12 Die Diener des Albtraums

Der grüne Drache war zwar nicht so groß wie Eranikus, doch alles andere als klein und begierig, es mit den Nachtelfen aufzunehmen. Broll beschwor einen Beruhigungszauber, der zumindest teilweise bei Yseras Gemahl gewirkt hatte und hoffte, die angreifende Bestie so zu verlangsamen.

Doch für seine Bemühungen erntete er nur böses Gelächter. Der Drache wäre über ihn hergefallen, hätte Tyrande nicht den Druiden zur Seite geschubst und ihre Gleve geworfen.

In Elunes Licht leuchtend, traf die dreiklingige Waffe genau ins Ziel. Die Spitze schnitt über das Maul des Drachen und erwischte genau den Bereich, der fast einem Bart ähnelte. Obwohl das Ungeheuer halb feinstofflich zu sein schien, stieg ein Blitz von düsterer smaragdgrüner Energie aus dem Schnitt auf. Der gehörnte Drache beugte den Hals, schien aber eher wütend denn verwundet zu sein. Er breitete die Flügel weit aus und offenbarte dabei eine Stelle roter Haut, die mit der ansonsten grünen Erscheinung kontrastierte. Lethons feindlich gesonnene Augen waren vor Wut weit aufgerissen, und es wurde überdeutlich, dass dieser korrumpierte Riese sehr gut sehen konnte. Anders als Eranikus oder die anderen Drachen der grünen Sippe, die die Welt in einem halb wachen und halb schlafenden Zustand betrachteten.

Ich werde euch auf euren Platz, in der Nahrungskette verweisen...“, zischte die Bestie, während die Gleve zu Tyrande zurückkehrte.

„Weg vom Portal!“, befahl Broll. „Zieht Euch von dort zurück!“

Die beiden liefen los, versuchten, nach Eschental zurückzukehren. Doch die Energien des Portals breiteten sich aus und folgten ihnen. So sehr sie sich auch bemühten, sie konnten die Ebene der Sterblichen doch nicht erreichen.

Dann griff eine mächtige Gestalt nach ihnen. Knorre, halb eingetaucht in die Energien des Portals, packte Tyrande mit einer seiner großen Hände und Broll mit der anderen, als der düstere Drache vorwärtsdrang.

Du kannst nicht entkommen... der Albtraum ist um dich herum und überall in dir!“

Bei diesen Worten bildeten sich schattenhafte Kreaturen aus der Luft, die die Nachtelfen umgab. Tyrande keuchte erschreckt. Obwohl sie nur schemenhaft zu sehen waren, wirkten sie alle wie Satyre. Ihre muskulösen Beine waren denen der Ziegen ähnlich und endeten in Hufen. Ihre Köpfe entsprachen eher den Nachtelfen. Ihre wilden Klauen waren gut erkennbar. Dass es sich um Schattenwesen handelte, fügte dem Schrecken eine neue Dimension für all jene hinzu, die schon gegen echte Satyre gekämpft hatten.

Schnell wurden es mehr und ihre große Zahl drohte, die beiden zu überwältigen. Knorre zog die Nachtelfen mit sich, dann wandte er sich den Satyren zu. Begierig sprangen sie auf das Urtum. Dabei kratzten und zerrten sie und bissen mit schwarzen Fängen und Klauen. Sie rissen die harte Borkenhaut herunter. Ein tiefbrauner Saft troff aus den Wunden, die überall auf dem Urtum prangten. Doch Knorre ignorierte die Verletzungen.

Das Urtum packte einen Satyr und drückte fest zu. Die Bestie zerbarst in tausend Teile. Knorre pflückte einen weiteren aus der Luft und wiederholte seine Aktion.

Doch die Teile des ersten Monsters sammelten sich bereits wieder. Aus dem einen vernichteten Satyr wurden ein halbes Dutzend neue geboren. Dasselbe geschah mit den Teilen des zweiten.

Doch das Urtum hatte seinen beiden Begleitern Zeit erkauft, um ihren eigenen Gegenangriff zu planen. Die Hohepriesterin warf die Gleve. Die Waffe wurde zum wirbelnden Tod, der sich einen Schatten nach dem anderen vornahm. Das Mondlicht, das die Klingen umgab, brannte die zerschnittenen Gestalten förmlich hinweg.

Broll verwandelte sich, doch dieses Mal nahm sein Körper eine eher bärenhafte Gestalt an. Der große, dunkle Bär stürzte sich auf die Satyre. Mit den Klauen riss und zerrte er an den Gestalten mit Klauen, die vor purpurrotem Feuer leuchteten. Die Satyre fielen in Scharen, als Broll seinen animalischen Instinkten freie Bahn ließ.

