In hundertzwanzig Stunden werden wir die Venus erreichen. Die erste Etappe unserer weiten Reise nähert sich ihrem Ende. Der ferne und unerreichbare Planet, der so schön am morgendlichen und abendlichen Himmel der Erde leuchtet — nun sind wir ihm schon nahe!
Nahe? Offensichtlich habe ich mir durch den ständigen Umgang mit Astronomen auch schon astronomische Begriffe angewöhnt, wenn mir eine Entfernung von mehr als fünfzehn Millionen Kilometern so kurz vorkommt.
Die Venus steht jetzt zwischen uns und der Sonne und kehrt uns ihre unbeleuchtete Seite zu. Dafür sehen wir sie vor dem Hintergrund der Sonnenscheibe, und unsere beiden Astronomen stellen ohne Ende Beobachtungen an, die auf der Erde nur selten möglich sind. Ich habe mein Pensum an fotografischen Aufnahmen, das mir für diesen Abschnitt unserer Reise gestellt war, erledigt. Es gab so viel zu tun, daß ich zwei Monate lang keine Zeit fand, meine Aufzeichnungen fortzusetzen.
Nun habe ich alle belichteten Filmstreifen und die Negative geprüft. Es sind einmalige Aufnahmen! Paitschadse half mir bei der Ausfüllung der Karteikarten, die ich jeder Aufnahme beilege. Trotz des gewaltigen Ausmaßes seiner Arbeit findet dieser Mann immer Zeit, mir zu helfen. Er ist unermüdlich. Stundenlang arbeitet er im Observatorium, ohne an Erholung zu denken.
Belopolski steht ihm nicht nach. Außer den astronomischen Arbeiten gehört es zu seinen Obliegenheiten, tagtäglich zugleich mit Kamow hochkomplizierte Berechnungen zur Feststellung unserer Flugbahn und unseres Ortes im Raum auszuführen.
Obwohl die Berechnungen für die gesamte Flugdauer schon auf der Erde vorbereitet wurden, hält Kamow die tägliche „Ortung“, wie er es nennt, für unerläßlich. Die Ergebnisse der Berechnungen werden verglichen, und es ist noch nicht vorgekommen, daß sie voneinander abgewichen wären. Wir legen täglich über zwei Millionen Kilometer zurück. und man begreift, daß der kleinste Fehler uns weit von jenem winzigen Punkt entfernen würde, den der Planet Venus, die „Schwester der Erde“, die ihr an Umfang und Masse fast gleichkommt, in diesem gewaltigen Raum darstellt.
Zu meinen Pflichten zählt auch noch der Wachdienst am Schaltbrett. Dieser Dienst, der ununterbrochen nach einem genauen Plan durchgeführt wird, ist obligatorisch für die ganze Besatzung; aber Kamow und ich suchen in stillschweigendem Einvernehmen die beiden Astronomen davon zu befreien, denn sie haben ohnehin mehr als genug zu tun. Die Aufgaben des Wachhabenden sind nicht schwer.
Er muß dafür sorgen, daß keine Seite des Schiffes überhitzt wird. Um dies zu verhindern, läßt er es sich um seine Längsachse drehen, damit die Sonnenstrahlen seine Außenfläche gleichmäßig erwärmen. Das geschieht mittels einer massiven Scheibe von zwei Meter Durchmesser, die durch einen Elektromotor angetrieben wird. Diese schnell rotierende Scheibe bewirkt, daß sich das Schiff langsam dreht.
In der Regel ist der Wachhabende verpflichtet, die Drehung vorher bekanntzugeben, damit die Arbeit am Fernrohr nicht gestört werde. Sollte sich die Drehbewegung verzögern, so passiert auch nichts weiter, weil der weiße Schiffsrumpf die Sonnenstrahlen gut reflektiert und sich nur langsam erwärmt.
Der Wachhabende muß ferner die Atemluft kontrollieren, die Kohlensäure daraus entfernen und sie durch Sauerstoff ersetzen. Alle diese Vorgänge werden durch einen Druck auf die entsprechenden Knöpfe am Schaltbrett vollzogen und an Hand von Geräten überprüft, die auf jede mit dem Schiff oder in seinem Innern vor sich gehende Veränderung reagieren. Ich habe zum Beispiel schon erwähnt, daß wir verpflichtet sind, alle Türen hinter uns zu schließen; aber wenn das jemand vergäße, würde ein entsprechendes Lämpchen den Wachhabenden sofort durch ein rotes Blinklicht darauf aufmerksam machen.
