Charlotte Link Am Ende des Schweigens

Erster Teil

1

Eine eigenartige Stille lag über Stanbury.

Eine große und umfassende Stille, so als habe die Welt aufgehört zu atmen.

Wahrscheinlich, dachte sie, sind alle weggegangen. Zum Einkaufen vielleicht.

Obwohl das seltsam war, denn niemand hatte am Morgen etwas davon gesagt, und für gewöhnlich wurden derlei Vorhaben besprochen. So wie einfach alles zwischen ihnen immer besprochen wurde. Außer den Dingen, die das Gerüst zum Einsturz bringen könnten. Aber dazu zählte nicht, wenn jemand einkaufen ging.

Doch diese Stille reichte tiefer.

Sie überlegte, was so anders war, aber sie kam nicht darauf. Vielleicht lag das auch daran, daß sie so müde war. Die Ereignisse der letzten Tage, die Schwangerschaftsübelkeit, die sie immer wieder befiel, die ungewöhnliche Wärme. Sie konnte sich nicht erinnern, daß je ein April so anhaltend warm gewesen war. Gerade hatte es so ausgesehen, als werde es ein wenig kühler, aber nun kehrte die drückende Schwüle schon wieder zurück.

Sie war weiter gelaufen, als sie es vorgehabt hatte, fast um das ganze Anwesen herum, durch das kleine Waldstück im Westen und über die Hügel im Süden. Erst jetzt merkte sie, wie stark sie schwitzte, daß ihr Gesicht naß war und ihre Haare im Nacken klebten, daß ihr Atem keuchend ging. Barney, ihr junger Hund, schoß wie ein Gummiball vor ihr her und war so munter, als sei er noch keine fünf Minuten an diesem Tag gelaufen. Normalerweise hatte auch sie eine gute Kondition, aber sie hatte schlecht geschlafen in der Nacht, und in den vergangenen Wochen hatte sie sich häufig übergeben. Jetzt, gegen Ende des dritten Monats, schien es besser zu werden, aber sie fühlte sich sehr geschwächt.

Sie war auch einfach zu warm angezogen. Ihre Jacke hatte sie sich schon um die Hüften gebunden, vorhin, als sie über die hoch gelegenen Wiesen gestapft war. Sie hatte sich einige Male dabei ertappt, wie sie sich vorsichtig umschaute. Sie hatte ihn mehrfach getroffen während ihrer langen, einsamen Spaziergänge. Als habe er auf sie gewartet, weil er sicher sein konnte, daß sie käme. Er hatte in ihr eine Verbündete gewittert, und vielleicht lag er damit gar nicht so falsch. Was natürlich bedeutete, daß sie gegen das oberste Gebot der Gruppe verstieß, aber seit einigen Tagen fragte sie sich ohnehin, ob es die Gruppe für sie noch gab, oder besser: ob sie noch dazugehören wollte.

Sie passierte das hohe, schmiedeeiserne Tor, das zur Auffahrt des Anwesens führte. Wie so häufig stand es offen; da die Mauer, die den Besitz umschloß, über weite Strecken zerbröckelt oder gar nicht mehr vorhanden war, machte es ohnehin keinen Sinn, hier pingelig zu sein.

Sie sah sich hoffnungsvoll um: Falls sie alle weggefahren waren, kam vielleicht jetzt jemand zurück und konnte sie die Auffahrt entlang bis zum Haus mitnehmen. Der Weg schlängelte sich über fast einen Kilometer und stieg stetig ganz leicht an. Noch bis vor einem Jahr hatten rechts und links viele Bäume gestanden und Schatten gespendet, aber einige waren von einer Krankheit befallen worden, und man hatte sie fällen lassen müssen. Der Weg hatte dadurch viel von seinem Charme verloren, die Baumstümpfe sahen sehr traurig aus, und die Wildnis dahinter, die stets eine romantische Stimmung vermittelt hatte, wirkte auf einmal verwahrlost.

Es gibt schon eine Menge Zerfall hier, dachte sie.

Weit und breit ließ niemand sich blicken, und nachdem sie noch einmal kurz innegehalten und tief durchgeatmet hatte, machte sie sich daran, die letzte Etappe zu bewältigen. Der Baumwollpullover, den sie trug, klebte an ihrem Rücken, und ihre heißen Füße in den knöchelhohen Turnschuhen fühlten sich dick geschwollen an. Der Gedanke an eine Dusche und an ein Glas eiskalten Orangensaft bekam fast obsessiven Charakter.

Und dann würde sie für den Rest des Tages die Beine hochlegen und sich nicht mehr aus ihrem Liegestuhl fortbewegen.

Obwohl der Spaziergang schön gewesen war, wirklich schön. England im Frühling ließ einem das Herz aufgehen. Sie hatte den kleinen, zerrupften Wölkchen nachgeblickt, die über den lichtblauen Himmel trieben, und sie hatte den milden, verheißungsvollen Wind gerochen, in dem Blütenduft schwang, sie hatte ein paar Schafe gestreichelt, die frei über die Hochmoore liefen und sich ihr zutraulich näherten. Wilde Narzissen blühten in den Tälern und an den Hängen und gossen leuchtendes Gelb über die karge Landschaft. Die Vögel sangen, jubilierten, trällerten in allen Tönen…

Die Vögel!

Sie blieb stehen. Auf einmal wußte sie es. Wußte, woher diese unwirkliche Stille über Stanbury rührte.

Die Vögel waren verstummt. Nicht ein einziger erhob seine Stimme.

Sie konnte sich nicht erinnern, je ein so vollkommenes Schweigen erlebt zu haben.

Von einem Moment zum anderen erkaltete der Schweiß auf ihrer Haut, und sie zog fröstelnd die Schultern hoch. Was brachte Vögel zum Schweigen an einem so schönen, so sonnigen Tag? Etwas mußte ihren Frieden gestört haben, so heftig und so nachhaltig, daß es keine Freude mehr gab, die sie heraussingen konnten. Eine Katze vielleicht, eine räuberische, mordlustige Katze, die einen von ihnen gefangen und getötet hatte, und seine Todesschreie waren in diese lastende, atemlose Stille gemündet.

Obwohl ihre Erschöpfung um nichts nachgelassen hatte, beschleunigte sie ihre Schritte. Sie verspürte ein erstes Seitenstechen, wäre gern gerannt wie Barney und hatte doch nicht die Kraft. Noch ein paar Monate, und sie würde unförmig angeschwollen sein und wahrscheinlich watscheln wie eine Ente. Ob sie danach wieder so schlank wäre wie früher? Unsinnigerweise ging ihr dieser Gedanke auf den letzten Metern zum Haus immer wieder durch den Kopf, obwohl sie eigentlich wußte, daß die Frage nach ihrer Figur sie im Augenblick gar nicht interessierte. Eher war es so, daß sie sie in den Vordergrund drängte, um nicht über etwas anderes nachdenken zu müssen. Darüber, weshalb sie fror, obwohl ihr heiß war, und warum sie ein Kribbeln auf der Kopfhaut spürte, und warum sie auf einmal meinte, sich so beeilen zu müssen.

Darüber, warum der helle Frühlingstag plötzlich nicht mehr richtig hell war.

Sie konnte den Giebel des Hauses sehen, einen Teil der schönen Fassade im Tudorstil, die Reflexe des Sonnenlichts in den Bleiglasscheiben. In alter Gewohnheit zählte sie die Fenster unter dem Dach durch — das tat sie immer, wenn sie den Weg hinaufkam; das vierte von links gehörte zu ihrem Zimmer —, und undeutlich konnte sie dahinter den Strauß von Narzissen erkennen, den sie gestern abend noch gepflückt und in einer Vase dorthin gestellt hatte.

Sie blieb stehen und lächelte.

Der Anblick der Blumen hatte ihr ihren Frieden zurückgebracht.

Dann sah sie Patricia, die vor dem Holztrog kniete, der mitten in dem gepflasterten Hof stand. Ein Trog, aus dem früher Schafe oder Kühe getrunken hatten und den jemand vor Jahren auf dem Gelände von Stanbury gefunden und angeschleppt hatte. Seitdem pflanzten sie Blumen hinein, Frühlingsblumen, Sommerblumen, Herbstblumen, und im Winter steckten Tannenzweige darin, um die sich eine Lichterkette schlang.

«Hallo«, sagte sie,»ist das nicht plötzlich unfaßbar warm geworden?«

Patricia hatte sie offenbar nicht gehört, denn sie antwortete nicht und bewegte auch nicht den schmalen, sehr kindlich wirkenden Körper, der in ausgebeulten Jeans, einem blauweiß karierten Hemd und Gummistiefeln steckte.

Barney knurrte leise und rührte sich auf einmal nicht mehr von der Stelle.

Sie trat ein paar Schritte näher.

Patricia kniete nicht vor dem hölzernen Trog, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte, sondern hing über dem Rand, mit dem Gesicht nach unten in der frischen, feuchten Erde. Ihr linker Arm fiel seitlich herab und wirkte dabei auf eigenartige Weise verdreht. Der andere Arm lag neben ihrem Kopf, und die Finger ihrer Hand krallten sich in die Erde, als gebe es dort einen Halt oder irgend etwas, das festzuhalten sich lohnte.

Unter ihr, auf den Pflastersteinen, hatte sich eine Blutlache gebildet, was im Widerspruch zu der ersten unwillkürlichen Vermutung stand, Patricia könnte von einer plötzlichen Kreislaufschwäche oder Übelkeit überwältigt worden sein.

Etwas viel Schrecklicheres war geschehen. Etwas, das zu schrecklich war, es überhaupt zu Ende zu denken.

Sie wußte, daß sie sich ansehen mußte, was man Patricia angetan hatte, und zog deren Körper vorsichtig von dem Trog weg, was nicht weiter schwierig war, da Patricia kaum größer war und wenig mehr wog als ein Teenager. Der Kopf kippte zur Seite, als hinge er nur noch an einem seidenen Faden. Alles war blutbesudelt, das Hemd, die langen Haare, der Trog; und was die Erde darin so sichtlich naß und schwer machte, war vermutlich ebenfalls Blut.

Jemand hatte Patricia die Kehle durchgeschnitten und sie dann achtlos dort liegengelassen, wo sie gerade gearbeitet hatte, wo sie die Tannenzweige von Weihnachten entfernt und neue Erde aufgefüllt hatte, wo sie dabeigewesen war, frische Blumen zu pflanzen. Sie war erstickt, verblutet, hatte im Todeskampf die Finger in die Erde gegraben.

Die Luft roch nach Blut.

Vor Entsetzen hatten die Vögel aufgehört zu singen.

Nie wieder, dachte sie, würde die Stille dieses Moments Stanbury verlassen. Nie wieder würde ein lautes Wort angebracht sein, oder gar ein Lachen oder das fröhliche Geschrei von Kindern…

Bei diesem Gedanken strich sie unwillkürlich über ihren Bauch und fragte sich, welchen Schaden es bei dem Baby anrichten würde, daß seine Mutter einen Schock erlitten hatte — denn sicher hatte sie das: Ein Schock war das mindeste, was man erlitt, wenn man eine Freundin mit durchgeschnittener Kehle in einer ehemaligen Schaftränke fand —, und ob sie es nun womöglich verlor.

Erst dann überlegte sie, ob der, der das hier getan hatte, wohl verschwunden war oder ob er sich noch irgendwo in der Nähe aufhielt. Und bei diesem Gedanken konnte sie plötzlich die Beine nicht mehr bewegen. Sie stand wie gelähmt, und alles, was sie in dieser tödlichen Stille hörte, war ihr eigener angsterfüllter, keuchender Atem.


Samstag, 12. April — Donnerstag, 24. April

Phillip Bowen sah sich voll Erstaunen mit der Erkenntnis konfrontiert, daß er noch nie in seinem Leben wirklich gehaßt hatte. Auch wenn er natürlich früher schon einige Male geglaubt hatte, Haß zu empfinden — auf Sheila zum Beispiel, wenn er sie trotz all ihrer Versprechungen und Beteuerungen wieder und wieder mit der Nadel im Arm erwischt hatte —, so begriff er nun, daß diese Emotionen etwas mit Wut, Schmerz, Zorn und Trauer zu tun gehabt haben mußten, nicht aber mit Haß.

Denn den fühlte er jetzt, als er vor dem Haus stand, an dem ihm nicht ein einziger Ziegelstein gehörte, und es war ein so starkes, machtvolles Gefühl, daß er es als vollkommen neu und erstmalig in seinem Leben erkannte.

Das Haus war von einfacher Bauweise, schlicht und schnörkellos, mit geraden, klaren Linien und genau so, wie er sich sein Traumhaus immer vorgestellt hätte, wäre er irgendwann einmal in der Situation gewesen, darüber nachzudenken. Es gab ein Stockwerk und ein Dachgeschoß mit kleinen Gauben und Bleiglasfenstern. Neben der schweren Haustür aus Eichenholz kletterte Efeu empor und verlor sich dann irgendwo im schmiedeeisernen Gitter eines kleinen Balkons im ersten Stock.

Ging man um das Haus herum, so gelangte man zu der eindrucksvollen Terrasse. Sie erstreckte sich über die gesamte Breite und war von einer Sandsteinbalustrade eingefaßt, die sich nach vorn hin öffnete und einer großzügigen Treppe Raum bot. Vier langgestreckte Stufen führten in den Garten hinunter, der eigentlich ein Park war: weitläufig, Wiesen und Wälder umschließend, eingefaßt von einer sehr alten steinernen Mauer, die jedoch an so vielen Stellen zerbröckelt oder sogar ganz verschwunden war, daß sich die eigentliche Grundstücksgrenze über weite Strecken hin nicht feststellen ließ. Phillip hatte sich alles angesehen. Er hatte das ganze Areal umrundet, den ganzen Besitz, und er war fast vier Stunden unterwegs gewesen. Nun stieg er die Stufen zur Terrasse hinauf und versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, sie tagtäglich lässig hinauf- und hinunterzuspringen und zu wissen, daß, so weit das Auge reichte, einem das alles selber gehörte.

In einer schattigen Ecke der Veranda entdeckte er große Terrakottatöpfe, in denen verdorrte Blumen steckten, ein Hinweis darauf, daß das Anwesen als Feriensitz genutzt und zwischendurch nur in großen Abständen von einem Gärtner und einer Putzfrau gewartet wurde. Auch der Rasen unten im unmittelbar anschließenden Teil des Parks stand ziemlich hoch. Im Dorf hatte man Phillip Auskunft erteilt. Er hatte mit der Besitzerin des Gemischtwarenladens gesprochen, und diese hatte nur zu gern ihr Wissen weitergegeben.

«Meine Schwester putzt dort, und sie sieht alle drei Wochen nach dem Rechten. Und bevor die Herrschaften anreisen, lüftet sie gründlich und wischt Staub, und manchmal stellt sie auch frische Blumen in die Räume. Und dann gibt es noch Steve, den Gärtner. Also, eigentlich ist er kein Gärtner, er arbeitet in Leeds bei irgendeiner Firma… aber natürlich reicht das Geld nie, und so ist er immer dankbar, wenn er irgendwo etwas dazuverdienen kann. Na ja, und da mäht er eben den Rasen und kümmert sich ums Grundstück…«

Phillip hatte rasch eingehakt, denn die Geschichte von Steve dem Gärtner interessierte ihn nicht besonders.

«Es sind doch Deutsche, denen das Anwesen gehört?«

«Ja, aber sie sind sehr nett.«

Die Gemischtwarenhändlerin war, wie Phillip schätzte, etwa fünfundsechzig Jahre alt, mußte den Krieg als Kind noch erlebt haben und mochte gewisse Vorbehalte gegenüber den Deutschen haben, wie aus ihrer Formulierung deutlich wurde.»Eigentlich kriegt man hier gar nicht so viel von ihnen mit. Sie kommen natürlich zum Einkaufen zu mir, aber sie suchen nicht gerade das Gespräch. Vielleicht liegt das auch an der Sprache. Es ist etwas anderes, ob man um Butter und Brot bittet, oder ob man eine richtige Unterhaltung führt, nicht wahr? Nur die eine Frau hat manchmal mit mir geredet… Ich glaube, die wollte auch mal mit anderen Menschen sprechen, nicht immer nur mit den eigenen Leuten. War eine nette Person. Spanierin. Schwarzhaarig, sehr attraktiv. Aber die ist schon lange nicht mehr da… Steve hat mir irgendwann erzählt, daß ihr Mann sich von ihr hat scheiden lassen. Seit dem letzten Jahr ist er neu verheiratet. Mit einer sympathischen Frau, das muß man sagen.«

«Es sind drei Ehepaare, die hierherkommen?«

«Genau. Immer, in allen Ferien, und auch immer alle zusammen. Drei Mädchen sind noch dabei, aber zu wem die gehören… Die eine ist schon älter, ein großes, schönes Mädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt… schon ziemlich… na ja…«

Sie hatte mit beiden Händen einen üppigen Busen beschrieben; Phillip schloß daraus, daß dieses Mädchen schon recht gut entwickelt war.

«Einmal«, hatte die Frau mit gesenkter Stimme hinzugefügt,»ist sie zum Dorffest im Sommer gekommen, im letzten Jahr war das, glaube ich. Spät in der Nacht hat Rob — mein Sohn, müssen Sie wissen — sie mit dem jungen Keith Mallory in seiner Scheune erwischt, also in der Scheune, die zu Robs Hof gehört, und er war ganz schön wütend. Ob etwas passiert ist, konnte er natürlich nicht wissen. Dem Vater von Keith Mallory hat er jedenfalls Bescheid gesagt, und dann wollte er auch zu dem Vater von dem Mädchen gehen, aber ich habe gemeint, das solle er besser nicht tun. Schließlich geht es uns nichts an, und man weiß ja nicht… es sind Ausländer, keine Ahnung, welchen Ärger sie dem armen Keith machen könnten! Keith hatte sich vorher auf dem Festplatz ganz schön an das Mädchen rangeschmissen, das haben jedenfalls einige gesagt, die die beiden gesehen haben. Und offensichtlich ist die Geschichte ja auch ohne Folgen geblieben, sonst hätten wir das bestimmt gehört.«

Phillip interessierte sich wenig für derlei Geschehnisse, aber es war klar, daß sein Gegenüber genau solche Pikanterien genoß.

«Kennen Sie eine der Frauen näher? Sie heißt Patricia Roth.«

Er sprach den Namen deutsch aus, denn das tat sie vermutlich auch.»Sie ist die Eigentümerin des Anwesens.«

«Ja, so sagt man. Eine etwas verworrene Erbschaftsgeschichte war das. Der alte Kevin McGowan wollte das Anwesen ja seinem Sohn vererben, der in Deutschland lebt, aber der war nicht interessiert, und so ging alles direkt an die Enkelin… Das ist dann wohl die Frau, die Sie meinen. Patricia Roth«, sie überlegte,»ich glaube, ich weiß, welche das ist. So eine ganz Kleine, Zierliche. Meiner Ansicht nach ist sie die Mutter von den beiden anderen Mädchen, Die sind, schätze ich, zehn und zwölf Jahre alt. Niedliche Dinger. Sie begleitet sie manchmal zu Sullivans hinüber, das ist der Hof gleich am Dorfrand. Dort reiten sie auf den Ponys.«

Er dachte an dieses Gespräch, während er auf der Terrasse stand, an der Wand hochblickte und die Fenster zählte, ohne zu wissen, weshalb er das tat. Noch immer hatte er kein Bild von Patricia — daß sie sehr klein und zierlich sein sollte, brachte ihn vielleicht ein Stück weiter, verlieh ihr aber kein Gesicht, keine Stimme. Die Frau, von deren Existenz er bis vor fast zwei Jahren nichts gewußt hatte. Bis zu jenem Sommer, in dem seine Mutter plötzlich begonnen hatte zu erzählen…

In zwei Tagen, so hatte ihm seine Informantin im Gemischtwarenladen verraten, würden sie alle wieder eintreffen, für zwei volle Wochen Osterurlaub. Sie wußte das von ihrer Schwester, denn die war zum Putzen bestellt worden.

Sicher, überlegte er, während er sich umdrehte und in den Garten blickte, ist auch Steve der Gärtner angerufen worden.

Das Gras wucherte tatsächlich ziemlich hoch, es mußte dringend gemäht werden. Der März und auch die ersten zwei Aprilwochen hatten viel Sonne und Regen in raschem Wechsel gebracht. Die Natur explodierte.

West-Yorkshire. Brontë-Land. Er grinste. Unglaublich, daß es ihn hierher verschlagen hatte. Daß er vor einem Haus stand und es haben wollte. Er, der Londoner war mit Leib und Seele. Der sich nie hatte vorstellen können, irgendwo anders zu leben als dort, höchstens in einer anderen Metropole: New York oder Paris oder Madrid. In diesen drei Städten war er in bestimmten Lebensphasen zu Hause gewesen, hatte sich wohl gefühlt und sich dennoch nach London gesehnt, ein bißchen wenigstens, tief in seinem Herzen.

Und jetzt, mit einundvierzig Jahren, stand er in Stanbury, dem Dorf, das auf kaum einer Karte der Welt verzeichnet war, und verliebte sich in ein Haus und in die Vorstellung eines Lebensgefühls, von dem er nie gewußt hatte, daß es als Möglichkeit in ihm überhaupt existierte.

Er versuchte, durch eines der Fenster in das Innere des Hauses zu spähen, aber er konnte nichts erkennen; die schweren Vorhänge innen waren zugezogen. Tatsächlich spielte er bereits mit dem Gedanken, sich auf irgendeine Weise Zutritt zu verschaffen — vielleicht schloß eines der Kellerfenster nicht richtig, oder es gab eine Seitentür, deren Schloß leicht aufzubrechen war —, aber da hörte er, wie sich ein Auto über die Auffahrt näherte und auf der anderen Seite vor dem Hauptportal bremste. Rasch ging er um das Haus herum und sah eine ältliche Frau, die aus einem ziemlich klapprigen, kleinen Auto stieg. Sie trug eine geblümte Kittelschürze und hatte einen Korb mit undefinierbaren Utensilien in der Hand, und er vermutete, daß es sich um die Putzfrau handelte.

Er ging auf sie zu, sie erschrak sichtlich, musterte ihn dann mißtrauisch.

«Ja?«fragte sie, so als habe er etwas gesagt.

Phillip lächelte. Er wußte, daß er charmant und vertrauenerweckend wirken konnte.

«Wie gut, daß Sie kommen«, sagte er.»Sie machen hier sauber, nicht wahr? Ich habe schon mit Ihrer Schwester gesprochen…«

Ihre Züge entspannten sich. Der Umstand, daß er mit ihrer Schwester bekannt war, ließ ihn offenbar sofort unbedenklicher erscheinen.

«Ich bin Phillip Bowen«, stellte er sich vor und streckte ihr die Hand hin,»ein Verwandter von Patricia Roth.«

«Ach? Ich wußte gar nicht, daß Mrs. Roth Verwandte in England hat.«

Sie ergriff seine Hand.»Ich bin Mrs. Collins. Ich wollte jetzt das Haus putzen.«

Sie wies auf den Korb, in dem sich, wie Phillip jetzt erkannte, alle möglichen Reinigungsmittel befanden.»Die Herrschaften kommen ja übermorgen.«

«Ich bin wirklich froh, daß ich Sie hier gerade treffe. Patricia hat mich schon vor Wochen gebeten, nach der Heizung zu sehen… Irgend etwas hat da wohl nicht gestimmt während des letzten Urlaubs, und im April kann es ja durchaus sein, daß man sie noch mal braucht…«

Er lächelte wieder, jungenhaft und ein wenig schuldbewußt. Zu der langen Reihe von Versuchen, sich eine berufliche Existenz aufzubauen, gehörte auch der Besuch einer Schauspielschule, und obwohl er es natürlich auch dort nicht bis zu einem Abschluß geschafft hatte, war ihm von den Lehrern doch stets Talent bescheinigt worden — besonders was die Wandlungsfähigkeit seines Gesichtsausdrucks anging.»Aber, wie das so ist, ich habe es wieder einmal bis zum letzten Moment hinausgeschoben…«

Jetzt erwiderte sie sein Lächeln.»Ich kenne das. Man denkt immer, man hat noch so viel Zeit, und dann muß man sich plötzlich ganz furchtbar abhetzen. Sie sind Heizungsmechaniker?«

«Nein, nein. Aber ich verstehe ein bißchen was davon. Jedenfalls glaubt Patricia das!«

Er wußte, daß er genau die schlichte Gesprächsebene getroffen hatte, die eine Frau wie Mrs. Collins mochte.»Das Problem ist nun…, ich finde den Schlüssel nicht! Ich habe meine Taschen umgestülpt, ich habe mein Auto durchsucht — nichts!«

Mrs. Collins zog sich fast unmerklich wieder ein kleines Stück zurück.»Besitzen Sie denn einen Schlüssel?«

«Ja. Aber ich habe ihn noch nie benutzt. Ich dachte, er ist in meinem Wagen. Verflixt!«

Er kratzte sich am Kopf.»Patricia wird ziemlich sauer auf mich sein! Wenn es plötzlich kalt wird, und die Heizung funktioniert nicht…«

«Sie möchten, daß ich Sie jetzt mit hineinnehme?«folgerte Mrs. Collins, und er hätte fast bravo! gesagt.

«Das wäre wirklich nett von Ihnen.«

«Ja… ich weiß nicht…«

«Sie sind doch die ganze Zeit im Haus. Ich glaube kaum, daß es mir gelingt, Wertgegenstände an Ihnen vorbei hinauszutragen. Ich will wirklich nur schnell nach der Heizung sehen.«

Er sah ihrem Gesicht an, daß Bilder, die sie gesehen, und Geschichten, die sie gehört hatte, durch ihren Kopf zogen: von Männern, die sich das Vertrauen älterer Frauen erschlichen, ihnen dann einen Hammer auf den Kopf schlugen und sich mit allem aus dem Staub machten, was nicht niet- und nagelfest war. Er konnte es ihr nicht einmal verübeln. Die Zeitungen waren voll von Berichten dieser Art.

«Na ja«, sagte er,»ich will Sie nicht bedrängen. Sie kennen mich nicht, und sicher haben Sie recht, vorsichtig zu sein. Ich werde sehen…«

Er ließ den Satz unvollendet und wandte sich zum Gehen.

Sie gab sich einen Ruck.

«Halt. Warten Sie! Man sollte nicht jedem Menschen mißtrauen, oder?«

Sie kramte ihren Schlüssel aus der Schürzentasche hervor.»Kommen Sie. Wir gehen hinein.«

Er war zuerst in den Keller gegangen und hatte sich laut klappernd im Heizungsraum zu schaffen gemacht, und nach einer Weile war er hinaufgekommen und hatte zu Mrs. Collins, die gerade im Eßzimmer Staub wischte, gesagt:»Ich muß in allen Räumen die Heizkörper aufdrehen. Ist das in Ordnung?«

Sie schien inzwischen keinerlei Vorbehalte mehr gegen ihn zu haben.»Ja, machen Sie nur«, sagte sie.

Er stellte fest, daß man hier im Haus keineswegs in Luxus schwelgte. Es gab ein paar schöne, alte Möbel, die der alte Kevin McGowan vermutlich noch gekauft und mit dem ganzen Besitz seinen Erben vermacht hatte, aber hauptsächlich hatte man das Haus mit eher einfachen Dingen eingerichtet: mit gemütlichen, aber ganz sicher nicht teuren Sesseln und Sofas, vielen Kissen und Leselampen und roh gezimmerten Regalen, die voller Bücher standen. Er konnte sich vorstellen, wie sie alle an kalten Wintertagen oder nassen, stürmischen Frühlingsabenden um den Kamin im Wohnzimmer saßen, lasen, sich leise unterhielten, ein paar Weingläser um sich herum stehen hatten. Vielleicht spielten die Kinder zu ihren Füßen, und…

Halt! Er verzog das Gesicht zu einem zynischen Lächeln, als ihm aufging, wie sehr ihn der Kuschelnest-Charakter dieses alten Landhauses bereits verführt hatte, in Gedanken das Bild einer völlig idiotischen Idylle zu malen. Vielleicht sah die Wirklichkeit bei weitem nicht so perfekt aus. Immerhin wußte er schon, daß eines der Mädchen nachts in fremden Scheunen herumknutschte, anstatt das Familienleben vor dem Kamin zu pflegen. Und möglicherweise waren auch die drei befreundeten Ehepaare gar nicht immer so glücklich miteinander. Das Haus war geräumig, aber dennoch saß man wochenlang aufeinander, und wenn es regnete, mußte es noch schlimmer sein. Es gab nur eine Küche, ein Eßzimmer, ein Wohnzimmer. Was bedeutete, daß die sechs Erwachsenen und die drei Kinder die Tagesabläufe im wesentlichen gemeinsam gestalten mußten.

«Ich gehe nach oben«, sagte er zu Mrs. Collins, und diese nickte, während sie den Eßtisch mit Politur bearbeitete.

Die Treppe führte von der großzügigen Eingangshalle nach oben. Es gab eine Galerie, von der mehrere Türen wegführten, und eine Art schmaler Hühnerleiter, über die man wohl in das Dachgeschoß gelangte.

Phillip öffnete aufs Geratewohl die Tür, die der Treppe am nächsten lag, und stand in einem äußerst romantisch eingerichteten Schlafzimmer mit Himmelbett, einer Menge Kerzen auf einem alten, sehr schön restaurierten Waschtisch und schweren Brokatvorhängen an den Fenstern. Im Schrank hingen einige exklusive Kostüme, die, wie er vermutete, eine schöne Stange Geld gekostet haben mußten. Kurz überlegte er, ob sie wohl Patricia gehörten, stellte aber rasch fest, daß dies nicht sein konnte. Patricia war ihm als besonders klein und zierlich beschrieben worden. Die Kostüme jedoch paßten einer sehr üppigen, dicken Frau.

Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte ihm, daß man von hier über den geschlängelten Weg schaute, der vom Haus weg in Richtung Dorf führte, zunächst an einer Wiese entlang, dann in einem verwilderten Wäldchen verschwindend, dessen wenige Bäume ein zartes Frühlingsgrün trugen.

Verdammt hübsches Schlafzimmer, dachte er, während er das Bad inspizierte, das durch eine diskrete Tapetentür erreichbar und äußerst modern und komfortabel war. Muß ein gutes Gefühl sein, hier am Morgen aufzuwachen, dem Vogelgezwitscher aus dem Park zu lauschen und dann nebenan eine schöne, warme Dusche zu nehmen.

Er sah sein eigenes Schlafzimmer vor sich, das diese Bezeichnung allerdings gar nicht verdiente, denn seine Wohnung in einer der schäbigsten Ecken Londons bestand nur aus einem einzigen Zimmer mit Kochnische, und wenn er schlafen wollte, mußte er das Sofa aufklappen und die Bettwäsche aus einem Schrank hervorkramen. Ein richtiges Bad hatte er überhaupt nicht, nur einen abgetrennten Verschlag unter der Dachschräge mit einer Dusche darin. Es gab eine Toilette im Treppenhaus, die er sich mit fünf anderen Parteien teilte. Ein Scheißleben, und nicht die kleinste Aussicht auf eine Verbesserung.

Doch. Eine ganz kleine. Jetzt schon.

Im nächsten Schlafzimmer, das gleich nebenan lag, stolperte er geradezu über Patricia, denn sie strahlte ihn von mindestens zwei Dutzend Fotos an den Wänden und auf Tischen und Regalen an. Nie alleine, stets war sie mit der kompletten Familie abgebildet: eine auffallend kleine, zarte Frau, sehr blond und sehr attraktiv, meist in die Arme eines großen, gutaussehenden Mannes geschmiegt, und daneben zwei kleine Mädchen, so hübsch und so blond wie die Mutter, die fast immer auf Ponys saßen oder mit tapsigen Hundewelpen kuschelten. Phillip betrachtete jedes Bild eindringlich. Nach seinem Gefühl handelte es sich nicht um Schnappschüsse, sondern um sorgfältig arrangierte Szenen, die das Bild der perfekten, glücklichen Familie in einer Intensität transportierten, die unglaubwürdig wirkte.

Sie will etwas darstellen, dachte er, um jeden Preis. Seht her, wie glücklich wir sind! In welch heiler Welt wir leben! Der perfekte Mann. Die perfekte Frau. Die perfekten Kinder.

Wann stellt man etwas derart demonstrativ zur Schau? überlegte er. Meist dann, wenn irgend etwas daran nicht stimmt.

Er studierte noch einmal die Züge der Frau. Sie mußte Anfang dreißig sein und hatte sicher kein Facelifting hinter sich, aber ihr Lächeln zeigte die Starre, die operierten Gesichtern häufig zueigen ist. Da war kein Strahlen in ihren Augen. Nur eiserner Wille. Harte Disziplin.

Sie würde keine leichte Gegnerin sein.

Er besichtigte das dritte Schlafzimmer, das ihm jedoch kaum Aufschluß gab über seine Bewohner. Keine Fotos, keine Kleider im Schrank. Ein einsamer weißer Morgenmantel hing an einem Garderobenständer. Irgendwie wirkte das Zimmer kahl und nüchtern — bis auf die roten Vorhänge an den Fenstern, die dem Raum ein wenig Farbe verliehen. Als habe jemand alles entfernt, was es vielleicht einmal wohnlich gemacht hatte, und es bislang versäumt, neue Gegenstände der Behaglichkeit herbeizuschaffen. Er mußte an den Mann denken, der geschieden und noch nicht allzulange wieder neu

verheiratet war. Er hätte gewettet, daß es dieses Paar war, das in dem Zimmer wohnte.

Er schickte sich gerade an, die Hühnerleiter hinaufzuklettern, um auch noch einen Blick in die Unterkünfte der Kinder zu werfen, da klingelte unten in der Halle das Telefon.

Verdammt, dachte er.

Mrs. Collins begab sich eiligen Schrittes zu dem Apparat. Er konnte ihre Schuhe auf den Fliesen klappern hören.

«Ja, hallo?«hörte er sie sagen, dann gleich darauf:»Oh, Mrs. Roth…, wie geht es Ihnen?… Ja… ja…«

Sie lauschte eine ganze Weile in den Telefonhörer, sagte nur gelegentlich» ja «oder» in Ordnung«. Die perfekte Patricia ratterte vermutlich eine ganze Salve von Anweisungen herunter, wie das Haus in Ordnung zu bringen war und wie sie alles vorzufinden wünschte. Dennoch würde Mrs. Collins irgendwann die Information loswerden, daß der hilfsbereite Cousin oder Onkel oder Neffe oder Was-auch-immer gerade dabei war, die Heizung zu reparieren. Und zu diesem Zeitpunkt sollte er möglichst schon das Weite gesucht haben.

Außerdem, fiel ihm ein, wartete Geraldine auf ihn. Seit über einer halben Stunde schon. Sie war zwar das Warten gewöhnt, aber er mußte ihre Geduld nicht überstrapazieren.

So gleichmütig wie möglich ging er die Treppe hinunter. Mrs. Collins sah ein wenig wie ein Opferlamm aus. Phillip konnte nicht verstehen, was Patricia sagte, aber er konnte ihre Stimme aus dem Telefon hören. Sie sprach laut und klar und schnell.

Ich bin fertig, bedeutete er Mrs. Collins lautlos, ich gehe jetzt!

Natürlich konnte es die Schlampe nicht lassen. Vielleicht war sie auch einfach froh, eine Gelegenheit zu finden, Patricias Redeschwall zu unterbrechen.

«Mrs. Roth«, sagte sie hastig,»äh… Mrs. Roth, Ihr Verwandter ist übrigens gerade da. Wegen der Heizung. Ich habe ihn hereingelassen. Er hat schon alles repariert.«

Offenbar war Patricia sprachlos, denn für einen Moment blieb am anderen Ende der Leitung alles still.

Dann sagte sie irgend etwas, und Mrs. Collins starrte entsetzt zu Phillip hinüber.»Wie?«fragte sie.»Sie haben keinen Verwandten in England?«

Phillip fand, daß das Gequake aus dem Hörer jetzt etwas hysterisch klang.

«Die Heizung ist gar nicht kaputt?«wiederholte Mrs. Collins. In ihre Augen war ein nervöses Flackern getreten. Offenbar erwartete sie, niedergeschlagen, erstochen oder vergewaltigt zu werden. Dabei, dachte Phillip, der schon fast die Haustür erreicht hatte, müßte sie eigentlich merken, daß ich nur wegwill.

Sie ließ den Hörer sinken, aus dem noch immer Patricias Stimme drang.»Wer sind Sie?«fragte sie.

Er hatte seine Hand auf dem Türgriff und lächelte Mrs. Collins freundlich an.»Ich bin verwandt mit Mrs. Roth«, antwortete er.»Sie weiß das bloß noch nicht.«

Er ließ sie mit ihrem Staunen allein und trat hinaus in den warmen Frühlingstag.

Er hatte sich ein erstes Bild gemacht.

2

Ricardas Tagebuch

13. April. Morgen, am Montag, fahre ich zu Papa und reise dann mit ihm nach Stanbury. Niemand weiß, wie schrecklich ich ihn vermisse. Auch Mama nicht, denn sie würde es sicher ganz unglücklich machen, weil sie dann denken müßte, ich bin nicht gerne mit ihr zusammen. Als sie damals wegging von Papa, hat sie mich gefragt, bei wem ich lieber wohnen möchte, und sie hat so traurig und einsam ausgesehen, daß ich gesagt habe: Bei dir, Mama. Aber das hat nicht gestimmt. Innerlich habe ich die ganze Zeit über gerufen: Bei Papa, bei Papa, bei Papa! Aber das hat Mama natürlich nicht gehört, und ich habe ein so schlechtes Gewissen gehabt, daß ich sie umarmt und mich an sie geklammert habe. Und später hat sie mich dann nicht noch mal gefragt.

Es ist schon okay, mit Mama zu leben, aber Papa ist einfach etwas ganz Besonderes, und niemand auf der Welt kann ihn ersetzen. Ich würde alles dafür geben, wenn ich immer mit ihm Zusammensein könnte. Aber nur, wenn er nicht diese gräßliche Frau geheiratet hätte.

Ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie!

Sie ist echt so ätzend, das gibt es gar nicht! Jünger als Mama, aber ich finde sie nicht halb so hübsch! Beim Autofahren trägt sie eine Brille, und dann sieht sie aus wie eine Lehrerin. Sie ist Tierärztin! Papa hat damals versucht, mich damit einzuwickeln.

«Sie ist Tierärztin, Ricarda, stell dir das nur vor! Tierärztin wolltest du doch auch immer werden später! Jessica kann dir ganz viel darüber erzählen. Und sicher nimmt sie dich mal mit in ihre Praxis!«

Danke, verzichte! Papa merkt auch einfach nie, daß ich ein bißchen älter geworden bin! Mit neun oder zehn wollte ich Tierärztin werden. Alle kleinen Mädchen wollen das, auch Sophie und Diane jetzt. Typisch. Ich weiß gar nicht, was ich werden will. Am besten nichts. Einfach leben. Mich kennenlernen, die Welt kennenlernen. Und alles vergessen. Die ganze Scheiße mit meinen Eltern. Können es sich Leute nicht vorher überlegen, ob sie zusammenbleiben wollen oder nicht? Also, bevor sie unschuldige Kinder in die Welt setzen? Es müßte ein Gesetz geben, das es Menschen verbietet, sich scheiden zu lassen, wenn sie Kinder haben. Erst wenn die Kinder fertig sind mit der Schule, dann dürfen die Eltern sich trennen. Und vielleicht würden sich viele bis dahin sowieso wieder vertragen haben.

Als Mama mir sagte, daß Papa heiratet, habe ich gesagt, ich fahre nie wieder mit ihm nach Stanbury. Und ich will ihn überhaupt nie wiedersehen.

Mama hat mich nicht ernst genommen, was sie sowieso nie tut, aber ich habe es dann auch nicht geschafft. Papa nie mehr wiederzusehen, das würde so weh tun, das könnte ich nicht aushalten. Das Schlimme ist nur, daß J. immer dabei ist. Sie tut so scheißfreundlich und verständnisvoll, und wahrscheinlich hätte sie es gern, wenn ich ihr meine Probleme anvertrauen würde oder so, aber da kann sie ewig warten. Da würde ich noch eher Evelin was erzählen, oder Patricia. Na ja, Patricia vielleicht nicht. Die ist kalt wie ein toter Fisch und lächelt immer wie eine Zahnpastareklame. Aber Evelin ist echt nett. Ein bißchen doof, aber sie hat es auch sauschwer.

Am liebsten würde ich einfach mit Papa mal ganz allein Ferien machen. Ohne die anderen alle. Nur er und ich. Ich würde gerne mit ihm in einem Wohnmobil durch Kanada fahren. Das wäre mein Traum. Abends würden wir Lagerfeuer machen und Marshmallows rösten und die Sterne anschauen. Und am Tag würden wir vielleicht einen Grizzly sehen. Und Elche.

Ich werde das von jetzt an auf jeden Wunschzettel schreiben. An Weihnachten, an Ostern und an meinem Geburtstag. Ich werde nichts anderes darauf schreiben als: Ferien in Kanada mit Papa ganz alleine.

Irgendwann erfüllt er mir dann meinen Wunsch.

In diesen Osterferien werde ich jedenfalls wieder in Stanbury sein. Ich hasse es.

Ich hasse J.

Ich hasse mein Leben.

3

Am ersten Abend auf Stanbury aßen sie immer Spaghetti. Das war Tradition seit vielen Jahren, und an Traditionen wurde eisern festgehalten. Es war üblich, daß die drei Frauen gemeinsam die Nudeln kochten und daß dann nachher alle zusammen im Eßzimmer aßen und zwei Flaschen Champagner dazu tranken. Am zweiten Abend kochten die Männer, dann wieder die Frauen, und immer so fort. Nur gelegentlich besuchten sie zwischendurch ein Pub.

Jessica war erstaunt, daß sie niemanden in der Küche antraf, als sie hinunterkam. Nach der Ankunft hatte sich jeder in sein Zimmer verzogen, um die Koffer auszupacken, aber sie hatten vereinbart, um sieben Uhr mit dem Kochen zu beginnen. Nun war es Viertel nach sieben.

Egal, dachte Jessica, dann fange ich eben alleine an.

Sie vergewisserte sich, daß der Champagner kalt gestellt war, und ließ dann Wasser in einen großen Topf laufen. Durch das Fenster konnte sie in den Park hinaussehen, auf den eine sanfte, goldfarbene Abendsonne schien. Gleich nach der Landung auf dem Leeds Bradford International Airport am Mittag hatten sie festgestellt, daß es ungewöhnlich warm war für April. Sie hatten ihre beiden Leihautos in Empfang genommen, und auf der Fahrt von Yeadon nach Stanbury hatten sich alle aus ihren Jacken und Mänteln geschält. Überall blühten wilde Narzissen, und einige Bäume trugen bereits helles, frisches Grün.

Jessica sah Leon und Tim nebeneinander über den Rasen gehen; sie schienen in ein sehr ernstes Gespräch vertieft zu sein, denn beide runzelten die Stirn und blickten alles andere als glücklich drein.

Leon war Patricias Mann, und seine Freunde taten meist so, als sei er der Besitzer von Stanbury, obwohl es Patricia war, die das Anwesen geerbt hatte. Leon hatte im Grunde nicht das geringste zu sagen, und wenn man mit ihm etwas, das das Haus betraf, besprach, wußte man, daß er anschließend zu Patricia ging und ihre Anweisungen einholte.

Jessica schüttete Salz in das Wasser, stellte den Topf auf den Herd und zündete die Gasflamme an. Es waren ihre zweiten Osterferien in Stanbury, ihr sechster Aufenthalt insgesamt, denn sie waren dazwischen an Pfingsten, im Sommer, im Herbst und an Weihnachten hier gewesen. Die Handgriffe in der Küche waren ihr mittlerweile vertraut, und überhaupt hatte sie zweifellos Zuneigung zu dem Haus und zu der Landschaft gefaßt. Dennoch dachte sie manchmal, daß es schön sein könnte, mit Alexander, ihrem Mann, anderswo hinzufahren. Mit ihm allein.

Was ironischerweise ein Wunsch war, den sie mit Alexanders fünfzehnjähriger Tochter teilte, und es war mit Sicherheit die einzige Gemeinsamkeit, die sie hatten. Jessica wußte, daß Ricarda sie abgrundtief haßte. Vorhin, im Schlafzimmer, als sie und Alexander ihre Koffer auspackten, hatte Alexander einen Zettel aus seiner Hosentasche gezogen und ihn Jessica gereicht.

«Hier. Lies mal. Ricardas Wunschzettel. Für Ostern.«

Es war ein gelochtes Blatt, lieblos aus einem Ringbuch herausgerissen. Ricarda hatte sich zudem keineswegs Mühe gegeben, einigermaßen schön und deutlich zu schreiben.

Mein Wunschzettel stand ganz oben gekritzelt, und darunter in riesigen, tief eingedrückten Buchstaben: Ferienreise mit Papa nach Kanada alleine. Das Wort alleine war dreimal dick unterstrichen.

«Und wenn du wirklich einmal mit ihr alleine verreist?«hatte Jessica gefragt und ihm den Zettel zurückgegeben.»Vielleicht würde es euch guttun. Sie verkraftet doch ganz offensichtlich

deine Scheidung von Elena nicht. Und schon überhaupt nicht den Umstand, daß du erneut geheiratet hast. Vielleicht solltest du ihr das Gefühl geben, daß ein Teil deines Herzens immer noch ihr, und nur ihr alleine, gehört.«

Alexander schüttelte den Kopf.»Ich will nicht wochenlang ohne dich sein.«

«Ich würde es verstehen. Und vielleicht würde es uns alle weiterbringen.«

«Da müßte sie sich erst anders benehmen. So wie sie sich dir gegenüber verhält, verdient sie einfach keine Belohnung. Wenn ich ihr jetzt diesen Wunsch erfülle, glaubt sie, sie kann sich alles erlauben. Ich kenne meine Tochter.«

Da Ricarda überdies bereits im Auto verkündet hatte, sie werde am gemeinsamen Abendessen keinesfalls teilnehmen, war Alexander nun auf den Dachboden hinaufgestiegen, um mit ihr zu reden. Jessica war gespannt, ob er etwas ausrichten würde.

Die Tür flog auf, und eine atemlose Evelin stürzte in die Küche. Sie hatte sich für das Abendessen umgezogen, wie immer etwas zu aufwendig. Das himmelblaue Seidenkleid, das figurumspielend lässig geschnitten war, hätte Jessica äußerstenfalls im Theater angezogen. Hier auf Stanbury trug sie fast ausschließlich Jeans und Sweatshirts.

«Ich bin ziemlich spät dran«, sagte Evelin und wirkte dabei nicht wie eine erwachsene Frau, sondern wie ein Schulmädchen, das sich für ein Versäumnis schämt,»es tut mir leid. Ich habe die Zeit vergessen…«

Sie hatte hektische rote Flecken im Gesicht.»Wo ist Patricia?«

«Die hat bestimmt auch die Zeit vergessen«, meinte Jessica gleichmütig.»Keine Sorge. Es dauert sowieso eine Weile, bis das Wasser kocht.«

«Ich weiß überhaupt nicht, wo Tim steckt.«

Jessica deutete zum Fenster hinaus.»Er ist draußen mit Leon. Die beiden scheinen äußerst tiefschürfende Gespräche zu führen.«

Evelin setzte sich auf einen Stuhl.»Soll ich Tomaten schneiden?«

«In diesem Kleid solltest du das besser nicht tun. Außerdem… deine Hand!«

Evelins linke Hand war bandagiert, ein Unfall beim Tennis, wie sie den anderen morgens beim Aufbruch berichtet hatte. Evelin spielte regelmäßig Tennis und ging täglich ins Fitneßstudio, sie joggte und machte bei einem Aerobic-Kurs mit, aber sie war völlig unsportlich und ungeschickt und zog sich häufig Verletzungen zu. Kein Wunder, dachte Jessica oft, bei ihrer Figur!

Evelin war nicht einfach üppig, sie war fett, und sie schien ständig zuzunehmen. Ihre sportlichen Aktivitäten vermochten nicht den Umstand auszugleichen, daß sie sich praktisch von morgens bis abends Kalorien in Form von Torte, Schokolade und allzu vielen Gläsern Prosecco zuführte. Sie wirkte nicht glücklich, trotz des schönen Hauses, in dem sie wohnte, und der intakten Ehe, die sie führte. Sie übte keinen Beruf aus und hatte keine Kinder, und Tim, ihr Mann, war den ganzen Tag über in seiner psychotherapeutischen Praxis tätig, die sehr erfolgreich lief und ihm eine Menge Geld einbrachte. Evelin war viel allein. Sie strahlte Einsamkeit und Niedergeschlagenheit aus.

«Vor sechs Jahren«, hatte Patricia erzählt,»hat sie bei einer Fehlgeburt im sechsten Monat ihr Baby verloren, und seitdem scheint es mit einer erneuten Schwangerschaft nicht zu klappen. Ich glaube, das macht ihr schwer zu schaffen.«

«Was wirst du tun in diesen Ferien?«fragte Evelin nun.»Wieder soviel laufen?«

Jessica hatte die Freunde von Anfang an mit ihrer Leidenschaft für endlos lange, einsame Spaziergänge verblüfft. Stets war sie mindestens zwei oder drei Stunden unterwegs, gleichgültig, ob es regnete oder die Sonne schien. Manchmal sahen die anderen sie den ganzen Tag nicht. Jessica wußte, daß Patricia deswegen schon genörgelt hatte; sie fand, Jessica grenze sich zu sehr ab und gehe zu oft ihrer eigenen Wege. Alexander hatte es ihr erzählt.

«Vielleicht solltest du sie oder Evelin einmal bitten, dich zu begleiten«, hatte er gemeint,»oder dich ihnen anschließen. Sie könnten sonst das Gefühl bekommen, du magst sie nicht besonders.«

«Ich kann Menschen mögen und muß trotzdem nicht rund um die Uhr mit ihnen Zusammensein. Patricia und Evelin stehen ständig am Rand einer Wiese und schauen Patricias Töchtern beim Reiten zu. Das ist einfach nichts für mich.«

«Ich denke ja auch nur, daß du es zwischendurch mal machen könntest. Um ein bißchen Gemeinsamkeit herzustellen.«

Jessica hatte ein paarmal versucht, seinem Wunsch zu entsprechen, aber sie hatte sich dabei fast zu Tode gelangweilt. Diane und Sophie waren auf ihren Ponys im Kreis herumgeritten, und Patricia hatte jede Bewegung ihrer Töchter kommentiert und jede Menge Anekdoten aus ihrer beider Leben erzählt. Was sie ohnehin meistens tat. Patricia kannte kein anderes Thema als ihre Familie. Ihre Kinder, ihr Mann. Ihr Mann, ihre Kinder. Gelegentlich ging es noch um Freunde ihrer Kinder oder Lehrer ihrer Kinder, und dann und wann um Prozesse ihres Mannes, der Anwalt war, und zwar — wenn man Patricia Glauben schenken wollte — einer der erfolgreichsten und bedeutendsten in ganz München. Patricias Welt war so heil, daß es ein normaler Mensch nicht aushalten konnte. Jessica mißtraute diesem Ausmaß an Perfektion zutiefst, außerdem fand sie Patricias ständiges Geprahle mit ihren Kindern taktlos Evelin gegenüber, angesichts des Traumas, das diese erlitten hatte. Jessica hatte zunächst nicht verstanden, weshalb sich Evelin trotzdem so eng an Patricia anschloß, vermutete aber inzwischen, daß sie sich in Momenten des Zusammenseins mit der Freundin zu identifizieren suchte. Patricia schien für sie ein Vorbild, ein Ideal zu sein. Daher versuchte sie sich auch in all den Sportarten, die Patricia ausübte. Nur daß Patricia darin glänzte, während sich Evelin wie ein Tolpatsch benahm. Jessica betrachtete sie, wie sie da in ihrem figurumspielenden Sackkleid auf dem Küchenstuhl saß, so dick und so schwerfällig, und sie dachte: Sie ist die Unglücklichste von allen hier. Sie hat so traurige Augen, und niemand scheint jemals wirklich mit ihr zu sprechen. Einem spontanen Gefühl folgend, wollte sie zu ihr gehen, sich neben sie setzen, ihr den Arm um die Schultern legen und sie fragen, was sie so sehr bedrückte, aber gerade in diesem Moment wurde die Küchentür aufgerissen, und Patricia kam herein. Und wie immer, wenn sie sich in einem Raum befand, schien sie ihn sofort zu besetzen und völlig auszufüllen — trotz ihrer Größe von knapp einem Meter sechzig und ihrer zerbrechlichen, kindlichen Figur. Ganz gleich, was sie tat, sie war stets ungemein intensiv, und es gab viele Menschen, die sie als ungeheuer erschöpfend empfanden.

