicht länger um Schalldämpfer und Reifen, sondern um die Durchführung von Umbaumaßnahmen und Börsennotierungen. Herrje, es ging jetzt tatsächlich um Macht.

Bevor sie Madison erreichten, änderte er den Kurs in Richtung Nordost und bog 20 Meilen später links ab nach Lodi. Die Scheinwerfer flackerten im Regen und die Reifen ließen das Wasser aus den Pfützen am Straßenrand aufspritzen.

Schließlich erreichten sie das gusseiserne Tor und Jack parkte direkt davor. Er öffnete die Fahrertür. Der Regen war jetzt nur noch ein leichtes Nieseln. Jack wog das Schloss in seiner Hand. Es war zu massiv, als dass er es gewaltsam hätte öffnen können. Abgesehen davon war es vermutlich ohnehin besser, sich dem Gebäude zu Fuß zu nähern. So konnten sie nachschauen, ob dort jemand herumlungerte, ohne durch den lauten Motor ihr Kommen anzukündigen.

Hier draußen in den nassen Wäldern von Wisconsin, meilenweit weg von jeglicher Zivilisation, erschien ihm die Idee, einen gesellschaftlichen Außenseiter aus einem dunklen, verlassenen Gebäude zu vertreiben, plötzlich nicht mehr ganz so verlockend. Erst jetzt kam ihm der Gedanke, dass dieser Lester ja durchaus bewaffnet sein konnte. Jack hatte ihn sich als herumschnüffelnden, gedrungen umherschleichenden Kinderschänder vorgestellt. Aber was, wenn es nun ein Zweimetermann mit der Statur eines Arnold Schwarzenegger war, der an jeder Seite seines Jackenaufschlags eine Handgranate baumeln hatte und eines dieser riesigen Messer mit sägeartiger Klinge mit sich herumtrug, das Kommandosoldaten benutzten, um ihre eigenen fauligen Füße abzuschneiden?

Karen kam um den Wagen herumgelaufen und stellte sich neben ihn. Sie zitterte in ihrem kurzen, scharlachroten Regenmantel. »Gehst du wirklich rein?«, wollte sie wissen.

Er räusperte sich. »Natürlich gehe ich rein. Willst du vielleicht hier draußen warten?«

»Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich warte ganz bestimmt nicht mutterseelenalleine hier draußen.«

»Ich frage mich nur gerade, ob es das wirklich wert ist.«

Jack legte einen Arm um Karens Schulter. Sie gab ihm einen Schmatzer auf die Wange. Er drehte sich zu ihr um und küsste sie auf den Mund. Sie schmeckte nach Pfirsichlippenstift und Salz. Er fühlte, wie das Gewicht ihrer Brüste durch ihren Regenmantel hindurch gegen seinen Arm drückte und erkannte erst jetzt, wie sehr er sie begehrte. Na ja, jedenfalls brauchte.

»Hey, hoppla!«, protestierte sie und löste sich aus seiner Umarmung. Randy war aufgewacht. Seine Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. Er hatte das Licht im Auto angeschaltet und saß da wie Alfalfa aus Die kleinen Strolche, während er sie feierlich mit blassem Gesicht beobachtete.

»Karen, ähm, warum wartest du nicht einfach hier?«, schlug Jack vor. »Ich schnapp mir eine Taschenlampe und seh mich mal kurz um, okay?«

»Auf keinen Fall!«, widersprach Karen ihm. »Wo auch immer du hingehst, ich bin dabei.«

Randy kletterte ebenfalls aus dem Wagen. Jack ermahnte seinen Sohn: »Hey, Großer, mach die Tür leise zu. Wir wollen niemandem ankündigen, dass wir kommen.«

»Ich habe Durst«, stellte Randy fest.

»Tja, hör mal, wir schauen uns einfach kurz um, damit wir wissen, ob sich hier jemand versteckt und dann schauen wir mal, ob wir noch irgendwo in einem Diner was zu trinken auftreiben, okay?«

»Okay.« Randy nickte.

Jack berührte ihn aufmunternd an der Schulter. »Also gut. Lasst uns gehen. Aber sobald wir jemanden sehen, hauen wir sofort ab, verstanden?«

Jack holte seine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. Dann quetschten sie sich einer nach dem anderen durch die Lücke in der Hecke neben dem Tor. Sie pirschten wie Indianer die schattige Allee entlang. Ihre Füße knirschten auf dem Schotter. Karen trug wie üblich ihre Schuhe mit den hohen Absätzen und wäre zweimal fast hingefallen. Jack wartete deshalb, bis sie ihn eingeholt hatte, und bot ihr dann seinen Arm als Stütze an. Randy trottete hinter ihnen her. Den Kragen seines Anoraks hatte er aufgestellt. Er spähte immer wieder nervös zu den Baumreihen hinüber, wo er das kleine Mädchen ohne Gesicht neulich gesehen hatte. Auf ein Wiedersehen hätte er eigentlich gerne verzichtet.

Der Strahl von Jacks Taschenlampe huschte mal hierhin, mal dorthin. Hauptsächlich, um den Kies vor Karens Füßen zu beleuchten, sodass sie sehen konnte, wohin sie lief.

Allmählich zeichnete sich der Umriss von The Oaks vor ihnen ab. Die Türme und Schornsteine ragten düster und geheimnisvoll in den Nachthimmel hinauf. Jack war jetzt nüchtern, völlig klar im Kopf und bereute es zutiefst, dass er sie alle hierher gebracht hatte, wo sie sich doch gemütlich Die Bill Cosby Show anschauen und eine Schüssel frisches Popcorn dazu teilen konnten, anstatt durch die Nacht zu schleichen und sich dabei die Schuhe zu ruinieren.