Also ist sogar für den Fall Vorsorge getroffen, daß jemand zerstreut sein sollte.
Bei übermäßiger Erhitzung der Außenwand schaltet sich die Scheibe, die das Schiff dreht, selbsttätig ein und bleibt nach einer Drehung um hundertachtzig Grad stehen. Sollte der Wachhabende einmal vergessen, die Sauerstoffspeisung abzustellen, so schließt sich der Hahn von selbst, sobald die Konzentration der Luft ihre Norm erreicht hat.
Und so ist es mit allem. Unser vortreffliches Schiff ist vollkommen automatisiert. Alles geschieht mit Hilfe empfindlicher und „denkender“ Geräte, die durch elektrischen Strom gespeist werden. Mit diesem versorgen uns transportable, aber leistungsfähige Akkumulatoren, die eigens für Kamow angefertigt worden sind. Die Ladung dieser Akkumulatoren deckt den inneren Bedarf des Schiffes für die gesamte Flugdauer. Außerdem haben wir noch eine mit lichtelektrischen Zellen ausgerüstete Ladestation, die die Sonnenstrahlen unmittelbar in elektrischen Strom umsetzt.
Dieses Sonnenkraftwerk ist sozusagen unsere Notstromversorgungsanlage.
Alles, was an Bord vorhanden ist, bis auf die Motoren, kann ausgewechselt werden; für einige besonders wichtige Geräte und Apparate haben wir sogar zwei- und dreifachen Ersatz.
Wenn ich an die gewaltige Last denke, die unser Schiff trägt, dann erfüllt mich höchste Bewunderung für die Leistungen der modernen Atomtechnik. Unsere Motoren sind im Vergleich zum ganzen Raumschiff sehr klein, und doch sind sie so stark, daß sie ihm eine unvorstellbare Geschwindigkeit vermitteln können. Kamow allerdings hält diese Geschwindigkeit für unzureichend. Als sich einmal zwischen uns ein Gespräch über die Weltraumfahrten der Zukunft entspann und er wiederum klagte, wir flögen zu langsam, fragte ich ihn, warum er die Motoren beim Start von der Erde nicht habe länger laufen lassen. Dann hätten wir doch eine größere Geschwindigkeit erreicht.
Er gab mir zur Antwort: „Theoretisch stimmt das, aber in der Praxis ist die Sache komplizierter. Das Problem der Erreichung hoher Geschwindigkeiten hängt vom Problem des Materials ab, aus dem die Düsen und andere Teile des Motors hergestellt werden. Bei der Atomspaltung entwickelt sich eine gewaltige Temperatur. Wir haben aber heute noch keine Metalle, die so schwer schmelzbar sind, daß sie einer derartigen Erhitzung längere Zeit widerstehen könnten. Durch zahlreiche Versuche wurde festgestellt, wie lange die Düsen arbeiten können, und diese Zeit reicht gerade aus, um von der Erde, der Venus und dem Mars aufzusteigen. Die Reservezeit beträgt einige Minuten und ist nur für unvorhergesehene Zwischenfälle gedacht. Sogar für das Absteigen zu den Planeten mußte ich zwei zusätzliche Motoren einbauen.“
„Wie steht es dann mit dem Flug in der Atmosphäre?“ fragte ich.
„Dafür haben wir einen Kleinmotor, der lange arbeiten kann, aber nur eine geringe Geschwindigkeit entwickelt. Unser Schiff stellt zwar die Krönung der modernen Technik dar, doch es ist noch längst nicht vollkommen. Denken Sie zum Beispiel nur einmal daran, daß wir uns auf dem Mars nicht eine Stunde zu lange aufhalten dürfen. Zeigt das etwa nicht, wie machtlos wir eigentlich noch sind? Wenn unser Schiff eine höhere Geschwindigkeit besäße, zum Beispiel vierzig oder fünfzig Kilometer in der Sekunde, mindestens aber eine etwas größere Geschwindigkeit als die Erde, so brauchten wir uns um keine Termine zu kümmern und könnten auf dem Mars bleiben, solange wir wollen. Vorerst aber sind uns die Hände noch gebunden. Stellen Sie sich vor, jemandem von uns stößt auf dem Mars etwas zu, sagen wir, er erkrankt, der Krankheitserreger ist eine uns unbekannte Mikrobe in der Atmosphäre des Planeten. Die verdoppelte Schwerkraft beim Aufstieg könnte sich als schädlich, ja sogar als lebensgefährlich für den Kranken erweisen, und trotzdem wären wir gezwungen, ohne Rücksicht auf die Folgen, den Abflug zur Erde genau zum festgesetzten Zeitpunkt anzutreten. Andernfalls wäre die ganze Expedition dem Verderben preisgegeben, weil wir die Erde nicht einholen können. Darin besteht die Gefahr unseres Fluges. Andere Gefahren sehe ich nicht.“
„Mir scheint, es gibt auch noch andere“, sagte ich. „Ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Warum erachten Sie es nicht für nötig, nach vorn Ausschau zu halten? Das Schiff kann doch mit einem der wandernden Körper zusammenstoßen, von denen Sie mir selber erzählt haben.