«Ich bin zu spät«, sagte sie,»tut mir leid.«

Ihre langen, blonden Haare leuchteten im Licht der einfallenden Abendsonne. Sie trug einen eng anliegenden, flaschengrünen Hausanzug, der sich perfekt eignete, darin zu kochen, der aber zugleich elegant genug war, um sie später beim Essen ebenfalls eine gute Figur abgeben zu lassen. Es handelte sich um eines jener Kleidungsstücke, bei denen sich Jessica oft fragte, wie es manchen Frauen gelang, sie aufzutreiben.

Patricia schwang sich auf den Küchentisch. Es war typisch für sie; nie würde sie sich, wie Evelin, einfach auf einen Stuhl plumpsen lassen. Immer lag eine besondere Energie, eine besondere Beweglichkeit in allem, was sie tat.

«Ich habe eben noch mit Mrs. Collins telefoniert. Sie ist wirklich die unfähigste Person, die ich je kennengelernt habe. Ich meine, wie kann sie einen wildfremden Mann hier im Haus umherstreifen lassen, nur weil er behauptet, er sei mit mir verwandt und müsse die Heizung reparieren? Sie hätte mich doch wenigstens anrufen und fragen müssen!«

Jessica seufzte leise. Patricia lamentierte seit Tagen über dieses Thema. Unmittelbar nach dem Ereignis, nachdem sie also mit Mrs. Collins gesprochen und von dem fremden Mann erfahren hatte, hatte sie bei den Freunden angerufen und ihnen alles erzählt. Auch auf dem Flug von München nach Leeds hatte sie ständig davon gesprochen. Sie regte sich entsetzlich auf, insbesondere auch darüber, daß ihr Mann die ganze Sache ziemlich gelassen nahm.

«Ich verstehe nicht, wie Leon so ruhig sein kann!«hatte sie im Flugzeug ständig wiederholt.»Dieser Typ kann doch gefährlich sein. Ein Krimineller, ein Triebtäter… was weiß ich? Wir haben zwei kleine Töchter… o Gott, ich werde während dieser Ferien keine ruhige Minute haben!«

Auch jetzt konnte sie sich noch nicht beruhigen.

«Mrs. Collins sagt, er habe vertrauenerweckend ausgesehen. Ich weiß wirklich nicht, wie blöd ein Mensch sein kann. Als ob man danach gehen könnte, wie jemand aussieht! Was glaubt die Alte? Daß Verbrecher eine schwarze Augenklappe tragen und einen Dreitagebart? Wenn ich nur wüßte, was der Typ hier wollte!«

«Jedenfalls hat er ja offenbar nichts geklaut«, sagte Evelin. Diese Feststellung traf sie heute zum fünften oder sechsten Mal; allerdings, dachte Jessica, wäre es wohl ein Fehler, daraus auf mangelnde Intelligenz zu schließen. In dem Thema um den geheimnisvollen Fremden wiederholten sich alle ständig, denn sämtliche Mutmaßungen waren inzwischen ausgeschöpft, und es machte längst keinen Sinn mehr, noch länger über all das zu reden. Es war jedoch klar, daß Patricia nicht so bald aufgeben würde.

«Er hat spioniert«, sagte sie,»das steht für mich fest. Vielleicht hat er versucht, einen Weg zu finden, wie er nachts in das Haus einsteigen kann. Oder er hat sich im Keller ein Fenster geöffnet, um später hineinkommen zu können.«

«Das ließe sich ja überprüfen«, meinte Jessica.

«Was glaubst du wohl, was ich gleich nach unserer Ankunft getan habe? Ich bin in jedes verdammte Loch gekrochen und habe an jedem Fenster gerüttelt, habe die Verriegelung der Tür geprüft.«

Patricia schüttelte sich.»Gott, ist das ein Staub da unten! Und ein Gerümpel. Da ist seit Generationen nicht ausgemistet worden.«

«Ich halte diese Idee für unlogisch«, sagte Jessica.»Das Haus steht seit Weihnachten leer. Es liegt vollkommen einsam. Und wenn jemand unter allen Umständen in ein Haus hineinwill, dann kommt er auch hinein. Also, warum sollte er warten, bis wir alle da sind? Das wäre doch dumm. Warum sollte er sich der Putzfrau zeigen und ihr seinen Namen nennen? Nachdem er drei Monate Zeit hatte, hier alles in Seelenruhe auszuräumen, falls er das gewollt hätte. Ganz abgesehen davon, daß es hier nicht viel zu holen gibt.«

«Das weiß er aber nicht. Die Vorhänge sind immer zu, wenn wir weg sind. Er kann nichts sehen von draußen.«

«Dann weiß er es spätestens jetzt. Offenbar hat er sich ja gründlich umgeschaut. Hier gibt es nichts, was das Risiko eines Einbruchs lohnt.«

«Vielleicht will er gar nichts stehlen«, beharrte Patricia,»vielleicht ist er ein Triebtäter. Irgendein perverser Typ, der hier eines Nachts ein Blutbad anrichten will!«

Evelin war blaß geworden.»Sag doch nicht etwas so Schreckliches!«rief sie.»Ich werde sonst kein Auge mehr zutun!«

Patricia musterte sie kühl.»Indem du die Möglichkeit negierst, wird deine Situation aber auch nicht sicherer.«

«Und indem du alles schwarzmalst…«

Jessica fürchtete, daß jeden Moment ein Streit ausbrechen würde, und mischte sich ein.

«Und wenn er wirklich ein Verwandter von dir ist?«fragte sie ruhig.

Patricia starrte sie an.»Ich habe in England keine Verwandten.«

«Das weißt du doch nicht. Es kann ja auch ein Cousin dritten oder vierten Grades sein… oder ein Angeheirateter… was weiß ich! Dein Großvater war Engländer. Es muß also einen Familienzweig hier geben.«

«Mein Großvater hat seine Familie in Deutschland gegründet. Von seiner englischen Familie lebte niemand mehr, das hat mir mein Vater oft genug erzählt. Als er nach England zurückging, blieb er allein. Es kann also niemanden geben.«

«Vielleicht aber doch. Eben diesen Mann. Und er will womöglich nichts anderes als Kontakt mit dir aufnehmen.«

«Das ist aber eine merkwürdige Art, Kontakt aufzunehmen. Warum kommt er nicht her, stellt sich vor, wir trinken einen Tee zusammen, und das war es dann?«

«Vielleicht wollte er genau das. Er kam her, und wir waren noch nicht da. Zufällig kreuzte gerade Mrs. Collins auf. Er nutzte die Gelegenheit, einen Blick in dein Leben zu werfen. Womöglich platzt er fast vor Neugier auf seine deutsche… ja, vielleicht Cousine oder etwas Ähnliches!«

«Aber…«

«Es ist nicht die feine Art. Natürlich kann man so etwas nicht

machen. Aber es ist eine Theorie, die weit entfernt ist von deiner Triebtäter-Variante.«

Patricia wirkte keineswegs überzeugt.»Na ja…«, meinte sie vage.

Jessica ging zum Kühlschrank, öffnete ihn und zog eine Flasche Prosecco heraus.»Kommt«, sagte sie,»wir trinken jetzt ein Glas zusammen. Ohne die Männer. Auf unseren Urlaub und darauf, daß Patricias Triebtäter in Wahrheit ein netter Mann ist, mit dem wir uns gut verstehen werden!«

Draußen verdämmerte der Tag. Eine friedliche Stille senkte sich über die Küche. Das Nudelwasser sprudelte. Jessica blickte hinaus. Leon und Tim kamen durch den Garten zurück.

Tims Mund war nur ein dünner Strich, so fest hatte er die Lippen zusammengepreßt. Leon redete und gestikulierte.

Irgend etwas stimmt mit den beiden nicht, dachte Jessica. Sie war verwundert und beunruhigt: Zwischen den Freunden war sonst immer alles in Ordnung! Das war das Besondere an ihnen.

Eine Abweichung war undenkbar.

Ricarda erschien tatsächlich nicht zum gemeinsamen Abendessen. Allerdings hatte Alexander ohnehin nicht mit ihr sprechen können, da er sie nicht in ihrem Zimmer angetroffen und auch im ganzen übrigen Haus nicht gefunden hatte.

Er saß mit Grabesmiene am Tisch, während Patricia in ihrer erschöpfend intensiven Art auf ihn einredete.

«Das kannst du nicht durchgehen lassen! Ich meine, das Mädchen ist fünfzehn! Das ist ein äußerst gefährliches Alter. Vielleicht trifft sie sich mit irgendeinem Mann! Willst du, daß sie dich demnächst zum Großvater macht?«

«Ich bitte dich!«sagte Alexander müde und strich sich mit der Hand über das Gesicht.»So weit ist sie nun wirklich noch nicht!«

«Woher willst du das wissen? Du weißt ja nicht einmal, wo sie sich herumtreibt. Und Einfluß hast du schon überhaupt nicht auf sie — wie auch, als geschiedener Vater. Von Elenas Erziehungsmethoden habe ich nie etwas gehalten, das weißt du. Sie hat Ricarda immer viel zuviel Freiheit gelassen, in erster Linie deshalb, damit sie selbst möglichst keine Arbeit mit dem Kind hat. Wenn ich mir überlege, wie ich mich für Diane und Sophie engagiere — das wäre für Madame natürlich nichts gewesen!«

Jessica wunderte sich oft, mit welcher Härte und Verachtung im Freundeskreis über Alexanders geschiedene Frau gesprochen wurde. Schließlich hatte sie jahrelang dazugehört, die Ferien in Stanbury geteilt, mit ihnen allen gelebt, geredet, gelacht oder vielleicht auch einmal ihr Herz ausgeschüttet. In dem Moment der Scheidung war sie offenbar zur Verfemten geworden. Jessica mischte sich ein, weil sie den Eindruck hatte, daß Alexander unter dem Maschinengewehrfeuer von Patricias Ausführungen wehrlos geworden war.

«Ich glaube, wir sollten nicht den Teufel an die Wand malen«, sagte sie.»Es ist ganz normal, daß sich ein Mädchen in Ricardas Alter von der Familie absetzt und eigene Wege geht. Bei mir war das genauso.«

«Bei meinen Töchtern wird das nicht so sein«, erklärte Patricia mit Bestimmtheit, und die Mädchen, denen, wie Jessica fand, schon heute ein außergewöhnliches Maß an Selbstgerechtigkeit anhaftete, lächelten zustimmend.

Leon brachte einen Trinkspruch auf die bevorstehenden Ferien aus, und alle prosteten einander zu. Es war zweifellos so, daß eine sehr warme Strömung von Freundschaft, Zusammengehörigkeit und Vertrauen durch den alten, holzgetäfelten Raum zu wehen schien. Jessica konnte verstehen, daß Menschen an einer fast familiären Struktur hingen, die über so viele Jahre gewachsen war. Sie betrachtete die drei Männer, die einander seit ihrer Kindheit verbunden waren. Alexander, Leon und Tim.

«Uns konntest du immer nur zusammen antreffen«, hatte Alexander ihr einmal erzählt,»eigentlich taten wir alles gemeinsam. Und wir sind froh, daß wir diese Freundschaft erhalten konnten, obwohl jeder von uns zwangsläufig in der Universität eigene Wege gehen mußte.«

Jessica hatte Leon kurz vor dem Abendessen auf seine Auseinandersetzung mit Tim angesprochen.

«Hattet ihr Streit? Ich sah euch durch den Garten kommen, und…«

Leon hatte sie mit einem kurzen Lachen unterbrochen.»Um Gottes willen! Da hast du etwas mißverstanden. Wir haben nicht gestritten. Tim hat mir erzählt, woran er gerade arbeitet, und ich habe sehr interessiert zugehört. Vielleicht hast du unsere Konzentration als Verstimmung gedeutet, aber das war wirklich nicht der Fall.«

Jessica hatte nicht den Eindruck, sich getäuscht zu haben, aber aus den wenigen Erfahrungen, die sie mit den Freunden gewonnen hatte, wußte sie bereits, daß es keinen Sinn gehabt hätte, nachzuhaken.

So wandte sie sich nun bei Tisch an Tim.»Tim, ich habe gehört, du arbeitest an einer interessanten Sache. Kannst du darüber schon sprechen?«

«Nun«, sagte Tim,»ich arbeite nicht an einem bestimmten Fall, wenn du das meinst. Ich habe nur begonnen, meine Promotion vorzubereiten.«

«Warum willst du plötzlich promovieren?«fragte Patricia.»Deine psychotherapeutische Praxis läuft glänzend, deine Seminare für Selbstbehauptungstraining ebenso. Glaubst du, es spielt eine Rolle, ob du einen Doktor vor dem Namen trägst?«

«Meine liebe Patricia«, erwiderte Tim,»ich finde, ein großer Reiz des Lebens besteht in den Herausforderungen, die wir an uns richten und denen wir uns dann mit all unserem Einsatz widmen. Es geht schließlich nicht nur um das, was wir unbedingt brauchen. Es geht um das Vorankommen, darum, die eigene Meßlatte immer wieder ein Stück höher zu legen.«

«Welches ist das Thema deiner Doktorarbeit?«fragte Jessica.

Es gefiel Tim, mit seinem Projekt im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen, das konnte man ihm ansehen.

«Abhängigkeit«, antwortete er.

«Abhängigkeit, die sich zwischen Menschen entwickelt?«

«Ja, und auch bestimmte Täter-Opfer-Konstellationen, die daraus entstehen. Was bei einem Abhängigkeitsverhältniss zwischen zwei Menschen fast immer der Fall ist. Wer ergreift warum welche Rolle? Welchen Nutzen zieht jeder von beiden daraus?«

«Das klingt interessant«, gab Jessica zu.

«Das ist interessant«, entgegnete Tim mit selbstgefälliger Miene,»aber auch sehr vielschichtig und arbeitsintensiv. Ich werde einiges daran zu tun haben in diesen Ferien.«

«Du bist noch ganz am Anfang?«erkundigte sich Patricia.

Tim nickte.»Im Grunde noch bei den Vorarbeiten. Ich bin dabei, ein paar Persönlichkeitsprofile zu entwickeln, anhand derer ich dann meine Theorien darlegen möchte.«

Patricia lachte ein wenig hektisch.»Dann ist es ja gar nicht ungefährlich, sich in deiner Nähe aufzuhalten. Am Ende findet man sich als Fallbeispiel in deiner Arbeit wieder.«

«Kann passieren«, bestätigte Tim.

Sie starrte ihn an.»Na ja, mich kann das kaum betreffen. Ich denke, beim besten Willen könnte mir niemand irgendeine Form der Abhängigkeit andichten.«

«Bist du da so sicher?«fragte Tim.

Patricia bekam funkelnde Augen.»Also, ich möchte wirklich wissen, wo du da bei mir etwas finden könntest!«

«Oh, ich denke, das springt einem geradezu ins Auge. Du bist unendlich abhängig von dem Bild, das du in der Öffentlichkeit abgibst. Die perfekte Patricia. Die perfekte Gattin. Die perfekte Mutter. Mit ihren perfekten Kindern und ihrem perfekten Mann in einem perfekten Haus. Einfach das perfekte Leben. Und damit wiederum katapultierst du dich in eine ungeheure Abhängigkeit von Leon. Da du allein dieses Bild nicht aufrechterhalten könntest, bist du auf seine Kooperation angewiesen, und entsprechend mußt du auch ihm so manches… Entgegenkommen erweisen.«

Patricia hatte hochrote Wangen und saß so aufrecht und gespannt auf ihrem Platz wie eine Stahlfeder.»Könntest du deutlicher werden?«fragte sie schrill.

Tim widmete sich wieder seinem Essen.»Ich denke, wir verstehen uns«, antwortete er kauend und ohne das geringste Anzeichen einer Emotion.

Ein paar Minuten lang herrschte ein etwas gedrücktes Schweigen am Tisch, dann hörte man draußen die Haustür klappen.

«Das ist bestimmt Ricarda!«sagte Patricia sofort, offenbar bestrebt, von sich als Gesprächsgegenstand abzulenken.»Alexander, du solltest jetzt gleich zu ihr gehen und ihr deine Meinung…«

Alexander machte bereits Anstalten, aufzustehen, doch Jessica legte ihm rasch die Hand auf den Arm.»Nicht. Du machst alles nur schlimmer. Laß sie jetzt erst einmal in Ruhe.«

«Ich wollte gar nicht zu Ricarda gehen«, erklärte Alexander,»ich wollte eigentlich etwas verkünden.«

Er lächelte.»Ich…«

Diesmal krallte sie ihm die Fingernägel in den Arm.»Nein! Nein, bitte nicht!«

Alle starrten sie überrascht an.

«Was ist denn los?«fragte Evelin.

Alexander setzte sich wieder.»Ich verstehe dich nicht«, sagte er.

Jessica erhob sich rasch.»Ich sehe mal nach Ricarda«, murmelte sie.

Sie wußte, daß sie sich eine Abfuhr einhandeln würde. Dennoch verließ sie mit schnellen Schritten den Raum und stieg die Treppe hinauf.

4

Jessica erwachte mitten in der Nacht, und sie wußte nicht gleich, was sie geweckt hatte. Es mußte etwas gewesen sein, das sie bis in ihre Träume hinein beunruhigt hatte, denn ihr Herz schlug heftig, und sie empfand ein Gefühl der Bedrohung, ohne eine Ahnung zu haben, welcher Art diese Bedrohung sein sollte. Obwohl sie schon einige Male in Stanbury Ferien gemacht hatte, war es doch für dieses Mal die erste Nacht in einem fremden Bett, und vielleicht hatte sie dieser Umstand durcheinandergebracht. Doch dann bemerkte sie den Lichtschein, der durch die Ritze unter der Tür zum anliegenden Badezimmer hindurchschimmerte, und im selben Moment registrierte sie auch, daß das Bett neben ihr leer war. Nebenan hörte sie Wasser in das Waschbecken rauschen.

Sie wußte, wovon sie aufgewacht war, und seufzte leise.

Wochenlang war nichts geschehen. Fast zwangsläufig hatte nun wieder eine solche Nacht kommen müssen.

Sie knipste ihre Nachttischlampe an, schwang die Füße aus dem Bett und warf dabei einen Blick auf den Radiowecker, der auf dem Boden stand. Kurz vor vier. Die übliche Zeit.

Sie klopfte leise an die Badezimmertür.

«Alexander?«

Er antwortete nicht, und sie trat ein.

Er stand vor dem Waschbecken, ließ kaltes Wasser in seine geöffneten Hände laufen und spritzte es sich dann ins Gesicht. Er war totenbleich, und er schien am ganzen Körper zu zittern.

«Alexander!«

Sie trat an ihn heran, legte ihm eine Hand auf die Schulter.»Du hast wieder geträumt?«

Er nickte. Er drehte den Wasserhahn zu, griff nach einem Handtuch, trocknete Gesicht und Hände ab. Selbst das eiskalte Wasser hatte nicht einen Hauch von Farbe auf seine Wangen gebracht.

«Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe«, sagte er.»Ich fürchte, ich habe wieder geschrien oder geredet.«

«Ich weiß es nicht. Ich bin eben erst aufgewacht. Es spielt auch keine Rolle.«

Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und zog ihn sanft neben sich.

«Willst du mir nicht doch mal erzählen, wovon du träumst? Was es ist, was dich so sehr belastet?«

Er schüttelte den Kopf.»Es würde nichts ändern. Es ist alles so lange her.«

«Es ändert schon etwas, wenn man über die Dinge redet. Vielleicht hast du diese Probleme ja genau deshalb, weil du alles viel zu sehr in dir verschließt.«

Er schüttelte erneut den Kopf, rieb sich die Augen, die von Müdigkeit gerötet waren.»Nein. Es gibt Dinge…, an die rührt man besser nie wieder. Man läßt sie ruhen, wo sie sind — in der Vergangenheit.«

Jessica seufzte.»Aber sie ruhen nicht. Das ist doch die Schwierigkeit. Sie toben in dir herum. Sie quälen dich. Sie lassen sich nicht verdrängen.«

Er schüttelte nur wieder den Kopf und vergrub dann das Gesicht in den Händen, und sie wußte, daß dieses Gespräch so ergebnislos verlaufen würde wie alle anderen, die sie zuvor geführt hatten. Es hatte etliche Nächte wie diese gegeben, in denen sie daheim im Bad gesessen hatten, manchmal auch in der Küche oder aufrecht nebeneinander im Bett. Alexander war schreiend aus einem Traum erwacht und hatte lange gebraucht, sich wieder zu erholen, das Zittern in seinem Körper zu bezwingen. Beim erstenmal — das war wenige Wochen vor ihrer Hochzeit gewesen — hatte Jessica an einen Alptraum gedacht, wie ihn viele Menschen von Zeit zu Zeit erleben. Allerdings war sie schon damals erschrocken gewesen über die Heftigkeit und über den Umstand, daß Alexander so lange brauchte, sich wieder zu erholen. Sie hatte ihn natürlich gefragt, was ihn so verfolgt habe, doch er hatte behauptet, sich nicht genau zu erinnern.

«Ich weiß nicht. Irgend etwas verfolgte mich… es ist verschwommen.«

Doch dann war es wieder und wieder passiert, und irgendwann war ihr klargeworden, daß es tiefere Gründe geben mußte. Doch sosehr sie sich mühte, sie konnte ihm nicht die kleinste Andeutung, nicht den leisesten Hinweis entlocken. Oft sagte er, er wisse es selber nicht genau. Dann wieder meinte er, er wolle einfach nicht daran rühren.

«Wenn du mit mir nicht darüber sprechen willst«, hatte sie einmal gesagt,»dann solltest du dich jemand anderem anvertrauen. Was ist mit deinen Freunden? Leon und Tim?«

Er war fast ärgerlich geworden.»Unsinn. Das sind nicht die Dinge, über die Männer miteinander sprechen! Ich erzähle dir meine Alpträume, du erzählst mir deine… nein. Auf keinen Fall.«

«Und wenn du mal mit einem Psychologen redest?«

Er hatte ihr einen Blick zugeworfen, der ihr sagte, daß sie ihre Zeit verschwendete, wenn sie diesen Gedanken auch nur einen Moment weiterverfolgte.

Jetzt hob er den Kopf, sah sie an. Wenigstens in seine Lippen kehrte ein wenig Farbe zurück.»Geh ins Bett«, sagte er,»ich brauche noch einen Moment, dann komme ich auch.«

«Aber…«

«Bitte. Du weißt…«

Sie wußte. Sie wußte, daß er in diesen Momenten allein sein wollte, daß er ihre Fürsorge als lästig empfand. Gerade er, der sonst ihre Nähe suchte, der immer wieder betonte, wie sehr er sie brauchte, wie wichtig sie für ihn und sein Leben war, der immer eine Berührung mit ihr wollte — er klammerte sie aus diesem Teil seines Lebens beharrlich aus.

Sie stand auf, strich ihm über die wirren Haare, die feucht von Schweiß waren, und ging ins Schlafzimmer zurück. Durch das Fenster drang die noch sehr kühle Nachtluft herein, und fröstelnd kroch sie tief unter ihre Decke. Sie lauschte zum Bad hinüber, vernahm jedoch keinen Laut. Er saß jetzt dort und wartete darauf, daß sich etwas in ihm beruhigte, das nur er kannte. Dann würde er ins Bett kommen und sich bis zum Morgen hin und her wälzen, und den ganzen nächsten Tag wäre er grau im Gesicht und müde, aber von Stunde zu Stunde erleichterter — jemand, der wußte, daß er etwas hinter sich gebracht hatte, was sich nun für eine Weile wieder aus seinem Leben heraushalten würde.

Jessica drehte sich auf die Seite. Obwohl sie geglaubt hatte, hellwach zu sein, schlief sie ein, noch ehe Alexander wieder zu ihr zurückgekehrt war.

5

Sie hieß Geraldine Roselaugh, ein Name, den sie selbst als dramatisch empfand; doch sie schaffte es, ihn mit ihrem Aussehen auszufüllen. Es gab kaum einen Menschen, der sie nicht fasziniert anstarrte, wenn er ihr begegnete. Sie hatte pechschwarze Haare, die ihr bis auf die Hüften fielen, und leuchtend grüne Augen, die zudem ein wenig schräg standen. Die sehr hohen Wangenknochen machten ihr blasses Gesicht zart, die vollen Lippen machten es sinnlich. Sie hatte eine perfekte Figur und als Fotomodell einen ausgebuchten Auftragskalender. Sie war fünfundzwanzig und wußte, daß sie jeden Abend mit einem anderen wohlhabenden, interessanten Mann hätte ausgehen, Champagner trinken und sich beschenken lassen können.

Sie fragte sich, weshalb sie an Phillip Bowen geraten war und ihn nicht loslassen konnte.

Zumal er kaum etwas tat, um sich ihre Zuneigung zu erhalten.

Nur seinetwegen saß sie an diesem Apriltag, kurz vor Ostern, im Schankraum des The Fox and The Lamb, eines kleinen Hotels in West-Yorkshire, und wartete auf ihn. Wobei letzteres keineswegs unüblich war: Im Gegenteil, manchmal hatte sie das Gefühl, ihr Leben bestehe — außerhalb ihres streßreichen Berufs nur darin, auf Phillip Bowen zu warten.

Sie hatte vorher in ihrem Leben nie etwas von dem Ort Stanbury gehört, und überhaupt war sie noch nie in Yorkshire gewesen. Ihre Arbeit führte sie in die verschiedenen europäischen Metropolen, und gelegentlich auch nach New York, und ihre Urlaube verbrachte sie stets im Süden, irgendwo, wo es weiße Strände und Palmen und blauen Himmel gab. Einmal war sie in Schottland gewesen, das ihr in seiner Großartigkeit gefallen hatte, und sie hatte dort viele Orte von wilder, romantischer Einsamkeit gefunden. Aber Yorkshire…

Stanbury, das winzige Dorf, lag nur einen Steinwurf entfernt von Haworth, dem Dorf, das durch die Brontës berühmt geworden war. Das Pfarrhaus der Schwestern stand für Besichtigungen offen, und man konnte, wie der Reiseführer empfahl, einem Wanderweg über das Hochmoor folgend, zu der Ruine des Landhauses Top Withins gelangen, das Vorlage gewesen sein sollte für Emily Brontës berühmtes Wuthering Heights. Geraldine hatte sich vorgenommen, am Nachmittag ebendieses zu tun, und Phillip hatte versprochen, sie zu begleiten. Vor einer halben Stunde waren sie verabredet gewesen. Er hatte noch einmal hinausfahren wollen nach Stanbury House, aber natürlich kam er nicht pünktlich zurück.

Sie hatte es oben im Zimmer nicht mehr ausgehalten und sich deshalb hinunter in den Schankraum begeben, einer Art Pub, in dem mittags ein Büffet angeboten wurde. Eine Familie hatte sich um einen Ecktisch gruppiert, vier lärmende Kinder und die gestreßten Eltern, und seit Geraldine da war, debattierten sie, was sie essen wollten, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Die blasse, erschöpfte Mutter sah so aus, als wünsche sie sich nichts mehr, als noch einmal jene Lebensphase geschenkt zu bekommen, in der sie und ihr Mann noch allein und nicht mit einer Schar tobender Nachkömmlinge gesegnet gewesen waren. Und Geraldine dachte, wie gern sie mit ihr getauscht hätte.

Es war immer klar gewesen für sie, daß sie eine Familie haben wollte. Im Grunde hatte sie stets ein besonders bürgerliches Leben angestrebt. Sie war als Sechzehnjährige in einer Diskothek als Model entdeckt worden, aber sie verfügte über einen gesunden Realitätssinn und wußte, daß dies keine Aufgabe für alle Zeiten sein konnte. Mit dreißig wollte sie verheiratet und Mutter zweier Kinder sein. Und nun sah es so aus, als werde alles ganz anders kommen.

Sie trank von dem Mineralwasser, das sie sich bestellt hatte, und schaute häufig zur Tür, doch Phillip ließ sich noch immer nicht blicken. Vom Büffet her duftete es verlockend, doch sie versagte sich jeden Gedanken an Essen. Ihre Figur war ihr Kapital, und wenn sie den Tag über standhaft blieb, konnte sie heute abend irgendwo mit Phillip gemütlich essen gehen, vielleicht sogar ein Glas Wein trinken und ein bißchen über die Zukunft reden. Und im übrigen wollte sie ihm noch einmal sagen, daß sie wegen dieser Yorkshire-Reise einen äußerst lukrativen Auftrag in Rom abgesagt und sich mit ihrer Agentin zerstritten hatte, und…

Sie unterbrach sich selbst in ihren Gedankengängen und lächelte müde. Denn natürlich könnte Phillip darauf sofort entgegnen, daß er sie keineswegs darum gebeten hatte, ihn zu begleiten, und das stimmte. Sie hatte es wieder einmal nicht aushalten können, ihn alleine gehen zu lassen. Lucy, ihre Agentin und Freundin, war diesmal wirklich wütend gewesen.

«Du kannst dir das nicht leisten!«hatte sie gesagt und mit der flachen Hand auf ihren Schreibtisch geschlagen.»Du bist kein Star, das muß ich dir offenbar einmal ganz unmißverständlich klarmachen! Du bist ein ziemlich gut bezahltes Fotomodell, aber das ist auch alles. Und du bist fünfundzwanzig! Weißt du, wie viele Siebzehn-, Achtzehnjährige bereits nachdrängen? Den Höhepunkt deiner Karriere hast du überschritten, meine Liebe. Du solltest jetzt mitnehmen, was nur geht, damit du in zwei oder drei Jahren, wenn der Ofen für dich aus ist, wenigstens über ein gut gefülltes Bankkonto verfügst. Aber das ist bei dir ohnehin fraglich, da du diesen Herrn ja mehr oder weniger aushältst!«

So hatte Lucy noch nie mit ihr geredet, aber es war nicht so, daß sie Geraldine etwas Neues eröffnet hätte. Geraldine wußte selbst genau, wie die Dinge standen; sie hatte sich nie etwas vorgemacht.

«Ich kann nicht anders, Lucy«, hatte sie leise gesagt,»ich brauche seine Nähe. Ich brauche ihn. Er ist wirklich wichtig für mich.«

«Aber seit du ihn kennst, enttäuscht er dich nur!«

«Irgendwann…«

«…wird er sich ändern? Geraldine, das glaubst du doch selber nicht! Er ist Anfang vierzig! Er ist kein blutjunger Kerl, von dem man sagen könnte, er tobt sich ein bißchen aus und wird am Ende vernünftig. Der hat einen Schatten, meine Liebe. Und der bleibt ihm!«

Natürlich war sie trotzdem mit nach Yorkshire gefahren. Natürlich wußte sie, daß das falsch war. Natürlich war ihr klar, daß Phillip allem entgegenstand, was sie für ihre Zukunft erhoffte und was sie gespiegelt fand an dem Ecktisch mit den vier schreienden Kindern.

Ich sollte aufstehen, dachte sie, hinaufgehen, meine Sachen packen und nach London zurückfahren. Mein eigenes Leben leben und diesen Mann vergessen.

Die Tür zum Schankraum ging auf, und Phillip kam herein.

Seine dunklen Haare waren zerzaust vom Wind, und er brachte einen Geruch von Sonne und Erde mit sich, der viel besser zu ihm paßte als der von Zigarettenrauch, der ihm üblicherweise anhaftete. Er trug Jeans und einen dunkelblauen Rollkragenpullover, und Geraldine kam sich in ihrem schicken Wildlederanzug plötzlich völlig deplaziert vor.

Er sah sich um, entdeckte sie, kam an ihren Tisch.»Ich bin zu spät. Tut mir leid.«

Er setzte sich, deutete auf ihr Glas mit Mineralwasser.»Ist das mal wieder dein ganzes Mittagessen?«

«Das ist Mittagessen und Frühstück in einem.«

«Dann paß nur auf, daß du nicht zunimmst!«

Er schaute zu dem Büffet hinüber.»Würde es dich stören, wenn ich ein paar Bissen esse?«

«Ich hatte gehofft, wir gehen heute abend essen.«

«Dem steht nichts im Wege. Ich würde mich nur gern zwischendurch ein wenig stärken.«

Er stand auf und verschwand in Richtung Büffet. Sie sah ihm nach und fragte sich, woran es lag.

An irgend etwas mußte es liegen. Es konnte nicht allein sein gutes Aussehen sein, denn gutaussehende Männer lernte sie ständig kennen. Die berühmten inneren Werte mochten in ihm vorhanden sein, jedoch profitierte sie selbst sicher am wenigsten davon. Er war meist nett zu ihr, aber auf eine seltsam gleichgültige Art, unverbindlich, ohne Anteilnahme. Sie wußte, daß er Schweres durchgemacht hatte, und sie hatte sich immer wieder gesagt, daß dies der Grund sei für seine Scheu vor einer engeren Bindung, für seine Unfähigkeit, eine echte Nähe zu ihr herzustellen, aber natürlich quälten sie ständig Zweifel. Vielleicht war es einfach so, daß er zwar ihre große Liebe war, sie jedoch nicht seine. Daß er die Zeit mit ihr angenehm fand, weil sie attraktiv war und intelligent und bereit, eine Menge für ihn zu tun. Aber er liebte sie nicht.

Am Ende liebte er sie ganz einfach nicht.

«Vielleicht liebst du ihn auch nicht«, hatte Lucy einmal zu ihr gesagt,»vielleicht bist du nur sexuell abhängig von ihm.«

Sie hatte heftig widersprochen, hatte diese Unterstellung weit von sich gewiesen.»Quatsch. Ich doch nicht. Du kennst mich doch. Kannst du dir vorstellen, daß ich in irgend jemandes Bett ausflippe?«

«Ausflippen mußt du nicht. Du kannst trotzdem abhängig sein.«

Und im tiefsten Inneren wußte Geraldine, daß es stimmte. Es war ein Wissen, das sie nie Macht über sich gewinnen lassen wollte und das sie zurückdrängte, wann immer es sich in ihr meldete. Ihre Beziehung zu Phillip definierte sich vor allem über ihre Sexualität. Sie war süchtig danach, mit ihm ins Bett zu gehen. Süchtig sogar nach der gleichgültigen Art, mit der er sie liebte. Er war nicht rücksichtslos, aber er ging auch nicht auf ihre Bedürfnisse ein. Er war im Liebesakt so weit von ihr entfernt wie in jeder anderen Minute des Alltags, und manchmal, in den kurzen Phasen, in denen sie sich dies eingestand, fragte sie sich verzweifelt, wie sie sich so sehr nach etwas sehnen konnte, das nicht schön, nicht beglückend, nicht einmal aufregend war, sondern ihr im Grunde nur das Gefühl gab, benutzt zu werden.

Ich will das nicht, ich will das nicht, ich will das nicht!

Er kehrte zu ihrem Tisch zurück, in der einen Hand ein Glas Bier, in der anderen einen Teller mit einem Currygericht, soweit Geraldine das erkennen konnte.

«Ich habe dir eine Gabel mitgebracht«, sagte er,»falls du doch ein wenig mitessen möchtest.«

Für seine Verhältnisse war dies so fürsorglich, daß Geraldine sogleich mißtrauisch wurde. Vermutlich würde er ihr gleich etwas Unangenehmes mitteilen.

«Was ist?«fragte sie, ohne die mitgebrachte Gabel anzurühren.

Phillip seufzte, begann dessenungeachtet jedoch mit gutem Appetit zu essen.»Ich kann dich nicht auf dieser Wanderung heute begleiten«, erklärte er.»Ich möchte Patricia Roth aufsuchen.«

«Das wolltest du doch morgen früh tun!«

«Ich habe es mir anders überlegt. Ich bin zu unruhig, um zu warten. Außerdem drängt die Zeit. Wenn Patricia Roth, wie ich vermute, nicht mit sich reden läßt, muß ich umfassende Schritte einleiten. Ich will die Zeit nicht verschwenden.«

Sie war empfindlich geworden in den letzten Jahren, und bei seinen Worten merkte sie, wie es schon wieder eng wurde in ihrem Hals.»Verschwenden«, wiederholte sie,»es ist für dich verschwendete Zeit, wenn du mit mir eine Wanderung machst?«

Er wollte ihr eine Gabel voll Curryreis in den Mund schieben, aber sie wehrte ab.»Nein. Ich habe keinen Hunger. Wirklich nicht.«

«Ich bin wegen dieser Angelegenheit hierhergekommen«, sagte er.»In gewisser Weise ist alles verschwendete Zeit, was nichts mit meinem Vorhaben zu tun hat. Das hängt nicht mit dir zusammen.«

«Du hattest es mir versprochen.«

«Du hast gebettelt und gedrängt, und irgendwann habe ich ja gesagt, damit du Ruhe gibst. Aber ich möchte nicht. Du kannst doch auch einmal alleine wandern.«

Die Tränen saßen ihr als dicker Kloß in der Kehle. Sie hoffte, daß es ihr gelingen würde, nicht zu weinen.»Ich bin wegen dir hier! Nicht um alleine zu wandern!«

«Ich habe dich aber nicht gebeten, mitzukommen. O Gott«, er schob seinen noch halb vollen Teller zurück, ärgerlich, weil sie ihn um den Genuß des Essens gebracht hatte,»jetzt fang bloß nicht an zu heulen! Ich habe dir genau erklärt, weshalb ich nach Yorkshire fahre, und ich habe nie verlangt, daß du mich begleitest. Du wolltest unbedingt mit. Du kannst jetzt nicht verlangen, daß ich meine Tagesabläufe nach dir richte.«

«Aber ich dachte…«

Er kramte eine ziemlich zerknickte Zigarette aus seiner Hosentasche.»Ja? Was dachtest du?«

Was hatte sie eigentlich gedacht? Hatte sie ernsthaft geglaubt, sie würden so etwas wie Gemeinsamkeit hier erleben? Wanderungen, Spaziergänge, lange Abende in gemütlichen Pubs mit knisternden Kaminfeuern und Ausflugsfahrten durch das Land mit Picknicks am Rande plätschernder Bäche? Liebe im weichen Gras? Schafherden und blauer Himmel, kleine Wolken und der Geruch der Sonne auf regennassen Wiesen? Einfach ein englischer Frühling, angefüllt mit Gefühlen und Zärtlichkeit? Die Einfachheit des Landlebens… Ja, wenn sie ehrlich war, so hatte sie das wirklich gehofft: daß er hier ein anderer wäre, weit weg von London, weit weg von der Unruhe der Großstadt, von den Autos und Bussen und drängelnden Menschen, dem Benzingestank und dem Lärm. Weg von seiner schrecklichen, billigen Mansarde und den verräucherten Kneipen, in denen er halbe Nächte zu verbringen pflegte.

In irgendeinem naiven Winkel ihres Gehirns hatte sie sich wohl eine Art heilende Wirkung der Natur versprochen. In Yorkshire würde Phillip die wahren Werte des Lebens erkennen, er würde begreifen, daß ihm das Dasein, wie er es führte, auf die Dauer kein Glück bringen konnte. Aber natürlich war alles wie immer, und die Kulisse der Hochmoore und der Einsamkeit änderte nicht das geringste. Phillip war Phillip, und Geraldine war Geraldine. Und alles lief zwischen ihnen genauso ab wie stets.

Sie erhob sich, weil sie plötzlich Angst hatte, doch noch zu weinen.»Du erlaubst dann, daß ich gehe?«fragte sie mit einer Stimme, die gepreßt und für sie selbst fremd klang.»Da du mich ohnehin nicht begleitest, ist es ja überflüssig, daß ich hier sitze und warte, bis du fertig bist. Ich kann den Wagen haben?«

Letztere Frage war rein rhetorisch, denn das Auto gehörte ihr. Phillip besaß keines; hätte sie ihn nicht begleitet, hätte er mit dem Zug nach Yorkshire fahren müssen. Und er hätte wesentlich bescheidener wohnen müssen, denn es war Geraldine, die die recht komfortable Unterkunft bezahlte.

Das Schlimme war, daß sie genau wußte: Es wäre ihm völlig gleichgültig gewesen.

6

Die Übelkeit verging so schnell, wie sie gekommen war. Auf einmal drehte sich das Zimmer nicht länger, und auch der Brechreiz war verflogen. Jessica blieb noch einen Moment ungläubig auf dem Badewannenrand sitzen, den sie aufgesucht hatte, um im Bedarfsfall in der Nähe der Toilette zu sein, aber sie hatte sich nicht getäuscht: Die Attacke war vorüber.

Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer hinüber, wo Alexander besorgt auf und ab ging.

«Besser?«fragte er, als er sie sah.

Sie nickte.

«Ich dachte immer, übel sei einem immer nur morgens«, sagte sie,»aber mich überfällt es wahllos zu jeder Tageszeit.«

«Deshalb verstehe ich ja auch nicht, weshalb wir ein solches Geheimnis um deine Schwangerschaft machen«, entgegnete Alexander.»Über kurz oder lang wird es sowieso auffallen, daß du dich mehrmals am Tag übergibst. Abgesehen davon, nimmst du dann auch zu.«

«Das dauert. Ich bin erst in der elften Woche.«

«Trotzdem. Warum hast du mich gestern abend daran gehindert, die freudige Nachricht zu verkünden?«

«Zum einen finde ich es gegenüber Evelin nicht schön. Seit sie damals ihr Kind verloren hat…«

«Das ist Jahre her! Das hat sie längst verwunden!«

Jessica stellte wieder einmal verwundert fest, daß selbst ein Mann wie Alexander, den sie als überdurchschnittlich sensibel und intelligent einschätzte, von einer unglaublichen Ahnungslosigkeit sein konnte, wenn es um die Psyche einer Frau ging, die er seit Jahren kannte und mit der er engsten Kontakt pflegte.

«Evelin hat es nicht im geringsten verwunden. Das würde ihr vielleicht nur gelingen, wenn sie endlich wieder schwanger würde, aber ob man damit noch rechnen kann nach so vielen Jahren… Ihre Kinderlosigkeit ist ein sehr schweres Problem für sie.«

Alexander wirkte ehrlich überrascht.»Das hätte ich nicht vermutet. Sie ist recht introvertiert, aber doch insgesamt ganz… ganz ausgeglichen!«

«Evelin ist kein ausgeglichener Mensch. Ganz und gar nicht. Möglicherweise kommen da noch mehr Gründe zusammen, das weiß ich nicht. Auf jeden Fall finde ich ein offizielles Verkünden meiner Schwangerschaft taktlos.«

«Du wirst es aber nicht geheimhalten können.«

«Nein. Aber vielleicht spreche ich erst einmal unter vier Augen mit ihr.«

«Oder sprich mit Tim. Er ist Psychologe. Vielleicht kann er ihr die Nachricht schonend übermitteln.«

«Ja, vielleicht. Aber sowieso«, Jessica setzte sich auf das Bett und zog ihre Turnschuhe an,»sowieso finde ich, daß Ricarda es wissen sollte, bevor die anderen es erfahren.«

«Aber du hast doch gesagt, daß Ricarda vermutlich sehr ablehnend reagieren wird.«

«Dennoch sollte sie es wissen. Sie ist Teil der Familie. Die anderen sind Freunde.«

Sie stand auf und griff nach ihrer Regenjacke.»Ich mache einen Spaziergang. Zum Abendessen bin ich zurück.«

«Lauf nicht zu weit. Und streng dich nicht zu sehr an.«

«Ich paß schon auf.«

Sie küßten einander zum Abschied, auf die zärtliche und sehr sanfte Art, wie sie stets miteinander umgingen. Es gab

Momente, und dieser gehörte dazu, in denen sie einander ungeheuer nah waren. Es drängte Jessica, ihn noch einmal zu fragen, was es mit seinen Alpträumen auf sich hatte, aber sie ahnte, daß er ihr nicht antworten würde und daß die Magie des Moments zerstört wäre.

Im Treppenhaus begegnete sie Patricia, Evelin und Patricias Töchtern. Die Mädchen trugen ihre Reitkleidung, und man war offensichtlich im Aufbruch zu dem Ponyhof am Rande Stanburys. Evelin hatte ihre mollige Figur in etwas zu enge Hosen gezwängt; dazu trug sie einen wollenen Rollkragenpullover, in dem sie bei dem warmen Wetter entsetzlich schwitzen würde. Immerhin hing er weit über ihre Hüften, und Jessica vermutete, daß sie deswegen auf ihm beharrte, obwohl Patricia ihr gerade vor Augen hielt, daß er völlig ungeeignet war.

«Viel zu heiß! Geh doch noch mal hoch und zieh dich um!«

Sie erblickte Jessica.»Hallo, Jessica. Ich hatte dich schon gesucht. Möchtest du nicht mitkommen? Wir begleiten Diane und Sophie zum Reiten!«

Die beiden Mädchen kicherten albern. Sie waren zwölf und zehn Jahre alt, und eigentlich kicherten sie ständig. Ihre perfekte Mutter hatte sie selbstverständlich perfekt ausstaffiert: Die beigefarbenen Reithosen saßen wie eine zweite Haut, die schwarzen Stiefel glänzten, die Blusen waren von blütenweißer Reinheit. Diane, die Ältere, hatte sich einen lässig zusammengeknoteten Pullover um die Schultern gehängt und ihre Haare aufgesteckt. Wie ihre jüngere Schwester strahlte auch sie die satte Selbstverständlichkeit eines verwöhnten und in besten finanziellen Verhältnissen aufwachsenden Kindes aus.

«Ich gehe lieber spazieren«, sagte Jessica, schuldbewußt, weil Alexander sie am Vortag um etwas mehr Gemeinschaftsgefühl gebeten hatte. Aber sie wußte, daß es sie zutiefst frustriert hätte, zwei Stunden am Rande einer Wiese zu stehen und diesen ewig gackernden Mädchen zuzusehen.

Patricia musterte sie kühl.»Wie du willst. Also, Evelin, was ist nun: Ziehst du dich noch um?«

«Ich bleibe so«, sagte Evelin. Ihre Wangen hatten sich tief gerötet.

Nun nimm doch Rücksicht, hätte Jessica am liebsten zu Patricia gesagt, zu Hosen kann sie nun mal kein kurzes, enges T-Shirt tragen, so wie du!

Zusammen verließen sie das Haus. Auf dem Platz vor dem Portal stand Tim und betrachtete angelegentlich die vielen wilden Narzissen, die das Rasenrondell in der Auffahrt förmlich überschwemmten. Als er die anderen kommen hörte, wandte er sich um. In seinen sanften Augen lag ein Leuchten.

«Ist es nicht herrlich?«fragte er.»Ich meine, der Frühling, ist er nicht herrlich?«

«Tim kann stundenlang Blumen betrachten«, erklärte Evelin.

Tim nickte.»Besonders im Frühling. Nach dem langen Winter… Nun«, er trat näher an die kleine Gruppe heran,»ich sehe, es geht zum Reiten?«

«Jessica kommt natürlich nicht mit«, sagte Patricia spitz,»es zieht sie in die Einsamkeit.«

Tim musterte Jessica mit seinem Therapeutenblick, den sie vom Moment ihrer ersten Begegnung an als unangenehm und allzu eindringlich empfunden hatte. Es war ein bestimmter Ausdruck, den er beliebig aufsetzen konnte, wann immer es ihm angemessen schien, und er vermochte von einem Moment zum anderen jegliche Distanz zwischen ihm und seinem Gegenüber auszulöschen. Jessica konnte sich vorstellen, daß es Frauen gab, die ihm auf diesen Blick hin bereitwillig ihr intimstes Innenleben anvertrauten, zumindest deutete sein beruflicher Erfolg darauf hin. Bei ihr selbst trat die umgekehrte Wirkung ein: Sie verspürte jedesmal das Bedürfnis, ein paar Schritte zurückzuweichen.

Evelin, Patricia und die Kinder stiegen in einen der beiden Leihwagen, die in der Einfahrt parkten. Evelin war noch immer hochrot im Gesicht.

Tim sah ihnen nach, als sie davonfuhren.»Warum wolltest du nicht mit?«fragte er unvermittelt.

«Wie?«

«Na ja… du willst nie mit, nicht? Mir ist das schon ein paarmal aufgefallen in den letzten und vorletzten Ferien. Deine endlosen, einsamen Spaziergänge… Was soll das?«

Diesmal machte sie tatsächlich zwei Schritte zurück. Sein Röntgenblick schien sie zu durchbohren.»Ich weiß nicht, was das soll«, sagte sie patzig,»und will es auch gar nicht wissen.«

Als hätte er ihr nicht zugehört, fuhr er fort:»Elena war auch so. Hast du sie je kennengelernt? Alexanders erste Frau?«

«Sie hat ein paarmal Ricarda zu uns gebracht und wieder abgeholt.«

«Eine sehr schöne Frau«, sagte Tim,»wirklich eine auffallend schöne Frau. Spanierin. Schwarzhaarig. Wunderbare goldbraune Augen. Sehr stolz. Kompromißlos.«

Es war das erste Mal, daß jemand positiv über Elena sprach. Jessica registrierte es verwundert.

«Sie hielt sich immer abseits«, fuhr Tim fort,»ging eigene Wege. Sie machte nicht so viele Spaziergänge wie du, aber sie zog sich oft in die Tiefen des Parks zurück, saß dort irgendwo unter Bäumen oder auf Felssteinen in der Sonne, las oder träumte einfach vor sich hin. Patricia regte sich immer schrecklich auf, weil man sie praktisch nie für eine gemeinsame Unternehmung gewinnen konnte.«

«Individualismus wird hier nicht gern gesehen, oder?«

Wieder hatte es den Anschein, als habe er ihr nicht zugehört.

«Was mich vor allem interessiert: Warum sind es immer solche Frauen, für die sich Alexander erwärmt? Es ist ja kein Zufall, wen wir uns als Partner aussuchen. Und selbst wenn es uns Probleme bereitet… Ich weiß, daß Alexander unter Elenas Verhalten gelitten hat. Dennoch…«

Er sah sie an, und sie wußte, was er hatte sagen wollen.