Sie liefen um das Gebäude herum auf das Gewächshaus zu. Karen nahm das vom Regen glitschig gewordene Dach und die verrottenden Brüstungen in Augenschein und schmiegte sich enger an Jack heran. »Hier ist es total unheimlich, Mann. Dabei habe ich echt schon gruselige Orte gesehen, aber das hier toppt alles.«

Sie erreichten die Tür des Anbaus. Sie war geschlossen. Vermutlich Daniel Bufos Werk. Wenn es ganz dumm lief, hatte er auch abgeschlossen. Jack ertappte sich dabei, dass er sich das insgeheim sogar wünschte. Drinnen sah es sehr finster aus, so dunkel wie unter der Haube eines altmodischen Fotografen. Was sollte er tun, wenn Lester ihre Ankunft bemerkt hatte und ihnen auflauerte?

Seltsamerweise wirkte der riesige Komplex zwar furchteinflößend, übte zugleich aber eine unglaublich starke Anziehungskraft auf Jack aus. Der Bau war ziemlich heruntergekommen und im Inneren befiel ihn stets eine Art Klaustrophobie, doch in den vergangenen vier Tagen hatte er an nichts anderes mehr denken können. Jetzt, wo er wieder hier war, spürte er ein Kribbeln wie beim allerersten Mal, als er es für sich entdeckt hatte. Sich dem Eingang des Gewächshauses zu nähern, fühlte sich an, als hielte er auf dem Dach eines Hochhauses auf den Abgrund zu und verspürte beim Blick in die Tiefe den irrationalen Drang zu springen. Oder als nähme er ein Küchenmesser mit frisch geschärfter Klinge zur Hand, um sich zu fragen, wie es sich wohl anfühlte, damit über die eigene Zunge zu fahren.

Als er den Türgriff berührte, erkannte er, dass er nicht wirklich gekommen war, um nach einem Hausbesetzer namens Lester Ausschau zu halten. Definitiv nicht. Er war hergekommen, weil er ohne das Haus einfach nicht sein konnte.

Jack drehte den Knauf. Mit einem leisen Knarzen schwang die Tür auf.

Willkommen zurück, Jack.

Er atmete tief ein und nahm den eigenartigen Geruch in sich auf, den er als Mischung aus Essig, Staub und Feuchtigkeit bereits kannte. Er war unangenehm und doch seltsam verlockend, ganz ähnlich wie bei Rollmops. Jack suchte das Gewächshaus mit seiner Taschenlampe ab, aber mehr als zerbrochenes Glas und umgeworfene Töpfe konnte er im schmalen Lichtkegel nicht erkennen.

Randy und Karen zögerten noch, das Haus zu betreten. Jack drehte sich zu ihnen um und sagte: »So weit, so gut. Kommt ihr rein?«

Er trat selbst entschlossen ins Innere und ging die Stufen hinauf in die Empfangshalle. Randy und Karen folgten ihm zögernd. »Kannst du mal in meine Richtung leuchten? Ich kann gar nichts sehen, verdammt«, forderte ihn Karen auf.

Sie erreichten die Halle, in der die zwei blinden Statuen postiert waren. Jack richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Decke. Er tauchte kurz den Leuchter und seinen Spinnwebenteppich in schummriges Licht. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als ob eine riesige, durchsichtige Spinnenhaut von dem staubigen Glas herabhing.

Jack lauschte. »Kann nichts hören«, bemerkte er.

Karen öffnete ihre Handtasche und nahm Kaugummis mit Zitronengeschmack heraus. Einen gab sie Randy und wickelte dann einen weiteren für sich selbst aus. Sie standen in der riesigen, dunklen Halle und lauschten auf den heruntertropfenden Regen und das unablässige Kaugummi-Geschmatze von Karen.

»Wo, hast du gesagt, hast du Lester getroffen?«, erkundigte sich Jack, der seine Maglite jetzt auf die linke Treppe richtete.

»Oben«, flüsterte Randy, »ganz oben unterm Dach.«

»Also gut«, antwortete Jack, »dann gehen wir jetzt mal dorthin und sagen Hallo.«

Er erklomm entschlossen die Stufen. Karen und Randy folgten ihm weitaus zögerlicher. Karens hochhackige Schuhe warfen ein endloses Echo durch das Gebäude. »Das nenne ich ein sinnloses Unterfangen«, bemerkte Karen. »Ich muss verrückt sein, dass ich in einer Nacht wie dieser an einen solchen Ort mitkomme. Wisst ihr das? Bei mir tickt’s nicht mehr richtig.«

Randy sagte gar nichts. Jetzt, da sie tatsächlich in The Oaks waren, machte er sich schreckliche Sorgen, dass Lester sauer auf ihn sein würde, weil er seinem Vater von ihm erzählt hatte. Und was war mit den anderen, den gemeingefährlichen Leuten in der Wand, die hinter Schloss und Riegel gehörten?

Sie erreichten das erste Stockwerk. Einen Moment lang dachte Randy, dass er wieder jemanden singen hörte:

Lavendelblau, dideldei;

Lavendel, hier gehör ich hin.

Hier bin ich König, dideldei;

Und du wirst Königin.

Jack hielt inne, legte den Kopf schräg und lauschte.

»Hast du das gehört?«, fragte er Karen.

»Jack, Schätzchen, deine Fantasie geht mit dir durch«, erwiderte sie nur.

