26 Der Albtraum im Albtraum

König Varian stand bei der Armee und beobachtete, wie der Albtraum sich ausbreitete. In den düsteren Nebeln bewegten sich schemenhafte Gestalten und weniger gut erkennbare Kreaturen.

Die versammelte Armee wartete nicht nur auf sein Signal, sondern auch auf das von Broll. Varian war nicht so vermessen, zu glauben, er hätte das alleinige Kommando. Wie jeder andere hatte auch er erwartet, dass Malfurion Sturmgrimm derjenige sein würde, durch den die Druiden und ihre Verbündeten die Armee koordinierten.

Doch als Broll kurz seinen Geist berührt hatte und ihm mitteilte, dass er nun mit Varian zusammenarbeiten würde, hatte der Herr von Sturmwind nichts dagegen gehabt. Die beiden hatten ein wildes Leben als Gladiatoren geführt und kannten sich gut. Deshalb schlüpften sie mit Leichtigkeit in ihre alte Rolle als Kampfgefährten, als Broll schließlich verkündete, dass der Augenblick gekommen sei.

Die Traumgestalt-Armee zog aus, um sich der Finsternis zu stellen. Als sich der Albtraum um sie herum zusammenzog, bildeten sich zahllose Schattensatyre mit extrem langen Klauen.

Doch kurz bevor der erste Feind zuschlagen konnte, begannen die versammelten Druiden und Zauberer ihren eigenen Angriff. Die Druiden führten sie an, weil sie sowohl den Traum als auch den Albtraum am besten kannten. Silbernes Feuer erhellte die Landschaft und strich durch die gegnerischen Reihen. Schattensatyre verbrannten in großer Zahl.

In dem Chaos schlugen Varians Anhänger zu. Ihre Traumklingen töteten einen Satyr nach dem anderen. Doch anders als in der Welt der Sterblichen bildeten sich die Kreaturen nicht neu. Stattdessen zerfielen sie wie Bänder aus durchtrennter Seide zu Fetzen, die unter den Füßen, Hufen und Pfoten der Verteidiger zertrampelt wurden.

Die Druiden arbeiteten mit allem, was noch vom Traum übrig geblieben war. Die Samen von Bäumen wurden zu einem Regen wilder Geschosse, die mitten im Albtraum landeten und dann keimten. Binnen Sekunden erwuchsen neue Bäume durch die Magie der von Broll angeführten Druiden.

Ein Satyr schlug nach dem nächsten Stamm. Der Baum schied einen dicken Saft aus. Der Schatten zuckte mit einem Zischen zurück, als der Saft ihn traf und ihn zur Unbeweglichkeit verdammte.

Doch das war nicht alles, da die Tröpfchen sich ausbreiteten und dabei den Satyr verbrannten. Der Schatten versuchte zu fliehen, doch das konnte er nicht. Binnen weniger Sekunden hatte der Saft ihn völlig aufgefressen.

Die Bäume spien den Saft nun überall hin, besonders auf die hoch gelegenen Äste. Ein Regen versengender Tröpfchen, geleitet von den Druiden, ging über einem Großteil des Terrains nieder. Die meisten Schattensatyre brannten lichterloh.

Der Zusammenbruch der ersten Reihe des Albtraums ermutigte die Verteidiger. Obwohl auch sie Verluste erlitten, schien jetzt doch noch Hoffnung zu bestehen. Erbitterte Feinde kämpften freiwillig Seite an Seite und schützten sich gegenseitig. Seit dem Krieg gegen die Brennende Legion hatten nicht mehr so viele verschiedene Streitkräfte zusammengearbeitet. Wenn man die Kreaturen dazu zählte, die Malfurion und die Druiden gerufen hatten, war Azeroth nie zuvor besser repräsentiert worden.

Doch Varian und Broll waren voller Argwohn, weil die Schlacht bislang so problemlos verlaufen war. Sie blieben durch den Nachtelf miteinander verbunden und tauschten ihre Besorgnis aus, dass der Albtraum so leicht eigentlich nicht besiegt werden konnte.