«Du meinst, ich bin wie Elena. Und er wird unter mir auch wieder leiden?«

«Ich frage mich, ob eure Ehe funktionieren wird«, antwortete Tim freundlich, und als Jessica hörbar nach Luft schnappte, fragte er sachlich:»Was hast du eben empfunden bei meinen Worten?«

Es gelang ihr, sich rasch zu fassen.»Wir sind hier nicht in einer Therapiestunde, Tim«, sagte sie kalt,»und ich bin nicht deine Patientin. Ich möchte mit dir nicht über meine Ehe sprechen. Weder jetzt noch irgendwann später.«

Das Leuchten in seinen Augen, das so seltsam sanft und eindringlich zugleich war, erlosch. Sein Blick wurde kühl.

«Begriffen«, sagte er.»Aber komm nachher nicht zu mir, wenn es Probleme gibt. Ich werde dann nämlich auch keine Lust mehr haben, mit dir darüber zu reden.«

Sie merkte erst nach einer Weile, daß sie viel schneller lief als sonst. Sie hatte sich so sehr über Tim aufgeregt, daß sie losgestürmt war, als könne sie dadurch den Beklemmungen entfliehen, die sie verspürte. Irgendwann ging ihr Atem keuchend, sie hatte Seitenstechen, und ihr fiel ein, daß es für das kleine Wesen, das in ihrem Bauch wuchs, nicht gut sein konnte, wenn sie sich derart verausgabte. Ihr war heiß; ihr Pullover klebte am Rücken, und ihre Haare waren im Nacken naß von Schweiß. Sie zog ihre Jacke aus und band sie um ihre Hüften. Erstmals, seitdem sie losgelaufen war, schaute sie sich um.

Für gewöhnlich umrundete sie den großen Park, der zu Stanbury gehörte, in einem weitläufigen Bogen. Es gab verschiedene Wege, die zum größten Teil über baumlose Hochebenen führten, auf denen Heidekraut wuchs und Schafe weideten. Sie kannte sie alle inzwischen, war sie viele Male gegangen. Heute mußte sie an irgendeiner Stelle abgekommen sein, denn den Platz, an dem sie sich nun befand, hatte sie vorher nie gesehen. Sie befand sich auf einer kleinen Anhöhe, und vor ihr breiteten sich, sanft abfallend, grüne Weiden aus, durchzogen von niedrigen steinernen Mauern. Im Schatten der Bäume grasten Kühe. Ein Bach plätscherte durch das idyllische Tal. Irgendwo in der Ferne konnte sie das leise Tuckern eines Traktors hören. Der Himmel war blau, durchzogen von ein paar weißen, gerupften Wölkchen. Die Sonne schien fast sommerlich heiß — oder kam ihr das nur so vor, weil sie so wild gehastet war?

Sie atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen, setzte sich dann ins hohe Gras. Schloß für einen Moment die Augen. Ein leiser, tröstlicher Wind umfächelte ihre Stirn.

Es ist alles in Ordnung. Es gibt keinen Grund, sich aufzuregen.

Tim hatte es geschafft, sie zu verstören, und sie fragte sich, wie ihm das hatte gelingen können. Er war so gewesen wie immer: Tim, der Therapeut, der stets zu intensiv war, zu engagiert. Grenzüberschreitend in seiner Absicht, jedem Gutes zu tun, ob der es nun wollte oder nicht. Tim mit seinen sanften Augen, den etwas zu langen Haaren, dem Vollbart, den Gesundheitsschuhen.

Tim, den sie nie hatte leiden können.

Sie hatte es sich zuvor nie erlaubt, diesen Gedanken zu denken, aber nun war es einfach geschehen, und sie empfand es als befreiend, sich nicht länger etwas vormachen zu müssen.

Ich kann Tim nicht leiden. Ganz einfach!

Alexander hatte kaum je über seine Ehe mit Elena

gesprochen, aber einige Male hatte er erwähnt, ein Problem habe darin bestanden, daß Elena seinen engen Freunden Leon und Tim so kritisch gegenüberstand.»Über Leon lästerte sie oft. Und Tim mochte sie, glaube ich, gar nicht.«

Es war offensichtlich gewesen, daß Alexander darunter gelitten hatte, und fast zwangsläufig hatte Jessica sofort beschlossen, Leon und Tim und deren Frauen zu mögen und gut mit ihnen zurechtzukommen. Sie hatte alles verdrängt, was sich an störenden Stimmen in ihr Unterbewußtsein geschlichen hatte, weil sie um keinen Preis ein Problem kreieren wollte. Sie hatte den gemeinsamen Ferien zugestimmt und den vielen gemeinsamen Aktivitäten, die sie daheim unternahmen, sie war fröhlich und unkompliziert gewesen und hatte immer wieder betont, wie schön sie es fand, nicht nur einen Mann, sondern gleich einen ganzen Freundeskreis geheiratet zu haben.

Doch wenn sie ehrlich war, mochte sie nicht nur Tim nicht, sondern genausowenig Patricia. Und die kichernden Teenager Diane und Sophie auch nicht. Eigentlich ließ sie nur Leon und Evelin gelten.

Schöner Mist, dachte sie, öffnete die Augen und blinzelte in die strahlende Sonne.

Sie verdankte es Tim und Evelin, daß sie Alexander kennengelernt hatte. Daheim in München hatte sie nicht weit von dem Ehepaar entfernt gewohnt, ohne daß man je Kontakt gehabt hätte. Manchmal hatte sie Evelin gesehen, wenn diese gerade zum Einkaufsbummel aufbrach, in ihren eleganten Kleidern und meist mit einer schicken Sonnenbrille im Gesicht, und sie hatte sie für eine völlig uninteressante Frau gehalten, die sich mit dem Geld ihres Mannes ein gutes Leben machte. Manchmal hatte sie auch Patienten von Tim gesehen, die ihn in seiner Praxis im Souterrain des Hauses aufsuchten. Nichts an Tim und Evelin hätte sie jedoch gereizt, mit den beiden in irgendeine Art von Verbindung zu treten. Evelin hatte einen sehr schönen, schließlich sehr alten Schäferhund besessen, mit dem sie jedoch nie in Jessicas Praxis gewesen war. Wie sich später herausstellte, suchte sie stets einen Nobeltierarzt auf, der jedoch in der Nacht, in der es mit dem Hund zu Ende ging, nicht erreichbar war. Evelin entsann sich, daß einige Häuser von ihr entfernt eine junge Tierärztin wohnte, und rief bei Jessica an. Es war zwei Uhr morgens, als diese kam und den alten Hund mit einer Spritze erlöste. Evelin war zutiefst dankbar und lud Jessica eine Woche später zum Abendessen ein. Ebenfalls anwesend war Alexander, den Evelin als» einen engen Freund der Familie «vorstellte. Alexander lebte gerade in Scheidung, wirkte tief melancholisch und sprach den ganzen Abend über fast kein Wort. Jessica hätte nie im Leben vermutet, daß er sich für sie interessierte, aber ein paar Tage danach rief er sie an und verabredete sich mit ihr in einem Restaurant. Sie erfuhr, daß er Professor für Geschichte war und eine Tochter hatte, die aber nun bei der Mutter lebte, draußen am Starnberger See, also durchaus in der Nähe, aber ihm kam es vor, als sei das am anderen Ende Deutschlands.

Sie trafen einander wieder und wieder, und irgendwann heirateten sie, ohne großen Aufwand und ohne viel Aufhebens, in einer Art stiller, selbstverständlicher Übereinstimmung. Ihre ganze Liebesgeschichte war sehr ruhig verlaufen, ohne Kämpfe, ohne Streitereien, ohne das berühmte Zusammenraufen, das die meisten Paare, die Jessica kannte, zu irgendeinem Zeitpunkt hatten durchstehen müssen.

Vielleicht fehlte ihnen ein Stück Leidenschaft, doch Jessica war weit davon entfernt, diese zu vermissen. Sie hatte andere Beziehungen gehabt, in denen es bewegter zuging, und diese hatten immer ein äußerst schmerzhaftes Ende gefunden. Sie war dreiunddreißig Jahre alt und hatte die Phase, in der sie ihr Leben in erster Linie als spannend und aufregend empfinden wollte, hinter sich. An Alexanders Seite genoß sie ein ruhiges und sicheres Glück. Es war genau das, was sie für ihr Leben haben wollte.

Einige seiner Freunde mochten lästig sein, aber sie hatte nicht den Eindruck, daß daraus ein ernsthaftes Problem für sie beide erwachsen würde.

Erneut ließ sie ihren Blick über das Tal zu ihren Füßen schweifen. In einiger Entfernung erspähte sie einen einsamen Wanderer, der an blühenden Apfelbäumen entlangging. Bienen und Hummeln brummten durch die seidige Luft. Sie verspürte plötzlich Lust, ihre Schuhe auszuziehen und ihre Füße im klaren Wasser des Bachs zu kühlen. Langsam stieg sie den steilen Hang hinab, als etwas in dem sprudelnden Wasser plötzlich ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie blieb stehen und schaute genauer hin. Um ein paar Felsbrocken herum bildeten sich schäumende Wirbel, und dazwischen schien etwas festzuhängen, irgend etwas Dunkles… Es wurde vom Wasser hin und her geworfen… oder aber… Es bewegte sich selbst, zappelte, kämpfte…

Jessica rannte nun den Hang hinunter, wäre einmal beinahe gestolpert, fing sich aber gerade noch. Sie erreichte das Ufer und erkannte zu ihrem Entsetzen einen kleinen, schwarzen Hund, der sich verzweifelt mühte, den Kopf über Wasser zu halten und einen der Felsen zu erklimmen. Offensichtlich hatten sich seine Hinterbeine in irgend etwas verfangen, und seine Kräfte schienen ihn bereits zu verlassen.

Jessica verzichtete darauf, ihre Schuhe auszuziehen und watete, wie sie war, in den Bach hinein. Das Wasser reichte ihr über die Knöchel und war viel kälter, als sie erwartet hatte. Zudem erwiesen sich die Steine auf dem Grund als besonders glatt und schlüpfrig, weil sie von Algenschichten überzogen waren. Sie kam nur sehr langsam voran. Den Hund konnte sie jetzt deutlich erkennen. Er war noch ein Welpe und schien bereits zu Tode erschöpft. Immer wieder geriet sein Kopf unter Wasser; prustend und wimmernd tauchte er dann wieder auf.

Er war in Panik und verbrauchte seine letzten Kräfte mit sinnlosem Strampeln und Kämpfen.

Sie redete beruhigend auf ihn ein, während sie sich ihm näherte.»Halt ganz still! Ich bin gleich bei dir. Keine Angst, dir kann nichts mehr passieren!«

Sie kam nervenaufreibend langsam voran, aber endlich hatte sie die Stelle erreicht. Sie nahm ihre Regenjacke, die sie noch immer um die Hüften gebunden trug, wickelte sie um beide Hände und griff damit dem Hund unter den Bauch. Er wehrte sich wie verrückt, aber mit einem kräftigen Ruck zog sie ihn in die Höhe. Er jaulte kurz, als die Wasserpflanzen, die sich um seine Hinterbeine geschlungen hatten, tief in seine Haut einschnitten, ehe sie rissen und ihn freigaben. Nun wand er sich wie ein Gummitier, das keinen Knochen im Leib zu haben schien. Durch ihren Beruf war es Jessica zwar vertraut, Tiere festzuhalten, die sich gegen sie wehrten, nur hatte sie dabei für gewöhnlich festen Boden unter den Füßen. Sie hatte keine Ahnung, was es für das Baby in ihrem Körper bedeuten konnte, wenn sie der Länge nach in den eiskalten Bach fiel, und sie mochte auch lieber nicht darüber nachdenken. Sie versuchte krampfhaft, das Gleichgewicht zu wahren, und hatte keine Ahnung, wie es ihr gelingen sollte, zum Ufer zurückzukehren, da fühlte sie plötzlich den kräftigen Druck einer Hand an ihrem Arm, und jemand sagte:»Ich habe Sie! Keine Angst. Halten Sie einfach dieses zappelnde Bündel fest, und kehren Sie um. Ich begleite Sie.«

Sie drehte sich um und sah den Mann, der direkt hinter ihr stand. Wie sie hatte auch er seine Schuhe nicht ausgezogen. Im lauten Rauschen des Baches hatte sie sein Kommen nicht bemerkt. Später überlegte sie, daß es sich bei ihm vermutlich um den einsamen Wanderer handelte, den sie zuvor in einiger Entfernung gesehen hatte.

Schritt um Schritt näherten sie sich dem Ufer. Gestützt von dem Fremden, gelang es Jessica, den kleinen Hund fest im Griff zu behalten. Zudem gab er von einem Moment zum anderen jede Gegenwehr auf, fiel plötzlich in völlige Apathie und hing wie ein regloser Sack in ihren Armen.

Mit Hilfe des Fremden erklomm Jessica die Uferböschung und merkte oben angekommen erst, wie sehr sie dieses Abenteuer erschöpft hatte. Sie legte den Hund ins Gras, wo er sofort einschlief, und ließ sich daneben zu Boden sinken.

«Lieber Gott«, sagte sie müde,»das war knapp. Er wäre mir aus den Händen gerutscht, wenn Sie nicht gekommen wären.«

Der Fremde setzte sich neben sie und machte sich daran, seine tropfnassen Schuhe auszuziehen.

«Ich glaube, die kann ich wegwerfen«, meinte er trübsinnig.»Wildleder… sie sehen ziemlich mitgenommen aus, was?«

«Zum Wandern taugen sie vielleicht noch«, sagte Jessica. Sie schälte sich aus ihren Schuhen, streifte die Strümpfe ab, wrang sie aus.»Ich hätte nie gedacht, daß das Wasser so kalt ist.«

«Strecken Sie Ihre Füße in die Sonne. Sonst erkälten Sie sich am Ende noch. Was macht denn der kleine Hund?«

Jessica blickte neben sich auf das tief schlafende, nasse Bündel.»Ich glaube, der ist nur völlig k.o. Aber ich schaue ihn mir nachher genauer an. Vielleicht ist er ja doch irgendwo verletzt.«

«Sie scheinen etwas von Tieren zu verstehen. Sie haben sehr beherzt zugegriffen.«

Jessica lachte.»Alles andere wäre auch ein Armutszeugnis. Ich bin Tierärztin.«

«Sie sind keine Engländerin«, stellte er fest,»Sie sprechen sehr gut englisch, aber da ist ein Akzent…«

«Ich bin Deutsche. Ich bin nur in den Ferien hier.«

Sie hatte den Eindruck, daß er sie plötzlich mit gesteigertem Interesse anblickte. Sein Rücken spannte sich fast unmerklich, und seine Augen wurden für einen Moment schmal.

«Deutsche? Gehören Sie zu den Leuten, die in Stanbury House wohnen?«

«Ja. Warum?«

«Hat mich nur interessiert. Mein Name ist übrigens Phillip Bowen. Ich mache auch nur Ferien hier. Ich lebe in London.«

Sie sah ihn an. Er gefiel ihr. Auf eine attraktive Art sah er ein wenig schlampig aus — seine dunklen Haare waren zu lang, seine Wangen nicht wirklich glatt rasiert. Sein dunkelblauer Rollkragenpullover war verfilzt und mußte uralt sein. Jessica hatte jedoch nicht den Eindruck, daß es sich um einen Mann handelte, der normalerweise adrett herumlief und sich nur im Urlaub ein wenig lockerer gab. Irgend etwas verlieh ihm die Ausstrahlung von Armut und von einer beginnenden Verwahrlosung, die ihn auch im Inneren schon ergriffen hatte. Vielleicht war es der Ausdruck seines Gesichts, seiner Augen. Dieser Mann lebte schon lange ein gutes Stück jenseits des normalen, bürgerlichen Lebens.

«Ich heiße Jessica Wahlberg«, sagte sie,»und ich lebe in München.«

«Sie verbringen seit Jahren jeden Urlaub hier, nicht?«

Sie war überrascht.»Woher wissen Sie das?«

«Man erzählte es im Dorf.«

«Wir sind eine Gruppe von Freunden. Die anderen sind seit Jahren hier. Ich nicht. Ich gehöre erst seit einem Jahr dazu.«

Der kleine Hund hob den Kopf, stellte sich dann mühsam auf seine noch wackligen Beine und schüttelte sich kräftig. Die Wassertropfen stoben nur so aus seinem Fell und trafen Jessica und Phillip an all den Stellen, die bislang noch trocken geblieben waren.

«Ich glaube«, sagte Jessica,»ich sollte jetzt schnell nach Hause gehen. Ich werde sonst wirklich noch krank.«

Sie sah den kleinen Hund an, der sich, vertrauensvoll dicht an

sie gedrängt, wieder ins Gras legte.»Ich frage mich, wie der kleine Kerl ins Wasser fallen konnte!«

«Vielleicht ist er gar nicht gefallen«, meinte Phillip,»vielleicht hat ihn jemand hineingeworfen. Ich nehme an, hier ist es so, wie überall auf dem Land: Die Bauern entledigen sich des unerwünschten Nachwuchses auf eine sehr brutale Art.«

«Man sollte das mit ihnen auch so machen«, sagte Jessica wütend,»damit sie wissen, wie sich Ertrinken anfühlt! Zum Glück scheint er's ja ganz gut überstanden zu haben.«

«Was machen wir jetzt mit ihm?«

Sie zuckte mit den Schultern.»Wollen Sie ihn haben?«

Phillip hob abwehrend beide Hände.»O Gott, nein! Sie müßten das Loch sehen, in dem ich in London hause. Ich fürchte, ich dürfte da gar keinen Hund halten!«

«Also nehme ich ihn mit. Wir können ihn ja nicht einfach hier sitzen lassen.«

«Nein. Aber man könnte ihn in ein Tierheim bringen.«

Als wüßte der Hund, daß es um sein Schicksal ging, hob er wieder den Kopf. Er sah Jessica und Phillip aus sehr ernsten, großen Augen an und wedelte zaghaft mit dem Schwanz.

«Nein«, entschied Jessica,»Tierheim kommt nicht in Frage. Er bleibt bei mir. Es ist schließlich kein Zufall, daß wir einander begegnet sind.«

«Nein?«

«Nein. Ich glaube nicht an Zufälle.«

Er lächelte amüsiert.»Ein interessanter Gedanke. Dann ist unsere Begegnung aber auch kein Zufall.«

Jessica erhob sich, klopfte Gras und Erde von ihrer Hose und nahm dann den kleinen Hund auf den Arm. Er schien inzwischen sicher, daß ihm nichts geschehen würde, denn er wehrte sich nicht, sondern kuschelte sich zurecht und seufzte zufrieden.

«Wir machen uns jetzt auf den Heimweg«, sagte Jessica, ohne auf Phillips letzte Bemerkung einzugehen. Mit angewidertem Gesichtsausdruck schlüpfte sie in ihre Schuhe, die dabei vor Nässe leise quietschten.»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Mr. Bowen. Kommen Sie doch mal bei uns vorbei und besuchen Sie den Kleinen.«

«Das werde ich sicher tun«, versprach Phillip. Er war ebenfalls aufgestanden.

Der Wind wehte ihm die Haare ins Gesicht.»Ja«, wiederholte er,»ganz sicher.«

Jessica hatte den Eindruck, daß in seinen letzten Worten ein Unterton mitgeschwungen hatte.

Auf dem Heimweg vergaß sie jedoch, darüber nachzudenken.

7

Ricardas Tagebuch

15. April. Es ist etwas Wundervolles geschehen!

Ich habe Keith getroffen! Heute abend im Dorf. Ich bin wieder nicht zum Abendessen gegangen, weil es mir wirklich total stinkt, mit dieser falschen Truppe zusammenzusitzen. Immer machen sie auf gute Laune und auf Was-mögen-wir-uns-doch-alle-so-sehr, und nichts davon stimmt. Rein gar nichts!

(Papa macht Ärger. Wenn ich morgen nicht zum Abendessen da bin, wird er ungemütlich, hat er gesagt! Aber mit Drohungen kriegt er mich schon gar nicht klein!)

Ich bin zu Fuß ins Dorf gegangen. Da läuft man gut eine halbe Stunde. Evelin, die Arme, Dicke, jammert immer über den weiten Weg, aber mir macht er nichts aus. Ich bin gut trainiert. Inzwischen finde ich es super, daß Mama nie lockergelassen hat mit meinem Sportprogramm. Vor allem Basketball macht mir richtig Spaß. Und ich hab eine echt tolle Kondition!

Ich hab mich im Dorf auf so einen Blumenkübel vor dem Gemischtwarenladen gesetzt, denn da treffen sich oft die Jugendlichen. War aber erst niemand da. So kurz vor Ostern haben sicher die meisten Ferien und fahren auch unter der Woche abends nach Leeds rüber oder so. War aber nicht schlimm, ich fand's schön, mal für mich zu sein. Was mich am meisten nervt, sind ja immer Diane und Sophie. Die sind so zum Kotzen, das kann ich gar nicht ausdrücken. Die sind heute mindestens schon so gräßlich wie ihre Mutter, und das heißt, wenn sie älter werden, überholen sie Patricia glatt noch. Schöne Scheiße!

Und dann kam er!!!

Ich habe ihn zuerst gar nicht bemerkt. Hatte die Augen zu, den Kopf zurückgelehnt, und habe so vor mich hingeträumt. Auf einmal hält ein Auto neben mir, und ich höre die Stimme von Keith.

«He, Kleines«, hat er gesagt. So ein Witz, ich bin echt nicht klein. Schon einsfünfundsiebzig groß, mit fünfzehn Jahren! Aber Keith ist bestimmt einsneunzig, für den ist wohl jeder klein. (Obwohl ich ganz, ganz doll hoffe, daß er keine andere» Kleines «nennt!)

Er sah so was von gut aus! Ziemlich braun gebrannt, und eine sehr schicke Sonnenbrille hatte er auf. Er trug ein Jeanshemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine tolle Uhr am Handgelenk. Er hat unheimlich kräftige Handgelenke, und die sind auch ganz braun. Ich mag seine dunklen, lockigen Haare und seine grünen Augen.

Mir war ganz schwindelig, und ich glaube, ich bin ziemlich rot geworden.»Hallo, Keith«, habe ich gesagt,»wie geht's dir?«

«Gut. Und dir?«

«Auch. Danke.«

«Steig doch ein«, sagte er,»wir fahren irgendwohin und quatschen ein bißchen.«

Ich hatte wacklige Beine, als ich einstieg. Und ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Keith fuhr los. Ich weiß gar nicht mehr genau, worüber wir alles geredet haben beim Fahren. Ich glaube, ich habe ihm vom Basketball erzählt und davon, wie mich Patricia, Diane und Sophie nerven. Keith hat gelacht, als ich Diane in ihrer affigen Art nachgemacht habe. Und dann hat er gesagt, daß mein Englisch schon wieder viel besser geworden ist, gar nicht mehr soviel Akzent, und daß ich mich toll ausdrücken kann. Mir ist schon wieder ganz schwindelig geworden. Wenn er wüßte, daß ich wie verrückt Englisch lerne zu Hause! Mein Englischlehrer ist ja auch schon ganz perplex, weil ich mir auf einmal soviel Mühe gebe und so gut geworden bin.

Jedenfalls sind wir aus dem Dorf rausgefahren, ein Stück landeinwärts, bis zu einem verlassenen Gehöft draußen im Hochmoor. Ich war dort vorher noch nie gewesen, aber Keith sagte, das sei ein Platz, an den sei er oft gekommen, als er noch jünger war und zur Schule ging.

«Hier habe ich meine erste Zigarette geraucht«, erzählte er,»und hier kam ich her, wenn ich Krach mit meinen Eltern hatte oder Liebeskummer, oder einfach nur so, um alleine zu sein.«

«Wolltest du auch heute abend hierher?«fragte ich.

«Nein. Ich wollte nach Leeds. Mal sehen, wo was los ist. Aber mit dir…«, er schaute mich ganz merkwürdig an,»…mit dir wollte ich lieber alleine sein.«

Der Hof ist eine ehemalige Schaffarm, aber der letzte Besitzer ist schon lange tot, und seitdem verfällt alles. Das Haus ist mit Brettern vernagelt, da kann man gar nicht rein, aber es gibt eine Scheune, die ist noch ziemlich in Ordnung. Man konnte sehen, daß Keith öfter herkommt, denn in einer Ecke hat er einen ausrangierten Sessel und ein Sofa stehen, und es stehen ganz viele leere Flaschen da, in deren Hälse er Kerzen gesteckt hat. Ich mußte an die Scheune denken, in der wir im letzten Sommer waren, auf dem Hof von einem Freund, wo uns dann der Vater des Freundes überrascht hat. Der hat ja damals einen Riesenaufstand gemacht, dabei war gar nichts passiert. Wir haben nebeneinander im Heu gelegen, und Keith hat meine Hand gehalten und mir Geschichten erzählt, aber ich weiß, daß es nachher im Dorf hieß, wir hätten» uns im Heu gewälzt«. Zum Glück ist nichts davon an meinen Vater

gekommen. Natürlich würde Keith nicht immer nur meine Hand halten und mir Geschichten erzählen wollen, und deshalb war ich ziemlich nervös. Ich bin noch nie von einem Jungen geküßt worden, und das andere habe ich schon gar nicht gemacht. Keith ist neunzehn und bestimmt unheimlich erfahren.

Wir saßen dann eine Weile nebeneinander auf dem Sofa. Keith hat die Kerzen angezündet, und es war eine ganz romantische Stimmung. Aber es wurde ziemlich kalt, und als er das merkte, legte er den Arm um mich und zog mich ganz eng an sich.

«Du bist anders als andere Mädchen«, sagte er,»ich bin gern mit dir zusammen.«

Und dann hat er mich geküßt!

Es war ganz toll, es war überhaupt nicht schlimm, wie ich immer gedacht hatte. Seine Lippen waren ganz zart auf meinen, und seine Haut roch so gut, und seine Arme hielten mich ganz fest. Er schmeckte ein bißchen nach Zigarette, und es war der wundervollste, der absolut wundervollste Moment in meinem ganzen bisherigen Leben!!!

«Du zitterst ja«, sagte er, und ich darauf:»Es ist nur… du bist der erste Junge, der mich küßt.«

Da lachte er und sagte:»Du Baby!«

Seine Stimme klang so zärtlich, und ich dachte: Lieber Gott, laß es nie vorbei sein! Laß diesen Moment nie vorbei sein!

O Gott, was habe ich Herzklopfen gehabt!

Dann hatte es Keith auf einmal etwas eilig.»Es wird jetzt zu kalt«, sagte er,»ich fahre dich nach Hause. Es ist sowieso schon nach zehn Uhr.«

Mir war gar nicht mehr kalt, vor lauter Aufregung wahrscheinlich, und das sagte ich ihm, aber er meinte trotzdem, wir sollten gehen.

«Ich möchte nicht«, sagte er,»daß wir irgend etwas tun, wozu du eigentlich noch nicht bereit bist. Und deshalb ist es besser, wenn ich dich nach Hause fahre. Verstehst du?«

Ich stolperte hinter ihm her auf den Hof hinaus. Ich hatte total Angst, daß er mich langweilig oder zu kindlich findet, und ich fürchtete außerdem, er würde mich heimbringen und dann noch nach Leeds fahren, wo es sicher Mädchen gab, die aufregender waren als ich und nicht zitterten, wenn sie geküßt wurden. Draußen war eine unglaublich schöne Nacht, ein ganz, ganz hoher Himmel ohne Wolken und mit Tausenden von Sternen. Es war kalt, aber es roch so wunderbar nach Frühling, nach Erde und Wiese und Blüten. Ich wußte, daß er mich wieder für ein Baby halten würde, aber ich konnte nicht anders, ich mußte ihn fragen, ob er jetzt noch nach Leeds fahren wollte.

Er lachte und küßte mich auf die Stirn.»Nein. Natürlich nicht. Ich fahre nach Hause, lege mich ins Bett und denke an dich.«

Ich war total glücklich und erleichtert. Ich liebe ihn so sehr! Wenn ich nur irgend jemandem von ihm erzählen könnte!

Im Auto hörten wir Kassetten, ganz romantische Musik von Shania Twain. Keith lenkte nur mit einer Hand, in der anderen hielt er die ganze Zeit über meine. Als wir unten an der Auffahrt zu Stanbury House ankamen, sagte ich, er solle mich hier rauslassen.

«Ich werde sonst nur wieder ausgefragt«, sagte ich.»Besser, ich laufe das letzte Stück.«

«Soll ich mitkommen?«

«Nein. Die sehen uns sonst noch vom Fenster aus.«

Ich wollte gerne mit jemandem über Keith reden, ja, aber ich mochte nicht von meinem Vater verhört oder von Diane und Sophie ausgelacht werden. Ich wollte nicht, daß Patricia spöttische Bemerkungen machte. Und am allerwenigsten hatte ich Bock auf J.s mütterliche Tour, nach dem Motto: Ich bin doch deine beste Freundin!

«Können wir uns morgen wieder treffen?«fragte Keith.

«Klar«, sagte ich,»wann?«

«Mittags? Ich könnte dich um zwölf Uhr abholen.«

Das bedeutete natürlich, daß ich auch morgen nicht zum Mittagessen dasein werde. Ich kann mir jetzt echt jede Menge Ärger ausrechnen, aber es war klar, daß ich Keith deshalb nicht absagen würde. Mein Vater soll sich bloß nicht aufregen! Er will ja doch am liebsten nur mit J. zusammensein, an mir liegt ihm doch gar nichts mehr. Er versucht nur, mir Streß zu machen, damit es so aussieht, als wäre er besorgt um mich.

«Ich komme hierher«, sagte ich,»morgen um zwölf.«

Er küßte mich wieder zum Abschied, auf den Mund, aber nicht so wie in der Scheune, sondern irgendwie eher freundschaftlich. Ich glaube, er will nicht, daß ich mich bedrängt fühle. Ich stieg aus und lief den Weg hinauf, mir war ganz leicht zumute. Mein Leben ist schön! Die Nacht war immer noch so klar und roch so gut, und alles war voller Narzissen, die silbern glänzten, wenn zwischen den Bäumen ein Streifen Mondlicht auf sie fiel. Ich war so glücklich, ich hätte viele Stunden laufen können, ich war hellwach, und alles um mich herum war wunderbar und etwas ganz Besonderes!

Es war kurz nach halb elf, als ich am Haus ankam. Das Schlafzimmerfenster von meinem Vater und J. war noch erleuchtet. Sonst war alles dunkel, jedenfalls nach vorne zum Hof hin. Ich schloß die Tür auf und trat in die Eingangshalle, und genau in diesem Moment kam Evelin aus der Küche. Sie hatte eines ihrer komischen Hauskleider an, irgend so ein fließendes Seidengewand. Ich glaube, sie hofft, daß sie damit kaschieren kann, wie fett sie inzwischen ist, aber natürlich gelingt das nicht. Obwohl, eigentlich mag ich Evelin. Sie ist nett, und sie tut mir verdammt leid. Sie ist verzweifelt, und von ihren sogenannten Freunden merkt das keiner. (Oder es will keiner merken.) Sie drehte sofort um, als sie mich sah, und verschwand wieder in der Küche, und wahrscheinlich hoffte sie, ich hätte sie nicht gesehen. Ich hörte sie schniefen und wußte, sie hat sich mal wieder heulend an den Kühlschrank geflüchtet. Sie tut mir wirklich leid, gerade jetzt, weil ich so glücklich bin, und eigentlich möchte ich im Moment auch, daß alle anderen glücklich sind! (Außer Patricia und J.)

Ich bin die Treppe hinaufgeschlichen, und offenbar hat Papa mich nicht gehört, jedenfalls schoß er nicht auf den Gang heraus. Ich war heilfroh, als ich in meinem Zimmer war. Ich sitze jetzt hier, in meine Bettdecke gewickelt, während ich schreibe, und das Fenster habe ich ganz weit geöffnet, weil diese Nacht so herrlich riecht. Noch nie habe ich den Frühling so sehr gefühlt, so sehr empfunden.

Ich liebe Keith. Ich freue mich so sehr auf morgen!

8

Der kleine Hund wurde Barney genannt und war am nächsten Tag der Star des Hauses. Jessica hatte ihn am Vortag gleich mit hinauf in ihr Zimmer genommen, ihn dort abgetrocknet und gefüttert und ihn zunächst niemandem gezeigt. Alexander war nicht dagewesen, als sie zurückkam, und sie hatte zuerst mit ihm wegen des neuen Familienmitglieds sprechen wollen, ehe die anderen etwas davon bemerken sollten. Zum Frühstück präsentierte Jessica ihren Findling und erntete — je nach Einstellung der Anwesenden — die verschiedensten Reaktionen.

Diane und Sophie waren begeistert. Patricia erkundigte sich indigniert, ob der junge Hund stubenrein sei. Evelin sagte sofort, sie hätte auch gerne wieder einen Hund, aber das ärgerliche Kopfschütteln, das sie dafür von Tim erntete, ließ sie verstummen. Leon streichelte Barney mit abwesender Miene; er schien in eigene Gedanken oder sogar Sorgen verstrickt zu sein und nahm wohl nicht wirklich wahr, was um ihn herum passierte. Ricarda, die mit fast schlafwandlerischer Miene zu spät zum Frühstück erschien, wirkte im ersten Moment entzückt, knipste jedoch ihr Lächeln sofort aus, als ihr klarwurde, daß es Jessica war, die den Hund mitgebracht hatte.

«Wir unterhalten uns nach dem Frühstück«, sagte Alexander,»und zwar sehr eingehend. Ich möchte nicht, daß du noch einmal zu einer Mahlzeit nicht erscheinst und die halbe Nacht fortbleibst.«

Ricarda sank in sich zusammen, kauerte sich an ihren Platz, sprach kein Wort mehr und rührte keinen Bissen an.

«Vielleicht«, wandte sich Alexander an Jessica,»solltest du bei der Unterredung dabeisein.«

Jessica sah den Haß aus Ricardas Augen blitzen und schüttelte unbehaglich den Kopf.»Das ist eine Sache zwischen euch beiden. Ich mache in der Zwischenzeit lieber einen Spaziergang mit Barney.«

Der Ferientag plätscherte dahin. Jessica litt unter Übelkeit, die sich allerdings nach einem dreistündigen Lauf mit Barney beruhigt hatte. Patricia fuhr mit ihren Töchtern zum Reiten, diesmal ohne Evelin, die sich mit Kopfschmerzen entschuldigte und in ihr Zimmer zurückzog. Leon und Tim saßen im Garten; Jessica sah sie, als sie zurückkehrte. Leon redete und redete, und Tims Miene war finster, und genau wie am Tag der Ankunft dachte sie: Da stimmt etwas nicht. Irgend etwas ist zwischen den beiden nicht in Ordnung.

Zum Mittagessen tauchte Ricarda nicht auf. Alexander ging hinauf in ihr Zimmer, doch das war leer. Als er zurückkehrte, sah er müde aus und älter, als er war.

«Sie ist nicht da«, sagte er.

«Und das läßt du dir bieten?«schoß Patricia ihn sofort an.»Ich denke, du hast heute früh mit ihr geredet!«

«Mit ihr reden kann man das eigentlich nicht nennen«, erklärte Alexander.»Ich habe geredet, und sie hat geschwiegen. Sie wollte nicht sagen, wo sie gestern abend war, sie wollte nicht sagen, weshalb sie sich so zurückzieht. Sie mochte nicht über ihre Probleme sprechen — nichts. Ich hätte genausogut eine Wand vor mir haben können.«

«Dann schließ sie in ihr Zimmer ein, bis sie den Mund aufmacht«, sagte Patricia.

Jessica, die vor ihrem unberührten Teller saß und schon wieder mit Übelkeit kämpfte, mischte sich ein.»Mit Druck erreicht man da doch gar nichts. Sie ist fünfzehn, sie geht ihre eigenen Wege, und das ist normal.«

«Ich habe euch das schon mal gesagt: Sie treibt sich am Ende mit einem Kerl herum!«beharrte Patricia.

«Nicht jeder, der hier nicht ständig in der Gemeinschaft herumgluckt, muß sich herumtreiben«, erwiderte Jessica mit einer für sie ungewöhnlichen Schärfe.

Patricia ließ ihre Gabel sinken.»Was willst du damit sagen?«

«Ich will damit sagen, daß ich es durchaus verstehen kann, wenn ein fünfzehnjähriges Mädchen keine Lust verspürt, das zwanghafte Gemeinschaftsleben, wie es hier betrieben wird, zu teilen.«

«Zwanghaftes Gemeinschaftsleben?«fragte Patricia ungläubig.

«Jessica!«rief Alexander entsetzt.

Jessica dachte: O Gott, was habe ich da gesagt! Ich hätte das nicht tun dürfen!

Die Übelkeit, die schon die ganze Zeit wieder gelauert hatte, wurde unerträglich. Jessica wußte, sie würde sich auf den Tisch übergeben, wenn sie eine Sekunde länger sitzen blieb.

«Entschuldigung«, murmelte sie, stieß ihren Stuhl zurück und rannte, gefolgt von Barney, aus dem Zimmer.

Sie schaffte es bis zur Gästetoilette neben der Eingangshalle und erbrach ihr Frühstück. Als sie sich aufrichtete und in den Spiegel blickte, sah sie ein kalkweißes Gesicht mit geröteten Augen und grauen Lippen.

«Was ist nur in dich gefahren?«sagte sie zu dem Gesicht.»Du meinst doch gar nicht, was du da gerade gesagt hast!«

Oder war es am Ende genau das, was sie meinte?

Halb hatte sie damit gerechnet, daß Alexander ihr folgen würde, aber er erschien nicht. Sie spülte sich den Mund aus und tupfte ihn mit einem Kleenex ab, benetzte ihre Stirn und ihre Wangen mit ein wenig kaltem Wasser. Als sie in die Halle zurückkehrte, vernahm sie gedämpftes Stimmengemurmel aus dem Eßzimmer.

«Sie erinnert mich immer mehr an Elena«, sagte Patricia gerade.

«Du solltest dich einmal fragen, was dich so anzieht an dieser Art Frauen, Alexander!«

Das war natürlich Tim, der offenbar noch immer seiner Lieblingstheorie nachhing.

«Jetzt fallt doch nicht über sie her, nur weil sie gerade nicht da ist«, ließ sich Leon vernehmen.

«Sie sieht schlecht aus in der letzten Zeit«, sagte Evelin,»und irgendwie ist sie anders als sonst.«

«Ich finde nicht, daß sie einen allzu guten Einfluß auf Ricarda hat!«

Ricarda schien derzeit Patricias Lieblingsthema zu sein.»Sie verhindert, daß du endlich einmal hart durchgreifst bei dem Mädchen. Ich beobachte das mit Besorgnis.«

Draußen in der Halle stand Jessica und grub ihre Fingernägel in die Innenseiten ihrer Handflächen.

Alexander, sag doch etwas! Sag ihnen, sie sollen den Mund halten! Sag ihnen, daß sie kein Recht haben, über mich zu reden. Daß es sie nichts angeht, wie wir leben, oder weshalb du dich in mich verliebt hast, oder ich mich in dich. Daß du mich nicht als Gegenstand ihrer Analysen sehen willst.

Aber sie hörte ihn nicht. Er sagte kein Wort.

Als sie ins Eßzimmer zurückkehrte, verstummten alle. Jeder war plötzlich über seinen Teller gebeugt und angelegentlich mit der Mahlzeit darauf beschäftigt. Jessica wich Alexanders Blick aus, als sie sich setzte. Sie fror auf einmal, und eine unbestimmte Angst war in ihr erwacht. Vielleicht hing es mit Elena zusammen. Zweimal war sie in den letzten Tagen mit ihr verglichen worden, von verschiedenen Personen. Mit der Frau, von der Alexander sich hatte scheiden lassen. Mit der er nicht länger hatte leben können. Er hatte darunter gelitten, daß sie mit seinen Freunden nicht zurechtkam. Als er ihr davon erzählte, hatte Jessica gedacht: Dies ist natürlich nicht der wahre Grund. Der liegt tiefer, aber dies ist sozusagen die Spitze des Eisbergs.

Jetzt auf einmal schoß ihr der Gedanke durch den Kopf: Und wenn das wirklich der Grund war? Wenn alles in Ordnung war bis auf das?

Konnte das ausgereicht haben, daß sich Alexander von seiner Frau hatte scheiden lassen?

Bis zum Abend war Ricarda noch immer nicht aufgetaucht. Der Nachmittag war in einer gedrückten Atmosphäre verstrichen. Jessica wurde so sehr von Übelkeit geplagt, daß sie sich für einige Stunden ins Bett legte. Alexander saß mit den beiden anderen Männern im Garten zusammen; sie tranken Kaffee und schwiegen die meiste Zeit. Später begab sich Tim an seinen Laptop und widmete sich seiner Doktorarbeit. Patricia spielte mit ihren Töchtern Federball, ohne daß dabei jedoch die rechte Stimmung aufkam. Evelin hatte sich tief in den Park zurückgezogen, saß auf einem Steinmäuerchen und starrte in den Himmel. Es war eigenartig windstill, und die Vögel stießen aufgeregte Laute aus.

Wie vor einem Gewitter, dachte Jessica, als sie gegen sechs Uhr das Bett verließ, um sich für den Abend zurechtzumachen. Es würde die aufgewärmten Reste des Mittagessens geben, niemand brauchte zu arbeiten. Um halb sieben wollten sie sich wie üblich im Wohnzimmer treffen und einen Aperitif trinken, eine Sitte, die Jessica immer gemocht hatte. Heute reichte der Gedanke daran aus, sie zu lähmen. Sie wünschte sich weit weg, zusammen mit Alexander, irgendwohin, wo sie beide ganz allein waren. Im Innersten wußte sie, daß dieser Wunsch nie mehr vergehen würde, daß sie nicht mehr in der Lage wäre, ihn zu unterdrücken. Das Schlimme war, daß sie beim Mittagessen keineswegs aus einer Laune heraus geredet, irgendwelchen Unsinn gesagt hatte. Sie hatte ausgesprochen, was schon lange in ihr schwelte, was sie sich nur bislang selbst nie eingestanden hatte. Sie empfand die Gemeinschaft der Freunde als zwanghaft, und damit stand fest, daß der Tag kommen mußte, an dem sie aufbegehren würde wie Elena.

Im Wohnzimmer waren bereits alle versammelt, und Patricia attackierte gerade Alexander in der gewohnt scharfen Form, weil er sich bei Ricarda nicht durchzusetzen verstand. Sie unterbrach ihren Redestrom, als Jessica eintrat.

Evelin nahm ein Sektglas vom Kaminsims und trat auf Jessica zu.»Für dich«, sagte sie.»Geht es dir besser?«

«Ja, alles in Ordnung«, murmelte Jessica. Tatsächlich war ihr nicht mehr übel, aber zu viele Gedanken bedrängten und bedrückten sie.

«Ricarda ist bisher nicht erschienen«, sagte Alexander. Er war sehr blaß.»Geht es dir wirklich besser?«fragte er besorgt.»Du siehst immer noch ziemlich schlecht aus.«

«Du auch«, erwiderte Jessica,»wir haben offenbar beide einen schlechten Tag.«

Patricia lachte. Es klang schrill und unecht.»Die einzige von eurer Familie, der es sicher blendend geht, ist Ricarda. Während ihr euch Sorgen macht, läßt sie es sich irgendwo gutgehen!«

«Ich mache mir keine Sorgen um Ricarda«, sagte Jessica.»Ich glaube, ich habe das heute mittag schon klargestellt.«

«Jessica, bitte!«mahnte Alexander leise.

Die Stimmung war plötzlich wieder so angespannt wie am Mittag. Sie standen alle mit ihren Gläsern in den Händen herum, und niemand sagte ein Wort. Patricia sah aus wie eine kampfbereite kleine Katze.

O Gott, dachte Jessica, und die Ferien haben gerade erst angefangen!

«Ich denke…«, begann Patricia, aber ehe sie den Satz zu Ende führen konnte, klingelte es an der Haustür.

Jessica, froh der Situation zu entkommen, stellte ihr Glas ab.»Ich gehe schon«, sagte sie und verließ das Zimmer.

Vor der Haustür stand Phillip Bowen.

«Oh«, sagte Jessica.

«Hallo«, sagte Phillip.

Sie sah ihn unschlüssig an. Barney, der ihr gefolgt war, drängte zwischen ihren Beinen hindurch und begann Phillip voll ausgelassener Freude zu umtanzen. Dieser beugte sich zu ihm hinunter.

«Hey«, rief er,»trocken siehst du richtig hübsch aus!«

«Er heißt Barney«, erklärte Jessica,»und er wird bei uns bleiben.«

«Wie schön.«

Phillip richtete sich wieder auf. Er hatte denselben abgetragenen Pullover an wie bei ihrer ersten Begegnung, dieselben vollkommen ausgebleichten Jeans. Er war noch genauso schlecht rasiert und hatte auch seine Haare nicht gekämmt. Er sah nicht aus wie jemand, der einen offiziellen Besuch machen möchte.

«Ja?«fragte Jessica jetzt.

«Ich möchte zu Patricia Roth«, sagte er. Der deutsche Name hörte sich aus seinem Mund eigenartig an.

«Zu Patricia? Woher kennen Sie sie denn?«

«Ich möchte sie kennenlernen«, sagte Phillip, und in genau diesem Augenblick fiel es Jessica wie Schuppen von den Augen: Phillip Bowen! Warum war ihr das bloß nicht gleich aufgefallen? Es war der Name, den Patricia genannt hatte — der Name des Mannes, der sich als ihr Verwandter ausgegeben hatte und im Haus umherspaziert war.

«Wer sind Sie?«fragte sie mit scharfer Stimme.

«Wer ist denn da?«rief Patricia aus dem Wohnzimmer.

«Sie entschuldigen«, sagte Phillip, schob Jessica zur Seite, durchquerte die Halle und betrat das Wohnzimmer. Sie folgte ihm, ebenso verärgert wie irritiert.

Sie standen immer noch alle mit ihren Gläsern in der Hand herum, nur Evelin hatte sich in einen Sessel gesetzt und rieb sich das Kreuz, als habe ihr das lange Stehen Schmerzen verursacht. Konsterniert blickten sie auf den fremden, verwahrlosten Mann, der auf einmal vor ihnen auftauchte.

«Wer sind Sie?«fragte Leon im gleichen Tonfall wie Jessica eine Minute zuvor.

«Phillip Bowen«, antwortete Phillip.

Patricia begriff als erste, und ihre Augen weiteten sich.

«Phillip Bowen?«stieß sie hervor.»Sie sind der Mann, der…«

«Ich wollte Sie eigentlich schon am gestrigen Nachmittag aufsuchen. Es fiel mir jedoch nicht ganz leicht, und so… sehen wir uns erst heute. Ich mußte mir einen ziemlichen Ruck geben, denn ich vermute, was ich Ihnen zu sagen habe, wird Sie zumindest sehr… überraschen.«

Er lächelte verbindlich, aber angespannt.»Ich bin ein naher Verwandter von Ihnen, Mrs. Roth«, sagte er,»oder darf ich Sie Patricia nennen?«

Leon machte einen Schritt nach vorn.»Wie kommen Sie dazu, eine solche Behauptung aufzustellen?«fragte er, noch ehe sich Patricia von ihrer Verblüffung erholt hatte.»Ich muß Sie sehr bitten, entweder deutlicher zu werden oder auf der Stelle dieses Haus zu verlassen.«

«Sie sind der Mann, der hier spioniert hat!«ließ sich Evelin jetzt vernehmen, die blauen Augen weit aufgerissen.

«Ich werde gerne deutlicher«, sagte Phillip, ohne auf Evelins

Zwischenruf einzugehen.»In kurzen Worten: Patricias Großvater ist mein Vater. Oder anders ausgedrückt: Patricias Vater und ich sind Halbbrüder. In welchem Verwandtschaftsverhältnis stehe ich damit zu Patricia?«

Er sah sich um wie ein Lehrer, der seiner Klasse eine schwierige Frage gestellt hat und nun hofft, daß irgend jemand sie beantworten kann.

Jessica, die noch immer hinter ihm gestanden hatte, kam hervor und gesellte sich demonstrativ zu den anderen.»Onkel«, sagte sie,»in diesem Fall wären Sie Patricias Onkel.«

«Das ist ja der größte Blödsinn, den ich je gehört habe!«rief Patricia. Ihre Stimme war schrill geworden. Der Sekt in ihrem Glas schwappte gefährlich.

«Onkel Phillip«, sagte Phillip. Er grinste.»Klingt nicht gerade attraktiv, aber da kann man wohl nichts ändern. Ich bin Ihr Onkel, Mrs. Roth. Dank der Umtriebigkeit Ihres Großvaters haben Sie einen Onkel, der nur etwa zehn Jahre älter ist als Sie!«

Leon und Patricia begannen gleichzeitig zu reden, doch Tim, der bislang nichts gesagt hatte, brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.»Sie werden verstehen, Mr. Bowen«, sagte er höflich,»daß uns dies als eine sehr kühne Behauptung vorkommen muß. Im Grunde genommen könnte jeder wildfremde Mensch hier auftauchen und uns das gleiche erzählen. Haben Sie denn irgendwelche Beweise, die Ihre Theorie untermauern?«

Phillip schüttelte den Kopf.»Da ich ein illegitimer Sohn des alten Kevin McGowan bin und da meine Mutter in ihrer Verletztheit immer darauf verzichtet hatte, daß McGowan seine Vaterschaft anerkennt, gibt es weder Urkunden noch sonst etwas, womit ich meine Herkunft belegen könnte.«

«Also, dann ist es ja wohl eine unglaubliche Unverschämtheit…«, schnaubte Patricia, aber Tim bedeutete ihr erneut, still zu sein.»Laß ihn doch ausreden, Patricia.«

Leon sprang seiner Frau zur Seite.»Ich finde, es ist eine Zumutung, daß wir uns diese haltlosen Geschichten anhören müssen! Ich denke, daß Mr. Bowen jetzt gehen sollte.«

Phillip ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Nur Jessica, die ihn sehr genau beobachtete, sah, daß er seine linke Hand so fest zur Faust ballte, daß die Knöchel weiß hervortraten. Überdies war ein ganz leises Zucken im Unterlid seines linken Auges.

«Ich kann Ihnen sehr viel über Kevin McGowan erzählen«, sagte er,»eine Menge Einzelheiten, bei denen Sie würden einräumen müssen, daß ein Wildfremder sie nicht wissen kann. Wenn Sie aber dennoch beschließen, mir keinen Glauben zu schenken…«

Er machte eine Pause.

«Ich bin nicht bereit, mir das noch länger anzuhören!«fauchte Patricia.