Das garstige Lachen des Drachen übertönte alle anderen Geräusche. Er rauschte auf Broll zu. „Deine kleinen Flammen können mich nicht verletzen!“

Der Riese öffnete sein Maul weit und atmete aus. Eine große Wolke tiefster Finsternis schoss daraus hervor.

Sie hüllte den Druiden ein. Broll konnte nichts sehen oder spüren. Knurrend schlug er zu und biss, fand aber nichts Festes.

Vater! Vater!

Der schwere Bär knurrte vor Misstrauen und Furcht. Broll erkannte die Stimme seiner Tochter.

Nein, Vater, nein!

Er wusste, dass dies nicht echt war, dass es ein Albtraum sein musste, den der Drache beschworen hatte... doch der Ruf hörte sich so echt an.

Nur für einen Augenblick erblickte Broll die weibliche Nachtelfe. Das stärkte seine Sehnsucht nach Anessa. Der Druide kehrte in seine natürliche Gestalt zurück...

Die Schatten drangen weiter vor... doch aus ihnen heraus entstand eine Gestalt, die er nur ganz kurz gesehen hatte. Sie packte ihn fest und zog ihn mit sich.

„Broll! Wacht auf!“

Er blinzelte, er war sich nicht sicher, wann er die Augen geschlossen hatte. „A-Anessa?“

„Nein! Tyrande!“

„Tyrande...“ Die Sinne des Druiden kehrten zurück. Er stand neben der Hohepriesterin, die ihre Hand um seine Hüfte gelegt hatte, während sie mit der anderen Hand die große, leuchtende Gleve führte.

Elunes Licht umgab die Waffe immer noch, gab ihr Kraft gegen die schattenhaften Satyre.

„Er kommt zurück!“, warnte sie ihn.

Broll musste nicht fragen wer, weil der monströse Drache bereits über ihnen aufragte. Von Knorre war nichts zu sehen, und der Druide fragte sich, was wohl mit Eranikus geschehen war. Hatte er sie nur hierher geführt, damit der andere Drache ihnen auflauern konnte? Nein... das ergab keinen Sinn! Wenn er das gewollt hätte, dann wäre er auch hier, um sich ihres Todes zu versichern!

Doch das Einzige, was im Moment zählte, war das Überleben. Der Drache schoss herunter. Sein Maul war weit geöffnet, und Broll fürchtete ein weiteres Ausstoßen des dunklen Albtraums.

Dann, mit einem gutturalen Brüllen, erschien Knorre wieder. Stücke seiner Borkenhaut hingen von dem Körper des Urtums herab, und der Saft tropfte überall herunter. Doch Knorre zeigte keine Schwäche, als er das reptilienartige Ungeheuer packte.

„Du wirst sie nicht kriegen, Lethon!“ knirschte er.

Ihr alle werdet uns gehören...“, spottete der korrumpierte Drache. „Ihr könnt euch nicht verstecken vor dem, was in euch allen steckt...“

Lethon... Broll kannte den Namen. „Er wurde getötet!“, berichtete der Druide Tyrande, während sie darum kämpften, den Energien des verdrehten Portals zu entkommen. „Lethon sollte eigentlich tot sein!“

„Wie existiert er dann hier?“

Der Druide verstand es schließlich. Es erklärte, warum die Energien aus dem Portal zu ihnen hinausreichten. „Nur seine Traumgestalt lebt noch! Er ist ein grüner Drache, einer von denen, die an das andere Reich gebunden waren! Was auch immer ihn korrumpiert hat, muss in der Lage gewesen sein, diesen Teil am ‚Leben‘ zu halten. Doch das klappt nur, solange er von der Ebene der Sterblichen fernbleibt...“

„Was geschieht, wenn nicht?“

„Das sollten wir versuchen herauszufinden“, murmelte Broll. „Eranikus sei verflucht! Wenn er davon wusste... wenn er uns deshalb allein dem Albtraum gegenübertreten ließ...“

Es war keine Zeit für weitere Worte, weil die dunklen grünen Gestalten sich um sie herum wieder zusammenzogen. Und schlimmer noch, schien Knorre gerade Lethon zu unterliegen. Obwohl der Wächter selbst riesig war, und die Kraft und Zähigkeit des großen Baumes verkörperte, dem er ähnelte, war Lethon ebenfalls sehr stark. Der Drache rang das verwundete Urtum nieder, dann erhob er seine Pfote, die in riesigen Klauen endete.

Die Nachtelfen wussten nicht, wie sie ihm helfen konnten. Sie wurden nicht nur von dem Urtum weggetrieben, sondern auch noch von den feindlichen Schemen voneinander getrennt.

„Hinfort von mir!“, brüllte Tyrande, die sich freizukämpfen versuchte. Mit der wirbelnden Gleve und dem Licht von Elune mähte sie durch die teuflischen Reihen. Die Satyre schmolzen förmlich hin wie Tau in der Morgensonne.