Und nur wenige Augenblicke später bestätigten sich ihre Befürchtungen. Aus dem Nebel drangen Albtraumwesen hervor, wie Broll sie mittlerweile kannte... die scheußlichen, verfluchten Traumgestalten von Tausenden Opfern, die mehrfach vervielfältigt worden waren. Von dem Unterbewusstsein der Schläfer angezogen, erschienen sie in einer makaberen Version der unschuldigen Opfer, wodurch sie auf die Verteidiger noch schrecklicher wirkten.

Wir dürfen uns nicht von ihnen aufhalten lassen!, drängte Broll Varian. Es sind nur Träume!

Ich weiß..., antwortete der König grimmig, der bereits seinen Sohn entdeckt hatte und die Albtraumversion seiner toten Frau. Varian reckte sein Schwert und führte die Armee an. Er schnitt sich durch das erste Abbild seines Sohnes. Auch wenn ihm das Abbild seiner Frau dabei zu erkennen half, dass dies nicht der wahre Anduin war, erschauderte er dennoch, als Shalamayne durch seinen Sohn hindurchschnitt und die Gestalt schließlich verschwand.

Und das, so wussten sie alle, war genau das, was der Albtraum wollte – die Moral der Verteidiger untergraben.

Doch unter der Führung des Königs rückte die Legion der Traumgestalten immer weiter vor. Immer wieder kam es zu längeren Verzögerungen entlang des Weges, aber das war nicht zu ändern. Varian und Broll konnten nur beten, dass es die tapferen Seelen ihrer Männer ertragen würden, immer wieder von ihren wahnsinnig gewordenen Verwandten angegriffen zu werden.

Dann erklang ein verzerrter Schrei unter seinen Leuten. Varian blickte gerade noch rechtzeitig zur Seite, um zu erkennen, wie sich einer seiner eigenen Soldaten aus Sturmwind – in seiner blassgrünen Traumgestalt – an die Kehle griff. Der Kämpfer ließ die Waffe fallen, die ebenfalls nur in Traumform existierte, und starb. Mit einem letzten Keuchen kippte der Mann um.

Seine Traumgestalt verschwand, bevor sie den Boden erreichte. Varian hatte keinen Zweifel, dass der Mann nicht einfach aufgewacht, sondern tatsächlich gestorben war... Aber sicher konnte er sich nicht sein.

Ein zweiter Kämpfer, ein grobschlächtiger Orc, fasste sich an den Bauch. Dann taumelte er ebenso wie der Mensch und starb.

Als der dritte verschwand, versuchte Varian verzweifelt, von Broll eine Erklärung für dieses Phänomen zu bekommen. Zu seiner Überraschung berührte eine andere Stimme, eine andere Kreatur, seine Gedanken.

Ich bin Hamuul, König Varian Wrynn...du musst aufpassen... der Albtraum schlägt nun in Azeroth auf eine Art zu, die gar nicht möglich sein sollte...

Wie meinst du das?, wollte der Herr von Sturmwind wissen. Zwei weitere seiner Krieger fielen. Die anderen wurden sich der mysteriösen, lähmenden Gefahr in ihrer Mitte bewusst.

Die Schlafwandler greifen die Schlafenden an, die zu deiner Armee gehören... und irgendwie lassen sie deine Kämpfer gleichzeitig in ihrer Traumgestalt und im wahren Leben sterben... Das dürfte so gar nicht funktionieren! Die Traumgestalten sollten „am Leben“ bleiben...

Varian erinnerte sich bitter an die albtraumhaften Gestalten, die seine Männer angegriffen hatten, bevor Malfurion Sturmgrimm sie alle rekrutiert hatte. Er hatte schon befürchtet, dass die Albtraumwesen die hilflosen Körper der Verteidiger angreifen könnten, und nun wurde dieser Albtraum wahr.

Was schlägt Broll vor? Wo ist Broll?

Wir müssen weiterkämpfen..., antwortete Hamuul. Wir müssen weiterkämpfen...

Wo ist Broll?, fragte Varian erneut... doch der Tauren antwortete nicht...