«Wenn Sie mir keinen Glauben schenken«, fuhr Phillip fort, und er sah nun Patricia direkt in die Augen,»dann werde ich gerichtlich eine Exhumierung Ihres Großvaters, also meines Vaters, erwirken. Über eine genetische Analyse dürften dann letzte Zweifel ausgeräumt werden können.«

Mit seinen Worten erntete er zunächst ungläubiges Schweigen. Dann lachte Patricia auf, hoch und fast kreischend.»Das ist ja das Letzte!«rief sie.»Etwas so Unsägliches habe ich noch nie gehört! Mr. Bowen, mein Großvater ist seit zehn Jahren tot. Abgesehen davon, daß ich niemals zulassen würde, daß er in seiner letzten Ruhestätte gestört wird, möchte ich wirklich wissen, was Sie sich davon versprechen. Soviel ich weiß, ist nach so langer Zeit eine Genanalyse nicht mehr möglich!«

«Da irren Sie sich«, sagte Phillip.»Die Wissenschaft macht ständig Fortschritte. Es gibt inzwischen eine Methode, auch über die DNA lang Verstorbener Aufschluß zu gewinnen.«

Patricias Blick war nun voller Haß.»Ich möchte Sie jetzt wirklich bitten, mein Haus zu verlassen! Niemand hier legt Wert darauf, noch länger von Ihren Spinnereien belästigt zu werden.«

«Ich kann meiner Frau da nur recht geben«, fügte Leon in kaltem Ton hinzu.»Gehen Sie jetzt bitte, Mr. Bowen.«

«Was mich nur interessiert«, sagte Tim und kniff seine Augen zu engen Schlitzen zusammen, was ihn, wie Jessica fand, außerordentlich heimtückisch aussehen ließ,»ist die Frage, weshalb Sie einen solchen Aufwand betreiben wollen, Ihre Verwandtschaft mit Patricia Roth zu beweisen. Sind Familiengefühle in Ihnen erwacht, oder hat das einen anderen Grund?«

«Kommt Ihnen da eine Idee?«fragte Phillip.

Tim nickte.»O doch. Ich habe durchaus einen Verdacht.«

Phillip nickte.»Wahrscheinlich liegen Sie richtig«

Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, über den Kamin, die holzgetäfelten Wände, die hohe Decke. Dann schaute er wieder zu Patricia.

«Das Haus«, sagte er,»das Anwesen. Stanbury. Sie haben es von Ihrem Großvater geerbt. Wenn aber Ihr Großvater einen zweiten Sohn hat, nämlich mich…«

Er schwieg einen kurzen Moment.

«Ich möchte, daß Sie teilen, Mrs. Roth«, sagte er dann.»Ich erhebe Anspruch auf die Hälfte von Stanbury House.«

9

Er ging die Treppe hinunter und fühlte sich müde. Mehr noch: tief erschöpft und deprimiert. Er hatte kaum geschlafen in der Nacht, hatte bis halb sieben Uhr nur deshalb im Bett ausgeharrt, um Jessica nicht zu stören. Dann jedoch war sie aufgewacht, hatte sofort über heftige Übelkeit geklagt und war im Bad verschwunden; als sie wieder erschien, sah sie totenblaß aus, und ihr Gesicht war von einem Film aus kaltem Schweiß bedeckt.

«Ich lege mich noch mal hin«, hatte sie leise gemurmelt und war tief unter die Decke gekrochen.

Er duschte, zog sich an und ging nun leise nach unten. Das ganze Haus schien noch zu schlafen. Er war froh, daß ihm dies Gelegenheit gab, noch ein wenig allein zu sein.

Es gab manches zu überlegen.

Am Vorabend war Ricarda, die seit den frühen Mittagsstunden verschwunden gewesen war, gegen elf Uhr wieder aufgetaucht. Alle hatten noch im Wohnzimmer gesessen und über Phillip Bowen gesprochen, jenen ungebetenen Gast, der so plötzlich vor ihnen gestanden und seine Forderung vorgebracht hatte verbunden mit der unglaublichen Behauptung, illegitimer Sohn von Patricias Großvater zu sein. Patricia hatte sich entsetzlich aufgeregt und ziemlich viel getrunken, und zum Glück war sie diesmal so abgelenkt gewesen, daß sie, als draußen leise die Haustür ging, Schritte zum Dachboden erklangen und jeder wußte, daß dies nur Ricarda sein konnte, nicht wie sonst über Alexander herfiel und ihn mit ihren Vorstellungen von Kindererziehung bearbeitete, sondern nur kurz zerstreut nach draußen lauschte und dann zum wiederholten Mal murmelte:»Der hat sich getäuscht! Der hat sich verrechnet. Der wird an nichts herankommen, was mir gehört!«

Erst in diesem Moment hatte er wirklich realisiert, wie er ihr Hetzen und Drängen inzwischen fürchtete, wie sehr er sich in die Enge getrieben fühlte, wieviel Druck sie auf ihn auszuüben in der Lage war. Ihm war eingefallen, was Elena oft über Patricia gesagt hatte:»Sie muß immer recht haben. Und sie kann es nicht ertragen, wenn ein Mensch einen anderen Weg geht als den, den sie ihm genannt hat. Wer nicht tut, was sie will, wird nie mit ihr auskommen können.«

Er war an dem Abend nicht mehr zu Ricarda hinaufgegangen, weil Jessica ihm geraten hatte, sie erst einmal in Ruhe zu lassen. Aber er hatte sich Gedanken über Gedanken gemacht, und das einzig Gute an der daraus erwachsenden Schlaflosigkeit war gewesen, daß er von seinem immer wiederkehrenden Alptraum verschont geblieben war.

Immerhin. Wenn man eine Situation lange genug drehte und wendete, fand man doch immer etwas Gutes daran.

Er hatte sich gefragt, ob er als Vater versagt hatte.

Sicher eine durchaus natürliche Frage, die sich ein Mann — oder eine Frau — stellen mußte, wenn eine Ehe scheiterte, aus der ein Kind hervorgegangen war. Das Kind litt, weil ein Gefüge auseinanderbrach, das bis dahin seine Welt dargestellt und auf das es sich verlassen hatte, und die Eltern litten, weil es ihnen nicht gelungen war, dem kleinen Menschen, den sie in die Welt gesetzt hatten, ohne ihn zu fragen, ob er das überhaupt wollte, eine glückliche, intakte und geborgene Kindheit zu bereiten. Es mochte ein sehr menschliches Versagen sein, aber es blieb ein Versagen.

Und besonders schmerzhaft wurde dieses Gefühl dann, wenn Probleme auftraten, von denen man sich vorstellen konnte, sie seien ohne Scheidung vielleicht nicht aufgetreten.

Ricarda lehnte Jessica aus ganzer Seele ab. Damit hatte Alexander natürlich gerechnet, aber er war überzeugt gewesen, daß sich dies rasch legen würde. Jessica war jung, spontan und natürlich, und sie war Tierärztin und übte damit den Beruf aus, von dem Ricarda schon als kleines Mädchen geträumt hatte. Er hatte sich überlegt, daß Ricarda ein paar Wochen lang bocken würde, daß sie sich dann jedoch dem Charme und der Herzlichkeit Jessicas nicht länger würde entziehen können. Und glücklicherweise hatte schließlich Jessica nicht das geringste mit Alexanders und Elenas Trennung zu tun. Sie war in Alexanders Leben getreten, als Elena sich mit ihrer Tochter bereits eine eigene Bleibe gesucht und die Scheidung eingereicht hatte.

Doch nun sah es so aus, als wolle Ricarda den Zustand eisiger Distanz unbedingt beibehalten. Es hatte vor der zweiten Hochzeit ihres Vaters ein paar Wochenenden gegeben, die sie mit dem frisch verliebten Paar verbracht hatte, nach der Hochzeit dann folgten die Osterferien in Stanbury, die Sommer- und die Herbstferien, Weihnachten und nun wieder Ostern. Dazwischen weitere zahlreiche Wochenenden, an denen Jessica sich jede erdenkliche Mühe gegeben hatte. Auf Alexanders Bitte hin hatte sie Ricarda sogar angeboten, ihr an ein oder zwei Nachmittagen in der Woche in der Praxis zu helfen. Alexander wußte, daß dies ein Herzenswunsch seiner Tochter war, aber natürlich hatte sie höflich und kalt abgelehnt. Und mehr als unwillige Höflichkeit hatte sie der neuen Frau ihres Vaters sowieso nie entgegengebracht.

Und jetzt fing sie auch noch an, sich von ihm, Alexander, zu entfernen. Bislang hatte er wenigstens das Gefühl haben können, daß ihrer beider Vertrauensbeziehung erhalten geblieben war. Doch auf einmal, und ohne daß es einen Anlaß gegeben hatte zumindest hatte er keinen Anlaß bemerkt —, war es, als sei das Band zwischen ihnen zerschnitten. Als sie ihm vor der Abreise ihren Wunschzettel für Ostern gegeben hatte, waren Ferien mit ihm allein noch ihr einziger und offenbar großer Wunsch gewesen. Dann war irgend etwas geschehen. Sie trieb sich herum, verschwand ganze Tage und Abende, sprach nicht über die Dinge, die sie tat, ignorierte seine Anordnungen und Verbote mit einer Gleichgültigkeit, als höre sie gar nicht, was er sagte. Sie war in eine eigene Welt abgeglitten.

Er machte sich entsetzliche Sorgen.

Er öffnete die Tür zur Küche, und da saß sie. Seine Tochter.

Auf einem der alten Hocker, beide Ellbogen auf die Tischplatte vor sich gestützt. Sie trug ihren hellgrauen Jogginganzug, und es sah nicht so aus, als habe sie bereits geduscht oder sich die Haare gekämmt. Sie war sehr blaß. Ihre Hände umschlossen einen dicken Keramikbecher. Die Küche duftete nach frischem Kaffee.

Sie erschrak, als ihr Vater plötzlich im Raum stand, und einen Moment lang hatte es fast den Anschein, als schaue sie sich nach einem Fluchtweg um. Dann faßte sie sich und setzte die arrogante Miene auf, die ihn seit einigen Tagen zur Verzweiflung trieb.

«Warum bist du denn schon so früh wach?«fragte sie.»Es ist gerade sieben Uhr!«

«Ich konnte nicht schlafen.«

Unschlüssig blieb er mitten im Raum stehen. Er mochte die Küche. Sie war groß und altmodisch und gemütlich, und man hatte den herrlichen Blick auf den Park. Draußen dämmerte wieder ein zauberhafter Frühlingstag heran, man konnte die ersten Sonnenstrahlen auf dem taufeuchten Gras glitzern sehen.

Eigentlich frühstückten sie stets alle zusammen im Eßzimmer, aber Alexander erinnerte sich plötzlich, daß er in den letzten anderthalb Jahren vor der Trennung von Elena immer allein hier in der Küche gefrühstückt hatte. Er hatte damals kaum eine Nacht geschlafen, war oft schon um sechs Uhr hinuntergegangen, hatte Kaffee getrunken und gegrübelt.

Komisch, er hatte daran gar nicht mehr gedacht. Erst in diesem Moment fiel es ihm wieder ein.

Das einzige moderne Gerät in der Küche war die Kaffeemaschine. Er deutete darauf.»Kann ich mir Kaffee nehmen?«

«Klar!«

Sie nickte. Er holte sich einen Becher aus dem Schrank, schenkte sich Kaffee ein, setzte sich zu ihr an den Tisch. Wie seine Tochter auch, verzichtete er auf Milch und Zucker. Eigentlich fand er, daß sie mit ihren fünfzehn Jahren zu jung war, den Tag mit schwarzem Kaffee zu beginnen. Noch bis zur Trennung vor nunmehr etwas über zwei Jahren hatte er ihr morgens Kakao gekocht. Dann war sie mit Elena fortgegangen, und irgendwann im letzten Jahr hatte sie ihn während einer ihrer Wochenendbesuche mit dem Wunsch überrascht, sie wolle Kaffee zum Frühstück.

«Das halte ich nicht für gut«, hatte er erwidert, aber sie hatte ihm erklärt, daß sie ihn bei ihrer Mutter jetzt auch bekäme und daß es daher sinnlos sei, wenn er ein Verbot ausspreche. Also hatte er sich gefügt — vielleicht hatte er sich in zu vieles gefügt, was Ricarda anging —, und inzwischen trank sie auch in den Ferien in Stanbury Kaffee wie die Erwachsenen. Was Patricia natürlich nicht müde wurde zu rügen.

«Du bist auch ziemlich früh auf den Beinen«, sagte er nun, und als sie nicht darauf antwortete, fügte er hinzu:»Vor allem, wenn man bedenkt, daß es neuerdings abends immer recht spät wird bei dir.«

Sie zuckte mit den Schultern. Ihr Gesicht war vollkommen verschlossen.

«Ich hatte dich gebeten, gestern zum Mittagessen dazusein. Du hast dich nicht danach gerichtet und hast nicht einmal irgend etwas dazu gesagt. Gibt es dafür einen Grund?«

Sie antwortete immer noch nicht, nahm statt dessen einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse. Alexander fragte sich verzweifelt, woher diese Blockade kam. So war sie noch nie gewesen.

Er nahm einen neuen Anlauf.»Niemand will dich in deiner Freiheit einschränken, Ricarda. Ich nicht und übrigens schon gar nicht Jessica. Du hast eine große Fürsprecherin in ihr, das solltest du bei dieser Gelegenheit ruhig wissen. Sie setzt sich sehr dafür ein, daß du hier ohne allzuviel Zwang und Kontrolle leben sollst.«

Wiederum zuckte Ricarda die Schultern. Alexander konnte keine Regung in ihrem Gesicht entdecken.

«Wo warst du gestern?«fragte er und versuchte, so viel Autorität wie möglich in seine Stimme zu legen.»Und vorgestern abend? Ich möchte es wissen.«

Sie sah ihn an.»Das ist meine Sache.«

«Nein, das ist es nicht. Du bist noch nicht volljährig, und bis dahin gehen deine Belange auch mich etwas an. Also bitte — wo warst du?«

Sie wandte ihr Gesicht ab, preßte die Lippen aufeinander. Er mußte plötzlich daran denken, wie sie sich als kleines Kind in seine Arme gekuschelt hatte, wenn er ihr Geschichten vorlas, und mit welchem Jubel sie auf ihn zugesprungen war, wenn er abends nach Hause kam. Schwer vorstellbar, daß die Person, die vor ihm saß, dasselbe kleine Mädchen war.

«Ich habe deinen Wunschzettel gelesen«, sagte er.»Du schreibst, daß du dir eine Reise mit mir nach Kanada wünschst. Ich finde das erstaunlich. Denn offenbar hast du nicht das geringste Vertrauen zu mir, und du hast auch überhaupt keine Lust, mir irgend etwas von dir mitzuteilen. Wie sollten wir es dann ein paar Wochen lang miteinander in der kanadischen Wildnis aushalten?«

Endlich kam Leben in sie.»Wieso fragst du mich das?«erwiderte sie heftig.»Du wirst sowieso nie mit mir fahren! Das weiß ich doch ganz genau!«

«Und woher meinst du das genau zu wissen?«

«Wegen ihr!«

«Sie hat einen Namen.«

«Wegen J. Seit sie da ist, bin ich doch gestorben für dich!«

«Das ist doch Unsinn.«

Ein leiser Schmerz kroch seinen Nacken hinauf. Er hatte selten Kopfweh, aber in diesem Moment konnte er spüren, daß es ihn packen würde.»Ich liebe Jessica. Sie ist meine Frau. Aber das ändert doch nichts…«

Aus ihren dunklen Augen schossen Blitze.»Du liebst sie nicht! Du liebst sie absolut nicht! Du redest dir das nur ein, weil du es sonst gar nicht aushalten könntest mit ihr! Du liebst Mami. Du wirst sie immer lieben. Aber die alle hier«, sie machte eine weit ausholende Handbewegung, die das ganze Stanbury House umschreiben sollte und um ein Haar beide Kaffeebecher vom Tisch gefegt hätte,»haben sie vertrieben! Diese ganze Bande hat sie nicht mehr aushalten können. Und du hast sie gehen lassen! Wie konntest du das nur tun?«

«Ricarda!«

Er wollte beschwichtigend seine Hand auf ihre legen, doch sie zog sie zurück und sprang auf. Sie sah ihrer Mutter in diesem Moment sehr ähnlich. Sehr südländisch, sehr wild.

«Ich hasse deine Freunde!«rief sie.»Ich hasse sie so sehr, wie Mami sie gehaßt hat! Ich wünschte, jeder einzelne von ihnen wäre tot!«

Und ehe er darauf noch etwas erwidern konnte, war sie schon aus der Küche gestürmt und warf laut krachend die Tür hinter sich zu.

Geraldine wurde wach, weil ein Geräusch in ihren Schlaf gedrungen war. Sie war eine Langschläferin und hätte sich eigentlich auf die andere Seite gedreht und wäre wieder eingeschlummert, aber trotz der frühen Stunde kam ihr zu Bewußtsein, daß irgend etwas nicht stimmte — oder am Abend zuvor nicht gestimmt hatte… daß sie schon mit einem unguten Gefühl zu Bett gegangen war…

Sie setzte sich auf. Durch die Vorhänge fiel erstes Morgenlicht. Sie sah Phillip, der sich angezogen hatte und gerade das Zimmer verlassen wollte. Schlagartig fiel ihr ein, daß er nicht dagewesen war am Abend. Er mußte irgendwann in der Nacht gekommen sein, ohne daß sie etwas bemerkt hatte.

«Phillip!«rief sie.

Sie hörte ihn seufzen.»Schlaf weiter«, sagte er,»es ist erst sieben Uhr.«

«Wo willst du hin?«

«Raus. Laufen. Nachdenken.«

«Wann bist du gekommen? Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich habe bestimmt bis halb eins wach gelegen!«

«Ich war etwas trinken. Um eins war ich da.«

Sie mußte sich hart zusammenreißen, ihm nicht heftige Vorwürfe zu machen. Aus Erfahrung wußte sie, daß dies nicht nur nichts brachte, sondern im Gegenteil bei ihm nur zu Gereiztheit und Verärgerung führte. Bei dem geringsten Gefühl, er werde von ihr eingeengt, wurde er nervös und aggressiv.

«Wir wollten zusammen essen.«

«Geraldine…«

«Okay, okay!«

Sie hob beschwichtigend beide Hände, wagte nicht, daran zu denken, was Lucy zu dieser Art Gespräch sagen würde. Natürlich hätte sie Krach machen müssen. Aber eigentlich müßte sie den ständig machen, weil er sich immer so verhielt, wie er es auch jetzt tat. Am Dienstag hatte er ihr kurzfristig die gemeinsame Wanderung abgesagt, um Patricia Roth aufzusuchen, aber abends hatte er ihr dann mitgeteilt, er sei doch nicht bei ihr gewesen. Er hatte keine Entschuldigung hinzugefügt, kein Wort des Bedauerns über den verpatzten Nachmittag, den sie hätten zusammen verbringen können.

«Ich gehe morgen zu ihr«, hatte er nur gesagt, und sie hatte darauf verzichtet, ihm Vorwürfe zu machen, weil sie Angst hatte, ihn noch weiter von ihrer Seite zu treiben.

«Wie ist es denn gelaufen gestern?«fragte sie nun.»Warst du jetzt endlich in Stanbury House?«

«Ja. War ich. Habe sie alle dort angetroffen, schön versammelt, als hätten sie auf mich gewartet. Mit Sektgläsern in der Hand. Wir hätten gleich anstoßen können auf unsere Begegnung.«

«Ich vermute, nach anstoßen war ihnen nicht zumute.«

«Nicht im mindesten. Habe selten so belämmerte Gesichter gesehen!«

Sein Tonfall und seine Formulierungen waren locker, aber Geraldine, die ihn gut kannte, spürte seine Angespanntheit. Er machte sich Sorgen und war keineswegs guter Dinge.

«Und…?«fragte sie vorsichtig.

Er ließ seine Hand auf der Türklinke liegen. Keine Sekunde lang ließ er darin nach, ihr den Eindruck zu vermitteln, unbedingt weg zu wollen.

«Sie glauben mir nicht.«

«Das war zu erwarten.«

«Ich werde es ihnen beweisen.«

«Du willst Details erzählen?«

«Zunächst — ja.«

«Glaubst du denn, daß sie dir überhaupt zuhören werden? Daß sie dich so ohne weiteres noch einmal in ihr Haus lassen?«

«Wir werden sehen.«

«Phillip«, sie wußte, daß ihre Stimme einen beschwörenden Klang hatte und daß Phillip ihr dies bereits als einen Versuch auslegen würde, ihn zu manipulieren,»Phillip, worauf soll das hinauslaufen? Glaubst du, diese Patricia Sowieso hat nur darauf gewartet, daß ein Fremder aufkreuzt, sich als ein Verwandter ausgibt und…«

«Ich gebe mich nicht als Verwandter aus. Ich bin mit ihr verwandt!«

«Du weißt das! Aber wie muß das denn für sie aussehen? Egal, was du ihr über ihren Großvater erzählst — er war ein prominenter Mann, und du könntest das alles auch aus Archiven zusammengetragen haben! Was du zu einem großen Teil ja übrigens auch getan hast! Du sitzt doch seit einem Jahr praktisch nur noch in Bibliotheken herum, sammelst alles, was du über McGowan finden kannst, und legst diese… diese Ordner an, in denen du dann auch daheim ständig liest! Und nun glaubst du, Patricia ist scharf darauf, ihr Erbe mit dir zu teilen. Du wirst nicht durchkommen damit.«

Nur jener letzte Rest Höflichkeit, den er ihr gegenüber gelegentlich aufbrachte, hielt ihn davon ab, einfach das Zimmer zu verlassen. Er vibrierte vor Ungeduld. Sie ging ihm entsetzlich auf die Nerven.

«Den endgültigen Beweis wird notfalls die Exhumierung bringen«, sagte er,»einen DNA-Vergleich kann niemand mehr anzweifeln.«

«Aber bist du denn sicher, daß du das so einfach erreichst? Ich kenne mich da nicht aus, aber ich könnte mir vorstellen, daß man nicht einfach hingehen und jemanden exhumieren lassen kann. Das muß erst genehmigt werden, und dafür muß es bestimmt gute Gründe geben.«

«Meine Gründe sind ja wohl ausreichend. Ich wüßte nicht, wie jemand bessere Gründe haben sollte!«

«Du hast doch absolut nichts, was du vorweisen kannst! Du hast die Behauptung deiner verstorbenen Mutter, Kevin McGowan sei dein Vater gewesen. Aber weißt du denn…«

Sie sprach nicht weiter, biß sich auf die Lippen.

«Ja?«fragte Phillip. Seine Augen waren schmal geworden, argwöhnisch.»Ja?«wiederholte er noch einmal.

«Ich meine nur…«

Sie wünschte, sie hätte nicht damit angefangen, aber nun blieb ihr nichts übrig, als zu sagen, was sie hatte sagen wollen.

«Ich meine, du weißt doch nicht einmal, ob es wirklich stimmt, was deine Mutter dir erzählt hat«, sagte sie leise.»Sie war schon sehr krank und sehr schwach und manchmal… gar nicht ganz bei sich. Vielleicht hat sie sich in Phantasien gesteigert, und…«

Er sah sie so voller Wut und Verachtung an, daß sie sich zum ersten Mal vor ihm fürchtete.

«Vergiß es«, sagte sie hastig,»es war nur so ein Gedanke… du kennst deine Mutter natürlich besser…«

Sie hatte die krebskranke Mrs. Bowen eine ganze Zeitlang betreut, soweit ihr Beruf das zuließ. Genaugenommen hatte sie ihren Beruf wieder einmal vernachlässigt; zu Lucys Ärger, denn diese hatte immer behauptet, sie tue das nicht für die alte Frau, sondern einzig, um sich die Liebe und Anerkennung von Phillip zu erwerben, und dies sei ein ohnehin müßiges Unterfangen. Später war es ganz schlimm geworden, und Phillip hatte seine Mutter in ein Krankenhaus bringen müssen, wo sie dann qualvolle sechs Wochen lang starb. Aber Geraldine hatte zuvor durchaus mitbekommen, daß Mrs. Bowen verwirrte Phasen hatte, in denen sie völlig unglaubwürdige Geschichten aus ihrem Leben und ihrem Alltag zum besten gab. Warum sollte Kevin McGowan, der bekannte Fernsehkorrespondent, nicht auch eine ihrer Wunschvorstellungen gewesen sein, mit denen sie ihr Leben, das sie selber einmal als mißlungen bezeichnet hatte, anzureichern versuchte?

Aber unmöglich, mit Phillip darüber zu sprechen, nicht, nachdem er sich in die Geschichte seiner Mutter hineingesteigert hatte und Hoffnung für seine Zukunft daraus schöpfte.

«Warte nicht auf mich«, sagte er nun,»ich weiß nicht, wann ich wiederkomme.«

Er zog die Tür hinter sich zu.

Sie war allein. Sie hatte Angst.

Leon beobachtete seine Frau. Sie war mit dem Klingeln des Weckers um Punkt acht Uhr aus dem Bett gesprungen und im Bad verschwunden, wo sie kalt duschte und ihren Körper dann mit einer harten Bürste abrubbelte, um die Durchblutung zu fördern und das Gewebe zu straffen. Nun kehrte sie ins Zimmer zurück, um sich anzuziehen. Nackt schlenderte sie zum Schrank, aber er wußte, daß sie ihn damit nicht provozieren wollte. Eher war es Ausdruck ihrer beider Entfremdung. Als Mann war er gar nicht mehr vorhanden für sie. Er mußte sich selbst jedoch eingestehen, daß er daran nicht unschuldig war.

Ihr Körper war perfekt. Sie war so klein, daß jedes überflüssige Gramm Fett ins Auge gesprungen wäre, aber da war an keiner Stelle etwas, was dort nicht hingehörte. Mit einunddreißig Jahren und nach der Geburt von zwei Kindern sah sie noch immer aus wie ein junges Mädchen. Nicht allerdings im Gesicht, wie er wieder einmal feststellte. Der Ausdruck ihres Gesichts verriet Härte, Selbstbewußtsein, eisernen Willen und eine ungeheure Disziplin.

Sie zog Unterwäsche an — weiße, saubere Baumwolle —, Jogginghosen und ein schwarzes T-Shirt, auf dem vorne in weißen Lettern der Schriftzug It's me prangte.

«Willst du nicht aufstehen?«fragte sie, während sie vor dem Spiegel über der Kommode ihre Lippen in einem tiefen Rot anmalte.»Es ist zwanzig nach acht.«

Leon gähnte.»Es sind Ferien. Das scheinst du immer wieder zu vergessen.«

«Um neun Uhr ist Frühstück. Das ist vereinbart.«

«Eben. Was soll ich da schon um zwanzig nach acht? Was machst du bis dahin?«

«Ich gehe joggen. Würde dir übrigens auch ganz guttun.«

Leon gähnte noch einmal. Er war schlank und gut aussehend, das wußte er, und daher nahm er die Bemerkung seiner Frau nicht ernst. Patricia nörgelte gern an anderen Menschen herum. Er hatte es sich angewöhnt, gar nicht mehr hinzuhören.

Sie setzte sich auf das Bett, um ihre Joggingschuhe zuzubinden.

«Nach dem Frühstück gehe ich mit Diane und Sophie zum Reiten«, verkündete sie.

Er setzte sich im Bett auf.»Du wirkst ja schon wieder recht gelassen. Gestern abend konntest du über nichts anderes reden als über diesen Phillip Bowen und seinen unglaublichen Auftritt, und heute früh hast du ihn überhaupt noch nicht erwähnt.«

«Ich werde ihn auch nicht mehr erwähnen. Ich habe nachgedacht heute nacht. Der Mann ist ein Spinner, und wenn er noch einmal seinen Fuß hier auf mein Grundstück setzt, werde ich die Polizei rufen. Ich werde es ablehnen, mit ihm zu sprechen. Dann wird sich die Angelegenheit schon totlaufen.«

Sie hatte ihre Schuhe fertig zugebunden, stand auf und wippte in den Kniekehlen.

«Hoffentlich unterschätzt du ihn nicht«, meinte Leon,»der Typ wirkte nicht so, als würde er schnell aufgeben. Ganz leicht läßt der sich bestimmt nicht abwimmeln.«

«Wir werden ihm untersagen, den Boden von Stanbury House zu betreten. Und wenn er sich einem von uns sonst irgendwo nähert, im Dorf beim Einkaufen oder beim Reiten… nun«, sie sah ihn fast entrüstet an, so als könne sie kaum glauben, daß er überhaupt ein Problem sah,»du bist doch Anwalt, Leon! Du weißt doch, was man in solchen Fällen tut! Er kriegt eine einstweilige Verfügung, und damit sind wir ihn los!«

Leon nickte, langsam und nachdenklich.»Ich kenne mich im englischen Recht nicht aus. Ich weiß nicht, wie schwierig es hier ist, eine Exhumierung durchzusetzen.«

«Also — das ist bestimmt sehr schwierig! Da könnte doch jeder kommen und irgend jemanden ausbuddeln lassen, nur weil er meint, er sei dessen Sohn! Ich bitte dich! Ich habe ja wohl auch noch mitzureden bei der Frage, ob man meinen Großvater aus seinem Grab holen kann oder nicht!«

«Wenn er vor Gericht erfolgreich ist, kannst du nichts machen.«

«Ach was!«

Sie begann ihre Muskeln zu wärmen, indem sie sich vorbeugte und abwechselnd mit der linken Hand den rechten Fuß und mit der rechten Hand den linken Fuß berührte.»Der Mann ist ein Hochstapler, und das wird auch jedes Gericht sofort erkennen!«

«Hast du dir schon mal überlegt«, fragte Leon,»daß seine Geschichte stimmen könnte?«

Patricia hörte auf mit ihrer Übung und starrte ihren Mann an.»Spinnst du? Das glaubst du doch nicht im Ernst!«

«Ich habe nicht gesagt, daß ich es glaube. Ich habe nur angeregt zu überlegen, daß es stimmen könnte.«

«Ich gehe jetzt zum Joggen«, sagte Patricia und näherte sich der Zimmertür.»Du brauchst, glaube ich, erst mal einen Kaffee, damit du aufhörst, finstere Geschichten zu entwerfen. Kommst du zum Frühstück nachher?«

«Ja. Hör mal, Patricia…«

Ihm lag noch etwas auf dem Herzen, schon lange, aber er wußte nicht, wie er anfangen sollte.»Wegen der Reitstunden…«

«Ja?«

Sie stand an der Tür, Hand auf der Klinke, federte in den Kniekehlen auf und ab.»Was denn?«

Sein Mut verließ ihn schon wieder.»Nichts. Schon gut.«

Irgendwie hoffte er, sie werde noch einmal nachhaken, aber sie tat es nicht.

Er ließ sich in sein Kissen zurücksinken.

Später. Später würde er mit ihr reden. Es wurde Zeit.

10

«Meine Mutter«, sagte Phillip Bowen,»hat bis zu ihrem Tod unsagbar unter dem Makel gelitten, ein uneheliches Kind zu haben. Ich glaube, es waren nicht moralische Gründe, die eine Rolle spielten, sondern es war das Gefühl, daß sie einem Mann so wenig wert gewesen war, daß er um keinen Preis eine Familie mit ihr hatte gründen wollen. Das hat sie tief in ihrem Stolz verletzt.«

Er und Jessica saßen im Gras auf demselben kleinen Hügel, an dessen Fuß sie sich zwei Tage zuvor getroffen hatten. Barney, der wie ein Verrückter durch die Wiese getobt war, hatte sich zwei Schritte von ihnen entfernt plötzlich fallen lassen und war eingeschlafen. Nur sein linkes Ohr zuckte hin und wieder, und sein Bauch hob und senkte sich in gleichmäßigen Atemzügen.

Jessica hatte sich von ihrer Übelkeit erholt und war gleich nach dem Frühstück zu ihrer üblichen Wanderung aufgebrochen. Sie nahm denselben Weg, auf den sie zwei Tage zuvor nur versehentlich geraten war, denn das Tal, in dem sie Barney aus dem Wasser gefischt hatte, hatte ihr gut gefallen, und sie wollte es gerne wiedersehen. Schon von weitem sah sie eine Gestalt auf dem Hügel sitzen, und ein Instinkt sagte ihr, daß es Phillip sein mußte. Sie wollte schon umkehren, aber er mußte ihre Nähe gespürt haben, denn er wandte sich plötzlich um und winkte ihr zu. Sie hatte den Eindruck, es bliebe ihr nichts übrig, als zu ihm zu gehen, aber sie hatte ein ungutes Gefühl dabei. Sich mit ihm zu unterhalten kam ihr wie ein Verrat an Patricia vor, die beim Frühstück verkündet hatte:»Wir werden einfach nicht mit ihm reden. Ich möchte euch alle bitten, euch daran zu halten. Er darf seine obskuren Geschichten gar nicht erst loswerden. Wenn er das Grundstück betritt, wird er sofort hinausgewiesen. Er muß schon juristisch gegen mich vorgehen, wenn er etwas erreichen will, und das ist ein langer Weg. Er sieht mir aus wie einer, dem dazu schon allein die finanziellen Mittel fehlen.«

Jessica wußte, sie hätte ihn ignorieren und einfach weitergehen müssen, aber sie fand das schwierig einem Mann gegenüber, der ihr noch vor kurzem als ein Retter in der Not erschienen war und ihr überdies nicht das geringste getan hatte. Er hatte Ärger mit Patricia — aber welchen Grund hatte sie letztlich, für Patricias Interessen zu kämpfen?

«Sie hätten mich ruhig vorwarnen können«, sagte sie, als sie sich neben ihn setzte,»nachdem Sie erfahren hatten, daß ich in Stanbury House wohne!«

«Dann hätten Sie wiederum Patricia vorgewarnt.«

«Na und? Was hätte sich für Sie geändert? So oder so beißen Sie bei ihr auf Granit. Oder haben Sie geglaubt, sie schließt Sie freudig in die Arme und jubelt, weil sie nun ihr Erbe mit Ihnen teilen darf?«

«Sie wird nachgeben müssen.«

«Sie wird Sie nicht einmal anhören.«

Er hatte sie angesehen und gegrinst, aber seine Augen waren von diesem Grinsen unberührt geblieben.»Sie ist ein harter Brocken, wie?«

«Sie weiß sich zu behaupten.«

Phillip begann ein paar Grashalme auszurupfen und miteinander zu verknoten.»Eine merkwürdige Atmosphäre war das gestern abend«, sagte er.»Ich kam in das Zimmer und sah mich diesen vielen Menschen gegenüber, von denen es im Dorf heißt, sie seien die besten und engsten Freunde, seit vielen Jahren schon, und ich hatte das Gefühl: Da stimmt etwas nicht. Das alles ist nicht echt. Da war so viel Spannung, so viel unterschwellige Aggression. So vieles, was… ja, was einfach irgendwie nicht zusammenpaßte, ohne daß ich im einzelnen hätte sagen können, was es ist. Aber ich kenne ja auch niemanden genauer.«

Er sah wieder zu ihr hin.»Verstehen Sie, was ich meine?«

Sie hatte das ungute Gefühl, ihn durchaus zu verstehen.

«Nein«, sagte sie und sah ihm an, daß er ihr nicht glaubte.

«Diese dicke Frau«, sagte er,»Sie wissen schon, in so einem Hängekleid, das wahrscheinlich ein Vermögen gekostet hat — sie sieht entsetzlich traurig aus. Nein«, er schüttelte den Kopf,»mehr als traurig. Irgendwie… hoffnungslos. Ja, das ist es. Hoffnungslos. Als sei etwas abgestorben in ihr.«

«Evelin.«

Sie wunderte sich über seine Beobachtungsgabe. Und über die treffende Formulierung, obwohl er selbst kaum wissen konnte, wie treffend sie tatsächlich war. Als sei etwas abgestorben in ihr…

«Sie hat vor einigen Jahren ihr Baby verloren«, sagte sie,»im fünften oder sechsten Monat ihrer Schwangerschaft. Sie war dann lange Zeit depressiv, und manchmal denke ich, sie ist es bis heute. Und offensichtlich klappt es einfach nicht mit einem neuen Baby.«

Er nickte.»Sie wirkt sehr einsam. Patricia übrigens auch.«

«Patricia? Die ist voller Unternehmungsgeist und ständig auf Achse und kennt Gott und die Welt…«

«Das heißt nicht, daß sie nicht einsam ist. Sie macht eine ungeheure Show um sich und ihr phantastisch intaktes Familienleben. Ich habe ihr Schlafzimmer gesehen, als ich im Haus war. Noch nie hat mich so viel gerahmtes, strahlendes Familienleben auf einmal angesprungen. Ein wenig zu demonstrativ, zu aufgesetzt. Dieser Schönling, mit dem sie verheiratet ist, wirkt nicht gerade verliebt in sie.«

«Sie machen sich ja eine Menge Gedanken«, sagte Jessica unbehaglich,»und ich weiß nicht, ob Sie das alles gerade mit mir besprechen sollten. Wir kennen einander kaum.«

«Glauben Sie mir?«

«Was? Daß Sie einen Anspruch auf Stanbury House haben?«

«Ja.«

«Wie ich sagte: Wir kennen einander kaum. Woher soll ich das wissen?«

«Was wissen Sie über Kevin McGowan?«

«Patricias Großvater? Ich weiß nur, daß er ein angesehener Nachrichtenkorrespondent war, häufig im Fernsehen, und daß er hier in England wohl eine gewisse Prominenz genoß. In Deutschland habe ich nichts von ihm mitbekommen.«

«Obwohl er einige Zeit in Deutschland lebte und sich schon dort als Journalist einen Namen machte.«

Sie zuckte mit den Schultern.»Das war vor meiner Zeit.«

«Er galt als besonderer Kenner der politischen Lage in Irland. Er hatte wohl recht gute IRA-Kontakte, und manche behaupten, diese Kontakte seien weiter gegangen, als es sich für einen Engländer gehört. Aber wer weiß das genau?«

«Was mich wundert«, sagte Jessica,»ist, weshalb Sie jetzt erst ankommen. Soviel ich weiß, ist Patricias Großvater — also der Mann, von dem Sie behaupten, er sei Ihr Vater — vor zehn Jahren gestorben. Damals erbte sie Stanbury House. Warum haben Sie sich da nicht gleich gemeldet?«

«Weil die Identität meines Vaters das große Geheimnis meiner Mutter war. Worunter ich sehr gelitten habe. Als kleiner Junge, aber besonders als Heranwachsender. Erst im vorletzten Sommer, als es mit ihr zu Ende ging, hat sie mir alles erzählt.«

«Warum so spät?«

Daraufhin hatte er von der Verletztheit seiner Mutter

berichtet, von ihrem Gefühl, mit einem Makel behaftet zu sein, weil sich der Vater ihres Kindes nicht zu ihr bekannte.

«Sie strich ihn aus ihrem Leben. Sie bestand nicht einmal darauf, daß er die Vaterschaft anerkannte. Sie nahm kein Geld von ihm. Es gab ihn einfach nicht mehr. Ich glaube, selten hat jemand einen Menschen so radikal aus seinem Leben gelöscht, wie es meine Mutter mit meinem Vater tat.«

«Aber Sie fragten doch bestimmt nach ihm.«

«Natürlich. Alle Kinder in meiner Umgebung hatten einen Vater, nur ich nicht. Sie erzählte mir, er sei noch vor meiner Geburt gestorben, tödlich verunglückt mit dem Auto, kurz bevor sie hätten heiraten können. Eine Weile nahm ich das hin…«

«Aber Sie wurden älter…«

Er nickte.»Ich wurde älter, kritischer und wißbegieriger. Ich wollte Fotos sehen. Ich sagte, es müsse doch ein Grab geben, das man besuchen könnte. Mein Vater müsse doch Verwandte gehabt haben, Eltern, Geschwister… Ich trieb sie immer mehr in die Enge. Irgendwann rückte sie mit der Wahrheit heraus. Jedenfalls so weit, wie sie mir reinen Wein einschenken wollte. Den Namen meines Vaters gab sie nicht preis.«

«Sie hat Sie ganz ohne finanzielle Unterstützung großgezogen?«

«So war sie. Kompromißlos. Wenn sie mit einem Menschen nichts zu tun haben wollte, dann wollte sie auch kein Geld von ihm nehmen. Sie war Lehrerin an einer Schule für behinderte Kinder. Sie verdiente nicht viel, aber wir kamen durch, und eigentlich…«, er sah jetzt nachdenklich und ein wenig traurig aus,»eigentlich hat es mir wirklich nie an etwas gefehlt.«

«Nur an einem Vater«, sagte Jessica.

«Ja.«

Er verknotete wieder Grashalme.»Nur an einem Vater.«

Barney hob den Kopf. Er meinte, er habe nun genug ausgeruht, und es sei Zeit, wieder ein wenig herumzutoben. Er hüpfte wie ein junges Fohlen durch das hohe Gras, verfolgte Fliegen, Bienen und Schmetterlinge und stolperte mehr als einmal über seine viel zu großen Pfoten. Er wirkte mit sich und seinem Dasein völlig einverstanden.

«Wann ist Ihre Mutter gestorben?«fragte Jessica.

«Im November vorvergangenen Jahres. Es fing vor drei Jahren mit Brustkrebs an und endete mit Metastasen in praktisch jedem Organ. So lange es ging, blieb sie zu Hause. Eine Nachbarin kümmerte sich um sie, ich schaute nach ihr, so oft ich konnte, und ich muß sagen, daß sich auch Geraldine rührend bemühte…«

Er bemerkte Jessicas fragenden Blick und fügte erklärend hinzu:»Meine Freundin. Wir sind seit etlichen Jahren zusammen.«

Es mußten Dutzende von Grashalmen sein, die er verknotet hatte, doch er hörte nicht damit auf.

«Na ja«, sagte er,»und gegen Ende ihres Lebens erzählte sie. Von meinem Vater und von seiner Geschichte. Ich war sehr überrascht, als ich hörte, daß es Kevin McGowan war. Seine Glanzzeit als politischer Kommentator im Fernsehen hatte er, als ich ein Teenager war und mich für Politik zu interessieren begann. In gewisser Weise… bin ich mit ihm aufgewachsen. Er hat mich geprägt. Mir leuchteten die Dinge ein, die er sagte, und mir gefiel die Art, wie er sie sagte. Und dann höre ich plötzlich, er ist mein Vater, und er ist ein Scheißkerl, der meine Mutter verletzt und gekränkt hat. Mit diesem Bild kam ich zunächst überhaupt nicht klar.«

Er strich sich die wirren Haare zurück. Jessica musterte seinen Pullover, seine Hosen, dieselben abgetragenen Sachen, die er gestern und vorgestern angehabt hatte. Sein ganzes Äußeres verriet Armut. Ganz sicher konnte er das Erbe seines verstorbenen Vaters dringender brauchen als Patricia. Wenn… ja, wenn Kevin McGowan tatsächlich sein Vater gewesen war.

«Und Sie sind ganz sicher«, fragte sie vorsichtig,»daß Ihre Mutter… nun, daß sie trotz ihrer schweren Krankheit klar genug war, um…«

Jetzt stahl sich ein Ausdruck der Verachtung in seine Miene.»Sie reden wie Geraldine. Mit der Leier kommt sie mir auch immer. Wissen Sie, meine Mutter hatte während ihrer Krankheit bessere und schlechtere Phasen, jedenfalls bis Oktober, als es nur noch bergab ging. Das ist so bei Krebs. In den schlechten Phasen schluckte sie starke Schmerzmittel, und da kam es durchaus vor, daß sie durcheinander war, Menschen und Zeitabläufe in ihrem Leben nicht auf die Reihe brachte. In den guten Phasen nahm sie keine Medikamente, denn gerade vor dieser Verwirrtheit hatte sie größere Angst als vor den Schmerzen. Und für mich als Zuhörer war absolut erkennbar, ob sie klar war im Kopf oder nicht. Insofern kann ich alles, was sie sagte, sehr genau einordnen.«

Jessica hatte den Eindruck, ihn verärgert zu haben, dennoch stellte sie ihm ihre nächste Frage.»Und Ihre Mutter war ganz sicher, daß Kevin McGowan Ihr Vater ist?«

Im ersten Moment begriff er nicht und sah sie stirnrunzelnd an, aber dann plötzlich ging ihm auf, was sie gesagt hatte, und von einem Moment zum nächsten wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Er war jetzt bleich wie der Tod, und Jessica bereute ihr Vorpreschen.»Was ich sagen will…«, begann sie, aber er unterbrach sie mit scharfer Stimme:»Ich habe durchaus verstanden, was Sie sagen wollten! Sie meinen, es kann schließlich sein, daß meine Mutter ein wenig in der Gegend herumgevögelt hat und dann selbst nicht so genau wußte, wer der Vater ihres Bastards war!«

Er stand auf und blickte zornig auf sie hinunter.»Und wenn man das nicht weiß, dann gibt man natürlich ganz gern einen prominenten Namen an, noch dazu, wenn der Betreffende tot ist und ein hübsches Erbe hinterlassen hat!«

Jessica stand ebenfalls auf. Sie wollte die Hand auf Phillips Arm legen, doch Phillip wich zurück, und sie griff ins Leere.

«Phillip«, bat sie, doch er warf ihr nur noch einen letzten wütenden Blick zu, drehte sich um und stapfte den Abhang hinunter, und an der Haltung seiner Schultern, an seinem Gang konnte sie erkennen, wie sehr sie ihn gekränkt hatte. Sie hatte das nicht beabsichtigt, und es tat ihr leid, aber ganz offensichtlich war im Augenblick nicht mit ihm zu reden.

Sie rief Barney, der eifrig herangaloppiert kam, und machte sich auf den Heimweg.

11

Ricardas Tagebuch

19. April. Früher war mein Vater mein bester Freund, aber jetzt ist alles anders. Ich spüre genau, daß er sich gar nicht mehr für mein Leben interessiert. Er fragt mich nur aus, weil er hofft, er erfährt etwas und kann dann seine Macht zeigen. Aber ich sage ihm nichts von Keith. Bestimmt würde er sofort behaupten, ich bin zu jung für so was!

Mama hat mal gesagt, daß er abhängig ist von seinen Freunden und daß sie das nicht mehr ausgehalten hat. Ich war total wütend, weil ich nicht wollte, daß sie schlecht über ihn redet. Aber jetzt glaube ich, daß sie recht hat. Es ist so komisch, in diesen Ferien steht alles ganz deutlich vor mir. Früher haben sie mich einfach alle genervt, aber irgendwie kannte ich es eben nicht anders, und ich habe gar nicht soviel nachgedacht. Aber jetzt bin ich kein Kind mehr. Ich merke, wie verlogen sie sind, und daß nichts stimmt, gar nichts! Von wegen: beste Freunde!

Patricia lästert über die dicke Evelin, kaum daß die den Raum verläßt, und Tim ist total zerstritten mit Leon. Ich habe sie gestern gehört. Leider wurde mir nicht klar, worum es geht, aber Tim war absolut unangenehm, und Leon war richtig eingeschüchtert. Und dann beim Abendessen tun sie so, als wäre alles in Ordnung. Ich finde das so lächerlich.

Ich sehe Keith jetzt jeden Tag. Oft sitzen wir in seiner Scheune und quatschen stundenlang, über alles, was uns so beschäftigt. Ich hab noch nie mit jemandem so toll reden können. Wenn ich Keith erzähle, wie ich mich fühle, so mit meinen Eltern und der Scheidung und mit J. und den anderen, dann hört er ganz aufmerksam zu, und dann sagt er etwas, woran ich ganz genau merke, er hat verstanden, was wichtig ist. Er ist der erste Mensch, der mich versteht. Manchmal liegen wir auf dem Sofa, das er dort stehen hat, ganz eng umschlungen. Ich fühle mich dann so geborgen, endlich wieder. Die Wolle von seinem Pullover kratzt ganz leicht in meinem Gesicht, und ich spüre, wie sein Herz schlägt. Er riecht so gut, und er fühlt sich so schön an.

Ich kann mir nicht denken, daß ich jemals wieder jemanden so lieben werde wie ihn!

Keith hat auch eine Menge Probleme. Er findet keine Lehrstelle, und er sagt, die ganze Gegend sei überhaupt schwierig mit Arbeit und so. Er möchte Stukkateur werden und dann am liebsten später mal in den schönen, reichen Häusern in London arbeiten. Er will unbedingt mit etwas Künstlerischem sein Geld verdienen, sagt er. Er malt sehr gern. Gestern, als er mich abgeholt hat, hat er Barney gesehen, und ich habe ihm gesagt, daß ich Barney so toll finde, es aber nie zeigen will, weil J. sonst glaubt, sie besitzt etwas, womit sie mich an die Angel kriegt. Heute hat er mir eine Zeichnung geschenkt, die er von Barney gemacht hat, einfach so, aus dem Gedächtnis. Und er hat ihn genau getroffen! Man erkennt sofort sein lustiges Gesicht und die komischen, viel zu großen Ohren. Keith hat ihn nur ganz kurz gesehen, aber ihm ist alles aufgefallen, was wesentlich ist, und er hat es sich gemerkt. Deshalb bin ich ganz sicher, daß er großes künstlerisches Talent hat, und ich sage ihm immer, er soll nicht aufgeben, irgendwann wird er in dem Beruf arbeiten, den er sich so wünscht.

Sein Vater macht ihm natürlich Schwierigkeiten deswegen. Keiths Eltern haben eine Farm, und Keith soll sie übernehmen. In den Augen des Vaters ist Stukkateur kein Beruf, sondern ein Schwachsinn, sagt Keith. Er hat noch eine ältere Schwester, die arbeitet auf der Farm, aber der Vater hat Angst, daß sie

irgendwann heiratet und dann weggeht. Keith hat erzählt, daß sein Vater ihn morgens oft mit den Worten begrüßt:»Na, du Penner. Mit welcher Art von Nichtstun willst du heute den Tag verbringen?«

Keith sagt, ihm tut das so weh. Und ganz bestimmt tut es mir noch mehr weh!!! Am liebsten würde ich zu seinem Vater gehen und ihm sagen, wie schlimm ich ihn finde, und daß er nie mehr wird gutmachen können, was er seinem Sohn antut. Aber Keith meint, das würde seinen Vater gar nicht interessieren, und außerdem würde ich für ihn selbst damit alles nur noch schwerer machen.

Aber ich hoffe, daß ich Keith Kraft geben kann.

Er gibt sie mir ja auch.

12

Evelin lauschte ins Treppenhaus hinunter. Kein Laut war zu hören, obwohl es noch gar nicht so spät am Abend war. Kurz nach zehn Uhr, und nichts rührte sich.

Ostermontag. Am gestrigen Ostersonntag hatten sie eine große Schokoladeneiersuche im Garten veranstaltet, aber die meisten Eier hatte Barney, Jessicas Hund, gefunden und sofort samt Stanniolpapier verspeist. Später hatten sie auf der Terrasse zu Mittag gegessen, nachmittags gab es Kaffee und Kuchen, abends Champagner. Der Tag war schön gewesen, alle hatten sich Mühe gegeben, es hatte eine entspannte, friedliche Stimmung geherrscht. Die bis in diesen Montag hineingereicht hatte. Tim hatte fast den ganzen Tag am Laptop gearbeitet, und Patricia hatte für sich und die Kinder Pferde gemietet und war mit ihnen ausgeritten. Sie selbst, Evelin, hatte gelesen und zwischendurch ein paar Ostereier genascht.

Aber der Abend… nun, er kam ihr eigenartig vor. Es hatte damit begonnen, daß Leon und Patricia zum Essen weggefahren waren, alleine, was sonst praktisch nie vorkam. Nicht einmal die Kinder hatten sie mitgenommen, und das mußte wirklich als Sensation gewertet werden. Patricia hatte sich gesträubt, soviel hatten die anderen mitbekommen, aber Leon hatte auf seinem Vorschlag bestanden, und er hatte plötzlich einen für ihn so ungewöhnlich autoritären Ton angeschlagen, daß Patricia ihn nur noch erstaunt angestarrt und nicht mehr widersprochen hatte.