Doch Randy mischte sich ein: »Ich habe etwas gehört. Jemanden, der singt.«

»Ich auch«, bestätigte Jack. Er begann, langsam den östlichen Gang entlangzulaufen, und rüttelte an sämtlichen Türen, obwohl er von seinem letzten Besuch noch wusste, dass sie allesamt verschlossen waren. Von Zeit zu Zeit leuchtete er mit der Taschenlampe durch eines der Schlüssellöcher und spähte hinein.

»Hier ist jemand«, sagte er leise. »Da bin ich mir ganz sicher.«

»Na, und wer?«, wollte Karen wissen. »Und wo ist er?« Trotz ihrer Ungewissheit kam sie klipp-klapp auf ihn zustolziert, um ihn am Arm zu packen. »Weißt du was? Ich hasse diesen Ort wirklich. Er erinnert mich an das Krankenhaus, in dem meine Großmutter gestorben ist.«

Doch Jack lief weiter durch den Gang und rüttelte an sämtlichen Türgriffen, lugte durch die Schlüssellöcher, beschleunigte dabei seinen Schritt. Er konnte regelrecht spüren, dass da jemand war. Das ganze Gebäude schien ein lebendiges Wesen zu sein, wie während eines Erdbebens. Die Wände hallten dumpf; es war ein tiefes, polterndes Rumpeln. Ein Gefühl gespannter Erwartung, das so stark war, dass er es fast schon einzuatmen schien.

»Daddy!«, schrie Randy. Jack richtete den Lichtkegel auf das Ende des Gangs, gerade noch rechtzeitig, um einen Blick auf einen grau-weißen Umhang zu erhaschen, der in Richtung Treppe verschwand.

Karen hatte nichts gesehen. »Was war denn da?«, rief sie mit vor Schreck geweiteten Augen.

Doch Jack hatte schon ihre Hand gepackt und zog sie hinter sich her, während er in halsbrecherischem Tempo die Verfolgung aufnahm. Randy kam ihnen nachgelaufen und schnaufte vor Angst und Anstrengung.

Sie erreichten das Ende der Treppe. Jack sah einen grau-weißen Schemen. Das Kind war nach oben geflohen. Er wollte ihm gerade folgen, als Karen ihn am Ärmel zog und aufhielt. »Meine Schuhe!«, jammerte sie, während sie auf einem Bein hüpfte und versuchte, sie auszuziehen. »Ich kann doch nicht mit hohen Absätzen rennen.«

»Schon gut, schon gut.« Jack hielt sich am Treppengeländer fest und stützte sie, während sie sich im Eiltempo die Schuhe auszog. Randy stand neben ihnen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

»Hast du dieses Kind schon mal gesehen?«, wollte Jack von seinem Sohn wissen.

Randy nickte. »Es war oben und ich habe es auch draußen im Garten gesehen, als wir weggefahren sind. Es winkte mir zu, aber es hatte kein Gesicht.«

»Hatte kein Gesicht?«, wiederholte Karen und rümpfte die Nase. »Was meinst du damit? Es hatte kein Gesicht?!«

»Ich weiß nicht. Es trug einen Umhang oder so.«

Jack sagte: »Ich habe dasselbe Kind auch schon gesehen. Wenn es ein Kind ist. Erst auf dem Highway. Das war das Kind, von dem ich euch erzählt habe, das, wegen dem ich den Unfall gebaut habe.«

»Du meinst den Balg, der sich hinterher als Zeitung entpuppt hat?«, hakte Karen nach.

Jack sagte: »Genau den.«

»Und diesmal soll es keine Zeitung sein? Oder eine Eule? Oder in diesem Fall noch viel wahrscheinlicher eine Ratte?«

Jack sah Randy an und zuckte die Achseln. »Vielleicht hast du recht, vielleicht ist es so. Nur ein paar Überreste einer Zeitung.«

»Aber es ist hochgerannt«, protestierte Randy. »Ich habe es genau gesehen. Es ist hochgerannt.«

»Könnte auch ein Eichhörnchen gewesen sein, das eine Zeitung zu seinem Nest schleppt«, gab Jack zu bedenken.

Randy starrte ihn im Schein der Taschenlampe an. Es war eindeutig zu sehen, dass er seinem Vater das nicht abkaufte. Ein Eichhörnchen, das eine Zeitung nach oben schleppte? Aber was zum Teufel sollte es denn sonst sein? Niemand konnte Jack ernsthaft erzählen, dass hier wirklich ein Kind hauste, das in einem grau-weißen Regenmantel von Stockwerk zu Stockwerk flitzte. Nicht dass es hinterher noch ein Geist war, verflixt noch mal.

Karen erklärte: »Ich will nach Hause. Dieser Ort ist mir nicht geheuer.«

Jack ergriff ihre Hand und drückte sie aufmunternd. Dann leuchtete er mit der Mini-Maglite nach oben. »Na kommt, es wird schon nichts Schlimmes sein. Selbst wenn es ein Kind sein sollte, wir haben ja wohl keine Angst vor Kindern, oder?«

»Jack«, sagte Karen. »wenn es ein Kind ist, dann wird es sicher nicht allein hier leben, meinst du nicht auch? Dann sind seine Eltern sicher ganz in der Nähe. Zumindest ein Elternteil. Vielleicht dieser Gruseltyp Lester.«

Jack nahm eine Stufe nach oben. »Ach, komm«, redete er auf sie ein. »Hier gibt es nichts, wovor man Angst haben müsste. Das ist doch nur ein altes Gemäuer, weiter nichts.«

»Jack, nein!«, widersprach sie und versuchte, ihre Hand freizubekommen. »Ich habe Angst.«

Jack wollte sie wieder hinter sich herziehen, aber sie hielt dagegen. Er wandte sich an Randy. »Und was ist mit dir, Randy? Hast du auch Angst?«

Randy schluckte. »Nein, Sir«, antwortete er mit dünner, tonloser Stimme.