Ein weiterer Orckrieger brach zusammen und verschwand. Varian knurrte frustriert und kämpfte weiter. Er hatte keine Wahl. Niemand hatte eine Wahl.

Wo ist Broll?, fragte er sich weiterhin, als er verzweifelt erneut Sohn und Frau erschlug. Und wo ist Malfurion Sturmgrimm?


Sie waren in einer Gegend gelandet, die ganz sicher nicht in der Nähe von Teldrassil oder Darnassus lag. Der korrumpierte Remulos hatte die Macht seines neuen Herrn genutzt, um sich und Malfurion tief in den Traum/Albtraum hineinzubefördern.

Tyrande blickte sich um. Sie war sprachlos. „Mal, wo sind wir? Wo liegt dieses trostlose Land?“

Der Erzdruide antwortete nicht sofort. Stattdessen blickte er zu dem ohnmächtigen Remulos. Als er sich davon überzeugt hatte, dass der Hüter des Waldes immer noch weggetreten war, nahm Malfurion seine wahre Gestalt an und blickte sich um. Der Nebel des Albtraums war hier sehr dicht, doch etwas vage Vertrautes prägte den Ort. Malfurion war wenig überrascht, dass sie sich ausgerechnet hier befanden. Denn es war genau der Ort, an den Remulos ihn gebracht hatte und wo er ihn auch haben wollte... aber wie Tyrande litt auch Malfurion unter der Trostlosigkeit.

„Unglücklicherweise nahe an unserem Ziel“, antwortete der Erzdruide geheimnisvoll. Jetzt war tatsächlich der Moment gekommen, auf den er gewartet hatte. Doch nicht alle Wesen, die er benötigte – ob sie Teil seines Plans sein wollten oder nicht – waren dort, wo sie sein sollten.

Er blickte wieder zu Remulos. Er hatte nicht geplant, dass Cenarius’ Sohn hier sein würde. „Tyrande, könnt Ihr Euch darum kümmern, dass er von irgendetwas geschützt wird? Wir müssen ihn eine Zeit lang hier liegen lassen...“

Malfurion sagte nicht, dass seine letzte Aussage auf der Annahme beruhte, dass sie überleben würden. Wenn nicht, war es aber auch egal, wo Remulos lag.

Die Hohepriesterin neigte den Kopf und betete. Einen Augenblick später leuchtete Elunes Licht und durchdrang den Nebel. Es legte sich wie ein Tuch auf Remulos. Der Waldhüter war nun vollständig davon bedeckt.

„Das wird ihn sicher schützen“, versprach sie feierlich.

In diesem Augenblick berührte eine Stimme seine Gedanken, auf die er ungeduldig gewartet hatte. Ich habe ein paar herumstreunende Narren für dich...

Es sind keine Narren... nicht mehr als Ihr, Eranikus...

Der Tonfall des grünen Drachen deutete auf eine andere Meinung als Malfurions hin. Ich war schon ein Narr, lange bevor du mich im Geheimen kontaktiert hattest, als der Kartograf auf meinem Rücken ritt! Ich war so dumm, deinem Plan zuzustimmen... aber ich konnte nicht ablehnen... und wenn es auch nur die geringste Chance gibt, sie dabei zu retten...

Der Erzdruide musste Eranikus aus seinen Selbstvorwürfen reißen, und zwar schnell. Jeder vertane Moment bedeutete, dass Xavius seinen Plan doch noch erraten konnte. Ihr habt Lucan und Thura bei Euch... bringt sie nun dorthin, wo ich sie brauche...

Einen Augenblick später antwortete Eranikus mit spöttischem Grunzen, Ah, die Ironie! Sie sind ihrem Zielort schon nahe... Der Mensch plappert immer noch etwas über ein „Ding“ in irgendeinem Spalt...

Jetzt nicht mehr!, ermahnte ihn Malfurion. Ich rede mit ihnen...