Broll nahm wieder Bärengestalt an. Dabei nutzte er das magische violette Feuer, um die mächtigen Schläge zu verstärken. Doch die Albträume schienen ohne Ende zu sein.

Mittlerweile hatte Lethon seine Aufmerksamkeit ganz auf Knorre gerichtet. Das Urtum hatte es geschafft, sich auf die Knie zu erheben, konnte seinen riesigen Gegner aber immer noch nicht abwerfen.

Jetzt habe ich dich!“, brüllte Lethon wild grinsend, wodurch man seine zahlreichen Zähne sehen konnte.

„Ich habe lange gelebt... Ich fürchte den Tod nicht...“

Der korrumpierte Drache lachte noch rauer. „Tot haben wir nichts von dir...“

Mit seiner mächtigen Klaue schubste er Knorre tiefer in den Nebel hinein.

Das Urtum konnte sich am äußersten Rand abfangen. Erstaunt erhob er sich, um wieder in den Kampf zu ziehen.

Aus dem Nebel erschien eine dunkle Hand. Sie war klein, doch sie zerrte an Knorres Bein mit einer derartigen Heftigkeit, dass das Urtum hinuntersah. Plötzlich zog eine zweite, identische Hand an seinem Arm.

Andere Hände schossen aus dem Nebel. Sie ballten sich zusammen, als wenn sie alle Teile desselben Körpers gewesen wären. Knorre knurrte und versuchte sich loszureißen. Doch zu viele Hände hielten ihn mittlerweile fest.

Broll brüllte Tyrande eine Warnung zu. Die beiden Nachtelfen versuchten, sich den Weg zu ihrem Retter freizukämpfen.

Trotz seines titanischen Kampfes konnte das Urtum sich nicht selbst befreien. Immer mehr Hände zerrten an ihm. Sie packten ihn, hielten ihn fest umschlungen wie ein Verhungernder ein Stück Brot. Langsam begannen sie, Knorre in den Nebel zu ziehen.

Lethon geriet zwischen den Riesen und die Nachtelfen. Er wirbelte zu Broll herum, das Lachen des Drachen jagte dem großen Bären einen Schauder über das Rückgrat. Broll brüllte, während er gleichzeitig versuchte, einen Weg um ihn herum zu finden. Weiter hinten kämpfte Tyrande weiterhin gegen die Schatten, die sich zu einem neuen Angriff formiert hatten.

Du verschwendest deinen Atem... niemand kann mir entkommen... niemand kann fliehen... du wirst zu uns gehören...“

Knorre war bereits halb im Nebel verschwunden. Immer noch packten mehr und mehr Hände seine Arme, zerrten an seinen Beinen und seinem Torso. Andere zogen den Kopf des Wächters zurück und versuchten, seine Stimme zu ersticken.

Doch Knorre konnte noch etwas rufen. „Flieht zum Portal! Flieht zum...“

Die Hände – geformt wie die von Nachtelfen, Menschen, Orcs, Tauren und anderen Kreaturen von Azeroth – bedeckten nun alle das Urtum. Es waren so viele, dass Knorre sich kaum noch bewegen konnte. Ein Fuß wurde in den Nebel gezogen. Eine Schulter folgte ihm, dann der ganze Arm. Knorres Kopf verschwand plötzlich in dem undurchdringlichen Nebel.

Das Urtum schauderte. Es schien die Blätter hängen zu lassen.

Die Hände zogen den Rest von ihm in den Nebel hinein.

Tyrande hatte einen Weg um Lethon herum gesucht. Doch erst als Knorre verschwunden war, kam sie plötzlich durch. Sie war so verzweifelt bemüht, zu ihrem Verbündeten zu gelangen, dass die Hohepriesterin bereits ein paar Schritte vorwärts machte, bevor sie erkannte, dass es nicht nur zu spät für Knorre war, sondern Lethon dieses Manöver nur zugelassen hatte, damit sie sein nächstes Opfer wurde.

Die ersten Hände griffen bereits nach ihr, so gierig wie immer.

Plötzlich war die Hohepriesterin gezwungen sich zu wehren, damit sie nicht auch Knorres Schicksal erlitt. Deshalb wandte sie sich von Lethon ab und setzte Elunes Licht und die Gleve gegen die Hände ein.

Ein titanisches Brüllen erschütterte die drei Kämpfer. Eine glitzernde Gestalt erschien unter ihnen. Eranikus.

Die geschlossenen smaragdgrünen Augen des Drachen richteten sich auf Lethon.

Der korrumpierte Drache brüllte plötzlich. Er wand sich und schrie: „Die Bäume... sie dringen auf mich ein!“

Als er das sagte, beobachteten Broll und die anderen, dass sich weiche, nebelige Bäume tatsächlich um den korrumpierten Drachen zusammenzogen. Auf den Druiden wirkten sie harmlos, heilend... doch für Lethon schienen sie das reinste Gift zu sein.