»Na also«, grinste Jack. »Zwei zu eins. Wir haben keine Angst. Du bist überstimmt, Karen. Wir haben keine Angst, also wagen wir uns weiter vor.«

»Jack …«, protestierte Karen.

»Was willst du denn stattdessen tun?«, wollte er von ihr wissen. »Allein und ohne Taschenlampe wieder die Treppe hinunterschleichen?«

Sie zögerte und nickte dann. »Okay, okay. Aber das werde ich nicht so schnell vergessen. Ich habe Dunkelheit schon immer gehasst. Mein Daddy hat mich nämlich immer im Dunkeln eingeschlossen und ich schrie und schrie, aber er kam nie.«

Sie erklommen die nächste Treppe, dann die übernächste, bis sie den Dachboden erreichten. Der Essiggeruch war überwältigend stark und in der Luft lag eine merkwürdige, undefinierbare Spannung. Jack leuchtete den Flur ab. Der Lichtstrahl reflektierte im Zickzack von den Türen zu den Wänden und zur Decke.

»Es war irgendwo in der Mitte«, erklärte Randy. »Die erste Tür, die offenstand.«

Karen sagte: »Wenn wir hier jemanden finden, Jack, dann bin ich weg. Ich hau sofort hier ab, Taschenlampe hin, Taschenlampe her, das sag ich dir.«

Er klopfte ihr mit gespielter Gelassenheit auf die Schulter. »Ach, komm schon, Karen, wird schon alles gut gehen.« Ihm selbst schnürte nackte Angst regelrecht die Luft ab, aber gleichzeitig verspürte er einen starken Drang weiterzugehen. Wenn da jemand war, wollte er mit ihm reden. Er wollte wissen, was derjenige hier zu suchen hatte und was er über das Gebäude wusste. Hier gab es so viele unerforschte Geheimnisse. Warum hatten alle Skulpturen ihre Augen geschlossen? Warum waren die Fenster mit Netzen versehen und alle Türen verriegelt?

Und warum hatte man das Haus 1926 so abrupt geräumt und seither weder betreten noch ernsthaft nach einem Käufer gesucht, sondern einfach sich selbst überlassen?

Das ungleiche Trio ging den Gang hinunter, Jack vorneweg. Schließlich erreichten sie die halb geöffnete Tür und den Raum, in dem Randy auf Lester gestoßen war. Sie hielten an. Jack fragte: »Da drin?«, und leuchtete hinein. Das Zimmer schien völlig verlassen zu sein.

»Hallo?«, rief er. »Ist da jemand?«

»Na klar«, antwortete Karen. »Der Geist der zukünftigen Weihnacht.«

Jack streckte seine linke Hand aus, um die Tür ein Stück weiter zu öffnen. Sie schwang ohne große Probleme auf, obwohl die Scharniere etwas schwergängig waren. Er wartete. Drinnen war alles still. Leichter Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Lavendelblau, dideldei. Lavendel, hier gehör ich hin … Jack betrat das Zimmer, drehte sich um und machte zwei schnelle Schritte rückwärts, für den Fall, dass sich Lester hinter der Tür versteckt hielt. Mit der Taschenlampe suchte er jeden Winkel ab.

»Es ist leer«, erklärte er lächelnd. »Hier ist niemand und hier war auch niemand.«

»Woher willst du das denn so genau wissen?«, erkundigte sich Karen.

»Ach, Mensch, denk doch mal drüber nach. Hast du schon mal ein besetztes Haus gesehen? Müll, wo man nur hinsieht: Decken, leere Flaschen, dreckige Windeln, Campingkocher. Dieser Raum wurde 60 Jahre lang nicht mehr benutzt.«

Randy stand ernst und mit vor Schreck geweiteten Augen im Türrahmen und sagte nichts. Jack beugte sich zu ihm hinunter und wuschelte ihm durch die Haare.

»Vielleicht war dieser Lester nicht ganz so real, wie du gedacht hast, hm?«

»Bist du böse auf mich?«, fragte Randy.

Jack schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. War doch ein ordentliches Abenteuer, oder etwa nicht? Und glaub mir, Partner, mir ist es wesentlich lieber, dass wir hier drinnen niemanden gefunden haben.«

Randy antwortete: »Das glaube ich.« Er sah beinahe ein wenig enttäuscht aus. Vielleicht hatte er sich Lester wirklich nur eingebildet. Und das kleine, gesichtslose Mädchen, das ihm durch die Bäume hindurch zugewinkt hatte.

Jack sagte: »Lasst uns bis ganz zum Ende durchlaufen, nur um sicherzugehen.«

Randy sah sich stirnrunzelnd um. »Kann ich hier warten?«

»Allein? In der Dunkelheit?«

»Es ist hell genug.«

»Und was willst du hier drin machen, so ganz allein?«

»Mich ausruhen, mehr nicht. Meine Füße tun weh.«

Als Beweis dafür, dass es ihm ernst war, lehnte er sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich langsam herabgleiten, bis er auf dem Boden saß. Jack sah Karen an, die meinte: »Es wird ihm schon nichts passieren. Er muss völlig erschöpft sein. Und wir sind doch nur eine Minute weg.«

»Also gut«, sagte Jack. »Aber du bleibst genau da, wo du bist. Kein Herumspazieren. Der Boden ist teilweise nicht so sicher, wie er sein sollte, verstanden? Besonders dort am hinteren Ende.«

»Ja, ist gut!«, stimmte ihm Randy zu. Er umfasste seine Knie und legte den Kopf in den Schoß. Er sah so klein und müde aus, dass Jack sich fühlte wie ein blöder, egoistischer, grobmotorischer Unmensch. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er seinen Sohn so spät nachts hierher gebracht hatte, wo er doch längst in seine Bettdecke gekuschelt sein sollte.