Der Erzdruide versuchte, die beiden gleichzeitig zu kontaktieren. Beide erschreckten sich, wenngleich bei Thura der Schrecken nur kurz anhielt. Sie war immer noch verbittert, weil er sie benutzt hatte. Obwohl er keine andere Wahl gehabt hatte, übermittelte Malfurion ihr sein Bedauern. Und das betraf nicht nur alles, was er ihr bereits angetan hatte, sondern auch alles, was er ihr noch antun würde. Schnell erklärte er seinen Plan und ließ auch keine der Fakten, ob gut oder schlecht, aus, die in seinem ursprünglichen Plan gar nicht enthalten gewesen waren.

Sie akzeptierten seine Worte aus demselben Grund wie Eranikus... weil alles andere den Sieg des Albtraums bedeutet hätte. Doch Malfurion verspürte auch Mut und war dankbar dafür.

Der grüne Drache blieb für den Erzdruiden jedoch ein unsicherer Kandidat. Dennoch versprach Eranikus, seinen Teil beizutragen... so lange, wie der Nachtelf seinen eigenen erfüllen konnte.

Jetzt musste er sich nur noch um Broll kümmern. Es hatte nur wenige Sekunden gedauert, den Kontakt zwischen Malfurion und den anderen herzustellen. Er kontaktierte Broll, holte ihn mitten aus dem Kampf und machte Hamuul stattdessen zum Mittler zwischen König Varians Streitkräften und Azeroths Druiden.

Ich höre Euch, mein Shan’do..., antwortete Broll.

Ihr seid schon lange nicht mehr mein Schüler, antwortete Malfurion. Einen Schüler könnte ich nie um das bitten, was ich von Euch will.

Ich tue, was immer Ihr verlangt.

Noch jemand, der so sehr an Malfurion glaubte, dass es den Erzdruiden traurig stimmte. Viele waren bereits gestorben, weil sie getan hatten, was getan werden musste, und viele weitere würden folgen.

Er erklärte, was er benötigte und erhielt von Broll augenblickliche Unterstützung. Auf Hamuul konnte man sich verlassen. Er würde die Dinge mit König Varian und den anderen schon koordinieren. Der Tauren würde sicherstellen, dass die Bemühungen der Verteidiger nicht erlahmten.

Sie durften es nicht... obwohl es sehr wahrscheinlich war, dass selbst die vereinten Anstrengungen aller nicht ausreichen würden, um die böse Flut aufzuhalten.

Nachdem – hoffentlich – jeder an Ort und Stelle war, musste Malfurion schließlich Tyrande mitteilen, wo sie waren. „Die Gegend sieht nun anders aus, doch Ihr müsstet Euch eigentlich daran erinnern können.“

Die Hohepriesterin hatte sich während seines kurzen Kontakts mit den anderen umgesehen. Ihr Gesichtsausdruck war dabei immer besorgter geworden.

„Ich kann ein Gefühl nicht abschütteln...“ Tyrande blickte ihm in die Augen, ihre eigenen waren geweitet. „Malfurion, dies ist doch nicht, wo... Aber Suramar wurde doch erobert...“

„Ja“, murmelte er. „Wir sind in Azshara... am Rande dessen, was einst Zin-Azshari gewesen ist.“

Die Hohepriesterin erschauderte, dann festigte sich ihre Entschlossenheit. „Wo gehen wir hin?“

Der Erzdruide wies nach rechts. Dort konnte man einige Hügel im Nebel ausmachen. Der Geruch des Meeres – des Korallenmeeres, wie sie beide wussten – lag in der Luft. In der Ferne konnten sie die Wellen gegen die hohen Klippen schlagen hören, die das dunkle Meer überragten. Dort, wo in ferner Vergangenheit die legendäre Hauptstadt der Nachtelfen und der Brunnen der Ewigkeit gestanden hatten.

Tyrande nickte, dann runzelte sie die Stirn. „Er hätte mit dem Rest vom Meer verschlungen werden müssen, Malfurion...“

Der Blick des Erzdruiden verengte sich gedankenverloren. „Da... so hätte es sein sollen.“

Mit grimmigem Gesicht ging sie auf die Hügel zu. Doch Malfurion packte sie am Arm. „Nein, Tyrande... wir müssen es anders machen.“

Er warf den Speer weg. Aus seinem Gürtel holte er den Rest des kleinen Astes, den er abgebrochen hatte. Malfurion hatte ihn dort verstaut, kurz bevor er Remulos gefolgt war.