Doch dann schüttelte Lethon den Kopf. Die Nebelbäume verschwanden.

„Ich gebe dir eine Chance!“, brüllte Eranikus seinem Gegenstück entgegen. „Entsage der Korrumpierung, Lethon! Es kann gelingen!“

Lethons Blick auf Eranikus war mörderisch. „Solch armselige Traumattacken können mir nichts anhaben! Du träumst zu viel, mein lieber Eranikus... du träumst zu viel und verstehst zu wenig von dem, was ich durch die wachsende Macht des Albtraums geworden bin... “ Die versengten Wunden heilten. Lethon beugte sich vor, und obwohl er nicht so groß wie Eranikus war, wirkte er dennoch furchterregend. „Doch du wirst es verstehen, wenn du erst wieder einer von uns bist...“

Lethons Augen weiteten sich... dabei veränderten sie sich. Was die Gruppe zuvor gesehen hatte, waren nur Illusionen gewesen. Jetzt erkannten sie die schreckliche Realität.

Die Augen waren tiefe Klüfte der Finsternis, die jeden, auf den sie gerichtet waren, zu verschlingen schienen. In ihnen loderte derselbe Hunger, derselbe Schrecken, der die Hände angetrieben hatte. Doch in dem Drachen wurde es zu einem anderen Übel, einem persönlicheren.

Ich bestehe nur noch aus Korrumpierung, Eranikus! Es hat mich verzehrt, und ich koste das aus...“

„Dann... gibt es keinen Grund für dich, weiterhin...“

Yseras Gemahl blickte Lethon an.

Broll bemerkte, dass der korrumpierte Drache nicht zusammenzuckte oder kämpfte. Stattdessen wartete Lethon... mit Vorfreude.

„Eranikus!“, rief der Druide. „Da ist noch einer!“

Lethon drehte den Kopf, und die hohlen Augen schienen Brolls tiefste Seele zu verschlingen. Der Druide keuchte, doch er bekämpfte die Übelkeit.

Der Nebel um Eranikus verwandelte sich zu einer schrecklichen Gestalt, die der personifizierte Albtraum war. Es war ein Wesen, das von Eranikus’ eigenem Volk abstammte, zumindest beinahe. Die Würde, die einen grünen Drachen ausmachte, war durch etwas ersetzt worden, das derart verwest war, dass sein Fleisch verfaulte. Sie war weiblich, doch nur schwer als Frau erkennbar. Fleischfetzen hingen auf der violetten Haut der Flügel, und ein Gestank nach Verwesung strömte über die Nachtelfen hinweg.

Tyrande erschauderte. Sie durchlebte erneut den Ersten Krieg gegen die Brennende Legion, als das Land nur so von unschuldigen Toten bedeckt gewesen war. Broll stieß einen Schmerzensschrei aus, als er Anessa abermals sterben sah, wie so viele andere in der Schlacht gegen die Dämonen am Berg Hyjal.

Diese neue Schreckgestalt hatte düstere schwarze Augen mit leichenblassen Pupillen. Sie packte Eranikus und schlug ihre skelettartigen Klauen in seine Vorderbeine.

„Hast du die liebe Smariss vergessen?“, fragte der makabere Drache mit einer Grabesstimme. „Wir verzehren uns danach, dich wieder bei uns zu haben, Eranikus...“

„Nein! Ich werde nicht zulassen, dass der Albtraum mich noch einmal nimmt!“ Er richtete seinen Blick auf sie.

Sie spuckte. Eine grüne faulige Substanz bedeckte Eranikus’ Auge.

Er brüllte und versuchte, den modrigen Stoff wegzuwischen, doch er blieb hartnäckig kleben. Und Lethon ging nun auch zum Angriff über.

„Wir haben dich so sehr vermisst...“, gurrte Smariss. „Lehne uns nicht ab... akzeptiere das Unausweichliche...“

„Nein! Niemals! Ich kann es nicht! Ich werde es nicht!“ Doch trotz der Proteste konnte Eranikus die beiden nicht davon abhalten, ihn auf den Nebel zuzuziehen. Dort erschienen die Hände und griffen aus Vorfreude auf den kämpfenden Riesen in die Luft.

Weder Broll noch Tyrande konnte irgendetwas tun, sie waren kaum in der Lage zu verhindern, dass sie selbst überwältigt wurden. Nur weil Eranikus derzeit im Fokus des korrumpierten Drachen stand, hatten die Nachtelfen noch eine Gnadenfrist.

Purpurnes Feuer, das hinter Yseras Gemahl aufstieg, umschloss Smariss und Lethon. Erschreckt und wütend ließen sie los und flüchteten in den Nebel. Eranikus zog sich augenblicklich zurück, in seiner Furcht vergaß er seine beiden Begleiter völlig.