Zum Abendessen war Ricarda nicht erschienen, was allerdings nichts Neues war, und Alexander hatte mit Sorgenfalten dagesessen, düster in seinen Teller gestarrt und fast nichts angerührt. Es war sehr still am Tisch gewesen; ohne den Schutzwall ihrer Eltern hatten selbst Diane und Sophie zu kichern aufgehört. Tim war schlecht gelaunt gewesen, vielleicht überarbeitet, und Jessica schien in eigene Gedanken versunken. Wirklich wohl zu fühlen schien sich nur der kleine Barney. Er lag ausgestreckt mitten auf dem Teppich, schlief tief und fest und gab hin und wieder leise Schnarchlaute von sich.

Gegen halb zehn brachte Evelin die beiden Mädchen ins Bett, wie sie es Patricia versprochen hatte. Es war hübsch, den beiden zuzusehen, wie sie in ihren buntbedruckten Baumwollschlafanzügen herumturnten, ihre langen, blonden Haare bürsteten und miteinander plauderten und lachten. Evelin hatte auch noch einmal in Ricardas Zimmer gesehen, doch es war leer. Das Mädchen war von seinem geheimnisvollen Streifzug noch immer nicht zurückgekehrt. Evelin nahm die Angelegenheit bei weitem nicht so tragisch wie Patricia, aber langsam empfand auch sie Ricardas Verhalten als rücksichtslos. Daß Alexander sich größte Sorgen machte, war ihm anzusehen. Warum mußte sie ihm solche Schwierigkeiten bereiten?

Sie spazierte noch ein wenig durch den Garten und merkte, daß es ein schlimmer Abend werden würde. Ihre Depression — oder wie immer man es nennen sollte — kam selten aus heiterem Himmel, sondern bahnte sich langsam an. Es gab bestimmte Komponenten, die ihr Auftreten begünstigten: eine allgemeine Mißstimmung um sie herum, heraufziehendes schlechtes Wetter, Veränderungen im Ablauf der Dinge.

Ja, dachte sie, als sie durch den Garten lief, frierend, weil es plötzlich sehr kühl geworden war. Das vor allem. Eine Veränderung im Ablauf der Dinge. Das bringt das Gerüst ins Wanken, das mich stützt. Die Dinge verändern sich, und ich habe das Gefühl, mitten im Sturm zu stehen.

Dr. Wilbert, ihr Therapeut, hatte ihr immer geraten, sich in solchen Momenten ganz klarzumachen, was der Auslöser war.

«Das hilft Ihnen, die Angelegenheit zu rationalisieren. Das Schlimme ist, daß Ihre Gefühle, Ihr Schmerz vor allem, so gänzlich ungehindert über Sie hereinbrechen. Versuchen Sie, logisch und sachlich damit umzugehen. Das könnte wie ein Damm wirken, der das Schlimmste zurückhält.«

Sie bemühte sich, aber sie wußte trotzdem, daß sie heute wenig Erfolg haben würde. Schließlich war sie so verfroren, daß sie wußte, sie würde sich erkälten, wenn sie noch länger bliebe. Es war jetzt dunkel, aber zum erstenmal, seitdem sie hier waren, konnte man keine Sterne sehen. Der Himmel hatte sich zugezogen. Es roch nach Regen.

Drinnen ging sie die Treppe hinauf, hielt jedoch vor ihrer Zimmertür inne. Tim arbeitete sicher wieder und würde ihr außer einem gelegentlichen geistesabwesenden Brummen keine Antworten geben.

Dann lauschte sie nach den anderen, hörte aber nichts und vermutete, daß sich Jessica und Alexander in ihr Zimmer zurückgezogen hatten. Leon und Patricia waren wohl noch nicht zurück, und Ricarda wahrscheinlich ebensowenig. Sie huschte die Treppe hinunter; zumindest bemühte sie sich, leise und unauffällig zu sein, was für eine Frau von knapp neunzig Kilogramm nicht ganz einfach war. Schnell verschwand sie in der Küche, knipste das Licht an, schloß die Tür und lehnte sich aufatmend dagegen.

Die Küche war für sie wie ein Refugium. Ein Rückzugsort, an dem sie sich geborgen und sicher fühlte. Das hatte sicher mit ihrer Kindheit zu tun, in der sie in einem verwinkelten, altmodischen Haus mit einer riesigen, herrlichen Küche gelebt hatte — eine Küche mit Steinfliesen auf dem Boden und blau geränderten Porzellankacheln über Herd und Spüle und glänzenden, alten Kupferkrügen auf einem hölzernen Bord. Sie hatte ungeheuer viel Zeit in der Küche verbracht. Dr. Wilbert hatte diesem Umstand erstaunlich viel Beachtung geschenkt, wie ihr plötzlich einfiel.

«Weshalb hielten Sie sich so häufig in der Küche auf? Was war es, was die kleine Evelin dorthin zog?«

Sie hörte sich noch verlegen lachen.»Nicht, was Sie denken, Dr. Wilbert. Nicht das Essen. Auch wenn man es heute nicht mehr glaubt, aber ich war immer ein spindeldürres Ding. Meine Eltern hatten größte Mühe, mich zur Nahrungsaufnahme zu bewegen.«

Er hatte in ihr Lachen nicht eingestimmt.»Wenn es nicht ums Essen ging — was war es dann?«

Sie hatte überlegt.»Die Küche war einfach gemütlich. Groß und warm. Es roch gut. Es gab eine Tür, von der führten Stufen in den Garten hinunter. Der Garten war sehr verwildert, und die Stufen vor der Küche wurden überwuchert von Gras und Farn und lagen im Sommer ganz im Schatten von großen Jasminbüschen.«

Die Tür und die Stufen waren, wie sich nach unzähligen Sitzungen herausgestellt hatte, das Entscheidende gewesen, aber sie war durch ein Tal der Tränen gegangen, bis Dr. Wilbert die Zusammenhänge aus ihr herausgeholt hatte, und sie mochte jetzt nicht daran denken. Sie mochte eigentlich nie daran denken, auch wenn Dr. Wilbert immer wieder sagte, es sei wichtig für sie, diese Dinge nicht zu verdrängen.

Er hatte, wie sie fand, leicht reden.

Jedenfalls erinnerte sie die Küche auf Stanbury an die Küche von früher, auch wenn es keine Gartentür gab, aber sie war ebenso altertümlich und unpraktisch, und Evelin fühlte sich dort wohl. In München, in ihrem schicken Designerhaus, hatten sie natürlich eine Küche, die ins Wohnzimmer integriert war, mit einer Theke, an der man essen konnte, und alles war sehr funktional und elegant, aber sie mochte sie nicht. Sie konnte kein Nestgefühl darin entwickeln.

Sie begann, ziellos ein wenig hin und her zu gehen, da und dort etwas geradezurücken; sie fegte ein paar Brotkrümel vom Tisch, spülte einen liegengebliebenen Löffel ab, hängte die Geschirrtücher gerade hin und wußte dabei die ganze Zeit, daß es sich um Ablenkungsmanöver handelte. Es diente der Beruhigung ihres Gewissens; sie hätte sich geschämt, sofort zum Kühlschrank zu stürzen, wollte das Öffnen der magischen Tür vor sich selbst wie eine zufällige Handlung aussehen lassen. Denn dies hatte sich entscheidend verändert im Vergleich zu früher: Heute ging es durchaus ums Essen.

Jessica hatte am Abend gekocht, sie hatte einen herrlichen Auflauf aus Broccoli in einer Käsesahnesoße gemacht, und da sie zu spät erfahren hatte, daß Patricia und Leon nicht mitessen würden, war die Portion zu groß gewesen, und es war einiges übriggeblieben. Evelin, die sich bei Tisch zurückgehalten hatte, war den ganzen Abend über beherrscht gewesen von dem Gedanken an die Reste, auch wenn sie gemeint hatte, an andere Dinge zu denken. Sie hatte gewußt, daß sie in der Küche landen und sich einen Nachschlag holen würde…

Sie öffnete die Kühlschranktür.

Da stand die Auflaufform, abgedeckt mit einem Teller, sie nahm sie heraus, holte sich einen Löffel, setzte sich an den Tisch und begann zu essen. Der Auflauf war eiskalt, doch das störte sie nicht. Sie wärmte sich die Mahlzeiten, die sie außer der Reihe aß, nie auf, ebensowenig wie sie sich die Zeit nahm, sich einen Teller zu holen oder etwas zu trinken. Häufig schnitt sie einfach Brotscheiben ab, kauerte sich in die geöffnete Kühlschranktür, pulte mit den Fingern Streichkäse aus der Packung und schob ihn sich abwechselnd mit dem Brot in den Mund. Angelte dazwischen eine Gewürzgurke aus dem Glas oder rollte eine Scheibe Schinken zusammen und schluckte sie gierig hinunter. Es ging nicht darum, es sich schön zu machen, es ging nicht um gepflegtes Genießen, so wie Tim es manchmal zelebrierte, wenn er einen ganzen Abend lang mit ein paar Käsehäppchen, Weintrauben und einem Glas Rotwein verbrachte und sich dabei ungeheuer wohl fühlte. Evelins Genuß war von anderer Art. Sie füllte sich auf, füllte und füllte und füllte, spürte, wie die Leere immer kleiner wurde und Wärme und Behagen sich in ihrem Bauch ausbreiteten und langsam ganz und gar Besitz von ihr ergriffen.

«Es ist das einzige Mittel, die Traurigkeit abzufangen, wenn sie kommt«, hatte sie zu Doktor Wilbert gesagt.»Es geht mir gut dabei. Es geht mir auch eine kleine Weile danach noch gut.«

Doktor Wilbert schob ihre Eßsucht auf den Verlust des Babys, und tatsächlich hatte es danach angefangen.

«Sie schaffen es nicht, diesen Verlust zu verwinden. Seitdem ist diese Leere in Ihrem Leben, von der Sie immer sagen, Sie könnten sie kaum ertragen. Indem Sie Ihren Bauch füllen, füllen Sie den Ort, an dem das Baby war — nicht exakt anatomisch natürlich, aber die Stellen liegen dicht beieinander.«

Sie hatte noch nie danach freiwilliges Erbrechen herbeigeführt, auch wenn sie sich schämte und unglücklich war über ihre Figur. Sie hätte die Nahrung, die sie sich zugeführt hatte, nicht von selbst wieder hergegeben.

Auch jetzt ging es ihr besser, nachdem sie das Gemisch aus Gemüse, Sahne und Käse in sich hineingeschaufelt hatte, und sie lehnte sich mit einem Seufzen in ihrem Stuhl zurück. Alles in ihr entspannte sich, obwohl der kalte Käse als schwerer Klumpen in ihrem Magen lag. Sie ging noch einmal zum Kühlschrank, aß ein Stück Salami und löffelte zum krönenden Abschluß ironischerweise zwei Becher Magerjoghurt von Patricia, mit deren Hilfe diese ihre blendende Figur bewahrte.

Es würde alles gut werden, alles in Ordnung kommen.

Sie setzte sich wieder an den Tisch und starrte aus dem Fenster, aber in der spiegelnden Scheibe sah sie nur sich selbst: eine einsame, dicke Frau, die an einem Tisch saß.

Es war fast halb elf.

13

Erst in dem dritten Inn, das sie anfuhren, war es ihnen gelungen, einen Tisch zu ergattern. Leon, der blaß aussah und sehr nervös wirkte, hatte sich immer wieder die Haare aus der Stirn gestrichen, so als wisse er einfach nicht recht, wohin mit seiner Hand.

«Woher bloß die vielen Menschen kommen«, murmelte er, und Patricia sagte:»Es ist Ostern. Da gehen eben viele aus.«

Schließlich waren sie in Haworth gelandet, in einem viktorianisch eingerichteten Inn unweit des Pfarrhauses, in dem die Brontës gelebt und gewirkt hatten. Es hieß Jane Eyre, und die Preise waren gesalzen. Leon sah noch blasser aus, nachdem er die Speisekarte studiert hatte.»Hier kostet ja schon das Luftholen Geld!«sagte er.»Vielleicht sollten wir…«

«Nein!«

Patricia hatte energisch den Kopf geschüttelt.»Wir sind jetzt schon den halben Abend in der Gegend herumgefahren! Mir reicht es! Jetzt laß uns hierbleiben.«

Sie hatten bestellt und gegessen, und Leon war einsilbig und in sich gekehrt gewesen, was Patricia zunächst nicht bemerkte, da sie in gewohnt heftiger Form über Phillip Bowen sprach, über sein unmögliches Verhalten und darüber, wie aussichtslos es für ihn sein würde, seinen Finger auch nur an einen einzigen Ziegel von Stanbury House legen zu wollen. Erst nachdem sie den abschließenden Kaffee getrunken und nach einem Blick auf die Uhr festgestellt hatte, daß es halb elf war, unterbrach sie ihre Tirade und sah Leon mißtrauisch an.

«Sag mal, wieso sind wir eigentlich heute abend hierhergefahren? Gibt es etwas zu feiern, was ich vergessen habe?«

Sie überlegte.»Wir haben weder Hochzeitstag, noch ist es der Tag unseres Kennenlernens… Keiner hat Geburtstag… und außerdem machst du mir einen alles andere als festlich gestimmten Eindruck. Was ist los?«

Es fiel ihm sichtlich schwer, mit der Sprache herauszurücken.

«Patricia…«, begann er schließlich und unterbrach sich dann erneut, und Patricia fiel auf, daß sich Unruhe in ihr ausbreitete, eine Unruhe, die in enger Verwandtschaft zur Angst stand, und ihr ging auf, daß sie den ganzen Abend über schon ängstlich gewesen war, seitdem Leon gesagt hatte, er wolle mit ihr essen gehen. Da hatte sie bereits gewußt, daß er etwas mit ihr besprechen wollte und daß es unangenehm sein würde, und nun dachte sie plötzlich: Bitte wirf mir nicht unsere Ehe vor die Füße! Mach nicht unsere Familie kaputt. Spiel weiter mit, bitte!

«Was ist?«fragte sie, und ihre Hände schlossen sich fest um ihr Weinglas, ohne daß sie bemerkte, daß es in Gefahr stand zu zersplittern.

Er holte tief Luft.»Es ist etwas geschehen, womit ich nicht mehr allein umgehen kann. Du mußt Bescheid wissen, weil es manche Veränderung in unserem Leben geben wird.«

«Ja?«

«Die Zeiten haben sich geändert«, sagte er.»Wir hatten viele gute, sorglose Jahre. Aber nun…«

Er holte noch einmal tief Luft.»Ich bin pleite, Patricia. Ich habe Schulden, und ich habe keine Ahnung, wie ich sie zurückzahlen soll.«

Ihr erstes Gefühl war Erleichterung. Sie hatte erwartet, daß er ihre Ehe eine Farce nennen und sie um die Trennung bitten würde. Nun sprach er von Geld. Wie so viele Menschen, die niemals finanzielle Not erlebt haben, war Patricia im tiefsten Inneren überzeugt, daß sich Probleme, die mit Geld zu tun hatten, immer beheben ließen.

«Mein Gott«, sagte sie,»und um mir das zu sagen, inszenierst du diesen ganzen Aufwand?«

Auch er wirkte erleichtert; er hatte endlich ausgesprochen, was ihn bedrückte, er hatte eine Hürde genommen, die sich vor ihm bereits zu einem unüberwindlich scheinenden Berg aufgetürmt hatte. Nun mußte Patricia nur noch den Ernst der Lage begreifen.

«Es handelt sich nicht um einen vorübergehenden Engpaß, Patricia«, berichtigte er vorsichtig,»das hatte ich anfangs gehofft und geglaubt, mich über Wasser halten zu können, bis die Zeiten besser werden. Aber sie werden nicht besser, jedenfalls nicht für mich, oder zumindest nicht schnell genug, als daß ich eine Chance hätte. Es wird richtig eng. Wir können unseren Lebensstandard so nicht aufrechterhalten.«

«Die meisten Familien müssen sparen«, sagte Patricia,»für fast jede Familie ist es schwieriger geworden. Wir werden das auch hinkriegen.«

Ihre Hände hatten sich von dem Weinglas gelöst. Sie entspannte sich, war aber erstaunt, wie tief ihr Mann sie hatte erschrecken können. Sie begann zu ahnen, daß ihre unterschwellige Angst, ihre Ehe könnte plötzlich zu Ende sein, größer war, als sie es sich je eingestanden hatte.

«Bei uns geht es nicht nur ums Sparen.«

Er wünschte, sie würde ein wenig schneller kapieren, was los war.»Wir werden unser Haus verkaufen müssen. Wir müssen eine Mietwohnung suchen, und…«

«Was?«

Sie starrte ihn an, plötzlich wieder wach und angespannt.»Bist du verrückt? Wir können doch nicht unser Haus verkaufen!«

Das Haus in München hatten sie vier Jahre nach ihrer Heirat gebaut. Sie hatten einen hohen Bankkredit aufnehmen müssen, aber Leon war damals in einer sehr angesehenen Kanzlei assoziiert gewesen und hatte ein sehr gutes Gehalt bekommen. Mit den Zinszahlungen, davon war Patricia überzeugt gewesen, würden sie keine Schwierigkeiten bekommen. Außerdem, so hatte sie argumentiert, sei es doch zu schade, wenn sie nun sparten und knauserten und sich Jahre später darüber ärgern würden, daß ihr Haus nicht in jeder Hinsicht perfekt und allen ihren Wünschen entsprechend gelungen sei. Es gab keinen Stein, keine Diele, keinen Dachziegel und keine Tür, die sie nicht mit dem Architekten geplant und besprochen hätte. Sie war über Monate ständig auf der Baustelle gewesen, um die korrekte Umsetzung all ihrer Vorstellungen zu beobachten und Architekten und Bauleiter mit ihren andauernden Änderungswünschen langsam um den Verstand zu bringen. Das Haus war ihr Kind. Sie hatte sich darin verwirklicht, und sie hatte es mit der jeden Zuschauer atemlos machenden Intensität getan, mit der sie jedes ihrer Projekte anging. Schon damals, so erinnerte sich Leon, hatte er in ihrer Gegenwart vorwiegend Erschöpfung gefühlt.

«Wir können nicht nur, wir müssen es verkaufen«, sagte er nun.»Ich kann schon sehr lange die Bankzinsen nicht mehr bezahlen. Genauer gesagt, ich mußte einen neuen Kredit aufnehmen, um meine Rückstände zu begleichen, und die nächsten Zinsen schnüren mir den Hals noch mehr zu. Mir gibt inzwischen keine Bank mehr etwas.«

Er schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf.»Ich muß Ballast abwerfen, Patricia. Wir beide müssen es. Und das Haus ist Ballast!«

Nachdem sie zunächst wie befreit gewesen war, merkte sie nun, wie ein Gewicht sich auf ihre Schultern senkte und ihr Magen sich zusammenkrampfte und zu schmerzen begann. Sie litt unter einer chronischen leichten Magenschleimhautentzündung, was sich bei Streß und Aufregung unangenehm bemerkbar machte. Natürlich hatte sie ihre Tabletten nicht dabei. Sie hatte ja nicht mit einer so bösen Überraschung gerechnet.

«Aber das Haus… es ist…«

Sie wußte nicht, wie sie ausdrücken sollte, was sie empfand.»Das Haus ist so wichtig für uns«, sagte sie, aber es war eigentlich nicht das, was sie hatte sagen wollen.

Leon sah mit einemmal sehr müde aus.»Ich weiß. Aber die Situation ist, wie sie ist. Ich habe sehr lange über einen anderen Weg nachgegrübelt, das kannst du mir glauben. Ich wollte es schaffen, daß ihr nichts merkt, du und die Kinder. Aber«, er strich sich mit einer Hand über das Gesicht, eine resignierte, ergebene Geste,»das ist mir nicht geglückt, und ich sehe keine Möglichkeit mehr, die ganze Misere vor euch geheimzuhalten.«

«Ich frage mich nur, wie es soweit kommen konnte«, sagte Patricia, während sie gleichzeitig im Kopf rasend schnell hundert Möglichkeiten prüfte, die es geben mochte, um das Schlimmste womöglich zu verhindern.»Ich meine, du hast doch immer viele Mandanten, und…«

«Nein. Habe ich nicht. Es kommen nicht viele Leute zu mir. Vor allem nicht solche, die mir etwas einbringen. Kleine Mandate mit geringem Streitwert, an denen ich lange arbeite und wenig verdiene. Nachbarschaftszwistigkeiten über Gartenzwerge oder laute Musik oder ähnliches. Ich hätte früher nie geglaubt, daß der Beruf eines Anwalts so langweilig sein kann.«

«Aber es war doch mal anders! Früher, da hast du…«

«Früher war ich noch nicht selbständig. Da war ich Teil einer Firma gewissermaßen, und dieser Firma ging es gut, sie war alteingesessen und hatte eine hochkarätige Klientel. Der Ärger begann mit der Selbständigkeit.«

Er sah ihrem Gesicht an, daß sie gerade überlegte, wer schuld daran war, daß Leon eine eigene Kanzlei eröffnet hatte, und fast hätte sie ihm damit ein freudloses, bitteres Lächeln abgerungen. Es war typisch für Patricia. Typisch für ihrer beider Ehe: das Leben, den Alltag, jedes Geschehnis nach der Schuldfrage einzuordnen. Wer hatte was zu verantworten?

«Wir beide«, sagte er, ohne ihre Frage abzuwarten,»wir beide waren damals dafür, daß ich mich selbständig mache. Ich hatte darauf hingewiesen, daß es schwierig werden könnte, aber du meintest, ich schaffe das schon. Und…«

Er hob abwehrend die Hand, als er sah, wie sie den Mund zum Protest öffnete.»Bitte, keinen Streit! Ich will dir, weiß Gott, nicht die Verantwortung zuschieben. Ich wollte gerade hinzufügen: Und ich war froh, daß du mein Selbstvertrauen gestärkt hast. Denn ich wollte sehr gern mein eigener Herr sein.«

Es stimmte, was er sagte. Ausnahmsweise waren sie beide einmal einer Meinung gewesen. Er hatte sowieso immer von einer eigenen Kanzlei geträumt, und Patricia in ihrem unerschütterlichen Vertrauen in seine und ihre Fähigkeiten hatte gefunden, dies sei genau das, was ihm zustehe. Das Risiko hatte sie sicher nicht wirklich einschätzen können. Hätte er selbst vorsichtiger sein müssen?

«Du hast unser Haus bereits beliehen?«vermutete Patricia, und er nickte.

«Was ist mit Stanbury?«fragte sie.

«Stanbury kann ich nicht beleihen«, sagte Leon,»es gehört dir.«

«Und wenn ich…«

«Wenn du Stanbury verkaufst? Ach, Patricia…«

Über den Tisch hinweg sahen sie einander an, und es war einer jener in ihrer Ehe selten gewordenen Momente, in denen ein gemeinsames Gefühl sie plötzlich intensiv verband: die Liebe zu Stanbury, die Gewißheit, dort ein Refugium zu haben, eine eigene kleine Welt für sich, in die nichts dringen konnte von der Welt draußen.

«Stanbury ist mehr als nur ein Haus«, sagte Leon.»Stanbury zu verkaufen würde bedeuten, daß eine Ära zu Ende ginge. Und wie sollten wir das unseren Freunden erklären?«

«Ich kann das alles noch gar nicht begreifen«, murmelte Patricia,»es kommt so plötzlich.«

«Ich würde dich bitten, hier schon anzufangen, ein wenig zu sparen«, sagte Leon.»Diese täglichen Reitstunden für die Kinder… die sind einfach nicht mehr möglich.«

«Wie soll ich ihnen denn das erklären?«

Er zuckte mit den Schultern.»Sag ihnen, wie es ist. Sie werden ja sowieso spätestens dann alles merken, wenn wir daheim in München umziehen. Sie müssen nicht wissen, wie schlimm es steht, aber daß sich unser Leben verändert, läßt sich sicher nicht verhehlen.«

«Und daß du… ich meine, wenn du deine Freunde fragst? Tim und Alexander? Ihr seid so eng verbunden euer Leben lang, sie würden dir bestimmt helfen!«

«Langfristig nützt das aber nichts. Denn mein Büro wird weiterhin schleppend laufen, und über kurz oder lang wären wir wieder am selben Punkt. Dauerhaft schaffen wir es nur, wenn wir unseren Lebensstandard meinem Einkommen anpassen.«

Er sah, wie sie zusammenzuckte bei seinen Worten. Da er sie nur zu gut kannte, wußte er genau, welche in ihren Augen grauenhaften Begriffe sie mit ihnen verband: sozialer Abstieg — Verarmung — Anfang vom Ende — tief fällt, wer zu hoch hinauswill.

«Übrigens«, sagte er rasch,»habe ich mir im letzten Sommer

Geld privat geliehen. Von Tim. Seine therapeutische Praxis läuft ja glänzend.«

Nur wer sehr genau hinhörte, hätte den Neid in seiner Stimme vernommen.»Mit dem Geld habe ich es geschafft, den Winter zu überbrücken. Aber — es ist eben keine Lösung von Dauer!«

«Wieviel hat er dir gegeben?«

«Fünfzigtausend.«

Sie zuckte erneut zusammen.»Euro?«

«Ja.«

«Also«, sie gehörte zu den Menschen, die noch immer umrechneten, um sich die Größenverhältnisse klarzumachen,»hunderttausend Mark! Das ist eine Menge Geld! Kannst du das denn je zurückzahlen?«

«Ganz langsam. Euro für Euro. Aber wie du bereits sagtest: Tim ist neben Alexander mein bester Freund. Er macht mir keinen Druck. Ich habe Zeit.«

«Mir ist das vor Evelin ziemlich unangenehm«, murmelte Patricia.

Leon sah sie kühl an.»Eben hast du noch selber vorgeschlagen, ich soll meine Freunde…«

«Jaja.«

Sie merkte, daß sie Kopfschmerzen bekam.»Trotzdem kann es mir doch wohl unangenehm sein, oder?«

Sie griff nach ihrer Handtasche.»Kannst du zahlen? Ich würde jetzt gern nach Hause fahren.«

Während der Heimfahrt sprachen sie kein Wort. Jeder war in seine eigenen Gedanken versunken. Leon grübelte über die Probleme der näheren Zukunft nach, die ihm turmhoch erschienen und für die er noch weniger Lösungsmöglichkeiten sah, als er seiner Frau gegenüber hatte durchblicken lassen.

Patricias Überlegungen kreisten vor allem um die Frage, wie sie künftige Sparmaßnahmen vor den Freunden verbergen sollte. Falls die nicht ohnehin bereits alles wußten. Tim hatte Evelin wahrscheinlich davon erzählt, und die hatte es sicher sofort Jessica anvertraut. Und vielleicht hatte Tim auch schon mit Alexander gesprochen. Sie hatte das bedrückende Gefühl, daß sie die letzte gewesen war, die etwas erfahren hatte.

Wie konnte ich nur so lange nichts bemerken? fragte sie sich verzweifelt. Im letzten Sommer hatte sich Leon eine riesige Summe von Tim geliehen. Was bedeutete, daß ihm das Wasser bereits bis zum Hals gestanden haben mußte. Und sie hatte nichts mitbekommen. Nicht das geringste.

Das alles ist wieder einmal ein leuchtendes Aushängeschild für unsere prächtig funktionierende Ehe, dachte sie zynisch.

Als sie in die Einfahrt zu Stanbury House einbogen, sahen sie einen großen Wagen, der seitlich des Weges parkte. Seine Scheinwerfer waren ausgeschaltet, und fast hätte Patricia ihn für ein abgestelltes Fahrzeug gehalten, wobei sie sich allerdings in jedem Fall mißtrauisch gefragt hätte, weshalb jemand sein Auto unmittelbar vor dem Tor von Stanbury House stehen ließ. Nun aber erkannte sie im Licht der eigenen Scheinwerfer, daß sich etwas in dem Auto bewegte, woraufhin sie sich sofort alarmiert aufrichtete.

«Halt mal an! Da ist jemand.«

«Wo?«fragte Leon und bremste.

«In dem Auto dort. Ich wette, das ist dieser Hochstapler… dieser… wie heißt er noch? Phillip Bowen!«

«Na und? Laß ihn doch. Er steht vor unserem Grundstück, nicht darauf. Da kann man nichts sagen.«

«Trotzdem. Ich will, daß er verschwindet. Bleib stehen. Bleib stehen!«

Leon, der schon wieder angefahren war, bremste erneut.

Patricia öffnete die Wagentür.

«Bleib im Auto, Patricia! Du weißt nicht, ob der Typ gefährlich ist! Jetzt mach dich doch nicht verrückt!«

Aber sie war schon draußen, machte zwei Schritte auf das Auto zu. Ein altes, rostiges Ding, so viel konnte sie erkennen, ein riesiges Gefährt, in dem man vermutlich wie in einem Kahn herumschaukelte und durch dessen Bodenlöcher man die Straße unter sich sah. Sie hatte gleich gewußt, daß dieser Bowen ein Habenichts war, der auf skrupellose Art versuchte, fremden Besitz an sich zu reißen.

Sie stand jetzt unmittelbar vor dem Wagen. Die Scheinwerfer von Leons Auto gaben ihr ein wenig Licht.

Sie sah in zwei erschrockene Gesichter.

Das eine gehörte einem jungen Mann.

Das andere gehörte Ricarda Wahlberg.

14

«Ich möchte, daß sie aus dem Zimmer geht!«sagte Ricarda, und ihr Blick, der erneut voll unversöhnlichem Haß war, richtete sich auf Jessica.»Ich habe von Anfang an gesagt: Wenn du mit mir sprechen möchtest, dann nur ohne J.!«

«Sie heißt Jessica, und ich…«, begann Alexander.

Jessica, die es für wesentlich sinnvoller hielt, daß Vater und Tochter allein miteinander sprachen, machte einen Schritt zur Tür hin.»Wenn ihr mich braucht, bin ich da«, sagte sie,»aber vorerst…«

«Du bleibst hier!«

Das kam so ungewöhnlich scharf, daß Jessica Alexander erstaunt ansah.»Bitte«, fügte er leise hinzu.

Sie seufzte. Du kannst es doch nicht erzwingen, Alexander. Irgendwann wird sie mich akzeptieren, aber nicht auf diese Art.

Dennoch verharrte sie. Seine Hilflosigkeit tat ihr leid.

Alexander wandte sich an seine Tochter. Die beiden standen mitten im Zimmer, denn Ricarda hatte sich geweigert, den ihr angebotenen Platz anzunehmen. Zum erstenmal fiel Jessica die Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter auf. Da Ricarda die dunklen Farben ihrer Mutter geerbt hatte, herrschte bei jedem Beobachter auf den ersten Blick stets der Eindruck vor, sie habe mit ihrem blauäugigen, blonden Vater nichts gemeinsam und sei ganz und gar ein Abbild Elenas. Tatsächlich hatte sie jedoch seine kräftige Statur, sein eckiges Kinn und seinen etwas schmallippigen Mund geerbt, und jetzt, da sie zornig war, zeichnete sich auch die gleiche steile Falte über ihrer Nase ab wie bei ihm. Jeder hätte ihnen in diesem Moment die Verwandtschaft angesehen.

«Ich will den Namen des jungen Mannes wissen«, forderte Alexander. Nach dem Namen hatte er nun schon dreimal gefragt, und Ricarda hatte ebensooft entgegnet, sie werde ihn nicht nennen. Sie lebe ihr Leben, hatte sie gesagt, und ihr Vater habe darin nichts mehr verloren.

Auch jetzt schüttelte sie nur den Kopf.»Der geht dich nichts an.«

«Der geht mich sehr wohl etwas an. Du bist fünfzehn und damit weit davon entfernt, allein und völlig auf eigene Faust dein Leben gestalten zu können. Ich habe die Verantwortung für dich, und ich werde es nicht zulassen, daß du nachts in Autos mit fremden Männern…«

Das richtige Wort für das, was seine Tochter getan hatte, schien ihm nicht einzufallen. Ricarda hob den Kopf noch ein wenig höher und sah ihn herausfordernd an.

«Ja? Was? Was mache ich nachts mit fremden Männern in Autos?«

«Patricia sagt, ihr seid halb entkleidet gewesen.«

Ricarda lachte, doch es war ein Lachen voller Wut.»Die Ärmste! Das muß ja ein gräßlicher Anblick für sie gewesen sein! Zwei halbnackte Menschen im Auto! Das muß sie natürlich sofort melden!«

«Ich bin froh, daß sie es mir gesagt hat«, erwiderte Alexander.

Sie hatte in aller Frühe an seine und Jessicas Schlafzimmertür geklopft und kaum das» Herein «der beiden abgewartet. Jessica war gerade frisch geduscht und in ein großes Handtuch gewickelt aus dem Bad gekommen. Alexander lag noch im Bett. Patricia trug ihre üblichen Joggingsachen, in denen sie stets den Tag begann. Sie sah nicht so aus, als habe sie in der Nacht geschlafen.

Sie hatte ein ungeheures Theater um ihre Entdeckung vom Vorabend gemacht. Jessica fand, daß sie viel zu dick auftrug. Ihr tat Alexander leid, der sich von ihrer Hysterie anstecken ließ, blaß wurde und plötzlich sehr hilflos und traurig wirkte.

«Du mußt endlich etwas unternehmen! Deine liberalen Prinzipien in allen Ehren, aber so kann es doch wirklich nicht weitergehen. Die beiden haben… also, wenn du mich fragst, ich würde sagen, sie hatten Geschlechtsverkehr! In einem asozialen Auto. Ein asozialer Kerl! Was machst du eigentlich, wenn sie schwanger wird? Oder wenn sonst etwas passiert? Sie ist fünfzehn, Alexander! In gewisser Weise ist sie noch ein Kind! Du kannst sie nicht machen lassen, was sie will, und dabei deinen Kopf in den Sand stecken und sagen: Interessiert mich nicht!«

«Ich glaube nicht«, hatte Jessica mit einiger Schärfe in der Stimme eingeworfen,»daß Alexander jemals im Zusammenhang mit Ricarda ›interessiert mich nicht‹ gesagt hat!«

Patricia war in ihrem Redeschwall fortgefahren, als habe sie nichts gehört, und als sie endlich gegangen war, hatte Alexander wie betäubt ausgesehen und sich schließlich mühsam aus dem Bett gequält.»Ich glaube, ich verzichte heute auf das Frühstück«, hatte er gesagt,»ich will lieber gleich mit Ricarda sprechen. Würdest du mir den Gefallen tun und dabeisein?«

Schon da hatte sie gezögert.»Ich halte das nicht für gut. Wir beide wirken dann so… übermächtig.«

Für gewöhnlich war er solchen Argumenten gegenüber aufgeschlossen, aber diesmal blieb er bei seiner Bitte.

Und so waren sie nun in dem kleinen Schlafzimmer versammelt, Jessica und Alexander angezogen, Ricarda im Morgenmantel und mit wirren Haaren. Jessica hatte das Bett gemacht und fragte sich nun, wo ihre Morgenübelkeit blieb, die in der kommenden halben Stunde besonders ungelegen käme.

«Patricia platzt doch vor Neid«, sagte Ricarda nun verächtlich,»weil Leon sie nämlich nicht mehr anfaßt!«

«Ricarda!«

Alexander war entsetzt.»Wie kannst du solche Dinge behaupten?«

«Ich behaupte das nicht! Ich weiß es! Ich habe gehört, wie Leon zu Tim sagte, daß er es nicht mehr über sich bringt, mit Patricia zu schlafen!«

«Das geht uns wirklich nichts an«, sagte Alexander, zutiefst unangenehm berührt,»und du solltest auch gar nicht versuchen, von deinen Schwierigkeiten abzulenken.«

«Ich habe keine Schwierigkeiten.«

«Schön. Und damit das so bleibt, wirst du diesen jungen Mann nicht wiedersehen.«

Ricarda wurde blaß.»Das kannst du mir nicht verbieten.«

«Da du mir weder seinen Namen nennen noch ihn uns ordentlich vorstellen willst, sehe ich keine andere Möglichkeit als die, dir den Umgang insgesamt zu verbieten. Ich kann es nicht zulassen, daß sich meine fünfzehnjährige Tochter nachts in Autos von Männern befummeln läßt, die ich nicht kenne und von deren Absichten ich nicht die geringste Ahnung habe.«

Jessica hielt den Atem an. Sie sah, daß sich Ricardas Augen mit Tränen füllten — Tränen der Wut, wie sie vermutete.

«Du bist ganz anders, als du mal warst«, stieß sie hervor.»Früher warst du mein bester Freund. Du hast mich immer verstanden. Du hast immer zu mir gehalten. Aber seit du mit J. zusammen bist…«

«Verdammt noch mal, Ricarda!«

Alexander war bleich vor Zorn.»Du wirst sie bei ihrem richtigen Namen nennen. Du wirst sie Jessica nennen! Du wirst dich ihr gegenüber endlich anständig benehmen. Andernfalls…«

«Was ist andernfalls?«

«Andernfalls wirst du erleben, daß ich noch sehr viel unangenehmer sein kann, als du mich jetzt offensichtlich schon empfindest. Darauf solltest du es nicht ankommen lassen. Und was diese Affäre betrifft: Von jetzt an bleibst du auf dem Gelände von Stanbury House. Solltest du im Dorf einkaufen wollen, kannst du Jessica oder mich oder einen der anderen bitten, dich zu begleiten. Du erscheinst pünktlich zu allen Mahlzeiten. Hast du das begriffen?«

Sie sah ihn verächtlich an.»Du wirst mich zu nichts zwingen können«, warnte sie,»zu gar nichts.«

Sie drehte sich um, verließ das Zimmer, schmetterte die Tür hinter sich zu.

«Ricarda!«rief Alexander, aber sie hörte ihn schon nicht mehr.

«Ich glaube, jetzt hast du einen Fehler gemacht«, sagte Jessica.

«Wohin gehst du?«fragte Geraldine. Sie kam gerade vom Joggen zurück, war eine Runde um das Dorf gelaufen und langte in dem Moment vor der Tür des Gasthauses an, als Phillip heraustrat, in Jeans und Jacke und ganz offenbar im Aufbruch begriffen. Er sah unausgeschlafen aus und hatte sich wie üblich die Haare nicht gekämmt.

«Ich muß raus«, sagte er,»laufen. Mich bewegen. Nachdenken.«

«Ich kann mitkommen.«

Obwohl sie vierzig Minuten lang gerannt war, hatte sich ihre Atmung ganz schnell wieder beruhigt; sie konnte völlig normal sprechen und fühlte sich fit genug für eine Wanderung. Auf ihre Kondition war sie immer wieder stolz. Sie wußte zudem, daß sie sehr attraktiv aussah in ihren schwarzen Leggings, die ihre schönen Beine betonten, und in dem weißen Kapuzensweatshirt und den weißen Turnschuhen. Die langen, schwarzen Haare hatte sie zurückgebunden, aber ein paar Strähnen hatten sich gelöst und wehten ihr in die Stirn. Ihr waren, wie üblich, auf der morgendlichen Laufstrecke einige Leute begegnet, und alle, Männer wie Frauen, hatten fasziniert hinter ihr hergestarrt. Phillip jedoch schien überhaupt nicht zu bemerken, wie hübsch sie war.

Er merkt es eigentlich nie, dachte sie resigniert, er schaut sowieso durch mich hindurch.

«Ich kann mitkommen«, wiederholte sie,»ich bin gerade schön aufgewärmt.«

«Du gehst jetzt hinein und frühstückst.«

«Ich frühstücke nie, das weißt du doch.«

Er seufzte.»Ich möchte allein sein.«

Irgendwie hatte sie das gewußt, aber es verletzte sie dennoch, als er es sagte.»Dann tu doch auch nicht so fürsorglich«, sagte sie,»und schicke mich zum Frühstück. Dir ist es doch ganz egal, ob ich frühstücke oder nicht. Du willst nur deine Ruhe haben.«

«Ich bin hierhergekommen, um ein bestimmtes Projekt zu verfolgen. Nicht, um mit dir Urlaub zu machen.«

Sie wußte, daß es völlig falsch war, ihn in diesem Moment, am frühen Morgen, hier auf der Dorfstraße in ein Grundsatzgespräch verwickeln zu wollen; das konnte nur dazu führen, daß er wütend wurde, und dennoch konnte sie sich nicht zurückhalten.

«Willst du eigentlich überhaupt jemals irgend etwas mit mir machen? Ich meine, außer gelegentlich mit mir ins Bett zu gehen, gnadenvoll dann und wann meine Gegenwart zu erdulden und dich hin und wieder von meinem Geld zu bedienen?«

Das Geld hätte sie nicht erwähnen dürfen, das wußte sie, kaum daß sie den Satz ausgesprochen hatte. Sie sah es an seinen Augen. Er war wütend.

«Dein Geld? Dein verdammtes Geld?«

Er sprach sehr leise und trat dicht an sie heran.»Du glaubst ernsthaft, daß mich dein Geld interessiert?«

Fast wäre sie zurückgewichen, zwang sich aber, stehenzubleiben.

«Nun, ich…«, begann sie nervös.

«Ich habe nie etwas von deinem Geld haben wollen. Ich habe dich nie um ein einziges Pfund gebeten. Wenn du mir Dinge gekauft hast, dann geschah das, weil du es wolltest. Nicht, weil ich danach verlangt hätte. Es ist wie mit dieser Reise hier.«

Er sah sie verächtlich an.»Du hast dich mir aufgedrängt, und nun willst du meinen Dank dafür. Du gibst mir Geld, damit ich vor dir krieche. Du mischst dich in mein Leben ein und meinst, irgendwann könnte ich nicht mehr ohne dich sein. Aber das ist ein schrecklicher Irrtum, Geraldine. Ich kann ohne dich sein. Jetzt und später. Unsere Beziehung existiert nur, weil du nicht loslassen kannst. Ich hingegen«, er kam noch etwas näher, so, als wolle er seine Worte in sie hineinbohren, damit sie sie bloß nie vergaß,»ich hingegen habe überhaupt noch nie nach dir gegriffen.«

«Phillip…«

Er ließ sie stehen und ging die Dorfstraße entlang, mit schnellen Schritten, als versuche er, sich von etwas zu befreien.

Als versuche er, sich von ihr zu befreien.

Sie krallte ihre Fingernägel in die Handfläche, als könne sie damit den Schmerz ableiten, der sie so heftig überfiel, daß sie meinte, nach Luft schnappen zu müssen. Er hatte ihr nichts Neues gesagt, aber neu war die Härte, mit der er es getan hatte.

Er hatte ihr klargemacht, daß er sie nicht liebte. Daß er keine gemeinsame Zukunft wollte. Daß sie ihm im wesentlichen lästig war. Und in besseren Momenten nur gleichgültig.

Wie oft will ich mich noch treten lassen?

Sie schaffte es, ins Gasthaus hinein- und nach oben in ihr gemeinsames Zimmer zu gelangen, ehe die Tränen sie überschwemmten. Sie weinte heftig und wild und hoffnungslos.

Sie weinte eine Stunde lang, und erst als sie nicht mehr konnte, als die physische Erschöpfung alles überdeckte, versiegte ihr Schluchzen.

Ich werde meine Koffer packen und weg sein, bis er wiederkommt, dachte sie.

Es würde ihm völlig egal sein.

Sie begann zu begreifen, worin Elenas Schwierigkeiten bestanden hatten. In diesen Osterferien begriff sie es wirklich, und sie fragte sich, weshalb ihr das nicht vorher klargeworden war. Vielleicht war alles zu neu gewesen. Jetzt blickte sie tiefer, und ihr Unbehagen wuchs. Womöglich war es auch schon länger dagewesen, doch sie hatte es verdrängt. Nun mochte es sich nicht mehr beiseite schieben lassen.

Sie war zu einer ihrer üblichen Wanderungen aufgebrochen, ohne gefrühstückt zu haben. Sie empfand die Atmosphäre im Haus an diesem Morgen als unerträglich; noch nie hatte es sie so sehr nach draußen gedrängt. Außerdem war die Übelkeit ausgeblieben, und diesen angenehmen Umstand mochte sie nicht durch den Verzehr eines Rühreis oder auch nur eines Tellers Müsli gefährden.

Wie immer ging sie schnell, machte große Schritte. Barney tollte neben ihr her, lief vor und zurück, war wie immer begeistert davon, sich nach Herzenslust bewegen zu dürfen.

Irgendwann spät in der Nacht mußte es geregnet haben, denn auf dem Weg standen Pfützen, das Gras rechts und links glänzte naß. Ein kühlerer Wind wehte, trieb die Wolken auseinander. Bis zum Nachmittag würde die Sonne wieder scheinen.

Jessica hatte mit Alexander nicht gestritten, aber sie hatte ihm gesagt, daß sie sein Verhalten gegenüber Ricarda nicht für richtig hielt, und er war verstimmt gewesen, hatte offenbar auch kein weiteres Gespräch mit ihr darüber gewünscht. Das war neu, denn für gewöhnlich orientierte er sich gerade in Fragen, die Ricarda betrafen, gern an ihr. Aber diesmal hatte er wohl Angst, zwischen Jessica und Patricia wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben zu werden. Nach Jessicas Ansicht hatte Patricia weder das Recht noch die Veranlassung, sich in die Angelegenheit einzumischen, doch offenbar brachte es Alexander nicht fertig, sie in ihre Grenzen zu weisen.

Und da, dachte sie nun, liegt wohl auch ein Teil des Problems. Zwischen ihnen allen existierten keine echten Grenzen. Jeder hat Zugang zu jedem und zu allem. Niemand darf in die Schranken gewiesen werden, als könnte in so einem Moment ein Kunstwerk zusammenbrechen — das Kunstwerk dieser großen, tiefen, unendlichen Freundschaft.

Eine Freundschaft, der, nach Jessicas immer ausgeprägter werdendem Gefühl, eben sehr viel Künstlichkeit anhaftete, die im Kern nicht echt schien. Zwischen den drei Männern nicht, in denen sie doch ihren Ausgang nahm, und schon gar nicht zwischen den Ehefrauen. Was vermutlich die Ursache dafür war, daß Grenzen nicht gebildet oder, sollte es sie einmal gegeben haben, aufgehoben worden waren. Echte Freundschaft vertrug Individualität und eigene Lebensbereiche. Eine künstliche Freundschaft möglicherweise nicht.

Einer drang in die Angelegenheiten des anderen — aber nur da, wo es im Grunde unerheblich und ungefährlich war. Patricia machte einen gigantischen Aufstand um Ricarda, dabei tat Ricarda etwas, das völlig normal war: Sie hatte einen Freund. Sie knutschte mit ihm. Vielleicht schlief sie mit ihm. Ihre Mutter hatte sie sicher aufgeklärt. Es gab keinen Grund, sich derartig aufzuregen.

Auf der anderen Seite hüteten sie sich alle, die eindeutig depressive Evelin auf ihre Traurigkeit anzusprechen. Das hätte schlafende Hunde wecken können, und vor nichts schienen sie solche Angst zu haben wie vor echten Problemen, die dann auf sie zukommen könnten. In der Ehe von Leon und Patricia schien es zu kriseln, nach dem, was Ricarda gehört hatte, und Jessica zweifelte nicht an ihrer Aussage. Trotzdem wurde die heile Familie mit einer Beharrlichkeit demonstriert, die vermutlich sogar Patricia selbst gelegentlich glauben ließ, alles sei in Ordnung.

Irgendwie war Elena mit dieser Welt, die ihrem Mann soviel bedeutete, nicht mehr zurechtgekommen. Alexander sagte immer, Elena habe die Schwierigkeiten mit den Freunden nur vorgeschoben; in Wahrheit habe es einfach zwischen ihnen beiden nicht mehr gestimmt. Jessica hatte seine Aussage nie angezweifelt. Nun war sie nicht mehr sicher. Zwischen Elena und Alexander mochte es nicht mehr gestimmt haben, weil Elena an der Verlogenheit, die sie umgab, zu ersticken meinte.

Ich darf nicht an diesen Punkt kommen, sagte sie sich, aber das Schlimme war, daß sie das Problem nun sah, daß sie es spürte und es nie wieder würde verdrängen können. Sie konnte sich nicht mehr einreden, alles sei in Ordnung.

Ohne nachzudenken, schlug sie den Weg ein, der zu dem Bach führte, in dem sie Barney gefunden hatte, und irgendwann später fragte sie sich einmal, ob dies Zufall oder doch ein unbewußtes Wollen gewesen war.

Phillip saß diesmal nicht auf dem Hügel im Gras, dazu war es zu naß. Sie entdeckte ihn ein Stück weiter unten, nah am Ufer des Bachs. Hier lag ein umgestürzter Baumstamm; Phillip saß

rittlings darauf wie auf einem Pferderücken und verknotete Grashalme. Er hatte schon eine beachtliche Kette zustande gebracht.

Halb und halb erwartete sie, er werde einfach aufstehen und gehen, wenn sie sich ihm näherte, aber sie hatte so sehr das Bedürfnis, sich noch einmal bei ihm zu entschuldigen, daß sie es dennoch riskierte.

«Phillip«, sagte sie, als sie dicht hinter ihm stand, und er schien kaum überrascht, als er sich umdrehte. Vielleicht hatte er sie kommen hören.

Er sagte nichts, ging aber auch nicht weg, und so setzte sie sich ihm gegenüber, ebenfalls rittlings, auf den Baumstamm und sah ihn an.

«Es tut mir wirklich leid«, sagte sie.»Meine Bemerkung neulich war völlig unmöglich. Mir ist ganz klar, daß Sie sehr gekränkt sein müssen. Ich hoffe, Sie verzeihen mir.«

Er reichte ihr die Kette aus Grashalmen.»Hier. Ich schenke sie Ihnen. Ich verschenke immer Ketten aus Grashalmen, wenn ich jemandem verzeihe.«

Sie war selber erstaunt, wie tief erleichtert sie sich fühlte. Sie hielt die Kette mit beiden Händen.»Danke. Ich bin… es hat mich sehr belastet. Jetzt geht es mir besser.«

Er streichelte Barney, der sich an seinem Bein aufgerichtet und ihn erwartungsvoll mit der Schnauze angestupst hatte.»Ich habe den Eindruck, er ist schon größer geworden in den wenigen Tagen.«

«Er frißt wie ein Verrückter«, sagte Jessica,»aber er muß ja auch irgendwie in seine Pfoten hineinwachsen.«

Barney drehte sich um und rannte hinter einer dicken, brummenden Hummel her. Phillip fuhr fort, Grashalme zu verknoten.

«Damit Sie sich nicht wieder überrumpelt fühlen«, sagte er.