Zu ihrer Überraschung setzte er sich.

„Mal! Seid Ihr verrückt geworden?“

„Hört mir zu“, drängte er sie. „Schaut mir genau zu. Ich muss etwas tun, das mich in große Gefahr bringen könnte. Doch es muss getan werden, wenn die anderen ihren Teil dazu beitragen. Seid vorsichtig... er könnte diese Zeit leicht nutzen, um uns anzugreifen.“

Sie beobachtete den Nebel. „Es ist hier sehr still.“

„Und genau dann ist die Gefahr am größten.“ Malfurion nahm eine meditierende Pose ein und schloss die Augen. „Wenn ich alles richtig mache, dauert es nur einem Moment.“

Der Erzdruide atmete aus und konzentrierte sich. Trotz seiner Sorge erreichte er schnell den Zustand, den er anstrebte.

Die Reste des einst herrlichen Smaragdgrünen Traums empfingen ihn. Malfurion rannte vorwärts. Sein Ziel lag direkt voraus.

Ein Schatten bewegte sich. Es war keiner der Satyre, sondern ein großer, schrecklicher Baum mit skelettartigen Ästen.

Ich habe auf deine Rückkehr gewartet...

Er ignorierte den Albtraumlord. Nur ein paar Meter fehlten noch...

Der Boden bebte. Malfurions Traumgestalt wurde zurückgeworfen. Er hielt den Ast fest in der Hand, als er sich mühte, das Gleichgewicht zu wahren.

Die Schattenglieder griffen nach ihm. Gleichzeitig strömten aus dem Boden groteske Gestalten, die dem Erzdruiden allesamt aus dem Ersten Krieg gegen die Brennende Legion bekannt waren.

Komm, schließe dich uns an... Komm, schließe dich uns an..., hallte es in seinem Kopf wider.

Obwohl er wusste, dass es nur Fantasien waren, war die Kraft seines Gegners doch so groß, dass Malfurion darum kämpfen musste, das nicht zu vergessen. Solche Visionen waren es gewesen, die den Nachtelfen ursprünglich eingelullt hatten, sodass Xavius ihn gefangen nehmen konnte.

„Nicht dieses Mal“, murmelte Malfurion. Der Erzdruide presste beide Hände zusammen und umklammerte, was er darin verborgen hielt.

Dann entsprang aus seinen Händen ein langer silberner Stab. Der Schattenbaum zog sich zurück. Doch es war nicht der Stab allein, der den Feind des Erzdruiden weichen ließ. Es war die Essenz des Baumes. Des Baumes, der Xavius der Albtraumlord wirklich war. Nur Malfurion mit seinem uralten Wissen und seiner großen Erfahrung konnte einen Teil der physischen Welt mitnehmen, wenn er in seiner Traumgestalt unterwegs war. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, aber es war nötig gewesen.

Malfurion hob den Stab über den Kopf und wirbelte ihn immer wieder herum. Smaragdgrüne und goldene Energie sprühte aus den Spitzen und fraß den Nebel auf.

„Von dem, der den Traum gestohlen hat, geht auch die Erlösung aus!“, verkündete der Erzdruide.

Der Schatten zog sich weiter in den Nebel zurück. Malfurion drängte nach.

Die geisterhaften Visionen seiner Vergangenheit umschwärmten ihn, doch der Stab schnitt durch sie hindurch, als bestünden sie aus Luft. Sie verschwanden mit schrecklichen Seufzern.

Er kam in Sichtweite der Axt, näherte sich ihr aber nicht. Stattdessen ging Malfurion weiter auf den Schatten des Baumes zu.

Doch der Schattenlord zog sich nicht länger zurück. Xavius spürte vielleicht, was Malfurion von Anfang an gewusst hatte.

Ein langer, knochiger Schatten schoss aus dem Baum hervor. Er wollte in die Brust des Erzdruiden eindringen. Malfurion hatte keine andere Wahl, als sich zu verteidigen. Stab und Schatten trafen sich in einem kurzen, düsteren Blitz.