»Hör mal«, forderte ihn Jack auf. Er zog die Kackwurst aus Randys Jackentasche und schmiegte sie an die Wange seines Sohns. »Wir sind gleich wieder da. Waffel wird auf dich aufpassen und du kannst uns sofort rufen, wenn du uns brauchst. Ich will nur absolut sichergehen, dass hier niemand ist.«

»Ja, ist gut!«, wiederholte Randy und gähnte.

Dicht aneinandergedrängt gingen Jack und Karen weiter den Gang entlang. Sie rüttelten an jedem Türgriff und sahen durch jedes Schlüsselloch.

Als sie fast am Ende des Korridors angelangt waren, meinte Karen: »Du glaubst doch nicht wirklich, dass hier jemand ist, oder? Man müsste schon völlig meschugge sein, um freiwillig an einem solchen Ort zu leben.«

Jack antwortete: »Sieht nicht danach aus, oder? Schätzungsweise ist ›Lester‹ nur eine Ausgeburt von Randys blühender Fantasie. Armer Junge. Maggie ist abgehauen … Na ja, das hat ihm schon ganz schön zugesetzt. Vielleicht ist ›Lester‹ so eine Art imaginärer Freund, jemand, mit dem er reden kann, wenn ich gerade keine Zeit für ihn habe.«

»Klar!«, meinte Karen. Sie sah den Gang zurück.

»Wenn sich Eltern trennen, ist das für die Kinder immer am schlimmsten. Ich weiß noch genau, wie übel es Sherrywine mitgenommen hat. Sie schloss sich damals eine ganze Woche lang heulend in ihr Zimmer ein und fing dann an, im Supermarkt Sachen zu klauen.«

Ganz plötzlich berührte sie Jacks Wange. Er zuckte zusammen, da er erst nicht wusste, was es war, doch dann streichelte sie ihn sanft und fuhr durch sein Haar. Er wandte sich ihr zu und küsste sie am Handgelenk.

»Und wie ist es dir ergangen?«, wollte sie von ihm wissen.

Er küsste sie noch einmal am Handgelenk. »Ich hab mich da einfach irgendwie durchgemogelt.«

»Na ich weiß nicht«, erwiderte sie. Ihre Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Manchmal reicht es nicht aus, sich einfach nur ›durchzumogeln‹.«

Jack hielt ihren Arm fest und zog sie dann ungeschickt näher zu sich heran, zögerte kurz und küsste sie auf die Lippen. Es war ein forschender Kuss, ganz zaghaft. Doch da öffnete sie ihren Mund weit und er drängte seine Zunge hinein. Sie küssten sich heftig und leidenschaftlich.

»Das sollten wir nicht tun«, keuchte Karen. »Jack, wir sollten aufhören.«

Doch sie machte keinen Versuch, sich von ihm zu lösen, sondern küsste ihn weiter – auf den Mund, das Gesicht und seinen Hals. »Gott, du weißt gar nicht, wie lange ich dich schon gewollt habe!«, verriet sie ihm.

Jack fummelte an den Knöpfen ihres Cardigans herum. Der Strahl der Taschenlampe wanderte hierhin und dorthin, auf Karens Gesicht, dann auf die Wand, die Decke, das glatte, schwarze Nylon ihres BHs. Jack schob eine Hand in ihre Strickweste und streichelte ihren Busen. Sie knöpfte sie daraufhin vollständig auf. Dann schob er ihren BH hoch, sodass ihre Brust ganz frei war. Sie fühlte sich in Jacks Hand warm und schwer an und die Nippel waren in der kalten Nachtluft ganz hart geworden.

»Nicht hier!«, ermahnte sie ihn. »Wir können es hier nicht tun.«

Ihr kurzer, enger Rock war die Schenkel hochgerutscht. Jack schob ihn sogar noch weiter hoch, bis rauf zu ihrer Hüfte. Darunter trug sie nichts als ihre schwarze Netzstrumpfhose. Er streichelte über ihre Schenkel. Sie fröstelte und knabberte mit ihren Zähnen an seinem Hals. Er berührte sie zwischen den Beinen. Ihre geschwollenen Schamlippen zeichneten sich durch das Rautenmuster der Strumpfhose ab. Jack steckte seinen Finger hinein. Sie war glitschig, heiß und feucht.

»Karen«, keuchte er. »Oh Gott, Karen.«

Im selben Moment hörte er das Geräusch, als es an ihnen vorbeizog. Sssschhhhhhh – sssschhhhh – ssssschhhh. Dieses lang gezogene, schwere, zementartige Schleifen.

Sie erstarrten alle beide. Ihre Atemluft verdampfte in der Dunkelheit.

»Was war das?«, fragte Karen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Jack, der immer noch lauschte und in Alarmbereitschaft war. Sein Steifer fiel in sich zusammen. Er zog den Finger aus Karens Scheide.