«Ich werde morgen früh nach Stanbury House kommen und Patricia um ein Gespräch bitten. Ich bin in den letzten Tagen viel in der Gegend herumgelaufen und habe nachgedacht. Ich bin zu dem sicheren Schluß gekommen, daß ich nicht aufgeben werde. Patricia wird mich nicht mehr loswerden.«

«Sie wird nicht mit Ihnen reden, Phillip. Und alle anderen sind ebenfalls angewiesen, es nicht zu tun.«

Er lächelte.»Dann sollten Sie vorsichtig sein, Jessica. Sie brechen gerade die Vorschrift. Man könnte Sie der Kollaboration mit dem Feind beschuldigen!«

Sie zuckte mit den Schultern.»Ich versuche eigentlich eher, mich aus einem Krieg herauszuhalten.«

«Sie meinen, es wird Krieg geben?«

«Patricia wird nichts von dem anerkennen, was Sie sagen. Sie wird Sie ignorieren. Das heißt, daß Sie härtere Geschütze werden auffahren müssen — und das könnte schon in einer Art Krieg enden.«

«Ich werde eine Exhumierung beantragen. Eine DNAAnalyse wird Klarheit bringen.«

«Das wird ein langer juristischer Weg, Phillip, fürchte ich. Patricia als die legitime Enkelin von Kevin McGowan wird alles tun, eine Exhumierung zu verhindern, und sie hat sicher bessere Karten als Sie. Ich weiß nicht, ob Sie…«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, weil sie fürchtete, sich schon wieder in einer Taktlosigkeit zu verfangen, aber Phillip wußte, was sie hatte sagen wollen.»Sie bezweifeln, daß ich einen langen juristischen Kampf finanziell durchhalten kann. Und Sie haben recht: Das wird sehr schwierig. Doch ich bin ganz sicher, daß ich Wege finden werde.«

«Was machen Sie beruflich?«

Jetzt zuckte er mit den Schultern.»Mal dies, mal das. Ich habe eine ganze Reihe abgebrochener Ausbildungen vorzuweisen… Irgendwie konnte ich nie etwas zu Ende führen. Nicht mal die Schule. Ich hab sie mit siebzehn geschmissen. Bin dann erst mal zwei Jahre durch die USA getrampt, habe gejobbt und von der Hand in den Mund gelebt. Dann war ich in New York an einer Schauspielschule, aber kurz vor dem Abschluß konnte ich nicht mehr weitermachen. Ich bin nach England zurückgekehrt, habe geheiratet und mich nach kaum drei Jahren wieder scheiden lassen. Danach…«

«Wie war sie?«

«Wer?«

«Ihre Frau. Sie müssen Anfang zwanzig gewesen sein, und sie war wohl kaum älter.«

«Sie war achtzehn. Drogensüchtig. Wir haben zusammen versucht…«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung.»Sie wurde immer wieder rückfällig. Immer wieder. Irgendwann hab ich es einfach nicht mehr ertragen.«

«Was wurde aus ihr?«

«Sie ist tot.«

Ehe Jessica etwas darauf erwidern konnte, fuhr er fort:»Ich wollte danach alles Mögliche machen. Fotograf werden. Journalist werden. Es noch mal als Schauspieler versuchen. Meinen Schulabschluß nachholen. Als Entwicklungshelfer nach Indien gehen. Und, und, und… tausend Dinge. Alles angefangen, nichts beendet.«

Er verknotete zwei Grashalme zum erstenmal so heftig, daß sie rissen.»Es ist der rote Faden in meinem Leben. Ein verdammter roter Faden, den ich nicht loswerde, obwohl ich darum gekämpft habe. Diese Sache jetzt werde ich aber durchziehen. Ich möchte die Anerkennung, daß Kevin McGowan mein Vater war, und ich möchte den mir zustehenden Anteil an seinem Erbe.«

«Das Erbe ist das Haus. Selbst wenn es Ihnen gelingt, Ihren Anteil zugesprochen zu bekommen, werden Sie womöglich noch kein Geld sehen. Denn ohne Patricias Einverständnis können Sie nicht verkaufen, und sie wird nie einwilligen. Sie wird sich nie von Stanbury House trennen, schon weil ihre Freunde das nicht zulassen.«

«Es geht mir nicht um Geld«, sagte Phillip.

Sie verstand ihn.»Es geht Ihnen um Ihren Vater.«

«Um das, was von ihm geblieben ist«, sagte Phillip.

«Kann ich dich einen Moment sprechen, Tim?«fragte Leon. Er hatte gehört, daß Tim die Treppe in die Eingangshalle herunterkam, und hatte das Eßzimmer verlassen, um ihn abzufangen. Obwohl das Wetter inzwischen wieder sehr schön geworden war und nach draußen lockte, hatte Leon kein Interesse daran, spazierenzugehen oder ein wenig im Garten zu arbeiten. Die Sorgen drückten ihn. Sie ließen keinen Raum für Entspannung und Ablenkung.

«Was gibt es?«fragte Tim. Auch er sah keineswegs fröhlich aus.

Wie auch, dachte Leon, mit diesem ewigen Trauerkloß Evelin an seiner Seite!

«Ich wollte dir nur sagen, daß ich mit Patricia gesprochen habe, Tim«, sagte er,»sie kennt jetzt meine ganze brisante Situation. Das gibt mir nun die Möglichkeit, den Lebensstil unserer Familie wirklich einschneidend zu verändern. Und in absehbarer Zeit werden die Sparmaßnahmen dann greifen, und ich werde…«

«Gehört es zu der einschneidenden Veränderung des Lebensstils deiner Familie, daß Patricia vorhin wieder mit euren Töchtern zum Reiten aufgebrochen ist?«fragte Tim. Seine Stimme klang hart.»Soweit ich weiß, lassen sich die Bauern das Herumgehopse auf den Pferden ziemlich teuer bezahlen. Eine luxuriöse Urlaubsgestaltung für jemanden, der eigentlich pleite ist!«

«Das Reiten muß aufhören, und das weiß Patricia. Wir wollten nur nicht, daß den Mädchen so völlig abrupt etwas weggenommen wird, woran sie mit ganzem Herzen hängen. Patricia will ihnen heute auf dem Heimweg erklären, daß sie eine Pause machen müssen.«

«Soso«, brummte Tim.

Leon trat etwas dichter an ihn heran.»Du bekommst dein Geld, Tim. Das ist doch Ehrensache! Aber bitte gib mir noch etwas Zeit. Deine Praxis läuft blendend, du bist doch nicht darauf angewiesen, so schnell wie möglich…«

«Jetzt hör mir mal zu«, setzte Tim an, doch in dem Moment ging oben auf der Galerie eine Tür, und Evelin kam langsam die Treppe herunter. Sie hinkte. Als sie die beiden Männer sah, blieb sie stehen.

«Was macht ihr denn hier?«fragte sie, und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort:»Ich habe mir irgend etwas am Knöchel gezerrt. Ich habe versucht zu joggen heute früh, aber…«

Sie sprach nicht weiter.

Ihr Unglück ist, daß sie etwas sein will, was sie nicht ist, dachte Leon mitleidig, sie will so sportlich, so trainiert, so schlank und attraktiv sein wie Patricia — aber sie packt es einfach nicht. Sie versucht mit ihren neunzig Kilo das zu tun, was Patricia mit ihren fünfzig tut, und jedesmal erleidet sie Schiffbruch.

«Joggen soll gar nicht gesund sein«, sagte er.

«Jedenfalls nicht, wenn die Gelenke zuviel Gewicht tragen müssen«, fügte Tim hinzu.

Seiner Frau schossen die Tränen in die Augen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und hinkte die Treppe wieder hinauf. Oben flog die Tür ins Schloß.

Vom Hof her waren Motorgeräusche zu hören, gleich darauf kamen Diane und Sophie herein. Wie stets beide im schicken Reitdreß, aber mit völlig verheulten Gesichtern, geröteten Wangen und schniefenden Nasen. Sie liefen wortlos an ihrem Vater und Tim vorbei, und kurz darauf knallte oben abermals eine Tür.

«Patricia hat mit ihnen gesprochen«, schloß Leon resigniert.

«Ich möchte Ihnen etwas über meinen Vater erzählen«, sagte Phillip. Sie hatten den umgestürzten Baumstamm verlassen, gingen nebeneinander langsam den Weg entlang. Phillip hatte beide Hände in den Hosentaschen. Es war ungewohnt für Jessica, ihn so zu sehen: mit untätigen Händen.

«Ich habe eine Menge Material über ihn zusammengetragen, nachdem ich… es wußte. Vieles hat mir meine Mutter erzählt, aber da er in gewisser Weise eine Person des öffentlichen Lebens war, ist doch in einer Reihe von Zeitungsarchiven einiges über ihn zu finden gewesen. Er hatte ein steifes Bein. Es rührte von einem Autounfall her, in den er als Zwanzigjähriger verwickelt war. Sein Leben lang konnte er nicht richtig laufen. Er zog immer das Bein nach.«

Sie sah ihn überrascht an. Erstaunt, daß es diese Behinderung seines Vaters war, von der er zuerst sprach.

Er bemerkte ihren Blick.»Es war der Ausgangspunkt«, erklärte er,»die Weichenstellung. Dafür, daß es ihn nach Deutschland verschlug.«

Sie begann sich dunkel zu erinnern. Patricia sprach nicht viel über ihren Großvater, aber irgend etwas hatte sie einmal erzählt.»War er nicht bei der französischen Résistance?«fragte sie.»Ich meine, so etwas gehört zu haben.«

«England und Deutschland befanden sich im Krieg und er durfte nicht teilnehmen. Wehruntauglich, klar, ein Mann, der sich nur humpelnd vorwärtsbewegen konnte und häufig unter starken Schmerzen litt… Ihn muß die Situation fast um den Verstand gebracht haben. Er war ein ganz junger Mann, glühender Patriot damals, was sich übrigens später durchaus etwas änderte, aber zu jener Zeit… Er verehrte Winston Churchill und die Unbedingtheit, mit der dieser den Krieg zu führen gedachte, und er wollte unter allen Umständen daran teilnehmen. Über die Kanalinseln, glaube ich, gelang es ihm, Kontakt mit dem französischen Widerstand aufzunehmen. Er ging dann hinüber aufs Festland, begann eine illegale Existenz in Frankreich mit falschen Papieren und unter erheblichen Risiken. Eine äußerst gefährliche und abenteuerliche Zeit. Es gibt viele Interviews, in denen er darüber spricht. Irgendwie hatte ich beim Lesen das Gefühl, daß er es trotz allem bis zum Schluß für die beste Zeit seines Lebens hielt.«

«Sicher war es die intensivste Zeit«, sagte Jessica.

«Und die Zeit einer großen Liebe«, fuhr Phillip fort,»er lernte eine Deutsche kennen, eine junge Frau, die als Funkerin mit den Truppen nach Frankreich gekommen war. Später betonte er immer wieder, sie sei nicht in der Partei gewesen und sowieso nicht im mindesten von der Naziideologie infiziert, aber… na ja, wer weiß! Vielleicht stimmte es. Vielleicht war es wirklich eine Frau, ein junges Mädchen fast noch, die einfach von daheim wegwollte, die Abenteuer erleben wollte und der in jenen Zeiten nichts Besseres einfiel, als mit der Wehrmacht nach Frankreich zu ziehen. Ohne groß darüber nachzudenken. So hat er es jedenfalls immer dargestellt.«

«Damals, so mittendrin«, meinte Jessica,»war es für die Menschen, besonders die jungen Menschen, vielleicht oft schwieriger, die Geschehnisse so zu überblicken, wie wir das heute können.«

«Ich denke, vieles wurde auch hinterher geschönt«, meinte Phillip, und Jessica überlegte, ob er Aggressionen empfand der Frau gegenüber, mit der seinen Vater eine große Liebe verbunden hatte — während seine Mutter nur ein kurzes Verhältnis hatte sein dürfen.

«Ich nehme an«, sagte Jessica,»diese Frau wurde Patricias Großmutter.«

Phillip nickte.»Sie hieß auch Patricia. Lange Zeit muß sie übrigens gedacht haben, es bei meinem Vater mit einem Franzosen zu tun zu haben, denn er lebte ja unter einem entsprechenden Namen und mit falschen Papieren. Das war für sie natürlich eine sehr gefährliche Situation, aber um wie vieles noch gefährlicher für ihn — davon hatte sie keine Ahnung. Anfangs hat er über sie noch Informationen erhalten, die wichtig für den Widerstand waren, und diese wohl auch benutzt, aber je intensiver die Beziehung wurde, desto weniger war er natürlich in der Lage, die Frau, die er liebte, auszuspionieren. Zu Beginn des Jahres 1944 offenbarte er sich ihr.«

«Vermutlich ein ziemlicher Schock für sie.«

«Das ist anzunehmen. Trotzdem blieben die beiden zusammen. In einer sehr gefahrvollen Zeit, jeder einem anderen Regime dienend, den Zusammenbruch bereits vor Augen… Ich habe oft darüber nachgedacht, wie eng sie dies aneinandergeschmiedet haben muß. Patricia weiß sicher mehr über das alles. Vielleicht kennt sie bestimmte Episoden, weiß etwas über Momente, in denen alles zu Ende schien, über durchwachte, atemlose Nächte, über Augenblicke, in denen nur das Glück die beiden rettete… Ich würde gern einmal mit ihr darüber sprechen. Aber da werde ich wahrscheinlich abblitzen, wie Sie ja andeuteten.«

«Ich fürchte, Sie haben wenig Chancen«, meinte Jessica unbehaglich.»Patricia empfindet Sie als jemanden, der ihr etwas wegnehmen will. Damit sind Sie in ihren Augen ein Feind.«

«Wir sind verwandt!«

«Das sagen Sie.«

Er seufzte.»Entschuldigen Sie, ich habe Sie gelangweilt«, sagte er unvermittelt.»Diese alte Geschichte kann für Sie kaum interessant sein. Es ist mir ein solches Bedürfnis, über meinen Vater zu sprechen, daß ich immer wieder vergesse, wie wenig anregend das für andere Menschen sein muß.«

«Das stimmt nicht. Ich habe Ihnen sehr gern zugehört. Vielleicht… vielleicht reden wir ein anderes Mal weiter.«

Sie war auf einmal nervös. Wie viele Stunden war sie schon fort von daheim? Würde Alexander sich nicht Sorgen machen? Gerade heute, an einem Tag, der so unerfreulich begonnen hatte.

«Ich muß nach Hause«, sagte sie.

Er lächelte.»Schlechtes Gewissen?«

«Nein!«

Sie ärgerte sich, weil sie wirklich so etwas wie ein schlechtes Gewissen verspürte.»Ich kann sprechen, mit wem ich will, oder? Aber wir haben zur Zeit ein paar Probleme, mein Mann und ich, und da…«

Sie ärgerte sich schon wieder. Schließlich mußte sie Phillip Bowen gegenüber keineswegs ihren Wunsch rechtfertigen, jetzt den Heimweg anzutreten.»Auf jeden Fall wird es Zeit«, sagte sie.»Auf Wiedersehen, Phillip!«

«Auf Wiedersehen, Jessica.«

Sie ging davon, Barney im eifrigen Galopp vor ihr her, und sie drehte sich nicht mehr um.

Die ganze Zeit aber spürte sie Phillips Blick im Nacken.

15

Ein gedrückter, ein niedergeschlagener Tag. Nichts war in Ordnung, und in steigender Verzweiflung fragte sich Jessica, weshalb das außer ihr niemand zu bemerken schien.

Ricarda war verschwunden. Offenbar direkt nach dem Gespräch mit ihrem Vater. Sie hatte nicht gefrühstückt, was auch nicht zu erwarten gewesen war, aber als sie zum Mittagessen nicht erschien, ging Alexander hinauf in ihr Zimmer und kehrte grau im Gesicht zurück.

«Sie ist weg«, sagte er.

Jessica, die abgehetzt und verschwitzt im letzten Moment zurückgekehrt war und mit ungewaschenen Händen und zerzausten Haaren unter Patricias mißbilligenden Blicken auf ihren Stuhl am Eßtisch rutschte, versuchte die Situation zu retten:»Vielleicht ist sie im Garten. Oder macht einen Spaziergang.«

«Das glaubst du doch selbst nicht!«schnaubte Patricia.

«Ich hatte ihr ausdrücklich gesagt, daß sie zu den Mahlzeiten da sein soll«, sagte Alexander.

Jessica schaute ihn an.

Mach dich nicht so fertig, sagte ihr Blick, es geschieht nichts Schlimmes, wirklich nicht! Aber er wandte sich ab, und sie begriff, daß er sich von ihr verraten fühlte. Sie hätte nicht weggehen dürfen am Vormittag. Und vielleicht noch mehr als das: Er hatte erwartet, daß sie das Drama mit ihm teilte. Daß sie mit ihm redete, überlegte. Sich engagierte. In seinen Augen hatte sie ihn verlassen, sich für nicht zuständig erklärt, die Verantwortung abgelehnt. Sie hatte ihm deutlich gemacht, daß es sich um seine, nicht um ihre Tochter handelte.

Er war verletzt.

Diane und Sophie hatten verweinte Augen und mochten nichts essen. Vermutlich hatten sie gar nicht herunterkommen wollen, aber natürlich hatte Patricia darauf bestanden. Jessica fragte sich, was vorgefallen sein mochte. Vielleicht würde sie es herausfinden, vielleicht auch nicht. Vieles blieb hier im verborgenen.

Am Ende sollte es mich auch gar nicht interessieren, dachte sie.

Leon war in sich gekehrt, entschuldigte sich gleich nach dem Essen und verschwand auf sein Zimmer.

Patricia verkündete, mit den Kindern nach Haworth fahren und zu der Ruine von Wuthering Heights wandern zu wollen.

«Geht ihr nicht reiten?«fragte Jessica erstaunt.

«Wir waren heute früh«, erklärte Patricia kurz.

Diane brach in Tränen aus, was ihre Mutter geflissentlich ignorierte.

«Kommst du mit?«wandte sie sich an Evelin.

Evelin erklärte, wegen ihrer Zerrung am Fuß immer noch kaum laufen zu können. Patricia hielt ihr einen Vortrag über das langsame Herantasten an Sportarten, die ein Mensch nicht gewohnt war. Als sie endlich mit ihren Töchtern losfuhr, war es, als löse sich bei allen ein Stück Beklemmung.

Tim überredete Alexander zu einem Spaziergang.

Vermutlich wird er ihm psychologische Tips für den Umgang mit seiner widerspenstigen Tochter geben, dachte Jessica und wunderte sich selbst, weshalb dieser Gedanke so starke Aggressionen in ihr auslöste.

Sie trank am späten Nachmittag mit Evelin Kaffee vor dem Kamin. Draußen schien die Sonne, aber es war kühl und windig, und man konnte nicht auf der Terrasse sitzen. Von den anderen war noch keiner zurück, und Leon rührte sich nicht aus seinem Zimmer. Evelin wirkte entspannter als sonst. Nach dem Kaffee trank sie mehrere Schnäpse und berichtete Jessica von Leons finanziellen Problemen und den Schulden, die er bei Tim hatte.

«Deshalb sind die Reitstunden für Diane und Sophie gestrichen«, berichtete sie,»und wahrscheinlich müssen Patricia und Leon ihr Münchner Haus verkaufen.«

«Aber warum spricht niemand darüber?«fragte Jessica.»Warum tut Patricia ständig so, als sei alles in Ordnung? Ihr seid doch langjährige Freunde!«

Evelin zuckte mit den Schultern.»Sie will sich keine Blöße geben. Ich glaube, sie könnte im Sterben liegen, und sie würde noch immer jedem erzählen, daß es ihr glänzend geht!«

Zum Abendessen trafen sie alle wieder zusammen, aber es wurde wenig gesprochen.

Ricarda hatte sich nicht blicken lassen.

Leon aß kaum etwas und schrak zusammen, wenn er angesprochen wurde.

Patricia hatte auf der Wanderung viel Farbe bekommen. Mit ihrer gebräunten Haut, den hellblonden Haaren und dem leuchtend roten Baumwollpullover bekleidet, sah sie wieder einmal wie ein Fotomodell aus. Sie wirkte auf eine eigenartige Weise angriffslustig. Wie ein Mensch, der beschlossen hatte, einen Kampf aufzunehmen. Ganz anders jedenfalls als ihr Mann, der offensichtlich in Depressionen versank und zunehmend gelähmt schien.

Alexander sagte fast gar nichts.

Um elf Uhr war Ricarda immer noch nicht zurück.

Der trübe Tag ging so traurig zu Ende, wie er begonnen hatte.

16

Ricardas Tagebuch

23. April. Ich bin so aufgeregt, ich habe weiche Knie, und mein Herz rast. Meine Hände zittern ein bißchen beim Schreiben. Es ist fast halb drei Uhr nachts. Ich bin eben zurückgekommen. Als ich die Treppe hinaufschlich, ging die Tür zum Schlafzimmer von Papa und J. auf, und Papa fragte, ob ich es bin. Ich sagte» ja «und dachte, jetzt kommt eine lange Predigt, aber er sagte nur:»Wir sprechen uns morgen.«

Und machte die Tür wieder zu.

Aber es wäre mir auch egal gewesen, wenn er jetzt gleich mit mir hätte reden wollen. Ich hätte gar nicht richtig hingehört, glaube ich.

Ich habe es getan. Keith und ich haben es getan. Wir haben miteinander geschlafen. Und es war das Schönste, was ich je erlebt habe.

Wir waren den ganzen Tag zusammen. Morgens hatte Papa auf mich eingeredet und gesagt, ich darf Keith nicht mehr sehen, aber ich wußte sofort, daß ich mir das nicht verbieten lassen würde. Denn dann hätte ich auch gleich sterben können. Übrigens glaube ich, daß J. in dieser Sache zu mir hält. Vielleicht will sie sich anbiedern. Egal. Ich kann sie trotzdem nicht leiden.

Ich bin zur Scheune gelaufen; ich hab's mir gar nicht erst angetan, mit diesen Blödmännern zu frühstücken. Die kotzen mich an, die kotzen mich alle so maßlos an… Wenn ich Keith nicht hätte, ich würde das keinen Tag länger aushalten.

Er war schon in der Scheune, als ich hinkam. Wir haben ein bißchen geschmust, und dann hat er gemeint, wir könnten mit dem Auto herumfahren. Wir sind durch ganz ulkige, kleine Dörfer gekommen mit Häusern, die wie Spielzeug aussahen, und wir sind durch weite Landschaften gefahren, die waren so verlassen, daß man dachte, da kommt nie wieder etwas, ein Mensch oder ein Haus oder eine Kuh. Manchmal haben wir angehalten und sind ein Stück gelaufen. Der Tag war so schön, sehr windig, und der Himmel ganz hoch und blau. Immer wieder waren da Mauern, über die wir klettern mußten, und am Anfang hatte ich vor den vielen Schafen dahinter etwas Angst, aber Keith sagte, alle öffentlichen Wanderwege in Yorkshire führen durch Schaf- oder Kuhweiden, und da ist noch nie etwas passiert. Natürlich bekamen wir irgendwann Hunger, vor allem ich, denn ich hatte ja nicht einmal gefrühstückt, und Keith meinte, wir könnten irgendwo etwas essen gehen. Also haben wir Kassensturz gemacht. War nicht gerade ergiebig. Wir kriegten nur ein paar klägliche Pfund zusammen. Im nächsten Dorf sind wir dann in einen Schnellimbiß gegangen, der sah ziemlich heruntergekommen aus, aber wir hofften, daß es dafür billig wäre. Na ja, es war eher normal. Wir teilten uns ein Bier und eine Portion Makrelen mit Pommes. Wir wurden beide nicht satt, aber eigentlich war das auch nicht wichtig.

Die ganze Zeit saß ich ihm gegenüber und sah ihn an und wußte: Heute passiert es. Heute wird es ganz bestimmt passieren.

Am Nachmittag waren wir wieder in der Scheune. Keith hat dort immer ein paar Flaschen Bier stehen, so konnten wir wenigstens etwas trinken. Es war kühl, wir kuschelten uns unter der Decke auf dem Sofa ganz eng aneinander, und dazu hörten wir Céline Dion, bißchen kitschig, aber irgendwie paßte es.

Mir war etwas schwindlig vom Bier. Ich trinke ja sonst nie Alkohol, und eigentlich schmeckt mir Bier auch gar nicht, aber diesmal hatte ich es hauptsächlich gegen den Hunger

getrunken. Keith hatte irgendwo auch Zigaretten, nach denen ging er auf die Suche und fand sie dann auch. Zum Glück war das wenigstens nicht meine erste Zigarette, sonst hätte ich mich womöglich blamiert. Wir rauchten und schmusten und hörten Musik, und ich hatte ein wunderschönes, ganz friedliches Gefühl. Als es draußen dunkel war, meinte Keith, es wäre besser, wenn er mich nach Hause brächte.

«Du kriegst sowieso schon Ärger«, sagte er,»wir sollten es vielleicht nicht noch schlimmer machen.«

«Eben«, sagte ich,»ich kriege sowieso schon Ärger. Also kann ich auch hierbleiben.«

Ich hatte absolut keinen Bock, nach Hause zu gehen. Papa würde auf mich einlabern, und am Ende würde ich noch dem Teufel Patricia begegnen.

Dann, nach einer Weile, wurde Keith unruhig. Ich war gerade am Eindösen gewesen und wurde wieder wach, und Keith sagte, es wäre irgendwie ungemütlich, und ob es mich stören würde, wenn er sich auszieht. Da war ich dann gleich hellwach und plötzlich ganz nervös, aber ich tat natürlich absolut cool und sagte, okay, ich würde mich dann auch ausziehen. Wir zogen unsere Jeans aus, behielten aber unsere Pullis an und auch unsere Unterwäsche. Keith griff unter mein Oberteil und streichelte meinen Bauch, was sich total schön anfühlte. Er atmete schneller als sonst. Plötzlich wußte ich gar nicht mehr, ob ich es wollte, aber ich mochte auf keinen Fall als Baby dastehen, und ich nahm mir vor, es durchzuziehen. Er streifte ganz vorsichtig mein Höschen ab und küßte mich da unten, also zwischen den Beinen, und ich weiß nicht mehr genau, was ich sagte, irgend etwas wie, daß ich jetzt gern mit ihm schlafen würde. Er hatte auch keinen Slip mehr an, das hatte ich zuerst gar nicht bemerkt. Er fragte noch, ob ich es wirklich wollte, und ich sagte, klar, natürlich, und dann machte er es. Es klingt total blöd, so wie ich das jetzt schreibe, aber ich weiß nicht, wie ich es anders sagen sollte — er machte es einfach. Eigentlich merkte ich kaum etwas. Nur das Gefühl war so groß, das Gefühl von Liebe, die Gewißheit, daß ich immer zu ihm gehören werde, daß ich für ihn geschaffen bin und er für mich. Und ich glaube, für ihn war es ganz toll, denn er murmelte immerzu, wie schön es sei, wie herrlich…»It's great, baby, it's so great…«

Und dann rutschte er neben mich und blieb mit geschlossenen Augen liegen und atmete schnell und dann immer langsamer. Ich kuschelte mich ganz dicht an ihn, sein Körper war warm und ein bißchen feucht von Schweiß, und ich dachte, ich ersticke vor lauter Liebe und vor lauter Glück, weil ich wußte, es ist etwas geschehen, was dafür sorgt, daß wir nie wieder ganz getrennt werden können.

Das erste, was Keith sagte, als er die Augen wieder aufschlug, war:»O Gott, das hätten wir nicht tun dürfen!«

«Ich wollte es«, sagte ich, aber meine Stimme zitterte ein bißchen, weil ich auf einmal furchtbare Angst hatte, er könnte alles bereuen und ein schlechtes Gefühl haben, denn dann hätten diese Minuten ihren Zauber verloren.

«Wir haben überhaupt nicht aufgepaßt«, sagte er.»Was, wenn du nun…«

Ich begriff, weshalb er sich Sorgen machte.»Nein, das kann nicht passieren. Ich müßte morgen oder übermorgen meine Periode kriegen, und so dicht davor wird man nicht schwanger!«

Keith sah ein bißchen erleichterter aus. Er fing wieder an, meinen Bauch zu streicheln.

«Für dich war's nicht so toll, oder?«fragte er.

«Es war das Schönste, was ich je erlebt habe«, sagte ich, und ich meinte es auch genau so.

«In Zukunft müssen wir besser aufpassen.«

«Klar.«

Ich wußte zwar nicht, wie das gehen sollte, aber ich tat so, als hätte ich die Sache im Griff.

«Besser, du erzählst nichts davon zu Hause«, meinte Keith.

«Ich habe niemanden, dem ich was erzählen könnte«, sagte ich, und dann fing ich plötzlich an zu weinen, weil alles zuviel war: meine Liebe, die Schönheit dieser Nacht und die Traurigkeit, weil ich wirklich niemanden habe, dem ich etwas erzählen kann. Bis vor kurzem hätte ich immer gesagt, daß ich mit Papa über alles reden kann, aber irgend etwas ist passiert, daß das nicht mehr geht.

Das Schlimme ist, ich weiß gar nicht genau, was passiert ist, wann, warum und wie. Vielleicht hängt es mit J. zusammen. Oder mit den anderen. Aber die anderen waren schon immer da, nur J. ist neu. Trotzdem haben die anderen Mami vertrieben. Es war alles so verwirrend, und ich mußte noch mehr weinen. Keith hielt mich ganz fest im Arm und streichelte mich und murmelte etwas, das beruhigend klang, und irgendwann konnte ich aufhören zu weinen.

Ich glaube, wir sind dann beide eingeschlafen, und ich wurde wach, als Keith ziemlich laut» Oh, shit!!«rief. Er sprang vom Sofa und schlüpfte in seine Klamotten. Ich konnte ihn nur ganz schwach im Mondlicht erkennen, denn um uns herum war es dunkel, die Kerzen waren längst heruntergebrannt und erloschen.

Ich wollte wissen, was los ist, und er sagte:»Schau mal auf die Uhr!«

Ich konnte aber nichts sehen, und er meinte, es sei zwei Uhr in der Nacht.

«Wir haben zu lange gepennt! Ich fahre dich jetzt gleich heim! O Gott, die werden dich ausquetschen! Du wirst alles erzählen müssen!«

Ich war etwas traurig, weil er mir so wenig vertraute.

Ich stand auf und begann mich anzuziehen.»Quatsch«, erwiderte ich,»ich sage kein Wort! Glaubst du, ich habe Lust, mich von denen für den Rest der Ferien einschließen zu lassen? Du hältst mich wirklich für ein kleines Kind!«

Er sagte, das stimme nicht, aber er war plötzlich so anders, so nervös und hektisch. Noch während wir zum Auto gingen — eigentlich fast rannten, so eilig hatte er es plötzlich —, zündete er sich eine Zigarette an und inhalierte so tief, als müsse er sich unbedingt mit allen Mitteln beruhigen.

Es wehte immer noch ein sehr kühler Wind, aber der hatte inzwischen alle Wolken verjagt, und man konnte den Mond und die Sterne sehen. Ich fing an, mich doch wieder gut zu fühlen, obwohl Keith so komisch war; mir war auf einmal ganz beschwingt zumute, ganz leicht und verzaubert. Als wir vor dem Tor zu Stanbury House hielten, hatte sich Keith beruhigt. Es war wieder Wärme in seinen Augen, als er mich umarmte.

«Soll ich dich nicht doch bis hinauf zur Haustür fahren?«fragte er, aber ich wollte es nicht, weil die anderen bestimmt den Motor gehört hätten, und dann wären sie alle aufgewacht, und ich hätte sie am Hals gehabt. Ich sagte, mir würde schon nichts passieren auf dem kleinen Stück Weg. Wir küßten uns wieder, und ich hätte es zur Ewigkeit ausdehnen mögen, aber Keith sagte, ich solle besser gehen.

«Wir müssen deinen Vater ja nicht übermäßig provozieren«, meinte er.

Ich fragte, ob wir uns morgen — eigentlich heute — sehen würden, und er zögerte.»Ich weiß nicht… Glaubst du, du darfst überhaupt weg?«

«Ich durfte schon heute nicht weg und bin doch gegangen«, sagte ich,»Ich kümmere mich nicht darum.«

«Wir sollten den Bogen nicht überspannen.«

«Keith!«

Ich hätte es nicht ausgehalten, ihn nicht zu sehen. Nicht nach dieser Nacht.

«Ich bin in der Scheune«, sagte er schließlich,»und du kommst, wenn es geht.«

Ich lachte und sagte, ich würde mich notfalls an einem Seil aus dem Fenster runterlassen, und ich meinte das ganz ernst. Ich küßte ihn wieder, und erst als er noch einmal drängte, ich solle gehen, machte ich mich auf den Weg.

Ich vermute, er hat Angst, weil ich ja noch nicht volljährig bin.

Ich kenne mich da mit den Gesetzen nicht aus, schon gar nicht in England, aber womöglich könnte er wirklich in Schwierigkeiten geraten. Als ob ich etwas sagen würde! Ich bin wirklich kein geschwätziges kleines Mädchen, so gut müßte er mich kennen.

Ich fühlte mich immer noch ganz leicht, als ich den Weg hinauflief, ganz frei und erwachsen. Ich denke, ich bin auch sehr erwachsen geworden in der letzten Zeit. Vielleicht nicht erst durch Keith. Auch dadurch, daß Mami und Papa sich haben scheiden lassen, und dadurch, daß ich als einzige klar sehe, wie krank Papas Freunde sind. Und dann natürlich durch Keith. Wenn ich mir Diane vorstelle! Sie ist nur drei Jahre jünger als ich, aber mir kommt es vor, als läge eine ganze Generation zwischen uns.

Übrigens fällt mir gerade noch etwas ein: Es war eigenartig, aber als ich den Weg entlangging, dachte ich einmal, da wäre jemand. Zwischen den Büschen am Rand. Ich fragte leise:»Keith?«, weil ich dachte, vielleicht ist er mir nachgelaufen und will mich überraschen, aber es rührte sich dann nichts mehr, und ich habe auch niemanden gesehen. Vielleicht schlich da ein Fuchs herum. Auf jeden Fall war mir nicht unheimlich zumute, ich hatte auch keine Angst. Ich glaube, ich werde nie wieder Angst haben. Ich fühle mich so stark. So, als ob mir einfach nichts zustoßen könnte.

Und jetzt sitze ich hier in meinem Zimmer, das Fenster ist offen, ich habe meinen flauschigen Bademantel angezogen, und ich fühle mich so wunderbar.

Papa wird megasauer sein.

ES IST MIR EGAL!!!

17

Jessica wachte auf und hatte den Eindruck, daß es eine seltsame innere Unruhe gewesen war, die ihren Schlaf unterbrochen hatte. Vor dem Fenster dämmerte der Tag heran, aber es mußte zweifellos noch sehr früh sein. Sie sah sich um und entdeckte, daß das Bett neben ihr leer war. Alexander war nicht da.

Er hatte einen Alptraum gehabt gegen vier Uhr früh und sie mit seinen Schreien geweckt. Wie üblich war er bleich und zitternd im Bad verschwunden und hatte sie nicht in seiner Nähe geduldet. Sie war dann wieder eingeschlafen, frustriert und ein wenig auch resigniert, traurig, weil er sie offenbar nach wie vor nicht ins Vertrauen ziehen wollte.

Doch die Frage war: Weshalb war er immer noch nicht wieder im Bett?

Sie stellte fest, daß es fünf Minuten nach sieben war. Sie stand auf, ging zum Bad, klopfte leise an die Tür.»Alexander?«

Niemand antwortete. Niemand war im Bad.

Sie seufzte leise. Bis vor kurzem hatte sie jedem, der sie fragte, gesagt, daß ihre Ehe mit Alexander einfach großartig war, besser, als sie selbst es von der Institution Ehe überhaupt erwartet hatte.»Natürlich krachen wir uns hin und wieder«, hatte sie zu ihren Freundinnen, zu ihren Eltern gesagt,»aber wir haben ein Fundament, das unverletzbar ist. Liebe und Vertrauen und Nähe… Ich glaube, daß wir alles aushalten werden, was vielleicht an Schwierigkeiten auf uns zukommt.«

In diesen Osterferien, hier in Stanbury, verschoben sich plötzlich die Perspektiven. Scheinbar Unerschütterliches wankte, Sicherheit wandelte sich in Angst, Vertrauen in Argwohn. Ehrlicherweise hätte Jessica, wäre sie jetzt nach ihrer Ehe gefragt worden, antworten müssen:»Ich glaube, es gibt eine Menge Dinge, die mein Mann vor mir geheimhält.«

Und plötzlich war sie voller Furcht vor der Zukunft.

Sie schlüpfte in ihren Bademantel und verließ barfuß das Zimmer. Hinter den Türen rechts und links rührte sich nichts. Aber als sie am oberen Ende der Treppe stand, vernahm sie Alexanders Stimme. Er sprach flüsternd, gedämpft. Sie wußte sofort, daß er sich unten in der Halle befand und telefonierte.

«Ich weiß mir einfach keinen Rat mehr«, sagte er soeben. Er klang verzweifelt.»Ich könnte genausogut mit einer Wand reden. Es ist, als hörte sie mir gar nicht zu. Es ist ihr gleichgültig, was ich sage.«

Er schwieg einen Moment.

«Nein«, sagte er dann,»ich glaube, sie sieht das Problem nicht wirklich. Oder es ist ihr nicht wichtig. Ich kann ihr ja nicht mal einen Vorwurf daraus machen, schließlich ist Ricarda nicht ihre Tochter…. Ja. Ja, ich weiß. Aber Ricarda lehnt sie immer noch komplett ab. An ein Gespräch ist gar nicht zu denken.«

Jessica oben an der Treppe schluckte trocken und trat vorsichtig auf die oberste Stufe. Sie hatte keinen Zweifel daran, mit wem Alexander telefonierte: mit seiner Ex-Frau. Mit Elena.

Es war nicht so, daß die beiden sonst nie telefoniert hätten. Schon wegen Ricarda gab es immer wieder Dinge zu besprechen, und Jessica hatte nie ein Problem damit gehabt. Doch diesmal war es anders, völlig anders: Der konspirative Anstrich der Situation vermittelte auf einmal ein neues und dabei bedrohliches Bild. Die frühe Uhrzeit, Alexanders gedämpftes Flüstern allein hätten gereicht, Jessica zutiefst zu verunsichern. Aber dazu kamen noch der Klang seiner Stimme und das, was er sagte. Er wirkte hilfesuchend wie ein kleines Kind, schien sich an Elena geradezu festzuklammern. So hatte sie ihn noch nie gehört, so war er auch ihr gegenüber nie gewesen. Und noch nie hatte er mit Elena über sie gesprochen. Das tat er einfach nicht. Nicht über Jessica, nicht über ihrer beider Beziehung, und schon überhaupt nicht über mögliche Probleme.

Offenbar redete nun Elena längere Zeit, denn Alexander sagte nur hin und wieder» Ja «oder» Nein «und einmal:»Natürlich nicht!«

Schließlich flüsterte er:»Elena, du ahnst nicht, wie hilflos ich mich oft fühle. Früher, da war ich selbstsicher und davon überzeugt, Schwierigkeiten meistern zu können. Aber jetzt denke ich manchmal, ich verliere den Boden unter den Füßen, ich gehe unter, ich finde keinen Halt.«

Wieder schwieg er.»Nein«, sagte er dann,»nein, nicht wegen Ricarda. Nicht in erster Linie. So oft ist sie ja gar nicht bei mir. Es ist… alles. Mein Leben. Du weißt ja…«

Jessica schloß die Augen. Übelkeit und Schwindel stiegen in ihr auf, und diesmal hatten sie nichts mit ihrer Schwangerschaft zu tun.

Als das Rauschen in ihren Ohren nachließ, hörte sie Alexander gerade sagen:»Fast jede Nacht. Na ja, jede zweite. Es ist schlimmer geworden… Nein, sie weiß nichts… Bitte? Ich sage eben, daß ich schlecht träume… Um Gottes willen, sie soll es auch gar nicht wissen…. Meinst du? Du kennst sie doch gar nicht!«

Sie bohrte ihre Fingernägel in die Handflächen. Es tat weh. Es tat so schrecklich weh.

«Trotzdem, nein… Ich kann mich auf dich verlassen? Zu niemandem ein Sterbenswörtchen. Es ist allein meine Sache… Allein, sage ich, Elena, ganz allein! Es betrifft Tim und Leon einfach nicht so wie mich… Ach«, er lachte plötzlich, aber es war ein klägliches, verzweifeltes Lachen,»du wirst mir das nicht ausreden können, Elena. Du wirst an all dem ohnehin nichts ändern können. Du hast es doch so oft versucht. So oft!«

Es war Zärtlichkeit in seiner Stimme. Oder, so versuchte Jessica den Eindruck abzumildern, wenn nicht Zärtlichkeit, dann doch Vertrautheit. Ungeheuer viel Vertrautheit. Sie ist die Frau, die ihn kennt. In- und auswendig. Seine düstersten, verschwiegensten Seiten. Sie weiß, was es ist, was ihn nachts zitternd und schwitzend aus grausamen Träumen hochschrecken läßt, sie kennt die Bilder, die ihn verfolgen. Er wagt es, vor ihr schwach zu sein, er vertraut ihr voll und ganz. Und sie ist der Mensch, zu dem er flüchtet, wenn es ihm schlechtgeht.

Sie sind geschieden, sagte sie sich. Menschen ließen sich nicht scheiden, wenn sie einander noch liebten. Es bedurfte eines hohen Zerrüttungsgrades, eine Ehe aufzulösen, besonders dann, wenn ein minderjähriges Kind zum eigentlichen Opfer der Trennung wurde. Viele Paare versuchten allein ihres Kindes wegen die Ehe aufrechtzuerhalten. Alexander war ein verantwortungsbewußter Vater, und er liebte Ricarda sehr. Ricarda ihrerseits trotz allem, was sie derzeit auf Abstand gehen ließ — liebte ihren Vater abgöttisch. Alexander mußte zutiefst überzeugt gewesen sein, mit Elena keine Zukunft zu haben, um sich von Ricarda zu trennen.

«Wenn du mir nur helfen könntest«, sagte er gerade,»wenn du mir nur irgendwie helfen könntest…«

Es ist ein Alptraum, dachte Jessica. Denn nur ein wirklich böser Traum konnte sich so anfühlen: hier zu stehen an einem kühlen Frühlingsmorgen, in einem alten, steinernen Haus, das auf einmal düster und kalt wirkte, barfuß, frierend auf den Treppenstufen, darüber hinaus fröstelnd aus einer plötzlichen inneren Kälte heraus und den eigenen Mann zu belauschen, wie er mit einer anderen Frau sprach — in einer Art sprach, die er jedem anderen versagte.

Auf einmal begriff sie, wie wenig Nähe es zwischen ihnen gab, wie fern und fremd sie einander waren — und als wie fragil sich das von ihr so gern beschworene felsenstarke Fundament ihrer Beziehung erwiesen hatte.

Wieder lauschte Alexander eine Weile in den Hörer, dann sagte er:»Ja. Ja, in Ordnung. Gut. Es wäre nett, wenn du das tätest. Vielleicht hast du ja mehr Glück als ich… Ja. Ciao, Elena. Ciao.«

Er legte auf. Jessica oben wich bis zu ihrer Zimmertür zurück. Er kam die Treppe herauf, sah sie, blieb abrupt stehen.

«Jessica! Du bist wach?«

Sie wollte es wissen. Sie wollte es einfach wissen. Sie tat so, als habe sie eben erst das Schlafzimmer verlassen.

«Du hast telefoniert?«fragte sie und gähnte gleichmütig.

Seine Züge entspannten sich. Ihre gespielte Gelassenheit vermittelte ihm offenbar sehr glaubhaft die Sicherheit, daß sie von dem Gespräch selbst nichts mitbekommen hatte.

«Mit der Uni«, sagte er,»mit dem Sekretariat. Es ging um bestimmte Kurse, die ich im nächsten Semester abhalten möchte.«

Er sah ihr Gesicht und hatte wohl den Eindruck, mehr sagen zu müssen.

«Ich wollte wissen, wie hoch die Teilnehmerzahl ist«, fügte er hinzu,»denn nur ab einer bestimmten Zahl können die Kurse ja stattfinden.«

Er belog sie. Er stand da auf der Treppe im schwachen, durch ein seitliches Fenster einsickernden Morgenlicht und log sie auf unglaubwürdigste Weise an.

Das war das Schlimmste an diesem beginnenden Tag.

Patricia wurde vollkommen hysterisch, als Phillip um neun Uhr vor der Haustür stand und um ein Gespräch mit ihr bat. Evelin hatte ihm geöffnet und Patricia zugerufen, sie möge zur Tür kommen. Als Patricia in die Halle trat und Phillip sah, den Evelin überdies inzwischen gebeten hatte einzutreten, verlor sie die Beherrschung.

«Bist du denn komplett schwachsinnig?«brüllte sie Evelin an.»Was habe ich euch denn gepredigt in den letzten Tagen, immer wieder, Stunde um Stunde? Ich habe gesagt, daß dieser Mensch dort mein Haus nicht betritt! Mein Grundstück nicht betritt! Daß niemand mit ihm redet. Daß er auf Granit beißt, egal, was er versucht! Habe ich das gesagt?«

«Ich dachte…«, begann Evelin mit schreckgeweiteten Augen, aber Patricia ließ sie nicht ausreden.

«Ob ich das gesagt habe?«

«Ja. Aber ich kann doch nicht…«

«Was kannst du nicht? Ihm die Tür vor der Nase zuwerfen? Und wieso nicht, du dumme Kuh? Wieso nicht?«

Jetzt stürzten Evelin die Tränen aus den Augen.»Du bist so gemein«, schluchzte sie, drehte sich um und humpelte die Treppe hinauf.

«Vielleicht könnten wir uns wie zivilisierte Menschen unterhalten«, schlug Phillip vor.

Patricia schoß wie eine giftige Hornisse auf ihn zu.

«Das können wir nicht! Weder zivilisiert noch unzivilisiert! Wir können uns überhaupt nicht unterhalten! Und Sie verlassen jetzt sofort mein Haus und mein Grundstück und lassen sich nie wieder hier blicken! Verstehen Sie? Nie wieder! Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, rufe ich sofort die Polizei! Und jetzt raus!«

Ihre Stimme überschlug sich fast.»Verschwinden Sie! Raus!«

Sie ließ ihn stehen, lief ins Eßzimmer zurück, schmiß die Tür so heftig hinter sich zu, daß irgendwo im unteren Bereich des

Hauses etwas zu Boden fiel und klirrend zersprang.

Tim, der auf der Treppe gestanden und die Szene mit angesehen hatte, kam hinunter und trat auf Phillip zu.

«Sie sollten Ihren Wunsch respektieren«, sagte er,»und nicht mehr hierherkommen. Sie sehen ja… Ich würde an Ihrer Stelle nichts tun, was die Situation eskalieren läßt. Hören Sie einfach auf, uns Schwierigkeiten zu machen.«

Phillip zuckte mit den Schultern.»Ich habe ein Recht, hier zu sein.«

«Dafür haben Sie bislang nicht den mindesten Beweis erbracht.«

«Ich werde ihn bringen.«

«In Ordnung«, sagte Tim,»und dann können wir uns ja wieder unterhalten. Aber solange Sie hier nur aufkreuzen, um mit äußerst kühnen Behauptungen um sich zu werfen…, verstehen Sie, so lange will niemand Sie hier sehen.«

«Ich habe verstanden«, sagte Phillip. Er ließ seinen Blick durch die Eingangshalle schweifen.»Stanbury House ist ein Teil von mir«, sagte er,»ein Teil der Vergangenheit, die mir vorenthalten wurde. Ich kann mein Leben nicht auf die Reihe bringen, solange ich mich mit diesem Teil meiner Vergangenheit, mit diesem Teil von mir selbst nicht konfrontiert und auseinandergesetzt habe. Und daran werde ich mich nicht hindern lassen. Das sollten Sie verstehen.«

«Mein lieber Mr. Bowen«, sagte Tim,»was Sie brauchen, ist wahrscheinlich einfach nur ein guter Psychoanalytiker. Ich an Ihrer Stelle würde diesen Weg ansteuern. Er ist vermutlich einfacher, schneller und wirksamer als der Weg durch sämtliche juristischen Instanzen dieses Landes, an deren Ende ohnehin ein für Sie höchst zweifelhafter Ausgang steht.«

«Sämtliche juristischen Instanzen«, sagte Phillip langsam,»Sie sagen es. Ich werde sie durchlaufen. Es mag Jahre dauern, aber am Ende werde ich gewinnen. Auf Wiedersehen, und einen schönen Gruß noch an Mrs. Roth!«

Er nickte Tim zu, drehte sich um und verließ das Haus, ging zu Fuß die Auffahrt hinunter.

«Ein Spinner«, sagte Tim,»ein waschechter Spinner!«

«Wer?«fragte Jessica, die gerade aus der Küche kam und sich die Hände an einem Handtuch abtrocknete. Sie hatte sich darangemacht, die Schränke auszuwischen und aufzuräumen. Die einzige Möglichkeit für sie, die Geschehnisse vom frühen Morgen auszuhalten.

Tim wandte sich um und grinste.»Jessica! Sieh an! Du warst nicht beim Frühstück?«

«Nein«, sagte Jessica kurz,»war ich nicht!«

Rasch überlegte sie, ob es in den Ferien zuvor auch so gewesen war, daß man ständig ausgefragt wurde, wenn man irgendwo nicht erschienen war. Vielleicht war es ihr nicht aufgefallen. Vielleicht hatte sie bessere Nerven gehabt. Und bessere Laune.

«Dieser Typ war eben hier«, sagte Tim,»dieser Phillip Bowen. Der mit dem angeblichen Erbschaftsanspruch.«

«Vielleicht nicht angeblich. Vielleicht stimmt es ja, was er sagt!«

Tim grinste schon wieder. Er sah an diesem Morgen aus wie ein seltsamer Guru: in weiten dunkelblauen Pumphosen, eine Art Kittel darüber, der handgewebt schien und mit eigenartigen Ornamenten bestickt war. Seine nackten Füße steckten, wie immer in der Zeit zwischen März und Oktober, in offenen Sandalen. Zusammen mit dem krausen Bart und den etwas zu langen Haaren hätte er ein Sektenjünger auf dem Selbstfindungstrip sein können.

Oder ein Ökobauer am Sonntag, dachte Jessica mißmutig und fragte sich nicht zum erstenmal, weshalb sie ihn eigentlich so wenig leiden konnte.

«Das solltest du nicht Patricia hören lassen«, sagte er nun auf ihre Bemerkung.»Sie hat schon Evelin beinahe massakriert, nur weil die es gewagt hat, ihm überhaupt die Tür zu öffnen. Ihre Nerven scheinen in dieser Sache ziemlich blank zu liegen.«

«Er hat einige Informationen über den verstorbenen Kevin McGowan«, sagte Jessica,»ziemlich intime Kenntnisse, würde ich sagen.«

Tim musterte sie aus zusammengekniffenen Augen.»He! Woher weißt du denn das?«

Jessica hatte beschlossen, sich nicht länger wie ein kleines Mädchen zu fühlen, das ein Treffen mit einer ungeliebten Person unbedingt verheimlichen muß.

«Ich traf ihn gestern beim Spaziergang. Er hat mir eine Menge erzählt.«

«Patricia hat jeden von uns darauf eingeschworen, mit Bowen kein Wort zu wechseln.«

«Patricia mag die Eigentümerin von Stanbury sein«, sagte Jessica,»aber deswegen kann sie niemandem Vorschriften machen über den Umgang, den er pflegt. Jedenfalls mir nicht.«

Tim betrachtete sie nun, als habe er einen interessanten psychologischen Fall vor sich. Sein Therapeutenblick.

Das ist es, weshalb ich ihn nicht leiden kann, dachte Jessica und wußte zugleich, daß es nicht nur das war. Da ging etwas tiefer. Doch noch konnte sie es nicht sehen.

«Wie Elena«, murmelte er,»absolut wie Elena!«

Elenas Namen mochte sie an diesem Morgen am wenigsten hören.