Ein kleines Stück des Schattens löste sich und verschwand augenblicklich. Doch im Kopf des Nachtelfen ertönte Xavius’ Lachen. Der Albtraumlord wusste, dass er nicht vernichten konnte, was er mit seiner physischen Essenz genährt hatte. Aber es reichte auch nicht aus, um ihm Schaden zuzufügen.

Das Ende dieses kleinen Dramas ist nahe, spottete Xavius. Und alles, was du noch tun kannst, ist zu versagen, zu versagen, zu versagen, Malfurion Sturmgrimm...

Der Schatten breitete sich plötzlich weit über den Erzdruiden hinaus aus. Die Silhouette der skelettartigen Äste kratzte an Malfurion. Einer näherte sich der Brust des Nachtelfen.

Malfurion nahm den Stab und stieß ihn mit der Spitze voran in den Schatten. Sein Schlag verfehlte jedoch sein Ziel. Stattdessen traf die Spitze den Boden.

Die Äste versuchten, den Erzdruiden in ihrem Griff zu zerquetschen. Sie versagten, doch Malfurion verlor den Stab aus der Hand.

Xavius’ Gelächter erklang von überall her. Die Schatten umgaben den Erzdruiden.

Malfurion verschwand – und erwachte.

Doch er stellte fest, dass die Situation auf Azeroth kaum besser war.

„Mal! Gepriesen sei Elune!“, rief Tyrande.

Um sie herum schossen dunkle schwere Ranken aus dem ausgetrockneten Boden. Wie hungrige Blutegel stürzten sie sich auf den Erzdruiden und die Hohepriesterin. Malfurion wehrte mehr als ein Dutzend ab, doch es kamen immer mehr aus den großen Spalten, die sich nun öffneten.

Tyrande bekämpfte sie, so gut sie konnte. Sie hatte das Licht von Elune zu einer Waffe gemacht, die ihrer Gleve glich. Damit sprang die agile Kriegerin zwischen die suchenden Ranken. Einige waren so dick wie die Stämme von Eichen. Sie zerteilte alles, was sich zu nah an sie und Malfurion heranwagte. Mehrere abgeschnittene Teile lagen bereits um sie herum, aber der Erzdruide bemerkte, dass keiner der Angreifer verwundet wirkte.

Warum das so war, erkannte er einen Augenblick später, als sie ein weiteres Stück abschnitt. Die Ranke versiegelte augenblicklich die Wunde, und die Spitze wuchs neu.

„Zieht Euch zurück!“, rief Malfurion Tyrande zu.

Doch in ihrer Entschlossenheit, sie beide zu schützen, machte die Hohepriesterin schließlich einen Fehler. Eine der Ranken packte ihr Bein und wollte sie auf einen qualmenden Spalt zuziehen.

Malfurion warf sich zur Seite. Aber die Ranke erwies sich als stärker als sie beide zusammen. Tyrandes Bein rutschte in den Spalt. Sie griff nach Malfurion, als er zu verhindern versuchte, dass sie in die dunkle Tiefe gerissen wurde.

Seine Hand glitt zu der angreifenden Ranke. Dabei bemerkte der Erzdruide, dass sie, obwohl sie der Pflanzenwelt entstammte, auch noch etwas anderes war. Er blickte nach oben, wo er die wahre Quelle vermutete. Selbst er konnte nicht erkennen, woher die Ranken – nein, eigentlich waren es eher Wurzeln – kamen.

Als Malfurion sich noch in der Gewalt des Albtraumlords befunden hatte, hatte er Wurzeln erschaffen, die er so lange hatte wachsen lassen, dass er sie für seine Zwecke einsetzen konnte. Xavius hatte während seiner zehntausend Jahre währenden Gefangenschaft in Baumgestalt offensichtlich dasselbe getan, nur auf einer weit komplexeren Ebene.

Seine Wurzeln erstreckten sich über etliche Meilen. Und ihre Beweglichkeit erklärte, warum er hier war, statt auf dem Grund des Meeres, wo er eigentlich hingehörte.