»Randy?«, rief er. Dann lauter: »Randy?«

Keine Antwort. Er wartete, lauschte. Dann schrie er fast schon hysterisch: »Randy!«

»Oh Gott«, keuchte Karen. »Was ist mit ihm passiert?«

Jack rannte durch den dunklen Gang zurück. Karen zog ihren Rock herunter, stopfte ihre Brüste wieder in den BH und setzte ihm nach.

»Randy! Bist du da?«, rief Jack.

Sie erreichten die offene Tür des Zimmers, in dem Randy sich eben an die Wand gehockt hatte. Es war leer. Jack suchte mit der Taschenlampe jeden Zentimeter gründlich ab, leuchtete von einer Ecke zur anderen, nahm sogar die Decke in Augenschein. Braune Blumentapete, eine verschimmelte Kopie von Susanna und die Alten. Ein Bett, auf dem sich braun verkrustete Spuren von Inkontinenz fanden. Doch kein Randy, nirgendwo.

»Randy!«, schrie Jack in den Gang. Seine Stimme wurde von der abgestandenen Luft gedämpft.

»Wahrscheinlich war ihm langweilig«, meinte Karen. »Weit kann er ja nicht gekommen sein.«

»Ich habe ihm befohlen, hier zu warten!«, erwiderte Jack. »Ich habe ihm befohlen, hier zu warten und sich nicht zu bewegen. Herrgott! Hätten wir ihn doch besser mitgenommen!«

»Jack, es ist nicht deine Schuld.«

»Ich weiß nicht, welcher Teufel mich geritten hat, ihn dort allein zurückzulassen.«

Karen streckte die Hand aus und berührte ihn sanft am Arm. »Ach, komm schon, Jack, du weißt, woran du gedacht hast. Und ich ebenfalls.«

Jack schrie: »Randy! Randy! Kannst du mich hören! Randy!«

Er lauschte. Keine Antwort. Er hörte nur den Regen, der in den Rinnen gurgelte, und das leise Knarzen eines Gebäudes, um das sich seit mehr als 60 Jahren niemand mehr gekümmert hatte. Willkommen zurück, Jack!, schien es ihm zuzuflüstern.

»Wir müssen nach ihm suchen«, entschied Jack. »Allmächtiger Gott! Wie lange waren wir weg? Zwei Minuten? Drei? Habe ich ihm nicht gesagt, dass er dort sitzen bleiben und warten und sich nicht von der Stelle rühren soll? Hast du gehört, wie ich das zu ihm gesagt habe? Randy!«

Sie liefen den Gang zurück bis zur Treppe. Jack war kalt und er war gereizt. Er musste immer wieder schlucken. Was, wenn Randy recht behalten hatte und sich doch ein Perverser hier im Haus vergnügte? Er konnte Randy jetzt schon ermordet und seinen Körper weggeschleift haben. Wie sollten sie ihn jemals finden?

Und falls sie ihn doch fanden, war es vielleicht schon zu spät. Randy konnte gequält, missbraucht oder stranguliert worden sein. Und währenddessen hatte Jack den Finger in seine Sekretärin gesteckt. Was sollte er bloß der Polizei erzählen? Und Maggie erst?

Sie rannten die Stufen hinunter. Ihre Schritte hallten in der bedrückenden Stille. Karen sagte atemlos: »Er wird schon irgendwo stecken, Jack. Hat sich bestimmt nur umgesehen.«

»Randy!«, brüllte Jack und leuchtete mit der Taschenlampe den Gang im zweiten Stock ab. Er wartete, doch es kam keine Antwort.

»Weißt du, wie viele Zimmer es in diesem Haus gibt, verflucht noch mal?«, fragte er Karen.

Sie antwortete: »Tut mir leid, Jack. Es ist auch meine Schuld.«

»Natürlich ist es nicht deine Schuld. Ich bin sein Vater. Ich hätte ihn nicht hierher bringen dürfen. Diese ganze Fahrt heute Abend war eine absolute Schnapsidee. Ich weiß nicht, was mich auf diese bescheuerte …«

Aus weiter Entfernung erscholl schlagartig der dumpfe Schrei eines kleinen Kindes, das einen nachtschwarzen Brunnen herabfällt. Er hörte eine Stimme, die Aaaaaaaahi-Auuuuuuu! schrie und dann abrupt wieder verstummte.

»Hast du das gehört?«, erkundigte er sich bei Karen.

»Ja, da war was, keine Ahnung. Vielleicht eine Katze.«

»Katze? Das war Randy. Randy!«

Keine Antwort. Jack rannte den Gang im zweiten Stock entlang, bis er zur Treppe am anderen Ende des Gebäudes gelangte. »Randy? Randy? Randy, ich bin’s, Daddy!«

Sie verbrachten zwei Stunden damit, jede einzelne Etage abzusuchen, an jedem Türgriff zu rütteln. Das Haus hatte über hundert Zimmer und lediglich das, in dem sie Randy zurückgelassen hatten, war nicht abgeschlossen gewesen. Nirgendwo eine Spur von dem Jungen – nicht in den Gängen, nicht in der Küche, nicht im gesamten ersten Stockwerk.

Schließlich kamen sie die Treppe hinunter in die Halle. Es war inzwischen fast 02:00 Uhr morgens und die Batterien in Jacks Taschenlampe begannen zu schwächeln. Karen meldete sich zu Wort: »Ich muss Bessy anrufen und ihr sagen, dass ich nicht zurückkomme.« Bessy war eine Kellnerin mit dicken Knöcheln, die seit Karens Scheidung bei ihr eingezogen war und Sherrywine beaufsichtigte, wann immer Karen tanzen oder etwas trinken gehen wollte.