«Ach, fang doch nicht schon wieder damit an!«sagte sie unwirsch und schickte sich an, in die Küche zurückzukehren.

«Moment!«rief Tim. Er trat näher an sie heran, senkte die Stimme.»Du solltest solche Treffen wirklich für dich behalten, Jessica. Niemand möchte die Ferien verdorben haben, verstehst du?«

Sie öffnete den Mund, aber ehe sie etwas erwidern konnte, fuhr er schon fort:»Und laß dir von Bowen nichts weismachen! Kevin McGowan war tatsächlich eine in England sehr bekannte Persönlichkeit. Ich glaube, für einige seiner politischen Dokumentationen hat er sogar recht bedeutende Ehrungen und Auszeichnungen erhalten. Es gibt jede Menge Archivmaterial über ihn. Wenn Bowen nur ein bißchen Zeit und Fleiß investiert hat, dürfte er an eine Menge Informationen gelangt sein. Das beweist noch nicht das mindeste.«

«Und wenn es stimmt? Wenn es wirklich stimmt? Wenn er Kevin McGowans Sohn ist?«

«Dann ist das zumindest nicht deine Sache«, sagte Tim,»im Prinzip geht auch das dann nur ihn und Patricia etwas an.«

Damit hatte er recht, und so erwiderte sie nichts. Sie hatte das Gefühl, daß er auf eine unangenehme Art versucht hatte, sie einzuschüchtern. Zusammen mit allem anderen, was an diesem Tag schon geschehen war, machte es in ihr den Wunsch, auszubrechen und diesen Ferienort hinter sich zu lassen, immer lebendiger.

Keith Mallory lag auf dem Sofa in seiner Scheune, rauchte eine Zigarette und starrte durch die schmutzigtrübe Fensterscheibe hinaus in den dunkelblauen Himmel. Ein kälteres Blau als in den Tagen zuvor. Die Luft war auch merklich kühler geworden, klarer und frischer. Egal. Das Wetter war ihm sowieso meist gleichgültig. Er war froh, wenn er hier, an diesem geheimen Ort, sein konnte. Weit weg von seinem Vater, weit weg von all den Anforderungen, mit denen ihn das Leben konfrontierte und denen er sich nicht gewachsen fühlte.

Ich müßte mal die Fenster putzen, dachte er und blies den Rauch in kleinen Kringeln aus.

Sein Vater hatte ihn am Morgen wieder fertiggemacht. Fast hatte er es schon erwartet. Der Alte hatte zu lange bereits ruhig gehalten, das verhieß nie etwas Gutes. Er konnte es immer nur über einen begrenzten Zeitraum vermeiden, dem ungeliebten Sohn klarzumachen, was er von ihm hielt. Heute früh hatte er Keith abgepaßt, als dieser gerade das Haus verlassen wollte, und ihn gefragt, wie er sich denn die kommende Woche so vorstelle.

«Ich frage keinesfalls, wie du dir dein Leben vorstellst, nein, das wäre ja nicht nett von mir, dich mit einer so schwierigen Frage zu belästigen, nicht wahr? Fangen wir es doch in kleinen Schritten an. Die nächste Woche. Einfach nur die nächste Woche. Möchtest du sie vergammeln wie all die vielen, vielen Wochen davor, oder hast du eine Idee von irgend etwas Sinnvollem, was du tun könntest?«

Natürlich hatte sein Vater gewußt, daß es keine Idee gab. Keith hatte ihn angesehen und sich gefragt, wann sein Vater begonnen hatte, ihn zu hassen. Ein gutes Verhältnis hatten sie nie gehabt, aber ein Haßverhältnis hätte man es nicht nennen können. Früher nicht. Heute schon.

«Ich habe keine Lehrstelle«, sagte Keith,»also kann ich auch nichts tun.«

Greg Mallory nickte, scheinbar nachdenklich und so, als überlege er sich tatsächlich etwas zu der Antwort seines Sohnes. Er war ein gutaussehender Mann, das stellte Keith wieder einmal fest. Stattlich, kräftig, mit einer hohen, intelligenten Stirn. Sein Vater hatte den Hof schon besessen, und dessen Vater und dessen Vater davor… Eine endlose Kette von Mallorys, die in Yorkshire Schafe gezüchtet hatten. Mit einem Erfolg, der die jeweilige Familie satt machte, jedoch keine Möglichkeit bot, ein bißchen Geld beiseite zu legen und sich etwas Außergewöhnliches zu leisten: einen Urlaub etwa oder eine moderne Küche. Kein Mallory war je verreist, und Keiths Mutter wirtschaftete in derselben Küche, in der schon Keiths Urgroßmutter gearbeitet hatte, und als einzige neue Errungenschaft gab es einen Kühlschrank und einen Gasherd. Man hatte inzwischen Elektrizität in dem alten, steinernen Haus, und ein Bad mit Toilette. Das war Ende der sechziger Jahre entstanden. Davor hatte es ein Bretterhäuschen schräg über den Hof gegeben.

Keith hatte schon manchmal überlegt, ob sein Vater vielleicht gern aus der vorgezeichneten Kette ausgebrochen wäre. Mit seinem Aussehen und seinem Verstand hätte man ihn sich auch in einem anderen Beruf und in einer Großstadt vorstellen können. Als Geschäftsmann, Leiter einer Bankfiliale oder Chef irgendeines Handwerksbetriebs. Greg Mallory hätte die Befähigung zu Höherem gehabt, davon war Keith überzeugt. War es lediglich Pflichtbewußtsein gewesen, was ihn hier gehalten hatte? Hatte er sich einer Verantwortung, die ihm von vielen Generationen vorher übertragen worden war, nicht entziehen können? Und war er deshalb so voller Wut auf einen Sohn, der den Ausbruch anstrebte und entschlossen schien, sich von diesem Vorhaben nicht abbringen zu lassen?

«Du hast keine Lehrstelle, soso«, sagte sein Vater nun,»was war das noch mal für eine Lehrstelle, die du angestrebt hast?«

«Stukkateur«, sagte Keith. Als ob der Alte das nicht wüßte!» Ich möchte Stukkateur werden.«

«Stukkateur. Richtig. Gipser könnte man auch sagen, oder? Letztlich rührst du Gips an und klebst ihn an Decken und Wände. Nicht?«

«Ich würde vor allem gern alte Häuser renovieren«, sagte Keith. Aus den Augenwinkeln gewahrte er das ängstliche, blasse Gesicht seiner Mutter. Gloria Mallory lebte in ständiger Furcht vor einem finalen Zusammenstoß zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn, bei dem der Sohn für immer Hof und Familie verlassen und ihr Mann einen Infarkt oder etwas ähnlich Schlimmes erleiden würde. In ihrer frühen Jugend hatte ihr eine Zigeunerin prophezeit, daß ihr späterer Ehemann viele Jahre vor ihr, dazu jäh und unerwartet, sterben werde.

«Schöne, alte Häuser«, fuhr Keith fort,»mit alten Stuckdecken. Es würde mir Spaß machen, wenn ich…«

Der rechte Zeigefinger seines Vaters schoß vor und bohrte sich in Keiths Wollpullover.»Siehst du, da haben wir es! Da haben wir das Wort, auf das ich gewartet habe! Spaß! Es würde dir Spaß machen. Und weil es dir Spaß machen würde, sitzt du — ein gesunder, junger Mann auf dem Höhepunkt seiner Kraft und Leistungsfähigkeit — tagaus, tagein faul in der Ecke und wartest, daß von irgendwoher die Gelegenheit herbeigeeilt kommt, diesen grandiosen Spaß ausüben zu können! Und wenn es Jahre dauert! Und wenn dein Leben vergeht darüber! Aber natürlich — wir können ja nur einen Beruf ausüben, der uns Spaß macht!«

Das Wort Spaß betonte er auf eine affektierte, übertriebene Weise.

Keith hätte ihm gern gesagt, er solle ihn am Arsch lecken, aber er bemühte sich, ruhig zu bleiben, die Situation nicht eskalieren zu lassen. Er war ein ängstlicher, harmonieabhängiger Mensch. Und seinem Vater in Schärfe und Bissigkeit nicht gewachsen.

«Ich habe mich mehrfach um eine Lehrstelle bemüht…«, begann er. Greg fiel ihm sofort ins Wort.

«Aber keine bekommen! Gibt dir das nicht zu denken? Zum einen liegt es natürlich an den saumäßigen Noten, mit denen du die Schule verlassen hast, und zum anderen an dem idiotischen Beruf, den du dir in deinen Schwachkopf gesetzt hast. Stukkateur! Scheint nicht sonderlich gefragt zu sein, wie? Wenn du in einem Beruf ewig keine Lehrstelle findest, könnte es dann sein, daß du auch später arbeitslos bist? Weil es vielleicht gar nicht so viele Häuser gibt, die renoviert werden müssen? Weil es ein Blödsinn ist für Leute, die vor allem im Leben Spaß haben wollen? Weil es eine Idiotie ist, eine Hirnrissigkeit, auf die wieder nur mein Sohn kommen kann?«

Seine Stimme war gefährlich laut geworden. Keith kannte die Abläufe bei seinem Vater. Gleich würde er brüllen. Gleich würde er ausrasten. Gleich würde er ihm die schlimmsten Schimpfwörter und Beleidigungen an den Kopf werfen.

Er soll mich in Ruhe lassen, dachte Keith.

«Ich muß meinen Weg gehen, Vater«, sagte er.

Offensichtlich war dies ein geeignetes Stichwort, seinen Vater endlich explodieren zu lassen — und damit das zu erreichen, worauf das Gespräch von Anfang an angelegt gewesen war.

«Du mußt deinen Weg gehen? Du mußt deinen Weg gehen?«brüllte er. Mrs. Mallory zog sich erschrocken in die Küche zurück, eine Katze, die gerade den Hausflur betreten hatte, suchte in großen Sprüngen das Weite.»Ich höre immer: Du mußt deinen Weg gehen! Gehen? Hast du wirklich gehen gesagt? Weißt du, was gehen ist? Gehen ist Bewegung! Vorankommen! Ein Ziel haben und auf dieses Ziel zumarschieren! Aber davon sehe ich bei dir nichts! Wo gehst du denn, bitte sehr? Du hängst doch nur herum! Du gammelst in den Tag hinein! Du treibst dich herum, kommst und gehst, wann es dir paßt! Du läßt dich von meinem Geld ernähren, und deine Mutter darf deine Wäsche waschen, und von dir kommt nichts, gar nichts!«

Er wurde schon wieder heiser. Das war das Gute an dem Alten. Im Unterschied zu früher hielt seine Stimme einfach nicht mehr lange durch.

«Ich habe es satt, einen Versager durchzufüttern!«krächzte er. Vor Anstrengung, laut zu bleiben, traten ihm die Adern an der Stirn hervor.»Ich habe es satt, einem Penner ein Dach über

dem Kopf anzubieten! Ich habe es satt, mich abzuarbeiten von morgens bis abends für einen Parasiten! Jawohl, für einen lausigen Parasiten!«

Keith trat einen Schritt zurück. In seinen Ohren begann es zu rauschen. Er wollte sich das nicht anhören, nein, er wußte, es tat ihm nicht gut. Sein Vater ging zu weit. Er mußte sich das nicht anhören.

«Geh doch deinen Weg! Geh doch, verdammt, deinen Weg! Tu es endlich! Geh! Verschwinde!«

Er nahm noch einmal alle Kraft zusammen und schrie:»Verschwinde endlich!«

Keith wandte sich um und verschwand.

Und nun lag er hier und rauchte und wußte nicht weiter. Ähnliche Szenen wie die am frühen Morgen hatte sein Vater ihm schon öfter gemacht, aber noch nie hatte er ihn als Parasiten beschimpft. Zum erstenmal hatte er ihn wirklich verletzt. Er war zu weit gegangen.

Außerdem hatte er ihn gewissermaßen hinausgeschmissen.

Er wollte nicht mehr zurück. Er hatte keine Lust mehr, dort über den Hof zu schleichen und auf der Hut vor dem Alten zu sein, der unweigerlich wieder auf ihm herumhacken würde, wenn er ihn zu fassen kriegte. Er mochte nicht mehr mit eingezogenem Kopf am Eßtisch sitzen und den mißbilligenden Blick des Vaters auf sich ruhen fühlen, weil er wieder einmal schmarotzte, Lebensmittel verbrauchte, für die er keinen Penny bezahlt hatte. Er wollte nicht mehr derjenige sein, an dem sich alle die Füße abwischten.

Er wollte fort, und er wollte als gemachter Mann wiederkommen.

Das Problem war: Er hatte praktisch kein Geld.

In seiner Hosentasche hatten sich zwei Pfundnoten angefunden, dazu ein wenig nicht nennenswertes Kleingeld. Im Auto hatte er drei Pfund zusammenkratzen können. Fünf Pfund und ein paar Pennies! Wie sollte er damit bis London kommen, eine Unterkunft bezahlen und die Zeit überbrücken, bis er eine Arbeit oder eine Lehrstelle gefunden hatte?

Ein Schlamassel. Ein auswegloser Schlamassel.

Er dachte an Ricarda. Daran, wie sie in der letzten Nacht hier in seinen Armen gelegen hatte, sehr erwartungsvoll, sehr verliebt, ein wenig aufgeregt. Sie war noch so jung. In der letzten Nacht war ihm das wieder wirklich bewußt geworden. Fünfzehn Jahre! O Gott!

Gleichzeitig schien sie ihm immer sehr stark. Sehr erwachsen. Sie kicherte nicht ständig wie andere Mädchen ihres Alters, sie schwärmte nicht für Popstars oder zog sich flippige Klamotten an, die nicht schön, aber im Trend waren. Ihm gefielen ihr Ernst, ihre Ruhe. Vielleicht war sie mehr als ernst, eher melancholisch, manchmal traurig. Sie hatte einiges mitgemacht: Die Trennung ihrer Eltern hatte sie geradezu traumatisiert, und dann war da noch dieser fürchterliche Clan, in dessen Mitte sie alle ihre Ferien verbringen mußte. Ihm kam es beinahe gespenstisch vor, was sie erzählt hatte; sechs Menschen, die eine zwanghafte Freundschaft zelebrierten, und dahinter stimmte nichts, gar nichts. Nach seiner Ansicht handelte es sich um einen Haufen Neurotiker, und wenn man überhaupt etwas Gutes über sie sagen wollte, dann blieb nur der Umstand, daß ohne die Stanbury-Clique er und Ricarda einander nie kennengelernt hätten.

Der Gedanke hatte unterschwellig schon die ganze Zeit in ihm herumgespukt, doch hatte er es nicht gewagt, sich wirklich mit ihm zu beschäftigen. Nun jedoch ließ er ihn endlich in sein Bewußtsein vordringen.

Was wäre, wenn er zusammen mit Ricarda wegginge?

Er wußte, daß sie sofort zustimmen würde, wenn er ihr diesen Vorschlag machte. Auf nichts brannte sie so heftig wie darauf, aus ihrem Leben auszubrechen. Sie liebte ihn und war ohnehin von Grauen erfüllt, wenn sie an das Ende der Ferien dachte und an die Wochen der Trennung, die sie beide würden überstehen müssen. Was konnte es Schöneres für sie geben als die Vorstellung, mit ihm in einer kleinen Londoner Wohnung zu leben und gemeinsam ein eigenes, unabhängiges Leben aufzubauen?

Das Problem bestand natürlich vor allem in ihrem Alter. Sie war fünfzehn, und Keith war nicht ganz sicher, wie weit er sich den schlimmsten Ärger einhandeln konnte, wenn er sie gewissermaßen entführte. Andererseits wurde sie Anfang Juni sechzehn, in etwa sechs Wochen also, und mit sechzehn sah alles schon etwas anders aus. Ohne Schwierigkeiten konnte sie dann einen Job annehmen in London und zum Lebensunterhalt beitragen. Wenn sie beide verdienten, mußte es gehen. Vielleicht hatte sie ja auch noch ein Sparbuch oder etwas Ähnliches. Und vor allem: Er wäre nicht allein. Da wäre jemand zum Reden, zum Lachen, zum Kuscheln. Jemand, mit dem man die Probleme besprechen und an Lösungen arbeiten konnte. Allein nach London — davor hatte er irgendwie Angst. Aber mit Ricarda bekam die Sache einen anderen Geschmack. Ein wunderbares Abenteuer… Und sein Alter würde ganz schön staunen.

Er drückte seine Zigarette aus, stand auf und trat ans Fenster. Still und leer lag der Hof vor ihm. Eigenartig, daß Ricarda noch nicht da war. Aber schon in der Nacht hatte er die Befürchtung gehegt, daß sie diesmal zu weit gegangen waren. Sie war viel zu spät heimgekommen. Ihr Vater hatte ihr verboten, den Grund von Stanbury House zu verlassen, aber sie hatte sich nicht im mindesten darum gekümmert. Wahrscheinlich hatte sie jetzt echten Ärger, wurde festgehalten, fand keine Möglichkeit, den Wachhunden um sie herum zu entkommen. Das machte ihn unruhig, gerade heute. Doch er kannte sie, recht gut sogar inzwischen. Er war überzeugt, daß sie sich nicht von etwas abhalten ließ, was sie wirklich wollte. Sie war furchtlos. Er mußte lächeln. Ja, furchtlos wäre das Attribut, das er immer als erstes nennen würde, wenn jemand ihn bäte, Ricarda zu beschreiben. Sie ließ sich nicht einschüchtern, und das mochte er so sehr an ihr.

Er fragte sich, ob mögen das falsche Wort war. Vielleicht war es schon Liebe, was er empfand, aber mit Sicherheit vermochte er das nicht zu sagen. Es war schwierig, sich in den eigenen Gefühlen auszukennen.

Er zündete sich die nächste Zigarette an, rauchte nervös.

Sie würde kommen, klar. Die Frage war nur: Wann?

18

Ricardas Tagebuch

Immer noch 23. April. Ich glaube es nicht! Ich glaube es nicht! Ich glaube es nicht!

Ich möchte schreien, ich möchte meine Fingernägel in die Wand schlagen oder noch lieber in IHR Gesicht! Ich möchte sie aufjaulen hören vor Schmerz, und ich möchte sehen, wie sie sich krümmt. Krank und kaputt will ich sie sehen.

Am allerliebsten TOT!

Ich glaube nicht, daß ich irgendeinen Menschen auf der Welt so hasse oder je hassen werde wie Patricia. Gegen sie ist J. ein kleiner Engel, mit dem es sich gut leben läßt.

Vorhin wollte ich gehen. Ich war natürlich nicht beim Frühstück, denn mit jedem Tag wird es unerträglicher für mich, dieser dummen Bande in die bornierten, ekligen Gesichter zu schauen. Erstaunlicherweise hatte Papa sich noch gar nicht gerührt. Dabei war ich wirklich überzeugt, er würde als erstes am Morgen bei mir aufkreuzen und mich belabern und mir sagen, was ich alles darf und was nicht. Ich dachte schon, er hat kapiert, daß ich auf das, was er sagt, scheiße, und deshalb wollte ich losgehen zu Keith, denn in mir waren so viel Wärme und Liebe, und ich hätte es nicht länger ausgehalten ohne ihn.

Als ich unten durch die Halle ging, schoß plötzlich Patricia aus dem Eßzimmer, wie ein scheußliches, kleines, hochgiftiges Insekt, und sie krallte sich an meinen Arm, so fest, daß ich ihre Fingernägel durch den Stoff meiner Jeansjacke spüren konnte.

«Wo willst du hin?«rief sie, und ihre Stimme klang total schrill und hysterisch.

Ich versuchte mich loszumachen. Ich bin bestimmt anderthalb Köpfe größer als sie, aber sie hatte erstaunlich viel Kraft. Ich wäre mit ihr fertig geworden, aber ich scheute davor zurück, sie in den Bauch zu boxen oder gegen das Schienbein zu treten, und so stand ich da und kam mir vor wie jemand, der verhaftet worden ist und jetzt in einem Polizeigriff festgehalten wird.

«Wo willst du hin?«

Ich glaube, sie fragte das dreimal, während ich mich wand wie ein Fisch am Haken, um meinen Arm loszubekommen.

«Das geht dich nichts an«, stieß ich schließlich hervor,»du hast mir nichts zu sagen!«

«Oh, da irrst du dich, da irrst du dich gewaltig!«

Ihre Stimme war wirklich viel schriller als sonst, und sie hatte auch ganz rote Wangen. Vermutlich zu hoher Blutdruck. Ich bin auch jetzt noch ganz erstaunt, daß sie sich meinetwegen so entsetzlich aufregen konnte. Aber vielleicht hatte sie vorher Krach mit ihrem Alten. Vielleicht wäre sie gern von ihm gevögelt worden, und er hat sich wieder mal nur genervt abgewandt. Muß sich ja auch scheiße anfühlen.

«Das ist mein Haus!«schrie sie.»Und mich geht alles etwas an, was hier passiert!«

Ihre Fingernägel taten mir wirklich weh. Zu allem Überfluß mußte auch noch Tim auftauchen, dieses Ekelpaket mit seinen gräßlichen Gesundheitsschuhen und dem struppigen Bart.

«Was ist denn los?«fragte er, so nach dem Motto: Vertraut euch doch dem guten, alten Tim an! So wirkt es jedenfalls immer, wenn er faselt. So von oben herab und als ob er über den Dingen steht, und wir anderen sind die armen, kleinen Kreaturen, die alle mit ihrem Leben nicht zurechtkommen. Ausgerechnet er! Ausgerechnet er will sich überlegen fühlen!

Jedenfalls schrie Patricia weiter herum, ich sei ein Flittchen

(Das hat sie wirklich gesagt! Auch wenn sie es jetzt abstreitet, und natürlich glaubt Papa ihr!), und irgend jemand müßte jetzt mal die Zügel anziehen, und sie würde dem nicht weiter zusehen. Und so weiter.

Tim redete beruhigend auf sie ein, inzwischen hatte sie eine fast lilafarbene Birne, und ich glaube, Tim hatte Angst, daß sie einen Schlaganfall kriegt und krepiert. Was ich persönlich für die beste Tat ihres Lebens hielte!

Sie ließ mich los und tobte wie ein Irrwisch herum, und natürlich wurden jetzt alle aufmerksam, Evelin und J. und Leon und seine beiden blöden Bälger, und schließlich sogar Papa, der wie ein Gespenst aussah und sich dauernd mit der Hand über das Gesicht strich.

J. wollte vermitteln, sie sagte so etwas wie: Sie und Papa wollten mit mir allein reden, aber ich sprang ihr fast ins Gesicht und sagte, ich will aber nicht mit ihr reden, und sie soll mich endlich in Ruhe lassen. Kann sein, ich habe gesagt: Verpiss dich! Papa behauptet es steif und fest. Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube, ich habe nur gesagt, sie soll mich in Ruhe lassen. Aber ist ja auch egal.

Jedenfalls bekam Patricia ihren zweiten Tobsuchtsanfall, kann nachdem der erste abgeklungen war, und sie attackierte den armen Papa in der typischen Patricia-Art, aber so schrecklich viel Mitleid kann ich trotzdem nicht mit ihm haben, denn wer ist er denn, daß er sich ihr Gehabe seit Jahren bieten läßt? Sie meinte, ich sei ein völlig mißratenes Kind, total auf der schiefen Bahn, und es würde sie nicht wundern, wenn ich noch kriminell würde. Ich müßte in ein Internat, dann wäre vielleicht noch etwas zu retten, und — das war die größte Frechheit!!! - sie fühle sich Elena gegenüber verpflichtet, jetzt nicht wegzuschauen, sondern zu verhindern, daß ich mich mit obskurem Gesindel herumtreibe!

Ich schnauzte sie an:»Mein Freund ist kein Gesindel!«

«Aha!«kreischte sie.»Du gibst also zu, daß du einen Freund hast!«

«Ja. Und ich liebe ihn sehr!«

«Hört, hört«, sagte Tim, dieses Arschloch auf zwei Beinen, und J. meinte leise:»Das ist doch ganz normal.«

Ich sagte, daß ich jetzt gehen würde, aber da sagte Papa, nein, es werde ihm auch zuviel, ich solle heute mal dableiben.

«Nicht nur heute!«kam es natürlich sofort von Patricia, aber diesmal ignorierte Papa sie und redete nur mit mir.

«Ich weiß gar nicht mehr, wo du steckst, was du tust. Du hast einen Freund? Schön, dann laß uns darüber reden. Lade ihn hierher ein. Ich würde ihn gern kennenlernen.«

«Ich will zu ihm«, stieß ich hervor, während ich zu meinem Entsetzen merkte, daß ich gleich losheulen würde; meine Augen schwammen schon, und mein Kinn zitterte.

«Heute bleibst du mal hier«, wiederholte Papa.

Ich kann nicht sagen, wie schrecklich dieser Moment war. Wie ich da stand, umzingelt von ihnen allen, hilflos, wehrlos, und all die Blicke richteten sich auf mich: Evelin und J. sahen mitleidig aus, Tim irgendwie höhnisch, Leon so, als hätte er Kopfweh, Diane und Sophie glotzten und würden für den Rest des Tages nur noch über mich herziehen, und Patricia stierte mich an wie eine Hexe ihr gefangenes Opfer. Papa sah todtraurig aus. Mir war total schwindlig, und plötzlich sah ich ein Bild, es war in ganz grelles Licht getaucht, so als ob ein Blitz aufzuckt und für eine Sekunde eine Szene beleuchtet, die sonst im Dunkeln liegt, und auf dem Bild war ich mit einer Pistole, und ich schoß in diese Gesichter hinein, und ihre Augen waren ganz weit aufgerissen, und Blut quoll aus ihren Mündern, und einer nach dem anderen fiel zu Boden, keiner starrte mich mehr an, keiner hatte mehr Macht über mich.

Ich war frei.

Der Blitz war schon wieder weg, und da standen sie, genauso wie vorher, lebendig und stark und wie eine Mauer.

Ich ging einfach durch sie hindurch, die Treppe hinauf, hier in mein Zimmer. Zum Glück hatte ich das Weinen unterdrücken können. Erst jetzt laufen mir die Tränen über das Gesicht, aus Wut und weil ich so hilflos bin. Ich muß so sehr an Mama denken, sie hat sie alle so gehaßt, daß sie sich von Papa hat scheiden lassen.

Und ich denke an Keith. Er wird auf mich warten. Er fragt sich bestimmt, wo ich bleibe. Ich bin so verzweifelt.

Ich muß hier raus!

19

Da sie es nicht fertigbrachte, einfach abzureisen —»Hast du ernsthaft geglaubt, du wärst dazu in der Lage?«hatte Lucy, mit der sie ein verzweifeltes Telefongespräch geführt hatte, spöttisch gefragt —, beschloß sie, mit ihm zu reden. So, wie es war, konnte es nicht weitergehen. Die Ungeklärtheit der Situation drohte sie zu vernichten oder drohte zumindest etwas Wesentliches in ihr zu vernichten: ihre Lebensfreude, ihre Jugendlichkeit, ihr Selbstvertrauen. Lucy hatte ihr das immer wieder vorgehalten. Jetzt, nach Jahren, begriff sie, wie recht die Freundin hatte.

Sie war dabei, sich selbst zu verlieren. Irgendwo inmitten enttäuschter Hoffnung, vergeblichen Wartens und des ständigen Gefühls der Demütigung löste die alte Geraldine sich auf. Verwandelte sich in ein krankes, trauriges Geschöpf, das irgendwann für kleinste Zuwendungen bereits dankbar sein würde.

«Du bist eine so schöne Frau«, hatte Lucy eindringlich gesagt,»und noch dazu eine intelligente und einfühlsame Frau! Dutzende von Männern würden sich die Finger nach dir lecken und alles tun, um dich glücklich zu machen. Bitte, Geraldine, spring ab, bevor du dich vor lauter Depressionen nicht mehr bewegen kannst.«

«Ich kann nicht, Lucy. Ich kann ihn nicht loslassen.«

«Du gehst kaputt dabei!«

Sie hatten hin und her geredet, und schließlich willigte Geraldine ein, mit ihm zu sprechen und ihm ihre Vorstellungen und Wünsche klar zu benennen.

«Nicht, daß ich mir davon allzuviel versprechen würde«, hatte Lucy geseufzt,»aber es besteht die minimale Chance, daß er dann eine klare Antwort geben muß. Wenn du es geschickt anfängst. Er muß sich äußern, wie er sich eure Zukunft vorstellt. Aber dir sollte auch klar sein, daß du Konsequenzen ziehen mußt, wenn du mit seiner Vorstellung nicht zurechtkommst.«

Davor fürchtete sie sich. Um so mehr, als sie wußte, daß der Zeitpunkt tatsächlich erreicht war. Sie durfte sich nicht länger hinhalten lassen. Und das konnte das Ende bedeuten.

Wie meistens war er früh am Morgen verschwunden, hatte das Schlafzimmer lautlos verlassen. Sie war wach gewesen — merkte er eigentlich gar nicht, daß sie schon seit vielen Nächten nicht mehr schlief? — , aber sie hatte die Augen geschlossen gehalten und sich nicht gerührt. Es kränkte sie, mit wieviel Gleichmut und Selbstverständlichkeit er sie aus seinem Leben ausschloß. Er kam und ging, wie es ihm paßte. Er ignorierte sie komplett.

Als er weg war, war sie aufgestanden, hatte ihre Sportsachen angezogen und war zum Joggen gegangen. Als sie zurückkehrte, fühlte sie sich besser. Wie immer hatte das Laufen ihr Selbstvertrauen gestärkt.

Sie duschte, zog sich an und setzte sich in den Empfangsbereich des kleinen Hotels. Es gab dort zwei große braune Ledersessel und einen ganzen Stapel zerlesener Ausgaben von Hello. Sie blätterte darin herum, ohne etwas von dem, was sie sah, wirklich wahrzunehmen. Von den meisten Seiten lächelten die Queen oder ihre Kinder und Enkel. Die Hefte waren fleckig und abgegriffen, hatten Eselsohren, und häufig fehlten Seiten mit Kochrezepten, Diäten und Gymnastikvorschlägen. Aus irgendeinem Grund verstärkten die Zeitschriften ihre Depression. Vielleicht, weil sie so staubig, so benutzt und liegengelassen wirkten.

Genau wie ich, dachte sie.

Er betrat gegen zehn Uhr das Hotel, und sie erkannte sofort, daß der Zeitpunkt für eine Aussprache denkbar ungünstig war. Phillip war nicht nur einfach schlecht gelaunt — er kochte vor Wut. Er sah aus, als wollte er dem nächstbesten Menschen, der ihm einen Grund dazu gab, den Hals umdrehen.

Doch obwohl sie genau wußte, daß es ein Fehler war und daß sie nur verlieren konnte, war sie dennoch sicher, daß sie genau jetzt mit ihm reden mußte. Sie hatte sich darauf eingestellt, hatte sich eine Reihe entscheidender Sätze wieder und wieder vorgesagt, hatte ihren ganzen Mut zusammengekratzt. Wenn sie es jetzt nicht tat, würde sie es für Wochen oder gar Monate nicht mehr tun. Und an der Spannung, die sich in ihr aufgebaut hatte, ersticken.

«Hallo, Phillip«, sagte sie und stand auf.

Er hatte sie zuvor überhaupt nicht bemerkt und zuckte nun zusammen.»Ach — du, Geraldine!«sagte er dann, und sie konnte geradezu physisch spüren, wie stark er sich wünschte, sie möge sich in Luft auflösen oder auf sonst irgendeine Art verschwinden — Hauptsache, sie ließe ihn allein und in Ruhe. Sie trat auf ihn zu.

«Offensichtlich gelingt es uns überhaupt nicht mehr, einmal zusammen zu frühstücken«, sagte sie mit einem nervösen Lächeln.

«Wieso frühstücken? Du frühstückst doch sowieso nie!«

Die steile Falte über seiner Nase ließ vermuten, daß er Kopfschmerzen hatte.

Fang jetzt kein Grundsatzgespräch an, warnte eine innere Stimme, aber Geraldine wußte voller Verzweiflung, daß es ihr nicht gelingen würde, auf sie zu hören.

«Ich trinke einen Tee. Und ich schaue dir gern zu, wenn du etwas ißt. Und es ist eine gute Gelegenheit, um zu reden.«

«Bitte, Geraldine, ich…«

Sie ließ nicht locker. Diesmal nicht.»Wir müssen reden, Phillip. Es ist wichtig.«

«Ich wüßte absolut nichts, worüber wir reden sollten.«

«Doch. Ich…«, sie nestelte am Verschluß ihrer Handtasche herum,»ich bin verzweifelt. Ich muß reden.«

Seine Lippen preßten sich zusammen.»Das ist ein äußerst ungünstiger Zeitpunkt.«

«Trotzdem. Es muß sein.«

Er fluchte leise, sah sich dann in dem vergammelten Empfangsraum um.»Na schön. Wo? Hier?«

«Wir können auch in den Gastraum gehen. Vielleicht bekommst du dort noch ein Frühstück.«

«Ich habe keinen Hunger. Aber wahrscheinlich brauche ich einen Schnaps. Herrgott, Geraldine, du hast ein Talent, mir immer dann Schwierigkeiten zu machen, wenn ich ohnehin in Problemen ersticke.«

Sie gingen in den Gastraum. Geraldine hielt ihre Handtasche fest an sich gedrückt und hatte den Eindruck, sich wie ein verschüchtertes Schulmädchen zu bewegen.

Im Gastraum war niemand. Erst nachdem Phillip dreimal — in zunehmender Unbeherrschtheit — auf eine Klingel am Tresen gedrückt hatte, trat ein pickliges Mädchen aus einem Hinterzimmer.

«Frühstück gibt's keins mehr«, teilte sie Phillip ohne den geringsten Anflug eines Lächelns mit.

«Ich möchte auch kein Frühstück«, sagte Phillip,»ich möchte ein Bier.«

Er wandte sich zu Geraldine um.»Und du?«

«Nichts. Danke.«

Sie bereute ihre Absage sofort, weil sie sich an einem Glas gut hätte festhalten können, aber sie mochte nichts sagen, um

Phillips Gereiztheit nicht noch durch Wankelmütigkeit zu steigern. Sie setzte sich an einen Tisch in der hintersten Ecke des Raumes und wartete, bis Phillip mit einem großen Bierglas zu ihr trat. Er setzte sich ihr gegenüber und nahm einen tiefen Schluck.

«So«, sagte er,»also? Was gibt's?«

Sie hatte sich eine lange, komplizierte, einleitende Erklärung zurechtgelegt, aber nun plötzlich waren alle Worte verschwunden. Ihr Kopf war ganz leer. Sie sah nur sein finsteres Gesicht, dessen Züge sie auf solch hoffnungslos verzehrende Weise liebte, und sie konnte nichts anderes tun, als mit ihrem tiefsten und ältesten Wunsch herauszuplatzen:»Ich will, daß wir heiraten!«

Im nächsten Moment schien das Entsetzen wie eine große, dunkle Welle über ihr zusammenzuschlagen. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Überfallartig hatte sie ihn mit ihrer Sehnsucht nach einer festen Bindung konfrontiert, ihn, der er vor allem, was Bindung verhieß, zurückscheute wie ein nervöses Pferd.

Er mußte sich vorkommen, als habe jemand ein Netz über ihn geworfen, und zwangsläufig würde er zappeln und um sich schlagen und nichts anderes im Sinn haben, als sich wieder zu befreien.

Und dann, wieder einen Moment später, fiel das Entsetzen in sich zusammen, und eine seltsame Ruhe breitete sich in ihr aus. Es war kein Glücksgefühl, aber eine Erleichterung. Eine Erlösung. Sie hatte es gesagt. In den fünf Worten hatte sie ihm alles das gesagt, was sie ihm in wenigstens fünfzig wohlformulierten Sätzen hatte sagen wollen. Sie hatte sich offenbart. Das Versteckspiel hatte ein Ende.

Erst nach einer Weile wagte sie es, ihn anzuschauen. Er allerdings blickte nicht zu ihr hin, sondern starrte in sein Bier. Sein Gesichtsausdruck war so finster und verschlossen wie zuvor. Es gab nichts in seiner Miene, was Freude oder Entgegenkommen verheißen hätte.

Ihr wurde kalt.

Vergeblich, dachte sie, alles vergeblich.

Endlich sah er auf.

«Nein«, sagte er,»und ich möchte dich bitten, mich nie wieder danach zu fragen.«

Sie wußte genau, daß es keinen Sinn hatte, mit ihm zu verhandeln, aber dennoch versuchte sie es.

«Ich brauche eine Perspektive«, sagte sie. Sie haßte sich für das Flehen in ihrem Tonfall, weil es sie erniedrigte.»Ich weiß nicht, wie du ohne so etwas leben kannst, aber ich kann es jedenfalls nicht.«

«Ich auch nicht«, sagte er,»aber wieso bist du der Meinung, daß ich keine Perspektive habe?«

«Weil… weil ich nicht sehe, wohin dein Leben führt.«

«Und weil du es nicht siehst, kann da nichts sein?«

Sie seufzte tief. Sie wußte, was er meinte, und kurz fragte sie sich, ob die Chancen für sie beide anders ausgesehen hätten, wenn es diese Besessenheit in seinem Leben nicht gäbe.

«Das Haus«, sagte sie,»Stanbury. Wie kannst du dich so verbeißen?«

In seinen verschlossenen Augen erwachte Leben.»Das kannst du nicht verstehen. Das wirst du nie verstehen!«

«Ich kann diesen Fanatismus nicht begreifen. Worum geht es dir? Um Geld? Verkaufen kannst du den Kasten sowieso nicht, solange diese Patricia Roth nicht mitspielt. Du mußt dich bloß an den Unterhaltskosten beteiligen, und die sind bei diesen alten Gemäuern ziemlich hoch. Du wirst keinen Gewinn aus der Sache ziehen, du wirst statt dessen horrende Gerichtskosten zahlen, die dich…«

Sie brach ab, als sie die Wut in seinen Zügen erkannte.

«Es geht nicht um Geld«, sagte sie leise.

«Nein, in der Tat. Es geht in der Tat nicht um Geld. Es geht um vieles mehr. Und deshalb wird mich diese Hexe auch nicht mehr los. Sie kann sich aufspielen und rumschreien und mich rausschmeißen, aber irgendwann, das sage ich dir«, sein Gesicht kam nah an ihres heran, und unwillkürlich wich sie zurück,»irgendwann marschiere ich offiziell und mit Fug und Recht durch die Tür dort, und sie kann es nicht verhindern.«

Seine Hände krampften sich um das Bierglas. Er schwitzte stark.

Er ist wirklich besessen, dachte Geraldine.

«Du kommst deinem Vater durch das Haus auch nicht näher«, sagte sie.

Er lachte. Es klang kalt und höhnisch.»Was verstehst du schon davon? Die behütete Geraldine, schön bürgerlich mit Vater und Mutter aufgewachsen. In einer kleinen, heilen Welt. Du hast ja keine Ahnung, was es heißt, keinen Vater zu haben, und wenn du dann plötzlich doch einen hast, stellt sich heraus, daß er ein Riesenarschloch war. Aber trotzdem ist er mein Vater. Verdammt!«

Er schlug mit einer Faust auf den Tisch.»Er ist mein Vater! Und ich will meinen Vater haben!«

Er hatte sehr laut gesprochen. Das picklige Mädchen, das hinter dem Tresen seine Fingernägel reinigte, zuckte zusammen. Geraldine winkte ihr zu.

«Ich hätte auch gern ein Bier!«

Ihre Stimme klang piepsig. Sie räusperte sich.

«Phillip, ich kann eines nicht verstehen«, sagte sie, entschlossen, sich mit ihm nicht auf ein Streitgespräch über Sinn und Unsinn seines Stanbury-Plans einzulassen, da sie dies angesichts seiner fanatischen Entschlossenheit nur verlieren

konnte.»Ich kann nicht verstehen, weshalb du nicht heiraten willst. Gut, du hast jetzt dieses… dieses Projekt. Aber das schließt doch zwischen uns beiden nichts aus. Ich meine…«

Verzweifelt suchte sie nach Argumenten, die ihn überzeugen würden, wußte dabei jedoch im Innersten, daß nichts ihn berühren würde.»Ich will Kinder«, sagte sie,»ich will eine Familie.«

Er zeichnete ein schiefes Herz auf sein beschlagenes Bierglas.»Und ein Häuschen im Grünen und einen Hund und einen Gartenzwerg«, fügte er ironisch hinzu. Mit einer fast aggressiven Bewegung verwischte er das Herz.

«Dafür bin ich nicht der richtige Mann«, sagte er,»vergiß es.«

«Willst du denn immer allein bleiben?«

«Ich war bereits verheiratet. Es war die größte Scheiße.«

«Du warst mit einer Fixerin verheiratet! Was hast du denn von einer solchen Ehe erwartet? Eine friedliche Idylle?«

«Ich habe Sheila geliebt«, sagte er,»und es trotzdem nicht mit ihr geschafft. Dich hingegen…«

Die Kälte in ihrem Innern verstärkte sich. Sie wußte, was er meinte. Er hatte es noch nie ausgesprochen, und doch war ihr in diesem Moment klar, daß sie es immer gewußt hatte.

«Mich hingegen«, griff sie seinen angefangenen Satz auf,»liebst du nicht einmal.«

Die Kellnerin brachte das Bier. Als sie es abstellte, schwappte der Schaum über und lief an der Außenseite des Glases hinab. Geraldine fing ihn mit dem Finger auf. Ihre Hand war taub. Sie konnte den Schaum nicht fühlen.

«Nein«, sagte Phillip,»dich liebe ich nicht einmal.«

Es wunderte sie, daß sie überhaupt noch sprechen konnte, während hier, in diesem unwirtlichen Gastraum irgendwo in Yorkshire, ihr Lebenstraum zerbrach und die langen, traurigen letzten Jahre sich als eine sinnlose Investition entpuppten. Es roch nach Bier. Für immer würde sie diese Minuten mit dem Geruch von Bier in Verbindung bringen, und mit dem Bild eines pickligen Mädchens, das mit Hingabe seine Fingernägel auskratzte.

«Findest du nicht«, fragte sie,»daß du mir das früher hättest sagen müssen?«

«Ich dachte immer, das sei ohnehin klar«, antwortete Phillip.

20

Als Jessica durch die Halle ging, klingelte das Telefon.

Die Gruppe hatte sich zerstreut nach dem unangenehmen Auftritt zwischen Ricarda und Patricia, jeder ging wieder seiner Wege. Alexander war im Schlafzimmer verschwunden. Jessica hatte ein paar Minuten zögernd vor der verschlossenen Tür gestanden. Sie hatte mit ihm sprechen wollen, zugleich aber gewußt, daß sie nicht den Mut haben würde zu sagen, was sie tatsächlich sagen wollte.

Ich habe mitbekommen, daß du heute morgen mit Elena telefoniert hast. Warum lügst du mich an? Und was hattest du mit ihr zu besprechen, was du mit mir nicht besprechen kannst?

Wovor habe ich Angst, fragte sie sich, davor, daß er sich in dumme Ausreden flüchtet? Oder davor, daß er mir die Wahrheit sagt? Oder wäre einfach eines so schlimm wie das andere?

Da sie sich nicht entschließen konnte anzuklopfen, stieg sie die Treppe zu den Kinderzimmern hinauf, verharrte aber auch dort auf halber Höhe. Sie hatte ein so starkes Bedürfnis, Ricarda in den Arm zu nehmen, ihr zu sagen, daß sie zu ihr stand und daß Patricia sich unmöglich benommen hatte, aber auch das wagte sie nicht, aus Angst vor der schroffen Zurückweisung, die dies mit sich bringen konnte.

Sie kehrte um.

Wir sind eine richtig offene, glückliche kleine Familie, dachte sie, ohne daß es ihr gelungen wäre, diesen Gedanken mit einem Lächeln, und sei es zynisch, zu begleiten.

Sie hörte den Apparat läuten, als sie schon wieder unten war,

und meldete sich gleich.

«Jessica Wahlberg.«

«Elena Wahlberg«, sagte eine Stimme vom anderen Ende der Leitung.»Guten Tag, Jessica.«

«Guten Tag.«

«Ich wollte Ricarda sprechen«, sagte Elena,»wissen Sie, ich mache mir ein wenig Sorgen. Sonst ruft sie mich hin und wieder an, wenn sie für längere Zeit verreist. Aber in diesen Ferien hat sie sich überhaupt noch nicht gemeldet; ich hoffe doch nicht, daß irgend etwas nicht stimmt.«

Sie will mir auch nicht sagen, daß Alexander mit ihr gesprochen hat, dachte Jessica, und daß sie ganz allein deswegen anruft.

Sie beschloß, Elena keinesfalls das Gefühl zu gönnen, sie und Alexander hätten Geheimnisse voreinander.

«Alexander hat ja heute früh mit Ihnen telefoniert«, sagte sie,»und Ihnen sicher von den Problemen erzählt.«

Sie merkte, daß Elena stutzte. Offenbar hatte sie tatsächlich nicht damit gerechnet, daß Jessica Bescheid wußte.

«Ja«, meinte sie dann,»Ricarda hat wohl einen Freund? Und verhält sich ziemlich widerborstig.«

«Mein Gott«, sagte Jessica heftig,»ich würde mich an ihrer Stelle auch so verhalten! Sie hat sich in einen Jungen verknallt und will möglichst viel Zeit mit ihm verbringen. Ich halte das für vollkommen normal. Aber bei einigen Leuten hier hat sie damit eine erstaunlich heftige Hysterie ausgelöst, was vermutlich daran liegt, daß…«

Sie brach ab. Sie wollte bei Elena nicht über Alexanders Freunde herziehen.

Aber Elena hatte genau verstanden, was sie sagen wollte. Sie lachte.»Was daran liegt, daß jede Form individuellen Verhaltens in diesem Kreis bekämpft wird«, sagte sie.»Ricarda hat keine Lust, mit Patricias Kindern auf irgendwelchen Ponys im Kreis zu zockeln oder abends mit allen anderen vor dem Kamin zu sitzen und sich anzuöden. Und das macht sie natürlich hochgradig verdächtig!«

«Ich hole mal gerade Ricarda ans Telefon«, sagte Jessica rasch. Sie bemerkte Patricia, die oben auf der Galerie aufgetaucht war.

«Patricia!«rief sie.»Hol doch bitte Ricarda ans Telefon!«

Patricia stieg die Treppe hinauf.»Sie ist nicht in ihrem Zimmer!«rief sie gleich darauf.

O nein, dachte Jessica müde, hoffentlich ist sie nicht abgehauen!

«Sie ist im Moment nicht da«, sagte sie ins Telefon,»aber ich werde ihr sagen, sie soll Sie zurückrufen.«

«Wenn sie mag«, sagte Elena,»ich will nicht zusätzlichen Druck auf sie ausüben.«

Sie machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu:»Ich bin froh, daß Sie so denken wie ich, Jessica. Dadurch weiß ich, daß Ricarda wenigstens eine vernünftige Person um sich hat.«

Dann verabschiedete sie sich und legte auf, noch ehe Jessica etwas hatte sagen können.

Komisch, dachte sie, daß Patricia nicht schon wieder einen Zirkus aufführt, weil Ricarda nicht in ihrem Zimmer ist.

Aber von oben kam kein Laut.

Sie ging ins Eßzimmer und schaute aus dem Fenster. Diane und Sophie spielten Federball im Garten. Tim saß auf einem kleinen Mäuerchen und las. Etwas abseits entdeckte sie auch Ricarda, die auf einer Bank kauerte, tief in ihren übergroßen Wollpullover gekuschelt, ganz in Gedanken versunken. Ihr Gesicht sah ungewöhnlich blaß und spitz aus. Jessica fiel ein, daß sie schon seit Tagen zu keiner Mahlzeit mehr erschienen war. Aß sie bei ihrem Freund etwas? Vermutlich geschah dies zumindest nicht regelmäßig.

Sie wäre gern zu ihr gegangen, hätte sich neben sie gesetzt und mit ihr geredet. Aber auch diesmal wagte sie es nicht.

Später dachte sie manchmal, daß sich das Drama, das am Abend stattfinden sollte, an jenem Tag über Stunden hinweg angekündigt hatte. Wie ein Gewitter, das in der Luft liegt, dessen unaufhaltsames Nahen mit jeder Minute spürbarer wird.

Niemandem schien es an diesem Tag gutzugehen.

In der Küche stieß Jessica auf Evelin und Barney. Evelin saß am Tisch und hatte sämtliche Zutaten verspeist, die eigentlich für das Mittagessen gedacht gewesen waren. Barney hatte offenbar einen Teil abbekommen, denn er lag neben ihr und leckte sich zufrieden die Lefzen. Evelin erschrak bei Jessicas Eintreten so sehr, daß sie in einer nervösen Handbewegung ein Glas mit Weißwein vom Tisch fegte.

Sie brach in Tränen aus.»Ich habe alles aufgegessen«, schluchzte sie,»ich weiß nicht, wie das kam. Ich wollte mir nur ein bißchen Käse holen… o Gott, was sollen wir jetzt machen?«

«Wir beide fahren ins Dorf und kaufen ein«, sagte Jessica, die auf dem Boden kniete und mit Besen, Schaufel und Wischlappen das Malheur beseitigte.»Das ist doch kein Problem.«

Bevor sie loszogen, vergewisserte sich Jessica, daß Ricarda noch immer auf der Gartenbank saß. Sie hoffte inständig, das Mädchen werde heute nicht zu entkommen versuchen. Das hätte die angespannte Situation nur noch verschärft. Alexander rührte sich ohnehin nicht mehr, war seit Stunden nicht aus dem Schlafzimmer gekommen. Wahrscheinlich hatte er sich hingelegt.

Sie suchten den kleinen Gemischtwarenladen im Dorf auf, in dem man zwar nicht alles, doch immerhin das Nötigste kaufen konnte. Sie trafen Mrs. Collins dort, die Putzfrau, die gerade mit ihrer Schwester einen Tee trank und offenbar in einen gemütlichen Tratsch vertieft war. Natürlich wollte sie sofort wissen, wie es allen ginge, und setzte dann zu einer wortreichen Entschuldigung an, weil sie in der Woche zuvor den unheimlichen Fremden — wie sie ihn nannte — ins Haus gelassen hatte.

«Aber wie hätte ich wissen sollen, daß er mich so dreist belügt?«rief sie.»Das ahnt doch niemand!«

«Ich glaube nicht, daß irgend jemand dir einen Vorwurf macht«, beschwichtigte ihre Schwester, und Jessica dachte, wie gut es war, daß die beiden nichts von Patricias Schimpfkanonaden mitbekommen hatten.

«Das ist schon in Ordnung«, sagte sie,»es ist ja nichts Schlimmes passiert.«

«Ich möchte nur wissen, was dieser Mensch dort wollte!«sagte Mrs. Collins.»Er wohnt ja übrigens immer noch hier im Dorf. Im The Fox and the Lamb. Manchmal sieht man ihn hier herumlaufen. Ein finsterer Bursche. Und so verwahrlost!«

Als so finster empfandest du ihn offenbar nicht, als du ihn ins Haus hineingelassen hast, dachte Jessica. Sie mochte Mrs. Collins' Frage nach dem Grund für Phillips Aufenthalt in Stanbury nicht beantworten und warf auch Evelin, die gerade den Mund öffnete, einen warnenden Blick zu. Sollte die alte Tratschtante doch selbst herausfinden, was sie wissen wollte.