Wäre es nicht gut, wenn man einen solchen Körper auf der Flugbahn des Schiffes rechtzeitig bemerkte?“
„Davon hätten wir nichts“, erwiderte Kamow. „Kleine Teilchen lassen sich sowieso nicht in einer Entfernung erkennen, die noch Maßnahmen gegen einen Zusammenstoß gestatten würde, und sollte ein großer Körper in die Flugbahn des Schiffes geraten, so warnt uns der Funkscheinwerfer.“
„Was ist denn das?“
„Habe ich Ihnen nicht davon erzählt?“
„Nein.“
„Ein Funkscheinwerfer“, sagte Kamow, „ist im Grunde genommen dasselbe wie ein Radargerät. Er arbeitet mit Ultrakurzwellen, und zwar, genau wie die Radaranlage, nach dem Prinzip der Widerspiegelung von Funkwellen.
Wenn der ausgesendete Funkstrahl auf einen Gegenstand stößt, kehrt er um und signalisiert sowohl das Hindernis als auch die Entfernung, in der es sich befindet. Der Funkscheinwerfer, den wir an Bord haben, ist ununterbrochen in Betrieb und tastet die Flugbahn ab; er erleuchtet uns gewissermaßen den Weg. Seine Funktion erinnert an die eines gewöhnlichen Scheinwerfers, daher sein Name. Ich war überzeugt, daß Sie von ihm wußten.“
„Ich höre zum ersten Male davon“, sagte ich.
„Das ist wohl nur darauf zurückzuführen, daß Sie in so großer Eile auf den Flug vorbereitet wurden. Im übrigen werden wir wohl kaum ein Warnsignal hören. Den Zusammenprall mit einem Körper, der dem Schiff gefährlich werden könnte, halte ich für ausgeschlossen. Selbst die feinsten Stoffteilchen im interplanetaren Raum sind ja einige Kilometer voneinander entfernt.“
„Und doch verlangen Sie von uns, die Türen zu schließen?“
„Ja, denn wir haben kein Recht, den Erfolg der Expedition aufs Spiel zu setzen. Auch wenn nur eine theoretische Gefahr besteht, sind wir verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.“
„Ich habe gehört, daß die Meteore in Schwärmen fliegen“, sagte ich. „Wenn die Erde einem solchen Schwarm begegnet, kann man ein Feuerwerk von Sternschnuppen beobachten.“
„Für die Erde mit ihren Ausmaßen“, erwiderte Kamow, „sind diese Schwärme tatsächlich sehr dicht, aber für unser Schiff liegen sie sehr weit auseinander. Selbst wenn wir dem geschlossensten dieser Schwärme begegneten, flögen wir durch ihn hindurch, ohne ihn überhaupt zu bemerken.
Auf jedes Teilchen eines solchen Schwarms entfällt ein Raum von etlichen Kubikkilometern.“
„Demnach wären interplanetare Reisen ungefährlich?“
Kamow zuckte die Schultern. „Alles auf der Welt ist relativ“, meinte er. „Das gilt auch für interplanetare Reisen. Ein Raumschiff kann tausend Jahre lang fliegen, ohne einem Meteor zu begegnen, es kann aber auch schon in der ersten Flugstunde mit einem zusammenstoßen. Jedenfalls ist bei einem Eisenbahnzug die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe hundertmal größer als bei einem Weltraumschiff. Und doch fahren die Leute mit der Eisenbahn.“
Nach diesem Gespräch hörte ich auf, über „wandernde Körper“ und die Folgen einer Begegnung mit ihnen nachzudenken, obwohl diese Frage mich von dem Augenblick an beunruhigt hatte, da wir von der Erde aufstiegen. Ich hatte schon mehrmals ein Gespräch über dieses Thema mit Kamow angeknüpft, aber er hatte den Funkscheinwerfer seltsamerweise nicht ein einziges Mal erwähnt.