»Hier gibt es kein Telefon«, merkte Jack an.

»Aber an der Tankstelle in Lodi gab es ein Telefon.«

»Na, und was denkst du, was ich jetzt mache? Meinst du vielleicht, ich lasse Randy hier zurück, damit du deine Babysitterin anrufen kannst? Herrgott, Karen, vielleicht ist er ermordet worden!«

»Hier ist er nicht, Jack! Er läuft irgendwo herum! Wir sind die Gänge Dutzende Male rauf und runter gelaufen! Wahrscheinlich ist er zum Auto zurückgegangen, um sich ein wenig hinzulegen. Wir haben noch gar nicht im Auto nachgesehen.«

»Den Keller haben wir auch noch nicht überprüft.«

Karen massierte sich kräftig den Arm – eine Geste unterdrückter Nervosität. »Jack, ich habe Angst!«, gab sie zu.

»Ich meine, was, wenn es Lester wirklich gibt?«

»Es dauert nicht lang, im Keller nachzusehen.«

»Jack, ich hasse Keller. Ich hasse sie wirklich.«

»Na gut, willst du vielleicht lieber hier auf mich warten?«

Karen sah sich um, sah auf die blinden, schweigenden Statuen, die an jedem Treppenaufgang aufgestellt waren. »Hier? In der Dunkelheit?«

»Dann warte eben draußen.«

Karen biss sich auf die Unterlippe. »Nein, ich komme mit. Solange die Taschenlampe ihren Geist noch nicht aufgibt.«

Die Kellertür befand sich auf der Westseite der Halle. Sie war breiter als die meisten anderen im Haus. Ihre Eichentäfelung war verblichen. Jack zog am Griff und erwartete, dass abgeschlossen war, hoffte es sogar, doch sie schwang ihnen federleicht entgegen. Feuchte, kalte Zugluft drang aus der Dunkelheit zu ihnen herauf und Karen zitterte am ganzen Körper.

»Meinst du wirklich, er steckt da unten?«

Jack richtete die funzelnde Maglite durch die Türöffnung. Das immer schwächer werdende Licht schälte eine Steintreppe und ein primitives Eichengeländer aus der Finsternis.

»Randy!«, rief er. Seine Stimme hallte nicht im Geringsten. Er hätte genauso gut in ein Kissen schreien können. »Randy?«

»Hier wäre er niemals freiwillig hinuntergegangen!«, meinte Karen und klammerte sich an Jacks Arm fest.

»Sonst ist er aber auch nirgendwo«, erwiderte Jack und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.

»Er muss zum Auto zurückgelaufen sein. Hier hätte er sich nicht runtergetraut.«

»Karen, tut mir leid. Ich muss auf Nummer sicher gehen.«

Seine Begleiterin atmete tief durch. »In Ordnung. Ich kann dich ja verstehen. Tut mir leid.«

Sie blieben dicht beisammen und stiegen gemeinsam die Stufen herab. Im schwächelnden Lichtkegel erkannte Jack, dass der Keller riesig sein musste. Er erstreckte sich über die ganze Länge des Hauses und verfügte über eine gewölbte Decke aus Kalkstein, die von gewaltigen Steinsäulen abgestützt wurde.

Hier, direkt unterhalb der Halle, stand ein uralter Kenwood-Boiler, dessen Messingrohre grün korrodiert waren. Die Bedienelemente konnte man aufgrund einer dicken Schmutzschicht kaum noch erkennen. Der Rest des Kellers war vollgestopft mit Umzugskartons, zusammengerollten Seilen, eingetrockneten Farbeimern, verblichenem, braunem Packpapier, leeren Ballonflaschen, auf denen »Essig zum Einlegen« stand, Schachteln mit Nägeln, Kisten voller schmutzig aussehender Flaschen mit Leinsamenöl, durchgesessenen Sofas, demontierten Eisenbetten, verdreckten Matratzen, Fahrradreifen und einer Sammlung von 50 oder 60 schweren Akkumulatorenbatterien aus schwerem Glas.

Von Randy hingegen keine Spur.

»Ruf ihn. Ruf ihn noch mal«, ermutigte Karen Jack.

»Randy!«, schrie er. »Randy! Bist du irgendwo hier unten?«

Die Taschenlampe flackerte nun wiederholt kurz ganz hell auf, um dann noch schwächer zu werden. Irgendwo musste ein Kellerfenster offen stehen, denn es kam ein feuchter, kalter Luftzug bei ihnen an, der nach Regen roch. »Hier ist er nicht«, sagte Karen. »Wir sollten besser draußen nach ihm suchen.«

Als Jack gerade wieder die Treppe hochstapfen wollte, blieb sein Blick an einem beigefarbenen Klumpen ganz dicht an der Rückseite des Boilers hängen. Zuerst hielt er es für einen Pilz, doch als die Batterie der Maglite sich noch einmal kurz aufbäumte, erkannte er etwas, das seltsam vertraut schien.

»Warte!«, forderte er Karen auf und ging vorsichtig die restlichen Stufen hinunter durch den Raum. Er hielt geradewegs auf die Wand zu und richtete die Taschenlampe auf seine Entdeckung.

»Was ist denn das?«, wollte Karen wissen. Ihre Stimme klang vor Angst ganz gebrochen.

Jack berührte das Ding. Es war beigefarben, aus Wolle und formlos. Es besaß die Konsistenz einer Waffel. Es war die Kackwurst, die auf halber Höhe an der Wand hing und sich untrennbar mit ihr verbunden zu haben schien.