Doch sie erhielten weitere Hilfe. Zwei große Hände aus sanfter roter Energie schoben den dunklen Pulk hinfort, dann hoben sie den Druiden und die Hohepriesterin an, als wären sie Spielzeuge. Die Hände zogen sich zurück und holten sie aus dem Portal heraus.

Die dunklen smaragdgrünen Kräfte wirkten augenblicklich wieder normal.

Eranikus war vornübergefallen, Yseras Gemahl keuchte. Sein Blick wurde zu der Stelle gelenkt, wo die Nachtelfen und ihr Retter standen.

Ihr Retter war... noch ein anderer Drache.

Ein roter Drache.

Ein sehr großer roter Drache, einer, gegen den selbst Eranikus klein wirkte.

Zwei massige Hörner stiegen von dem stolzen Reptilienkopf auf. Der größte Teil vom Körper des Riesen war von überwältigendem Purpur. Doch auf der Brust prangte ein großer silberner Fleck von derselben Farbe wie die Klauen.

Aber was den Drachen von allen anderen unterschied, waren – neben seiner immensen Größe – die Augen. Es waren keine glitzernden Kugeln wie bei Eranikus’ Sippe üblich, sondern eher schwelende goldene Lichter, die, trotz der Erlebnisse der Nachtelfen, Ruhe und Hoffnung vermittelten.

Als der Drache sprach, klang seine Stimme eher befehlend denn beruhigend. „Sie sind geflohen. Mit mir hatten sie nicht gerechnet. Traurig zu sagen, dass ich sie auch nicht erwartet hatte. Denn sonst hätte ich euch von Anfang an geholfen.“

„Ihr... seid ein Aspekt...“, erklärte Tyrande feierlich. „Ihr seid...“

Der riesige Drache verneigte den Kopf. „Ich bin... Alexstrasza. Und ich kenne dich, Tyrande Wisperwind. Zum einen aus dem Krieg der Ahnen, und von der Segnung Nordrassils, die kurz danach stattfand.“

„Alexstrasza...“ Die Hohepriesterin war gerührt beim Gedanken an einen anderen Namen, der im Zusammenhang mit dem Aspekt stand. Es war ein zweiter Verbündeter. „Ist Krasus auch hier? Lebt er noch? Er könnte ein paar Antworten für uns haben...“

Der Drache schüttelte den Kopf. Ihr Blick war besorgt. „Es gibt viele Schläfer, Tyrande Wisperwind... und er gehört dazu.“

Die Elfe runzelte die Stirn. „Das tut mir für Euch leid.“

Der Aspekt neigte den Kopf, erschreckt. „Es tut dir für mich leid?“ Alexstrasza blickte zu Broll, der seine Neugierde so gut versteckte, wie es ging. Wie die meisten Druiden kannte er die beiden Magier, Krasus und Rhonin, denen nachgesagt wurde, eine wichtige Rolle in Malfurions Geschichte vor zehntausend Jahren gespielt zu haben. Was das genau war, hatte ihm sein Shan’do nie verraten. „Und gilt das auch für ihn?“

„Er weiß es nicht. Ich habe es von Malfurion erfahren.“

„Das ist in Ordnung, wenn man deinen Anteil an dieser Geschichte berücksichtigt, Tyrande Wisperwind.“ An Broll gewandt sagte Alexstrasza: „Und es ist genauso in Ordnung, dass du es ebenfalls weißt. Mein Gemahl Korialstrasz und der Magier Krasus sind ein und dieselbe Person.“

„Ein und dieselbe Person?“ Das erklärte so vieles. Doch Broll war klar, dass er allein niemals zu diesem Schluss gekommen wäre.

Der große Drache erhob sich auf die Hinterbeine und faltete die Flügel ein. Dabei begann sie zu schrumpfen. Ihre Flügel wurden kleiner, verwandelten sich schnell in Wülste, dann verschwanden sie. Alexstraszas Vorderbeine wurden zu Armen, ihre Beine drehten sich nach außen und erinnerten nun mehr an die eines Nachtelfen.

Jetzt war sie knapp doppelt so groß wie Broll und hatte nur noch einen Bruchteil ihres früheren Körperumfangs. Der Aspekt fuhr mit der bemerkenswerten Umwandlung fort. Ihr Maul wurde zu einem Gesicht, Nase und Mund bildeten sich. Die Hörner schwanden, und ihr üppiges Haar wuchs. Einen Augenblick später war die Verwandlung beinahe komplett, und die Gestalt, die teilweise elfischer Abstammung war, stand vor dem Druiden und seiner Begleiterin.