Seitdem wir die Erde verlassen haben, sind mehr als zwei Monate vergangen. Das Leben an Bord vollzieht sich nun nach einer unumstößlichen Ordnung. Es hat sich eine feste Tageseinteilung herausgebildet, das heißt eigentlich keine Tageseinteilung, sondern eine Einteilung der täglichen vierundzwanzig Stunden, da wir hier, wie gesagt, einen Wechsel von Tag und Nacht nicht kennen. Zu bestimmten Zeiten finden wir uns alle zum Frühstück, zum Mittag- oder Abendessen zusammen. Als Nahrung dienen uns wohlschmeckende, eigens für uns zubereitete Konserven, die wir direkt aus den Büchsen essen. Wir trinken kein Wasser, sondern Säfte, die in verschlossenen Gefäßen aufbewahrt werden, aus denen wir sie durch einen Schlauch heraussaugen, denn schwerelose Flüssigkeit läßt sich nicht ausgießen, auch wenn man sich noch so müht. Der Speisezettel ist abwechslungsreich, so daß wir keine Ursache haben, über das Essen zu klagen.
Die Tage verlaufen eintönig, und dennoch ist es erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht. Langeweile gibt es nicht.
Jeder hat seine Arbeit. An Bord herrscht stets die gleiche Temperatur. Die Luft ist rein und völlig staubfrei. Ich habe mich noch nie so wohl gefühlt wie jetzt. Körperliche Anstrengungen kennen wir nicht. Ich kann jeden beliebigen Gegenstand, und sei er noch so schwer, mühelos von einem Platz zum anderen tragen.
„Warten Sie nur!“ sagte Kamow, als wir einmal darauf zu sprechen kamen. „Wenn Sie erst wieder auf der Erde sind, wird Sie jede Bewegung ermüden. Ihr Körper wird Ihnen schwer und unbeholfen vorkommen. Übrigens werden Sie sich bald davon überzeugen können, daß selbst die kurze Zeit, die seit dem Start vergangen ist, genügt hat, Sie der Schwere zu entwöhnen.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte ich.
„Ich spreche von dem Augenblick, da Sie wieder Ihr normales Gewicht erlangen.“
„Wann wird das sein?“
„Wenn wir den Abstieg zur Venus beginnen. Würde das Schiff mit seiner augenblicklichen Geschwindigkeit in ihre Atmosphäre hineinfliegen, so würde es durch die Reibung an der Gashülle des Planeten verbrennen. Also muß ich bremsen; dadurch entsteht Schwerkraft. Die negative Beschleunigung wird zehn Meter in der Sekunde betragen, was der Beschleunigung des freien Falls auf der Erde gleichkommt.“
„Mit welcher Geschwindigkeit werden wir in die Venusatmosphäre eindringen?“
„Mit einer Geschwindigkeit von siebenhundertzwanzig Kilometern in der Stunde.“
„Wieviel Zeit brauchen Sie, um unser Schiff zum Bremsen zu bringen?“
„Siebenundvierzig Minuten und elf Sekunden. Aber das heißt nicht, daß wir eine Dreiviertelstunde unter der Arbeit unserer Motoren zu leiden haben werden, wie das beim Abflug von der Erde der Fall war. Die Motoren werden viel leiser laufen und durch den Helm nur schwach zu hören sein. Außerdem brauchen Sie sich nicht hinzulegen, sondern können den Abstieg zum Planeten vom Fenster aus beobachten.“
Ich sah diesem bedeutsamen Ereignis mit großer Spannung entgegen.
Als wir noch auf der Erde waren, hatte ich ein Buch von Belopolski über die Planeten des Sonnensystems gelesen, um mit meiner Unkenntnis in Fragen der Astronomie nicht allzusehr aufzufallen. Dennoch sind die Kenntnisse, die ich daraus geschöpft habe, offensichtlich unzureichend. Was werden wir zu sehen bekommen, wenn wir die Wolkendecke der Venus durchstoßen haben? Besteht Aussicht, auf diesem Planeten Leben zu entdecken, und was für Leben mag das sein?
Mit all diesen Fragen wandte ich mich an Kamow.
„Fragen Sie Belopolski“, antwortete er. „Einen besseren Kenner des Sonnensystems finden Sie nicht.“
Ich konnte mich nicht entschließen, Belopolski bei der Arbeit zu stören, und wartete die Zeit des gemeinsamen Frühstücks ab.