Malfurion hatte keine Zeit, den richtigen Zauber zu wirken, keine Zeit, Xavius aus der Ferne anzugreifen. Stattdessen bat er Azeroth selbst um Hilfe, doch zunächst fand er nur tote Erde. Nichts Lebendiges war darin, keine Insekten, keine Pflanzen... nichts. Xavius hatte ihr alles Leben entzogen, um noch stärker und tödlicher zu werden. Der letzte, am besten sichtbare Teil der Verwüstung war erst vor Kurzem geschehen. Der Albtraumlord war schlau vorgegangen. Hatte sich den Weg von unten her gebahnt mit seinen tödlichen Wurzeln und den Rest erst erledigt, als er schließlich zum Angriff bereit war.

Und Xavius hatte diese große Rolle nur spielen können, weil Malfurion ihn in einen Baum verwandelte.

Gemeinsam mit Tyrande kämpfte er dagegen an, nicht nach unten gezogen zu werden. Doch ständig griffen weitere Wurzeln an. Malfurion schaffte es, sie abzuwehren, aber er wusste, dass der Albtraumlord die Hohepriesterin unerbittlich immer tiefer zog.

Der Erzdruide stieß mit seinem Geist immer weiter vor, suchte das Leben, das irgendwo sein musste. Er weigerte sich zu glauben, dass Xavius die ganze Region in eine Wüste verwandelt hatte. Nicht so langsam und im Geheimen.

Stattdessen fand Malfurion etwas, das ihn noch mehr schockierte. Es war etwas Böses, so intensiv, so monströs, dass er vor Schreck beinahe Tyrande losließ. Nur seine Liebe zu ihr bewahrte den Erzdruiden davor zu versagen. Wieder hatte er ein Teil des Puzzles enthüllt. Jetzt war ihm klar, wie Xavius den Ort verändert hatte.

Etwas wühlte Malfurion auf. Erneut suchte er nach Azeroths Lebenskräften und fand sie schließlich auch. Der Erzdruide nahm sie in sich auf.

Donner krachte. Der Boden erbebte wieder.

Ein Blitz leuchtete weiter vorne auf, wo sich der Albtraumlord wirklich befand.

Die Wurzeln ließen Tyrande los. Doch der Boden begann sich zu schließen. Malfurion zerrte Tyrande gerade noch rechtzeitig heraus, bevor ihre Beine von dem Spalt zerquetscht werden konnten.

Beide stützten sich gegenseitig, als sie den Bereich der Erschütterung verließen. Der Boden bebte, und hohe Hügel wurden aufgeworfen, wo Erde auf Fels traf.

„Was geht hier vor?“, rief Tyrande.

„Zwei Kräfte prallen aufeinander! Eine stammt vom Albtraum!“

„Und die andere?“

Er antwortete nicht, obwohl er die Wahrheit kannte. Irgendwie hatte Malfurion Azeroth derart in Aufruhr versetzt wie noch nie zuvor. Das Land wehrte sich gegen das Böse, gegen Xavius.

Nein... der Erzdruide runzelte die Stirn. Das Böse war stärker als Xavius.

Sie rannten, bis sie nicht mehr konnten. Hinter ihnen veränderten große Umwälzungen das Land. Jetzt bedeckte nicht mehr der Nebel allein es, sondern auch riesige Wolken aus Staub und Dampf.

Und es ging noch weiter.

Doch obwohl Malfurion eine Kraft entfesselt hatte, die ihn selbst erstaunte, spürte er keine Hoffnung. Malfurion war tiefer in den Boden vorgedrungen, als er geglaubt hatte. Er hatte nicht nur Azeroths Kern berührt, sondern auch die Quelle, aus der Xavius seine düstere Macht zog. Ein Ort, jenseits der Welt der Sterblichen und des Smaragdgrünen Traums gelegen, aber beide betreffend.

Und an diesem schrecklichen Ort spürte er etwas unglaublich Altes – und irgendwie Vertrautes. Der hartgesottene Erzdruide erschauderte.

Eine andere, noch dunklere Macht stand hinter dem Albtraumlord.

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