Üppige Locken von feurigem Haar, mit züngelnden Flammen, die stets der wilden Mähne entkommen wollten, fielen auf ihre schlanken Schultern hinab. Alexstrasza war wie eine weibliche Kämpferin gekleidet, mit langen, gepanzerten Stiefeln, die bis zu den Oberschenkeln reichten und einem Brustpanzer, der die Formen ihres weiblichen Körpers betonte. Ihre Hände wurden von aufwendigen Handschuhen geschützt, die fast bis zur Armbeuge reichten, und ein purpurner Mantel, der an ihre Flügel erinnerte, wehte hinter ihr her. Was einst die Hörner gewesen waren, war nun, zu Brolls Erstaunen, entweder zu einem komplizierten Kopfschmuck geworden... oder zu deutlich kleineren Hörnern.

Ihre Kleidung war von Purpur, Violett und einem Hauch von Schwarzblau – alle eingerahmt von einem goldenen Rand – und ihre Haut schimmerte in einem sanften bräunlichen Rot. Ihr Gesicht war runder als das von Tyrande oder jedes anderen Nachtelfen, fast, als steckte etwas Menschliches darin. Die Nase war kleiner und ihr Mund perfekt geformt. Das Haar rahmte ihr Gesicht auf beiden Seiten ein.

Nur die Augen des Aspekts hatten sich nicht verändert, abgesehen davon, dass sie sich der Größe angepasst hatten. Broll und Tyrande gingen beide auf die Knie und neigten huldigend ihre Häupter. Obwohl sie einem anderen Herrn dienten, ehrten doch alle die Lebensbinderin.

„Erhebt euch“, befahl sie. „Ich suche keine Untergebenen, sondern Verbündete...“

Tyrande erhob sich und sagte ernst: „Wenn Elune es zulässt, erbiete ich Euch die Kraft meiner Gleve und meiner Gebete. Ich habe mit Euch zusammen vor zehntausend Jahren gegen die Dämonen gekämpft, und wenn unsere Probleme heute dieselben sind, dann werde ich wieder zu Euch stehen!“

„Das sind sie.“ Die herrliche Gestalt blickte zu Broll. „Und du, Druide? Was sagst du?“

„Wir schulden Euch bereits unsere Leben, Herrin, und auch Eurer Schwester Ysera. Ihr seid hier, um uns zu helfen, und deshalb gibt es keine Diskussion: Ich biete Euch meine Hand...“

Sie nickte dankbar. „Mein Korialstrasz, mein geschätzter Gefährte, liegt in diesem Schlaf, aus dem er nicht erwachen kann, obwohl ich spüre, wie er es versucht. Er ist nicht der Einzige, wie ihr, meine Kinder, sicher bereits vermutet habt. Doch es betrifft nicht nur uns Drachen – wobei es allerdings weniger sind, weil wir nicht so viel schlafen wie die anderen Völker-, dieser schreckliche Schlaf bedroht auch jedes andere Volk. Zudem scheint dieser unnatürliche Schlaf vor allem die Wichtigen und Mächtigen zu betreffen... Magier, Könige, Generäle, Philosophen...“

„Shandris!“, keuchte Tyrande.

„Wenn sie eine der Euren ist, mein Kind, dann hat sie eine bessere Chance. Die Nachtelfen leiden nicht so sehr wie andere Völker. Ich finde das faszinierend. Ich glaube, dass wir noch einen weiteren Verbündeten haben, obwohl ich gespannt bin, ob meine Vermutung stimmt...“

Bevor sie mehr sagen konnte, erklang von der Seite her ein Stöhnen. Broll blickte zu Eranikus, der immer noch dort lag, wo er hingestürzt war, als er seinem korrumpierten Artgenossen entkommen war. „Einen besseren Verbündeten als dieser traurige Anblick, hoffe ich mal! Er rannte um sein Leben, nachdem er uns hierher geführt hat. Er sollte es besser wissen...“

Der grüne Drache hob den Kopf. Seine reptilienartigen Gesichtszüge waren zu einem erbärmlichen Anblick verzerrt.

„Du verstehst es auch jetzt noch nicht, kleiner Druide! Nicht einmal nach diesem schwachen Vorgeschmack auf den Albtraum, den du erlebt hast! Hast du sie nicht gesehen? Hast du nicht verstanden, was Lethon und Smariss geworden sind? Wolltest du nicht auch fliehen?“

„Nicht ohne meine Freunde.“

Mit einem weiteren Stöhnen wandte sich der Drache ab. „Du verstehst es nicht...“

Alexstrasza wandte sich an das riesige Tier. Obwohl ihr Gesichtsausdruck keinen Zorn enthielt, war ihr Tonfall alles andere als nachsichtig. „Das tue ich auch nicht, Eranikus... und das allein sagt schon viel über deine Handlungen aus.“ Als der grüne Drache protestieren wollte, schnitt der Aspekt ihm das Wort ab. „Und, ja, ich weiß, wie es ist, ein Sklave des dunklen Willens von jemand anderem zu sein. Ein Sklave, verantwortlich für abscheuliche Taten.“