Als wir uns in Kamows Kajüte eingefunden hatten — dort befindet sich ein zweiter Satz der Geräte des Hauptschaltbretts, so daß man diese während des Essens im Auge behalten kann —, sprach ich ihn an.
„Konstantin Jewgenjewitsch!“ sagte ich. „Können Sie mir etwas von der Venus erzählen, der wir uns nähern?“
„Was möchten Sie denn wissen?“ fragte er.
„Das, was der Wissenschaft über diesen Planeten bekannt ist.“
„Ein weites Gebiet“, meinte Paitschadse.
„Natürlich nicht alles“, beeilte ich mich zu sagen, „nur das Wichtigste. Was werden wir auf ihm sehen?“
„Ihre erste Frage ist zu umfangreich“, sagte Belopolski, „und die zweite läßt sich nicht beantworten. Der Planet Venus ist unter einer dicken Wolkenschicht verborgen, die sich niemals auflockert. Alle unsere Kenntnisse beziehen sich nur auf die oberen Schichten seiner Atmosphäre. Die Oberfläche des Planeten hat bisher noch niemand gesehen, und es weiß auch niemand, was sie darstellt. Hypothesen und Vermutungen sind zwar für die Entwicklung der Wissenschaft nützlich, können aber keinen Anspruch auf Unbestreitbarkeit erheben.“
„Und welche Vermutungen hat die Wissenschaft?“ fragte ich.
„Vermutungen, die auf vorhandenem Tatsachenmaterial beruhen“, erklärte mir Belopolski, „heißen ›Arbeitshypothesen‹. Ich will Ihnen die Fakten aufzählen, die uns von der Venus bekannt sind, werde Ihnen aber kaum etwas Neues mitteilen können. Der Planet ist durchschnittlich hundertacht Millionen Kilometer von der Sonne entfernt, das heißt, er ist ihr um fast zweiundvierzig Millionen Kilometer näher als die Erde. Er ist unser nächster Nachbar im Weltraum, abgesehen vom Mond und von einigen Asteroiden. Die Bahngeschwindigkeit der Venus beträgt fast fünfunddreißig Kilometer in der Sekunde. Die Zeit, in der sie eine volle Umdrehung um die Sonne ausführt, oder ein Venusjahr, beläuft sich auf Null Komma zweiundsechzig Erdjahre, mit anderen Worten — ungefähr siebeneinhalb Monate. Der Radius des Planeten beträgt siebenundneunzig Hundertstel des Erdradius, infolgedessen ist sein Durchmesser nur um fünfhundertsiebenundfünfzig Kilometer kleiner als der der Erde. Beide Planeten sind also fast gleich groß. Die Zeit, in der sich die Venus einmal um ihre Achse dreht — oder die Länge ihres Tages —, ist nicht genau bekannt. Das ist eine Frage, die wir noch lösen müssen.
Die Astronomen neigen zu der Ansicht, daß die Kräfte der Gezeiten, die durch die Sonne auf der Venus hervorgerufen werden, die Drehung des Planeten stark hemmen und daß ein Tag auf ihm wahrscheinlich einigen Wochen bei uns gleichkommt, aber das läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Dank ihrer Sonnennähe erhält die Venus mehr Licht und Wärme als die Erde; ihre Durchschnittstemperatur ist höher als die der Erde. Das Vorhandensein einer dichten Wolkendecke muß in den darunterliegenden Luftschichten einen sogenannten Treibhauseffekt hervorrufen, und man nimmt an, daß die Bodentemperatur des Planeten höher ist als bei uns in den Tropen. In den oberen Schichten der Venusatmosphäre haben die Spektrographen der Erde viel Kohlensäure, jedoch keinen Sauerstoff entdeckt. Das ist alles, was die Astronomen der Erde darüber sagen können.
Man vermutet, daß die Venusoberfläche mit großen Meeren und sumpfigem Festland bedeckt ist. Daß auf diesem Planeten Leben existiert, wird für wenig wahrscheinlich gehalten. Ich habe die Worte ›Spektrographen der Erde und ›Astronomen der Erde‹ absichtlich betont, denn auf unserem Schiff hat die Astronomie wesentliche Berichtigungen an diesem Bild vorgenommen.“
Er sah dabei Paitschadse an, auf dessen Gesicht ein Lächeln lag.