»Das ist Randys Kuscheltier!«, rief Jack Karen zu.

Langsam kam sie durch den Keller näher. Sie stellte sich neben ihn und starrte verwundert auf die Kackwurst.

»Was macht das denn hier?«

Jack zerrte daran. Die Kackwurst steckte nicht nur fest, sondern sie war regelrecht mit dem Mauerwerk verschmolzen, als ob ihre Atome sich mit denen der Wand verbunden hätten.

»Hast du so was schon mal gesehen?«, fragte Jack Karen. »Ich kriege das Ding nicht raus.«

Er zog noch einmal. Diesmal zerriss die Kackwurst und er hielt eine Handvoll kaputter Wolle samt Füllung in der Hand.

Gott!, dachte er. Randy wird mich umbringen.

»Wie hat er denn das fertigbekommen?«, fragte Karen verwundert. »Und vor allem: Warum?«

»Und noch viel wichtiger: Wo ist er jetzt?«, erwiderte Jack nachdenklich.

»Vielleicht sollten wir besser zurückkehren, wenn es wieder hell ist«, schlug Karen vor. »Schließlich könnte er überall sein. Und hier unten sehe ich ihn definitiv nicht.«

Jack entfernte die letzten Wollfetzen, die sich noch am Backstein befanden. »Wir sollten die Polizei rufen. Je eher sie mit der Suche beginnen, desto besser.«

Jack schwenkte mit der Taschenlampe den Keller ab, hob einige Hartfaserplatten an und verschob die eine oder andere Kiste. Er betete zu Gott, dass er Randy nicht irgendwo reglos auf dem Boden liegen sah. Er verrückte eine Chaiselongue, auf der ein zusammengekrachter Stuhl lag, und war gerade damit beschäftigt, einige Linoleumrollen zur Seite zu räumen, als er das vertraute Geräusch wieder hörte.

Sssssschhhhhhhh – sssssschhhhhh – ssssssschhhhhhh!, machte es an der Wand.

Er versteifte sich und seine Nackenhaare richteten sich auf. Das Geräusch zog sich langsam durch den ganzen Keller und kehrte dann wieder zurück.

»Komm schon! Ich denke, wir sollten jetzt besser hier abhauen«, erklärte Jack.

Sie machten sich auf den Rückweg, zunächst langsam und vorsichtig. Doch das Geräusch kam näher und näher, immer schneller, wie Beton, der umgerührt wird, wie ein Körper, der durch Kies geschleift wird, dumpf und düster, aber irgendwie auch sehr verhalten. Als sie die Treppe erreichten, rannten sie schon fast.

»Was ist das?«, keuchte Karen und drehte sich entsetzt um.

»Ich werde nicht anhalten, um es herauszufinden«, keuchte Jack zurück. »Komm, lass uns von hier verschwinden!«

Sie stolperten die Stufen hinauf. Das Geräusch war jetzt fast über ihnen, so ohrenbetäubend wie eine heranrauschende Dampflok. Jack schob Karen vor sich her, während er sich am Holzgeländer festklammerte und mehrere Stufen auf einmal nahm. Sie waren fast oben angekommen, als das Licht der Taschenlampe erlosch. Und im gleichen Moment, ohne Vorwarnung, fiel die Kellertür zu.

Sofort wurden sie von der Dunkelheit verschluckt. Karen schrie: »Nein!« Und das Geräusch kam die Treppe hinter ihnen hergepoltert – schakkkka-takkka-schaaakkkka-takkkka.

Auf der obersten Stufe rutschte Jack aus und prallte gegen die Wand. Dabei spürte er, dass jemand seinen linken Knöchel packte. Zuerst dachte er, es wäre Karen, die versuchte, sich festzuhalten, um nicht selbst hinzufallen. Doch dann ergriff etwas auch noch seinen rechten Knöchel und begann, ihn die Stufen wieder hinunterzuziehen.

»Karen!«, brüllte er. »Karen, irgendetwas hält mich fest!«

Große, kräftige Hände umklammerten seine Beine. Jack griff nach dem Geländer, doch er schaffte es nicht, festen Halt daran zu finden. Er wurde vier oder fünf Stufen herabgezogen, wobei er sich die Wange aufscheuerte und sein Kinn schmerzhaft auf der Treppe aufschlug.

»Karen!«, schrie er. In diesem Moment erreichte Karen die Kellertür und riss sie auf, sodass ein ganz schwacher Lichtstrahl hineinfiel.

Jack drehte und wand sich und trat nach den Händen, die seine Füße festhielten.

Was er sah, ließ ihn vor Schreck aufschreien. Die Pranken, die ihn da so entschlossen umklammerten, waren grau und staubig, eine Farbe wie Beton, und sie schienen direkt aus dem Boden zu ragen.

Ein Stück weiter lugte ein Gesicht aus der Tiefe. Es war das Gesicht eines Mannes mit vorstehender Stirn und markantem Unterkiefer, das ihn triumphierend angrinste. Der Mann schien vollständig von getrocknetem Zement bedeckt zu sein. Um seinen Mund zeichneten sich feine Falten und Schrunden ab. Seine Augenhöhlen waren tiefschwarz, schwarz wie die Nacht, ohne einen einzigen Funken Weiß, als ob sein Kopf innen leer war. Aber er lebte, daran gab es keinen Zweifel. Er war direkt aus dem Betonboden aufgetaucht; wie ein Schwimmer aus tiefem, staubbedecktem Wasser.

Der Mann lebte, grinste ihn an und versuchte vergnügt, ihn ebenfalls unter die Betonoberfläche zu ziehen.

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