Eranikus beobachtete sie. Dann nickte er schließlich. „Das stimmt.“

„Und ich weiß auch mehr über das, was hier geschieht, als du.“ Sie trat direkt vor sein riesiges Maul, und obwohl sie in ihrer gegenwärtigen Gestalt sehr viel kleiner als er war, wirkte sie doch wie die Größere. „Ich weiß, dass Ysera von deiner Erlösung und deinem Überleben wusste... sie wusste auch von deiner Entscheidung, nicht an ihre Seite zurückzukehren aus Angst, dass du sie eines Tages erneut betrügen könntest, egal, ob willentlich oder nicht.“

Sein mächtiger Blick konnte ihrem nicht standhalten. Broll, der dabei zusah, hatte sich zuerst gefragt, warum er nicht seine Augenlider schloss, so wie es bei seinem Volk üblich war. Erst jetzt wurde dem Druiden klar, dass es für Eranikus bedeutet hätte, sich dem Albtraum zu öffnen. Und das war das Letzte, was er wollte.

„Sie... wusste es?“, fragte der Riese schließlich Alexstrasza. „Wusste sie auch, dass mich der Albtraum rief, als ich zu ihr unterwegs war? Ich spürte ihn, trotz meiner Befreiung, mit einer solchen Stärke, dass mir klar wurde, wie trügerisch meine neue Hoffnung war.“

„Sie wusste es augenblicklich und liebte dich doch so sehr, dass sie deine Wahl akzeptierte in der Hoffnung, du würdest vielleicht doch noch zu ihr zurückkehren.“

„Und nun... und nun ist es zu spät... sie wurde auch verschlungen...“

Die erstaunlichen Augen des Aspekts verengten sich. „Nein... noch nicht.“

Eranikus blickte sie mit verzweifelter Hoffnung an. „Ist sie in Sicherheit?“

„Wohl kaum.“ Alexstrasza streckte eine Hand aus, um die beiden Nachtelfen mit einzuschließen. „Ich weiß mehr über den Albtraum, als jeder von euch dreien bislang erfahren hat. Er ist eine Gefahr, die Ysera eine Zeit lang bekämpft hat...“

Ysera hatte gemerkt, wie die Träume düsterer wurden, trotz ihrer absoluten Kontrolle darüber. Zuerst schob sie es nur auf ihre eigenen Bedenken, doch dann entdeckte sie die Wahrheit – allerdings zu spät. Die Albträume, die sie erlebt hatte, berührten Azeroth, nahmen Leben und reichten in die Köpfe der Sterblichen hinein.

Und dann beging sie einen schrecklichen Fehler. Die Herrin des Smaragdgrünen Traums blickte in die schlafenden Köpfe, suchte die Quelle dessen, was selbst ihr eigenes Unterbewusstsein infiltriert hatte. Sie tat es und war sich nicht bewusst, dass diese Gefahr genau das von ihr wollte.

„Lethon kam über sie, als sie sich gerade auf die Suche konzentrierte“, berichtete Alexstrasza. „Er wurde von Schatten begleitet, den Satyren, gegen die ihr eben erst gekämpft habt. Sie fielen über sie in ihrer Traumgestalt her, und Lethon nahm ihr, was er am meisten begehrte... das Auge.“

Eranikus sprang auf. Sein Blick war Broll und Tyrande unerträglich. „Das Auge von Ysera wurde erobert? Das hatte ich befürchtet! Woher weißt du dann, dass meine geliebte Königin nicht ihre Gefangene ist?“

„Das Auge ist der Ort, an dem Ysera und ihre Sippe im Traum existieren“, informierte Broll leise Tyrande. „Man sagt, es wäre der idyllischste Ort dort. Malfurion hat ihn bereits gesehen, und ich weiß, dass Fandral auch schon dort war, so wie auch einige andere Druiden. Aber es waren nur sehr wenige. Man erzählte mir, es wäre ein Tal, das von großen Hügeln umgeben läge. Das Land sei saftig und erfüllt mit Gras und Blumen. Doch der Name kommt von der herrlichen Kuppel in der Mitte, wo Ysera selbst lebt... lebte...“

Der grüne Drache schnaubte. „Eine schwache, doch akzeptable Beschreibung, kleiner Druide! Es gibt keinen perfekteren Ort in der ganzen Schöpfung!“ Plötzlich stöhnte er. „Das Auge wurde erobert! Wo ist meine Königin dann, wenn sie nicht gefangen genommen wurde?!?“