„Die Spektralanalyse“, fuhr Belopolski fort, „hat auf der Erde einen Feind. Das ist unsere Atmosphäre. Sie hemmt und verzerrt das Licht der Himmelskörper, die einzige Quelle, aus der wir Erkenntnisse über die physikalische Natur der Sterne und Planeten schöpfen. Der Ozon in der Erdatmosphäre läßt zum Beispiel keine ultravioletten Strahlen durch, schränkt also das erhaltene Spektrum ein.
Die Struktur der Erdatmosphäre ist noch nicht restlos erforscht, daher die Ungenauigkeit unseres Wissens. Im Observatorium unseres Schiffes herrschen andere Bedingungen. Atmosphäre gibt es hier nicht. So ist es uns gelungen, vollständigere und umfangreichere Spektren zu erhalten.
Aus ihnen ersahen wir etwas, was uns auf der Erde entgangen war. Wir haben Neues in Erfahrung gebracht, und das gestattet uns einige Schlußfolgerungen.“
„Welche?“ fragte ich.
„In der Frage, die Sie interessiert“, antwortete Belopolski, „das heißt in der Frage der Venus, hat Arsen Georgijewitsch eine außerordentlich wichtige Tatsache festgestellt, und zwar die, daß in ihrer Atmosphäre Sauerstoff nicht nur vorhanden ist, sondern sogar in ziemlich großer Menge vorkommt. Diese Tatsache läßt den Schluß zu, daß es auf der Venusoberfläche eine Pflanzendecke gibt, denn das Vorhandensein freien Sauerstoffs ließe sich kaum anders erklären. Damit haben wir wiederum den Beweis dafür, daß dort Leben existiert.“
„Pflanzliches“, bemerkte Kamow.
„Wollen Sie damit sagen, kein tierisches?“ fragte ich.
„Ich wollte nur betonen, daß Konstantin Jewgenjewitschs Ausführungen über das Vorhandensein von Leben auf der Venus nicht so aufzufassen sind, als existiere auf ihr das gleiche Leben wie auf der Erde“, entgegnete Kamow.
„Aber könnte es dort, zum Beispiel in den Meeren, nicht die allerprimitivsten Lebewesen geben?“
„Das ist möglich, muß aber nicht unbedingt so sein.
Wenn irgendwo Bedingungen vorhanden sind, die die Entstehung von Leben begünstigen, dann wird dort auf diese oder jene Weise auch Leben entstehen. Auf der Venus sind solche Bedingungen vorhanden, sie haben, wie man nunmehr mit Bestimmtheit behaupten darf, bereits zur Entstehung von Leben in pflanzlicher Form geführt; aber ob dieses Leben noch andere uns bekannte Formen angenommen hat, kann man natürlich nicht sagen.“
„Werden wir diese Formen, wenn es sie wirklich gibt, auch entdecken können?“
„Das hängt von Sergej Alexandrowitsch und von Ihnen ab“, erwiderte Paitschadse. „Je näher das Schiff an die Oberfläche des Planeten herankommt, und je besser Sie alles Sichtbare mit der Kamera festhalten, desto leichter wird diese Frage zu beantworten sein.“
Ich erkundigte mich, wie lange wir uns in der Atmosphäre der Venus aufhalten würden.
„Nicht länger als zehn, zwölf Stunden“, antwortete Kamow und wandte sich an Belopolski. „Ich beabsichtige, das Schiff so zu lenken, daß wir auf der Linie des Terminators in die Atmosphäre hineinstoßen und die ganze Tageshälfte des Planeten überfliegen. Wenn die Venus sich tatsächlich so langsam dreht, wie man vermutet, werden wir etwa zehn Stunden brauchen. Sollten die Wolken bis zur Oberfläche des Planeten hinunterreichen, so müßten wir in dichtem Nebel fliegen. In diesem Fall würden wir uns in der Atmosphäre der Venus gerade so lange aufhalten, wie Boris Nikolajewitsch zu seinen Aufnahmen braucht. Sie müssen auf einen solchen Stand der Dinge vorbereitet sein“, sagte Kamow, an mich gewandt. „Die Aufnahmen müssen dann mit infraroten Strahlen gemacht werden; ich meinerseits werde mir Mühe geben, so weit hinunterzugehen, daß die Nebelschicht, die uns von der Oberfläche trennt, möglichst dünn ist.“
„Im Nebel könnten wir leicht gegen Berge fliegen.“
„Ich hoffe doch, daß der Funkscheinwerfer uns rechtzeitig warnt.“