Alexstrasza ließ Eranikus ihre Geringschätzung spüren. „Sie kämpft immerhin! Sie, ihre restlichen Ehegatten und eine Handvoll anderer Drachen kämpfen nicht nur, um sich selbst zu retten, sondern um die Wahrheit über den Kern des Albtraums herauszufinden! Sie will, dass weder ihr Reich noch Azeroth diesem monströsen Ding zum Opfer fallen!“

„Ysera ist verrückt! Wenn sie ihm in die Hände fällt, ist alles vorbei! Der Albtraum ist so mächtig, dass ich angenommen habe, er hätte sie bereits gefangen genommen. Doch wenn sie die Wahrheit sucht und seine Macht, wird es aus ihr etwas Schlimmeres machen als selbst Lethon oder Smariss. Dann werden durch Ysera beide Welten in einen Ort des Schreckens verwandelt, der viel schlimmer ist als alles, was wir bislang erlebt haben!“

„Sie tut, was sie tun muss“, antwortete Alexstrasza ruhig. „Und ich werde ihr dabei helfen, wenn ich kann. Ich leihe ihr meine Stärke aus der Ferne, wache über die Versuche des Albtraums, in dieser Welt Fuß zu fassen, suche Verbündete, die uns helfen können... und kümmere mich um die Korrumpierten, die nicht mehr aufwachen können.“

Der Drache blickte zu Boden. Voller Selbstabscheu antwortete er: „Du unterstützt sie, während sie ihr Leben riskiert und ich... ich sitze in einer Höhle und verstecke mich vor dem Weltuntergang! Verstecke mich davor, meine Geliebte und Königin zu verteidigen! Ich kenne Korialstrasz schon fast ebenso lange wie dich, Lebensbinderin! Ich bin deiner Gegenwart nicht würdig oder der von Ysera...“ Alexstrasza wollte etwas sagen, aber Eranikus schüttelte den Kopf: „Doch ich kann mich ihrer doch noch würdig erweisen. Es gibt einen Weg für mich!“

Der große grüne Drache wandte sich zum Portal um. Die Energien darin pulsierten sanft und unschuldig.

Eranikus ging darauf zu. „Ich kann den Albtraum nicht mehr spüren. Die verdammte Korrumpierung ist fort. Momentan könnt ihr ohne Gefahr eintreten... doch was euch dahinter erwartet, weiß ich nicht...“ Er schaute zu den Nachtelfen. „Eure Aufgabe endet hier.“

„Wir gehen mit Euch“, entgegnete Tyrande. „Ich glaube, es war kein Zufall, dass wir uns getroffen haben. Irgendjemand wollte all die Wesen zusammenbringen, die Azeroth am besten dienen können. Nichts geschieht ohne Grund...“

„Natürlich tut das jemand!“, antwortete Yseras Gemahl, dabei zeichnete sich eine verzweifelte Hoffnung auf seinem Gesicht ab. „Es kann nur meine Königin sein! Obwohl sie gerade angegriffen wird, plant sie unsere Errettung! Ich hätte es erkennen müssen...“

„Nein, das ist nicht Ysera. Nicht meine Schwester“, sagte Alexstrasza. Sie blickte Tyrande und Broll an. „Ich glaube, dass uns jemand anderer leitet... wahrscheinlich ist es Malfurion Sturmgrimm höchstpersönlich.“


Es kommt alles zusammen, wagte Malfurion zu hoffen. Der Erzdruide tat, was er konnte, um diese Gedanken von seinem Entführer zu verbergen. Sie könnten es vermuten... doch das ist gut, so lange er nicht...

Die schrecklichen Schatten erstreckten sich plötzlich über den Baum des Schmerzes, in den der Nachtelf sich mittlerweile verwandelt hatte. Die heimtückische Präsenz des Albtraumlords umgab Malfurion und erfüllte seinen Geist und seine Seele.

Liebst du den Schmerz doch noch? Ist er so sehr ein Teil von dir geworden, dass du ihn nicht mehr von dir trennen kannst?

Malfurion antwortete nicht. Es gab keinen Grund zu antworten. Es hätte nur seinem Entführer genützt.

Hältst du Rat mit deinen eigenen Gedanken, Malfurion Sturmgrimm? Die skelettartigen Ranken des Schattenbaums wickelten den gefangenen Erzdruiden ein. Sollen wir diese Gedanken diskutieren... diese Träume... diese Hoffnungen?

Obwohl er sich bemühte, wurde der Nachtelf von diesen Worten erschüttert. Wusste dieses schreckliche Wesen Bescheid?

Lass uns ein paar deiner Betrachtungen teilen... lass uns ein paar deiner Ambitionen teilen...

Der Erzdruide vergrub seine Gedanken so tief wie möglich. Sein Plan war der Erfüllung nahe. Er hatte eine Chance...

Der Albtraumlord lachte in seinem Kopf. Und was das Wichtigste ist, Malfurion Sturmgrimm, lass uns über deinen närrischen Rettungsplan reden...

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