Sie kauften Kartoffeln, Frühlingszwiebeln und eine Gurke für einen Kartoffelsalat, und dazu zwanzig Würstchen.

«Das geht schnell, und keiner wird merken, daß wir ein Problem hatten«, meinte Jessica.

Als sie den Laden verließen, sahen sie Phillip, der mit schnellen Schritten auf das Geschäft zuging. Er trug seinen üblichen Pullover, dessen Wolle mit jedem Tag verfilzter aussah, und hatte wie immer seine Haare nicht gekämmt. Er sah so finster aus, wie ihn Jessica noch nie erlebt hatte.

«Der schon wieder«, sagte Evelin und wollte rasch im Auto verschwinden.

«Phillip!«rief Jessica.

Er blickte auf, aber seine Miene wurde um nichts freundlicher.»Hallo«, erwiderte er mürrisch.

Jessica machte eine Handbewegung zu dem Gemischtwarenladen hin.»Ich würde da jetzt nicht hineingehen. Mrs. Collins ist gerade drinnen — die Haushälterin, die Sie vor kurzem ausgetrickst haben, um in das Haus hineinzukommen.«

«Ich habe niemanden ausgetrickst«, entgegnete Phillip barsch,»ich habe das gar nicht nötig, verstehen Sie? Weil ich im Recht bin. Weil Stanbury House mir genauso gehört wie dieser Hexe Roth, die meint, sich dort aufspielen zu können. Sie soll sich bloß in acht nehmen, daß ich nicht irgendwann die Geduld mit ihr verliere!«

Er ging weiter und stieß die Ladentür mit so wütender Heftigkeit auf, daß die beiden Frauen darin vermutlich im ersten Moment an einen Überfall glaubten.

«Ich weiß nicht, aber der ist mir richtig unheimlich«, meinte Evelin, als sie beide im Auto saßen und auf der Landstraße zurück zum Haus fuhren.»Er ist so… fanatisch. So… zu allem entschlossen!«

«Er kriegt sein Leben nicht auf die Reihe«, sagte Jessica,»und er hat sich in die Idee verrannt, daß dies mit der jahrelangen Nicht-Existenz seines Vaters zusammenhängt.«

Sie erklärte Evelin in kurzen Worten die Problematik von Phillips Jugend.»Über Kevin McGowans Erbe meint er, seinem Vater sozusagen posthum noch nahezukommen und seinen Frieden mit ihm machen zu können. Und daß sich dann seine Schwierigkeiten auflösen und er endlich durchstarten, sich so etwas wie eine Existenz aufbauen kann.«

«Das wird doch so oder so nicht funktionieren«, sagte Evelin.

Jessica zuckte mit den Schultern.»Halten wir uns nicht alle manchmal an solchen Konstruktionen fest, wenn wir überhaupt nicht mehr zurechtkommen?«

«Sicher«, stimmte Evelin zu. Ihre Stimme klang bitter, nicht so schwach und kindlich wie sonst oftmals.»Das tun wir. Aber wir stellen dann auch immer fest, daß wir uns nur etwas vorgemacht haben.«

Jessica warf ihr einen Blick von der Seite zu. Evelin hielt die Lippen fest aufeinandergepreßt und sah zum Fenster hinaus.

Ricarda nahm am Mittagessen teil. Allerdings rührte sie kaum einen Bissen an und sprach kein Wort. Patricia sah ständig zu ihr hinüber. Jessica meinte, etwas Verschlagenes, Lauerndes in ihren Zügen zu erkennen, sagte sich dann aber, daß dieses Gefühl ihrer überreizten Phantasie entspringen müsse. Sicher hatte es etwas mit der schrecklichen Stimmung zu tun, die am Tisch herrschte. Jeder schien in eigene Gedanken versunken zu sein, und offenbar waren niemandes Gedanken angenehm.

Nach dem Essen setzten Diane und Sophie ihr Federballturnier im Garten fort, wohl entschlossen, sich mit sportlichen Aktivitäten ein Stück weit über den Verlust ihrer geliebten Reitstunden hinwegzutrösten. Ricarda zog sich erneut auf ihre Bank zurück, versank dort in sich selbst und gab allein durch ihren Gesichtsausdruck jedem zu verstehen, daß sie keinerlei Kontakt wünschte. Patricia setzte sich mit Leon auf die Terrasse und begann dort auf ihn einzureden; in ihrer üblichen intensiven Art, mit der sie stets den Eindruck vermittelte, sie wolle ihrem Gesprächspartner ihre Ausführungen am liebsten direkt ins Gehirn meißeln.

Evelin bot an, das Geschirr zu spülen und die Küche aufzuräumen, und Jessica, die ahnte, daß sie sich heimlich über die Reste hermachen wollte, ließ sie allein.

Sie war noch immer verstört, wußte nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sie mochte Alexander keine Eifersuchtsszene machen, weil ihr dies würdelos vorgekommen wäre, aber sie wußte auch, daß sie dauerhaft nicht würde so tun können, als sei nichts geschehen. Sie bereute es jetzt, am frühen Morgen sein Versteckspiel mitgemacht zu haben. Sie hätte die Treppe hinuntergehen und unbefangen sagen sollen:»Ach, du hast gerade mit Elena telefoniert! Was gab es denn?«

Bevor er hätte lügen können, bevor die Angelegenheit eine so komplizierte Dimension hätte annehmen können. Nun schlich sie um ihn herum wie eine Katze um den heißen Brei und hatte dabei Magenschmerzen, weil sie sich so aufregte.

Nichts wird mehr so sein, wie es war, dachte sie plötzlich, und obwohl sie sich im nächsten Moment zur Ordnung rief, die Dinge nun keinesfalls zu dramatisieren, wußte sie doch, daß es stimmte.

Alexander saß mit Tim im Wohnzimmer und spielte Schach, und so gab es zunächst ohnehin keine Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Jessica rief nach Barney und brach zu einem ihrer langen Spaziergänge auf. Wieder zog es sie zu der Stelle, an der sie den Hund aus dem Wasser gefischt und Phillip kennengelernt hatte, aber heute blieb sie allein auf dem Hügel, schaute über die Täler und konnte nirgendwo einen einsamen Wanderer entdecken. Im ersten Moment fühlte sie eine vage Enttäuschung oder eher eine Art Erstaunen, weil sie angenommen hatte, Phillip sei da, aber gleich darauf war sie erleichtert. Er war in einer schlimmen Verfassung gewesen, vorhin bei ihrer kurzen Begegnung vor dem Dorfladen, zornig und aggressiv und wohl auch verzweifelt. Es ging ihm schlecht, er wußte nicht weiter. Sie versuchte sich in seine Lage zu versetzen: Vielleicht hatte er heute, an diesem Morgen, zum erstenmal wirklich realisiert, daß mit Patricia nie zu reden sein würde, daß er sich keinerlei Hoffnung auf eine gütliche Einigung mit ihr machen konnte. Wollte er sein Ziel erreichen, mußte er komplizierte und möglicherweise langwierige juristische Wege einschlagen. Sie konnte sich vorstellen, daß er um die Frage kreiste, wovon er dies bezahlen sollte. Gleichzeitig hatte er sich zu tief in seine Träume verstrickt, um noch davon Abstand nehmen zu können, was nach Jessicas Ansicht die vernünftigste Entscheidung in seiner Situation gewesen wäre. Wie reagierte ein Mann in einer so schwierigen, fast ausweglosen Lage?

Sie hatte ein ungutes Gefühl.

Ich wünschte, dieser Urlaub wäre vorbei, und wir wären wieder alle zu Hause, dachte sie, während ihr gleichzeitig einfiel, daß das Ende der Ferien noch keineswegs ihre Probleme mit Alexander lösen würde.

Der anfangs kühle Tag wurde mit jeder Stunde wärmer und sonniger; das schöne Wetter der Vorwoche schien sich nach einer kurzen Störung wieder zu etablieren. Fast keine Wolke war inzwischen mehr am Himmel zu sehen, der Wind hatte seine Frische verloren, wurde zu einem milden Fächeln. Jessica zog ihren Pullover über den Kopf, behielt nur ihr T-Shirt an. Der Stoff klebte an ihrem Rücken, und sie merkte auch, daß ein feiner Schweißfilm auf ihrem Gesicht lag.

Sie lief wieder heim und gelangte völlig erschöpft in Stanbury House an. Eine trügerische Ruhe lag über dem Anwesen, eine unechte Idylle: Bis auf Tim und Alexander, die noch immer in ihr Schachspiel vertieft waren, hielten sich alle lesend oder spielend im Garten auf, aber sie wirkten nicht wie fröhliche Menschen, die zusammen einen sonnigen Urlaub verbringen. Es war eher so, als befehlige ein unsichtbarer Regisseur die Szene, dessen Anweisung gelautet hatte: Seid leicht, seid unverkrampft, genießt einen schönen Tag! Jeder — bis auf Ricarda — mühte sich, dieser Vorgabe zu entsprechen. Niemandem gelang es dabei, überzeugend aufzutreten. Am wenigsten Evelin. Sie spielte den Schiedsrichter bei Dianes und Sophies Federballturnier, humpelte hin und her, unförmig und unbeweglich, und es schmerzte fast zuzusehen, wie sehr sie sich anstrengen mußte, um zu lachen und die fröhlichhektischen Ansagen eines Sportkommentators abzuliefern.

Jessica gab Barney in der Küche zu essen und zu trinken und ging dann ins Eßzimmer, um sich ein wenig unter den vielen Büchern, die dort zwei Wände bedeckten, umzusehen. Wenn es Archivmaterial über Kevin McGowan gab, so dachte sie sich, hatte dieser vielleicht auch etwas davon in seiner privaten Bibliothek stehen.

Tatsächlich wurde sie nach einigem Suchen fündig. Es gab einige gebundene Sammelbände, die Artikel von ihm enthielten, hauptsächlich solche, die sich mit der NordirlandProblematik beschäftigten. In einem Ordner befanden sich Artikel, die über ihn geschrieben worden waren, Interviews und Porträts. Es waren auch Fotos dabei, die Jessica sofort eingehend studierte. Wenn Phillip sein Sohn war, müßte es eine Ähnlichkeit geben. Sie fand durchaus, daß Kevin McGowans Züge Übereinstimmungen mit denen Phillips aufwiesen; allerdings war sie nicht sicher, ob sie dies auch gesehen hätte, wenn sie nicht ganz gezielt danach gesucht hätte. Man konnte sich vieles einbilden.

Und schließlich hielt sie ein Taschenbuch in den Händen, dessen Autor Kevin McGowan selbst war. Es verging viel zu schnell… lautete der erstaunlich poetische Titel, und gemeint war: Mein Leben, was als Untertitel darunterstand. Das war interessant. Aus diesem Buch hätte Phillip eine Menge Informationen ziehen können.

Sie machte sich rasch einen Tee und setzte sich dann an den Eßtisch, breitete um sich herum aus, was sie gefunden hatte. Als erstes nahm sie sich McGowans Autobiographie vor. Sie war eine geübte Schnelleserin, und so glitten ihre Augen rasch durch die Seiten und nahmen dabei die wesentlichen Informationen auf.

Kevin McGowan schrieb in der Hauptsache über sein berufliches Leben, seinen Aufstieg bei der BBC, über wichtige Reportagen und Reisen, über die Interviews, die er mit bedeutenden Persönlichkeiten geführt hatte. Jessica war überrascht; offenbar hatten sich Kevin McGowan nahezu überall auf der Welt die Türen und Tore der Mächtigen und Einflußreichen ohne größere Schwierigkeiten geöffnet. Er hatte Gespräche mit dem Schah von Persien geführt sowie mit mehreren amerikanischen Präsidenten, mit dem Führer der polnischen Solidarność ebenso wie mit Kubas Fidel Castro. Einige seiner Berichte waren mit hochdotierten englischen Fernsehpreisen ausgezeichnet worden. Er hatte in England eine immense Popularität genossen. Allerdings hatte es, wie er schrieb, auch eine Menge Anfeindungen gegeben, da man ihm immer wieder eine zu große Sympathie für die IRA und zuviel Verständnis für deren Belange vorwarf. McGowan vermied es in dem gesamten Buch, zu diesem Vorwurf eindeutig Stellung zu beziehen. Es war nicht herauszufinden, wo er tatsächlich gestanden hatte.

Zwei Kapitel hatte er jedoch seinem Privatleben gewidmet; das eine war überschrieben mit Frankreich, das andere mit Deutschland. Er berichtete davon, wie sehr es ihn geschmerzt hatte, als junger Mann am Krieg gegen Hitler nicht teilnehmen zu dürfen, und wie er Tag und Nacht überlegt hatte, was er tun könnte, um doch einen Beitrag zu leisten. Auf dramatisch gefährliche Weise hatte er über die Kanalinseln Kontakt zur Résistance aufgenommen und war nach Frankreich geschleust worden, wo er eine Existenz unter falschem Namen geführt hatte. Er beschrieb einige sehr abenteuerliche Begebenheiten und kam dann zu seinem ersten Zusammentreffen mit der Deutschen Patricia Kruse. Er äußerte sich zurückhaltend über diese Liebesgeschichte, aber es wurde durchaus deutlich, daß auf beiden Seiten sehr starke Gefühle im Spiel gewesen sein mußten. Sowohl er als auch Patricia hatten enorme Risiken und Gefahren auf sich genommen, um soviel Zeit wie möglich miteinander zu verbringen. Mehr als einmal waren sie haarscharf der Aufdeckung entgangen, was ihnen KZ und Hinrichtung hätte einbringen können.

Über das Kriegsende schrieb Kevin: Es war vorbei, endlich, und nun galt es, die Rückkehr in ein normales Leben zu bewältigen. Leider gelang es Patricia und mir nicht, unsere Gefühle zu retten. Manches, das wir für Liebe gehalten hatten, mochte zu sehr abhängig gewesen sein von der Romantik gemeinsam durchlittener Gefahren, von dem Wissen, daß wir für jede gemeinsam verbrachte Nacht mit unserem Leben spielten. Nie waren wir zusammengewesen, ohne zugleich auf Schritte zu lauschen, die sich nähern könnten, auf Autos, auf barsche Stimmen. Es hatte keinen Moment der Entspanntheit gegeben. Manchmal hatten wir flüsternd darüber gesprochen, wie herrlich es sein würde, in Frieden und Freiheit zu leben. Nun wurden uns Frieden und Freiheit geschenkt, aber wir fanden keine Möglichkeit, gemeinsam damit umzugehen…

Wir zogen zuerst nach London, wo wir heirateten und ich als Fernsehreporter zu arbeiten begann. Die Tatsache, daß ich aktiver Widerstandskämpfer gewesen war, öffnete mir alle Türen. Unglücklicherweise konnte Patricia jedoch nicht heimisch werden. Im Alltag war sie massivsten Anfeindungen ausgesetzt, sowie offenkundig wurde, daß sie Deutsche war. Große Teile Londons lagen in Schutt und Asche, zerstört von Hitlers Bombern. Die Menschen hausten zum Teil in erbärmlichen Umständen. Im Fernsehen zeigten sie Filme, die britische Soldaten in den KZs der Nazis gedreht hatten, und diese Bilder übertrafen alles, was man sich bis dahin an Grauen überhaupt hatte vorstellen können. Hinzu kam, daß viele englische Familien ein oder mehrere Opfer aus ihrer Mitte zu beklagen hatten, gefallene Väter, gefallene Söhne. Nein, Patricia hatte im England der ersten Nachkriegsjahre keine Chance. Sie war unglücklich, hatte Heimweh. Das änderte sich leider auch nicht, als Ende 1946 unser Sohn Paul geboren wurde. Zuerst hatte ich gehofft, er würde Patricia ein wenig Halt geben. Aber sie blieb einsam und traurig, und schließlich wurde mir klar, daß es so nicht weitergehen konnte. Also übersiedelten wir im Januar 1949 nach Deutschland, nach Hamburg, wo Patricia aufgewachsen war. Überall in Deutschland entstanden neue Städte aus den Trümmern, und man entnazifizierte sich, was bedeutete, daß in Prozessen mit den Tätern abgerechnet wurde und ansonsten jeder bemüht war, seine eigene, persönliche Unschuld am Geschehen immer wieder zu beteuern. Mein Kampf an der der Seite der Résistance erwies sich auch hier als vorteilhaft; ich fand schnell Arbeit als politischer Kommentator bei einem Rundfunksender. Alles hätte gut werden können: Patricia hatte ihre Eltern und Geschwister wieder, dazu alte Freunde aus ihrer Schulzeit. Niemand feindete sie mehr an. Paul entwickelte sich prächtig. Ich fand mich ohne größere Schwierigkeiten in dem fremden Land zurecht, schloß Freundschaften in den Reihen der einstigen Gegner.

Unsere Sprachlosigkeit aber wollte auch hier nicht enden. Waren es wirklich nur Weltuntergangsstimmung, Gefahren, der tägliche Existenzkampf unter schlimmsten Bedrohungen gewesen, die uns verbunden, die uns mit Leidenschaft füreinander erfüllt hatten? Ewig diskutierten wir darüber, drehten uns aber irgendwann nur noch im Kreis. Tatsache blieb die Leere, die zwischen uns herrschte und die zu füllen wir nicht imstande waren. Wir waren noch jung, wir wollten uns nicht blockieren für Gefühle, die jeder von uns vielleicht für einen anderen Menschen würde entwickeln können. Ohne Streit, sehr freundschaftlich und sehr traurig ließen wir uns im April 1953 scheiden. Ich kehrte nach England zurück, Patricia blieb mit Paul in Hamburg.

Keiner von uns hat übrigens je wieder geheiratet.

Damit endete der private Teil von Kevins Lebenserinnerungen, und so sehr Jessica auch blätterte und suchte, es gab nicht die geringste Erwähnung weiterer Liebschaften und schon gar nicht die eines weiteren, später geborenen Sohnes.

Auch in den Zeitungsberichten fand sich nichts. Wenn es Phillips Mutter in Kevin McGowans Leben gegeben hatte, so war sie sein bestgehütetes Geheimnis gewesen. Darüber hinaus wurde Jessica klar, daß Tim recht behalten hatte: Sämtliche Informationen, die Phillip über seinen angeblichen Vater gehabt hatte, waren nachlesbar und bewiesen somit überhaupt nichts. Jessica hatte von Phillip nichts erfahren, was sie nicht Kevins Memoiren oder den Zeitungsberichten über ihn ebenso hätte entnehmen können.

Sie war deprimiert, weil sie Stunden mit der Suche nach etwas verbracht hatte, wovon sie nicht einmal genau wußte, was es war und weshalb sie es suchte. Einen Beweis, der für Phillips Behauptung sprach? Wollte sie ihm helfen? Tatsache blieb, sie konnte ihm nicht helfen.

Und im Grunde geht mich das alles ja auch gar nichts an, dachte sie.

Vielleicht hatte der Aktionismus dieses Nachmittags auch nur dazu gedient, sie von ihren eigenen Problemen abzulenken, und das war immerhin gelungen. Alexanders Telefongespräch mit Elena war in den Hintergrund getreten. Um so quälender schraubten sich die Erinnerungen an den frühen Morgen allerdings jetzt in ihr Gedächtnis. Es war immer ihre Strategie gewesen, belastenden Gefühlen mit Sachlichkeit zu begegnen, sie zu rationalisieren, um ihnen das Übersteigerte, das Dramatische zu nehmen. So versuchte sie es auch jetzt.

Worunter genau leide ich so? fragte sie sich. Nicht darunter, daß er mit Elena telefoniert hat. Das tut er schließlich öfter.

Es waren zwei Punkte, die ihr zu schaffen machten: zum einen die Tatsache, daß Elena offenbar über Dinge in seinem Leben Bescheid wußte, die er ihr, Jessica, nicht anvertrauen mochte. Wenn sie sich die Unterhaltung ins Gedächtnis rief, so war daraus hervorgegangen, daß Elena die Ursache für die Albträume kannte. Davon abgesehen hatte er sich auch sonst nicht verstellt, was seine Verzweiflung und Unsicherheit Ricardas wegen betraf. Vor Elena wagt er es, schwach zu sein.

Der zweite Punkt war klarer abzugrenzen: Er hatte sie angelogen. Zum erstenmal. Jedenfalls, soweit sie es wußte.

Sie versuchte den ersten Punkt mit Logik und Nüchternheit zu betrachten. Vor Elena war er schwach, Elena hatte er Geheimnisse anvertraut, die ihn offenbar sehr belasteten. Er war mit Elena fünfzehn Jahre verheiratet gewesen. Eine lange Zeit.

Mich kennt er keine zwei Jahre überlegte sie, gerade ein Jahr sind wir verheiratet. Vielleicht braucht er länger. Vielleicht hat er sich auch Elena erst nach vier oder fünf oder noch mehr Jahren geöffnet. Vielleicht wird er sich mir genauso öffnen. Elena hat einen zeitlichen Vorsprung. Möglicherweise ist dies, also Zeit, aber auch schon das einzige, was sie mir voraushat.

Blieb noch die Lüge. Er mochte geglaubt haben, sich Ärger einzuhandeln, wenn er zugab, so früh am Morgen mit seiner Ex-Frau telefoniert zu haben. Es steckte wahrscheinlich nicht mehr dahinter als die Hoffnung, auf diese Weise keine Erklärungen abgeben zu müssen, Vorwürfen ausweichen zu können, denen er vielleicht ausgesetzt gewesen wäre. Dennoch hätte er es nicht tun dürfen. Lügen hatten keinen Platz in einer guten Beziehung.

Ich muß mit ihm reden, dachte sie, so peinlich und unangenehm es ist, aber wenn ich nicht mit ihm rede, trage ich es ewig mit mir herum. Ich würde immer wieder Ärger und Mißtrauen empfinden.

Sie beschloß, nach dem Abendessen ein Gespräch mit ihm unter vier Augen zu suchen. Vielleicht konnten sie einen kleinen Spaziergang machen. Dann war gewährleistet, daß niemand etwas mitbekam.

21

«Ich würde gern etwas mit euch besprechen«, sagte Patricia, als alle fertig gegessen hatten.»Könntet ihr bitte mit mir ins Wohnzimmer hinüberkommen?«

Sie hatten alle am Essen teilgenommen, aber es war fast kein Wort gesprochen worden. Man hatte nur das Kratzen der Bestecke auf den Tellern gehört, gelegentliches Räuspern oder das leise Gluckern, wenn sich jemand Wein nachschenkte. Jeder zufällige Besucher, so dachte Jessica, hätte Reißaus genommen vor den unterdrückten Aggressionen, die den Raum geradezu greifbar auszufüllen schienen.

«Alexander und ich wollten eigentlich einen Spaziergang machen«, wandte Jessica ein. Sie vermutete, daß Patricia wieder irgendwelche Strategien, den allgemeinen Umgang mit Phillip Bowen betreffend, anordnen wollte, und sie hatte wenig Lust, dem auch nur noch eine Minute Zeit zu widmen.

«Wir können doch später noch Spazierengehen«, meinte Alexander.

«Ich hätte jetzt gewettet, daß du das sagst«, sagte Jessica.

Patricia erhob sich.»Diane und Sophie, ihr geht in den Garten spielen«, wandte sie sich an ihre Töchter,»ihr anderen kommt mit.«

«Ich nicht«, sagte Ricarda. Es war das erste Mal seit Stunden, daß sie den Mund öffnete.

«Du kannst tun, was du möchtest«, erwiderte Patricia mit eigentümlicher Betonung. Ricarda zuckte mit den Schultern und blieb am Eßtisch sitzen, während die anderen hinüber ins Wohnzimmer gingen.

Zehn Minuten, nahm sich Jessica vor, mehr gebe ich ihr nicht. Dann will ich den Rest des Abends so verbringen, wie ich es geplant habe.

Sie saßen alle in der Sitzgruppe vor dem Kamin, einige hatten ihre Weingläser mitgenommen. Jessica schwebte auf der äußersten Kante ihres Sessels. Sie wollte weg. Sie hatte eine vage Ahnung von Bedrohung.

«Ich muß etwas mit euch besprechen«, sagte Patricia noch einmal,»denn ich habe heute eine Entdeckung gemacht, die mich zutiefst beunruhigt. Ich habe überlegt, ob ich… nun, ich gelangte zu dem Schluß, daß es uns alle betrifft.«

Spuck's schon aus, dachte Jessica aggressiv.

«Es hängt mit Ricarda zusammen«, fuhr Patricia fort, und als sie sah, daß Alexander den Mund öffnete und offensichtlich etwas sagen wollte, machte sie eine abwehrende Handbewegung.»Nicht das Übliche. Viel… schlimmer. Wie ich sagte: wirklich beunruhigend.«

Tim seufzte.»Worum geht es denn, Patricia? Vielleicht könntest du allmählich zur Sache kommen. Es ist ein herrlicher Abend, und ich glaube, wir alle würden ganz gern noch ein bißchen hinausgehen.«

Patricia stand auf, trat an ein kleines Schränkchen, in dem Schnaps und Cognac aufbewahrt wurden. Aus dem hintersten Winkel zog sie ein Heft hervor. Ein einfaches, dickes Schreibheft, grün, ein bißchen zerknickt und ramponiert.

«Dies«, sagte Patricia,»fand ich heute in Ricardas Zimmer.«

Alle starrten sie an. Jessica richtete sich auf, jetzt noch weiter vorn auf der Sesselkante balancierend.

«Was, zum Teufel…«, begann sie, aber Alexander legte ihr seine Hand auf den Arm.»Laß mal«, bat er.

Patricia setzte sich zu den anderen, blätterte in dem Heft herum. Linierte Blätter, alle dicht beschrieben. Es gab nur noch wenige leere Seiten in dem Heft.

«Ein Tagebuch«, erläuterte Patricia.»Ricardas Tagebuch.«

«Wie kommst du denn dazu, in ihren Sachen zu wühlen?«fragte Jessica fassungslos.

«Ich ging heute morgen zufällig in ihr Zimmer«, erklärte Patricia.»Hattest du mich nicht noch geschickt, Jessica? Ich glaube, Ricarda wurde am Telefon verlangt, nicht wahr? Sie war aber nicht da.«

«Deswegen kannst du doch nicht in ihren Sachen herumsuchen!«

«Darum geht es doch jetzt gar nicht. Entscheidend ist, was ich entdeckt habe. Ihr müßt euch das anhören. Alexander, ich bin überzeugt, deine Tochter braucht therapeutische Hilfe.«

«Alexander!«

Jessica hätte ihren Mann am liebsten an den Schultern gepackt und geschüttelt.»Du kannst nicht zulassen, daß sie hier aus Ricardas Tagebuch vorliest! Das wäre ein Verrat, der alles zwischen euch zerstört.«

«Ich würde gern wissen, was Patricia so bedenklich findet«, sagte Alexander. Seine Lippen waren grau.

Patricia schlug eine Seite weit hinten auf.»Allein der letzte Eintrag! Von gestern. Nur ein paar Kostproben: Krank und kaputt will ich sie sehen! Am allerliebsten TOT! Sie meint damit uns. Uns alle hier.«

Jessica stand auf.»Das ist ja wohl auch kein Wunder!«

«Jessica!«

Alexanders Stimme klang scharf.»Paß auf, was du sagst!«

Patricia las weiter vor.»…ein scheußliches, kleines, hochgiftiges Insekt… So beschreibt sie mich. Und ein Stück darunter: Tim hatte Angst, daß sie einen Schlaganfall kriegt und krepiert. Was ich persönlich für die beste Tat ihres Lebens hielte. Auch da geht es um mich.«

«Ich höre mir das nicht länger an!«rief Jessica. Sie stand hoch aufgerichtet vor dem Kamin. Ihr war schwindlig und übel, und keineswegs hing das mit ihrer Schwangerschaft zusammen.

«Ein letztes«, sagte Patricia,»solltest du dir unbedingt noch anhören. Damit du auch begreifst, daß wir es hier mit einer Psychopathin zu tun haben. Einer gefährlichen Psychopathin!«

Mit Abscheu in der Stimme las sie:»Mir war total schwindlig, und plötzlich sah ich ein Bild… und auf dem Bild war ich mit einer Pistole, und ich schoß in diese Gesichter hinein, und ihre Augen waren ganz weit aufgerissen, und Blut quoll aus ihren Mündern… Eine hübsche Szene, nicht? Es geht wieder einmal um uns alle hier!«

«O Gott«, murmelte Evelin entsetzt.

«Gewaltiges Aggressionspotential«, konstatierte Tim mit der nachdenklichen Miene des besorgten und erfahrenen Arztes.

Jessica schoß zu ihm herum.»Seid ihr überhaupt noch normal? Tim, du solltest nicht Ricarda analysieren, du solltest dir sehr viel dringender Gedanken um euch alle hier machen! Es ist unmöglich, was ihr tut! Es ist unmöglich, daß sie vorliest, und es ist unmöglich, daß ihr zuhört! Vieles, was hier passiert, ist unmöglich, und ich komme mir langsam vor wie in einer Gesellschaft von Neurotikern!«

«Jessica!«mahnte Alexander wieder. Er hatte ihr gegenüber nie zuvor einen so harten Ton angeschlagen.

«Ach, und übrigens«, sagte Patricia,»damit du nur siehst, daß meine Befürchtungen durchaus berechtigt waren…«

Sie hatte weitergeblättert.»…und dann machte er es… Nur zur Erläuterung: Es geht hier um einen jungen Mann namens Keith und darum, was die beiden neulich nachts in einer verlassenen Scheune trieben… Das Gefühl war so groß, das Gefühl von Liebe, die Gewißheit, daß ich immer zu ihm gehören werde…«

Sie sprach mit einer gekünstelten, affektierten Stimme.

Jessica war mit einem Schritt neben ihr und entriß ihr das Heft. Weiß vor Wut fuhr sie sie an:»Ricarda hat recht! Absolut recht! Du bist ein scheußliches, hochgiftiges, kleines Insekt! Du bist eine…«

«Jessica!«

Das klang diesmal wie ein Pistolenschuß. Jessica sah ihren Mann an. Seine Augen waren voller Wut… ja beinahe Haß hätte sie darin gelesen, wenn ihr dies nicht absurd vorgekommen wäre.»Das reicht jetzt endgültig!«

«Aber…«

«Es reicht, habe ich gesagt!«fuhr er sie an. Er wandte sich an die anderen.»Ihr müßt entschuldigen. Jessica ist völlig überreizt zur Zeit. Wir hätten es euch lieber bei einer passenderen Gelegenheit erzählt, aber nun erfahrt ihr es eben so, und es erklärt vielleicht manches: Jessica ist schwanger. Wir werden im Oktober ein Baby bekommen.«

Wir werden im Oktober ein Baby bekommen.

Der Satz hing im Raum, in dem es mit einem Schlag totenstill war, so als hätten alle aufgehört zu atmen.

Jessica, völlig geschockt, nahm mehrere Dinge auf einmal wahr:

Evelin, die weiß wurde bis in die Lippen und deren Weinglas in ihrer Hand so zu zittern begann, daß es hinunterzufallen drohte.

Patricia, die überrascht wirkte — nicht erschüttert, nicht verunsichert —, aber sehr überrascht.

Tim, der aus unerfindlichen Gründen überheblich grinste.

Leon, der zuvor so ausgesehen hatte, als sei er in Gedanken woanders, und der auch jetzt noch so aussah.

Alexander, der aufgestanden war und seine Freunde Verständnis und Entschuldigung heischend anblickte.

Und in der Tür, zu ihrem Entsetzen, eine magere Ricarda — sie ist wirklich ungeheuer abgemagert in der letzten Woche, dachte Jessica —, die an gespenstischer Blässe mit Evelin konkurrierte und von der man nicht wußte, was sie nun mehr schockierte: der Umstand, daß öffentlich aus ihrem Tagebuch vorgelesen worden war, oder die Tatsache, daß die ungeliebte Frau ihres Vaters ein Baby erwartete. Vermutlich beides.

Jessica trat auf sie zu und reichte ihr das Heft.»Hier. Das ist deines. Glaub mir, ich wünschte, es wäre nicht zu dieser Situation gekommen.«

Ricarda nahm das Heft, drehte sich um und ging davon. Sie hatte nicht ein einziges Wort gesprochen.

«Tja«, sagte Tim,»da kann man nur sagen: Herzlichen Glückwunsch!«

Jessica brauchte einen Moment, um zu realisieren, daß er das Baby meinte.

Evelin stand auf und verließ den Raum.

«Was ist denn mit Evelin los?«fragte Patricia.

Niemand beantwortete ihr diese Frage.

Alexander sagte:»Es tut mir leid.«

Jessica hatte keine Lust, mit ihm zu sprechen. Nicht über den frühen Morgen, nicht über den Abend. Sie war enttäuscht, verletzt, ratlos und wütend. Inmitten all dieser aufeinanderprallenden Gefühle sah sie keine Möglichkeit für ein Gespräch. Zuerst mußte sie zur Ruhe kommen. Nachdenken. Und herausfinden, ob sie ein Gespräch überhaupt noch für sinnvoll erachtete.

Sie hatte Angst. Sie verließ ebenfalls das Wohnzimmer. Hinter sich hörte sie Patricias hektische Stimme.»Ich mußte doch mit euch reden! Ich mußte euch das vorlesen. Das sind Mordphantasien, die Ricarda hier auslebt. Das ist gefährlich. Also, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich fühle mich gar nicht mehr wohl in ihrer Gegenwart. Man weiß ja nie, ob…«

Gewäsch, dachte Jessica, verdammtes, idiotisches, blödes Gewäsch!

Sie sah sich nach Evelin und Ricarda um, konnte aber niemanden entdecken. Evelin hatte sich vermutlich in die Küche zurückgezogen und fraß den Kühlschrank leer. Und Ricarda würde wohl zu ihrem Freund gehen, Verbot hin oder her. Und recht hatte sie.

Und mich wollen sie alle beide bestimmt nicht sehen, dachte sie und stieg langsam die Treppe hinauf.

22

Was brachte es ihm, hier herumzuhängen, mitten in der Nacht, vor einem großen schmiedeeisernen Tor, hinter dem ein Paradies lag, von dem er sich aber vielleicht nur einbildete, daß es ein Paradies war?

Nichts, entschied er. Es brachte ihm eigentlich nichts. Es brachte ihn womöglich nicht einmal einer Erkenntnis in der Frage näher, ob es überhaupt richtig war, was er tat. Ob es für ihn richtig war. Oder ob er sich einfach nur hoffnungslos in eine völlig aberwitzige Idee verrannt hatte, wie Geraldine mehrfach behauptet hatte.

Geraldine! Er zündete sich eine Zigarette an, rauchte hastig und nervös. Die Geschichte mit Geraldine neigte sich wohl ihrem Ende zu, er würde das nicht aufhalten können, wollte es wohl auch gar nicht. Er mochte sie, sie war ihm sehr vertraut. Zudem war sie selbstverständlich geworden in den letzten Jahren, zu selbstverständlich vielleicht, zu ergeben, zu sehr ein Schatten, der hinter ihm hereilte, wohin er auch ging. Konnte das Liebe töten? Oder war Liebe auf seiner Seite nie dagewesen? Im nachhinein waren solche Dinge fast nicht mehr zu analysieren.

Es war ihm nicht möglich, sie zu heiraten. Keinesfalls. Zugleich war ihr Wunsch nach Ehe, Kindern, Familie zu stark geworden, als daß sie noch lange so weitermachen würde wie bisher. Er hatte sie sehr verletzt am Morgen, das wußte er. Typisch für die Abhängigkeit von ihm, in der sie trotz allem noch lebte, war, daß sie Yorkshire nicht verlassen hatte, sondern lediglich innerhalb des Hotels in ein anderes Zimmer umgezogen war. Er war den halben Tag unterwegs gewesen, ziellos umhergestreift, grübelnd, sich und sein Leben überdenkend, und am späten Nachmittag war er schließlich deprimiert und ohne irgendein Ergebnis ins Hotel zurückgekehrt. Im Zimmer befanden sich weder sie noch ihre Sachen, was ihm, da sie die Unmengen an Klamotten, mit denen sie reiste, immer auf Sesseln, Fensterbänken und Tischen stapelte, sofort auffiel. Müde war er hinuntergegangen, hatte mindestens viermal auf die scheppernde Klingel an der Rezeption gedrückt und insgesamt zehn Minuten gewartet, ehe das picklige Mädchen aus der Bar auftauchte und ihn gelangweilt fragte, was er wolle.

«Miss Roselaugh ist wohl abgereist?«hatte er teils gefragt, teils festgestellt.

Sein Gegenüber hatte den Kopf geschüttelt.»Sie ist nur umgezogen. In Zimmer…«

Sie blätterte unendlich langsam in einem Buch.»In Zimmer acht! Das ist ein Stockwerk über Ihrem Zimmer, Sir.«

In ihre stumpfsinnig blickenden Augen trat ein Anflug von Interesse. Oder eher Neugier. Eine ihrer Kolleginnen, ein Zimmermädchen, hatte neulich schon festgestellt, ihr tue die schöne, schwarzhaarige Frau aus London sehr leid. Der Typ, mit dem sie angereist sei, kümmere sich ja überhaupt nicht um sie…

Jetzt war sie also aus dem gemeinsamen Zimmer ausgezogen. Sicher ein geschickter Schachzug, dachte das Mädchen.

Phillip hatte irgend etwas gemurmelt und war in die Bar gegangen, um ein Bier zu trinken. Er fühlte Erleichterung — und Mitleid. Erleichterung, weil Geraldine ihm mit ihrem Auszug in die obere Etage ein wenig Freiraum gegeben hatte. Und Mitleid, weil sie es einfach nicht schaffte, ihn zum Teufel zu jagen, nach London zu fahren und sich einen Mann zu suchen, der ihr gab, was sie brauchte, und der sie zu einer glücklichen Frau machte.

Er warf seine Zigarette ins Gras, trat sie aus. Er wollte jetzt

nicht an Geraldine denken. Es ging für ihn um die Frage, ob er den Kampf um Stanbury House führen wollte; es ging darum, herauszufinden, ob ein Sieg realistisch war und ob er ihm den Frieden bringen würde, den er sich erhoffte. Ein quälendes Problem, das in seinem Kopf herumtobte und sich nicht wirklich fassen ließ. Wann immer er rational und ruhig darüber nachdenken wollte, entstand ein Chaos von Gefühlen in seinem Kopf: Aggressionen, Ängste, alte Verletzungen. Die Sehnsucht nach seinem Vater, zugleich der Haß auf ihn, den er noch immer mit sich herumtrug. Wahrscheinlich war er neurotisch, was Kevin McGowan anging. Deshalb war er dem Problem ausgeliefert, anstatt es zu beherrschen. Das alles fing bereits jetzt an, ihn mehr Kraft zu kosten, als er geahnt hatte.

Das Haus konnte er vom Tor aus nicht sehen, nicht einmal einen Lichtschein. Falls um diese Zeit überhaupt noch Licht brannte. Der Mond war hell, der Himmel beinahe wolkenlos, so daß er die Zeit auf seiner Armbanduhr ablesen konnte. Fast Mitternacht. Wahrscheinlich schliefen sie dort alle schon längst.

Die Nacht war ungewöhnlich mild. Selbst in London, im Süden Englands, waren derartige Nächte Anfang April äußerst selten, genaugenommen konnte er sich nicht erinnern, so etwas schon einmal erlebt zu haben. Für den morgigen Tag hatten sie sehr warmes, fast sommerliches Wetter im Radio angekündigt.

Was werde ich morgen tun? fragte er sich. In der Gegend herumlaufen wie immer?

Er brauchte einen Anwalt, soviel stand fest. Wenn das alles auf eine Exhumierung hinauslief, die er vor Gericht gegen den sicherlich erbitterten Widerstand von Patricia Roth würde erstreiten müssen, brauchte er juristischen Beistand. Ein Anwalt könnte ihm auch sagen, welche Chancen überhaupt für ihn bestanden. Das Ärgerliche war nur, daß er allein für diese Auskunft eine Menge Geld würde hinlegen müssen. Anwälte, das wußte er, ließen es sich bezahlen, auch wenn sie einen nur anhusteten.

Schlecht für ihn, der er so pleite war, wie ein Mensch nur sein konnte. Und nach allem, was geschehen war, konnte er kaum Geraldine um Geld bitten. Sie hatte ohnehin schon mehr als genug für ihn bezahlt — ohne etwas dafür zu bekommen. Seine Liebe, beispielsweise. Sein Ja vor dem Standesamt. Er hatte sie in jeder Hinsicht enttäuscht.

Er schob den Gedanken an Geraldine ein zweites Mal brüsk beiseite. Er versuchte sich Kevin McGowan — seinen Vater — vorzustellen, wenn er, von London kommend, mit dem Auto durch dieses Tor fuhr. Er hatte nie ganz dort gewohnt, bis auf seine letzten anderthalb Lebensjahre. Zum Sterben gewissermaßen hatte er sich nach Stanbury House zurückgezogen. Er hatte Krebs gehabt, genau wie Phillips Mutter. Phillip hatte manchmal den Eindruck, daß die Leute heutzutage nur noch an Krebs starben, und dann und wann fragte er sich, was der Umstand, beide Eltern durch diese Krankheit verloren zu haben, wohl für ihn bedeutete. Ein genetisch vorprogrammiertes elendes Ende vermutlich.

Kevin McGowan hatte Stanbury House Ende der siebziger Jahre erworben, seine Londoner Wohnung jedoch behalten. An den Wochenenden war er nach Yorkshire gefahren, in den Ferien, über Weihnachten. In einem Zeitungsinterview hatte er einmal erklärt, das Haus mit seinem weitläufigen Park und der einsamen Landschaft ringsum sei ein Refugium der Ruhe für ihn.

«Dort fallen Streß und Hektik sofort von mir ab«, hatte er in dem Gespräch gesagt,»ich fahre durch das Tor zum Park und bin in derselben Sekunde ein anderer Mensch.«

Kevin McGowan hatte verfügt, auf dem Friedhof von Stanbury beerdigt zu werden. Phillip war zweimal an seinem Grab gewesen, aber der Stein dort hatte ihn seltsam unberührt gelassen. Er war schon etwas verwittert und bemoost und trug die Inschrift: Kevin McGowan, 10. August 1922 — 2. Dezember 1993.

Er war nicht sehr alt geworden. Einundsiebzig Jahre.

Der verdammte Krebs eben, dachte Phillip, er kann einen zu jeder Zeit erwischen.

Wenn er Stanbury House aufsuchte, fühlte er sich seinem Vater näher als auf dem Friedhof. Hier sah er Eigenschaften des Verstorbenen, die er zu seinem Erstaunen nach und nach auch in sich selbst lebendig werden fühlte: Naturverbundenheit. Stabilität. Ruhe. Selbstbesinnung. Von all dem war er früher meilenweit entfernt gewesen. Immer nur die großen Metropolen der Welt, immer neue, interessante, abgedrehte Menschen, Schauspieler, Fotografen, Models… die Junkieszene zusammen mit Sheila… Hätte ihm damals jemand erzählt, er werde sich eines Tages für einen alten Landsitz in einer der einsamsten Gegenden des Landes erwärmen, er hätte es für einen guten Witz gehalten und laut gelacht. Undenkbar, unvorstellbar. Es begann sich etwas zu wandeln in ihm. Ironischerweise ging diese Veränderung durchaus in die gleiche Richtung, die Geraldine auch anstrebte. Nur daß sie ihm mit Siebenmeilenstiefeln vorausrannte. Er war einfach nicht soweit wie sie. Er wußte nicht, ob er es je sein würde.

Ein Geräusch ließ ihn aufmerken. Es schien von jenseits des Tores zu kommen, und im ersten Moment dachte er, es sei ein Fuchs oder eine Katze, die er dort entlanghuschen gehört hatte. Aber dann begriff er, daß jemand den Weg entlanglief. Hastete, fast rannte.

Er wich in den dunklen Schatten der Büsche zurück, die hier wucherten. Es mußte inzwischen nach zwölf Uhr sein, und er fragte sich, wer um diese Zeit noch unterwegs sein mochte. Jessica vielleicht, mit ihrer Leidenschaft für frische Luft und lange Wanderungen? Ob sie inzwischen sogar schon nachts in der Gegend herumstapfte?

Das Tor öffnete sich quietschend. Jemand huschte hinaus.

Phillip hatte nicht vor, sich zu zeigen, aber die andere Person blieb plötzlich abwartend stehen. Vielleicht hatte sie eine Bewegung von ihm wahrgenommen, seinen Atem gehört oder das Knacken eines Zweiges. Sie schien angestrengt in die Dunkelheit zu starren.

«Keith?«flüsterte sie dann. Es war die Stimme einer Frau.

Es gab keinen Grund für ihn, sich zu verstecken, zumal die Frau jeden Moment näher treten und ihn entdecken konnte. Also schob er sich aus dem Schutz des Dickichts hervor. Im Mondlicht sah er ein junges Mädchen, das ihn entsetzt anstarrte. Das Mädchen trug Jeans und Pullover und hatte einen Rucksack seitlich über eine Schulter gehängt. Eine attraktive Person, groß und sehr schlank, mit langen, dunklen Haaren. Erinnerte ihn ein wenig an Geraldine.

«Hi«, sagte er.

Sie machte riesige Augen und schien wie paralysiert zu sein.

Er hob beide Hände in einer Geste der Friedfertigkeit.»Keine Angst! Ich bin kein Triebtäter! Ich heiße Phillip Bowen. Man hat Ihnen sicher von mir erzählt.«

Er wies in Richtung des Hauses.

Das Mädchen entspannte sich.»Ja. Ja, dann weiß ich, wer Sie sind. Ich dachte erst schon, mein Freund wartet vielleicht auf mich… Was tun Sie denn hier?«

«Ich denke nach«, sagte Phillip, und offenbar reichte ihr das als Erklärung, denn sie fragte nicht weiter, sondern machte ein paar unschlüssige Schritte von ihm weg.

«Na ja, dann…«meinte sie.

Sie erschien ihm ziemlich jung, um in tiefster Nacht allein herumzulaufen, auch irritierte ihn der prall gefüllte Rucksack. Es sah fast so aus, als ginge sie für länger fort, und die Tatsache, daß sie ihren Aufbruch auf diese Uhrzeit gelegt hatte, weckte den Verdacht in ihm, daß niemand davon wußte und wissen sollte.

«Und was machen Sie?«fragte er.

Ihr Gesicht wirkte plötzlich feindselig.»Das geht Sie doch wohl nichts an!«fauchte sie.

Sie hatte recht, und er kam sich wegen seiner Frage auf einmal alt und spießig vor.

«Viel Glück«, sagte er, aber sie antwortete ihm nicht, sondern ging weiter, mit großen, eiligen Schritten. Jemand, der Stanbury House unbedingt verlassen wollte. Während er unbedingt hineinwollte.

Er setzte sich auf einen Baumstumpf, riß Grashalme aus, verknotete sie und starrte das Tor an, als lägen dahinter alle Antworten auf seine ungelösten Fragen.

Vielleicht nur ein gigantischer Irrtum, dachte er.

«Ich habe gewußt, daß du kommen würdest«, sagte Keith.

Er hatte noch nicht geschlafen, hatte auf dem Sofa gesessen und auf das Knurren seines Magens gelauscht. Um ihn herum brannte ein Meer von Teelichtern. Früher hatte er manchmal darüber gelesen, daß Menschen vor Hunger nicht schlafen konnten, aber er hatte sich nie vorstellen können, wie sich das anfühlte. Jetzt wußte er es. Er hatte mörderischen Hunger. Er war ohne Frühstück aus dem Haus gegangen und hatte auch später nichts mehr zu sich genommen. Ein paarmal im Laufe des Tages war er drauf und dran gewesen, ins Dorf zu fahren und sich wenigstens ein Sandwich oder ein Doughnut zu kaufen, aber dann hatte er wieder an seine fünf Pfund gedacht und es sich versagt. Er brauchte jeden Penny, wenn er nach London wollte. Allein das Benzin… er wagte gar nicht, daran zu denken.

Er war tief erleichtert, als Ricarda endlich auftauchte.

Minutenlang standen sie eng umschlungen. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter, er spielte mit seinen Lippen in ihrem Haar. Er merkte, daß sie am ganzen Körper bebte.

Er schob sie ein Stück von sich weg.»Was ist los?«fragte er leise.

Sie erzählte ihm, wie der vergangene Tag verlaufen war, bis hin zu seinem traumatischen Höhepunkt am Abend, und dann erzählte er ihr von seinem Tag, von dem schlimmen Zusammenstoß mit seinem Vater und dem langen, einsamen, hungrigen Warten in der Scheune.

«Du hast nicht zufällig etwas zu essen?«fragte er.

Sie lächelte. Zum erstenmal, seitdem sie die Scheune betreten hatte, hellte sich ihr Gesicht auf.

«Ich habe ein wenig Proviant mitgenommen«, sagte sie, öffnete ihren Rucksack und kramte darin herum.»Ich habe mich einfach bei denen in der Küche bedient.«

Sie förderte ein paar Sandwiches mit Käse und Mayonnaise zutage, zwei Bananen, drei Äpfel, eine Tupperdose mit Kartoffelsalat und einem halben Bratwürstchen, dazu eine Flasche Mineralwasser. Keith konnte aber auch erkennen, daß sie einige Kleidungsstücke eingepackt hatte: Unterwäsche, einen warmen Pullover, ein T-Shirt.

«Du gehst nicht zurück, oder?«fragte er.

Sie schüttelte heftig den Kopf.»Niemals«, antwortete sie.

Gemeinsam machten sie sich über das Essen her. Sie saßen friedlich im Schein der Lichter, glücklich darüber, zusammenzusein, kauten und tranken schweigend. Keith aß den Löwenanteil, Ricarda sagte, sie habe wenig Hunger. Sie hatte sehr abgenommen, fiel ihm auf. Das kräftige, sportliche Mädchen wirkte fast ätherisch.

Als er fertig war, als kein Krümel mehr übrig war, lehnte sich Keith zurück.»Ich bleibe auch nicht«, erklärte er.

Sie sah ihn erschrocken an.»Du bleibst nicht? Was meinst du damit?«

«Bei meinen Eltern«, erklärte er,»bei ihnen bleibe ich nicht. Meine Mutter ist ja in Ordnung, aber von meinem Vater werde ich mich nie mehr beleidigen lassen.«

«Wir können doch hier leben«, sagte Ricarda und umschrieb mit einer Handbewegung die Scheune.»Wir richten es uns schön her und…«

«Süßes, wie stellst du dir das denn vor? Zum einen gehört uns dieser Hof hier ja nicht, und offiziell dürften wir hier gar nicht sein. Und dann — du bist fünfzehn! Dein Vater wird nach dir suchen, und…«

«Am vierten Juni werde ich sechzehn!«

«Aber du wirst jedenfalls erst in zwei Jahren volljährig. Das heißt — sechzehn ist natürlich schon besser als fünfzehn«, fügte Keith hinzu, denn er erinnerte sich, daß er dies bereits im Zusammenhang mit einem Leben in London gedacht hatte.»Aber trotzdem suchen sie nach dir, und hier finden sie dich sofort. Außerdem — wovon sollten wir leben?«

Sie sah ihn verzagt an.»Ja, aber dann…«

«Könntest du dir vorstellen…«, er machte ein kurze Pause,»könntest du dir vorstellen, mit mir nach London zu kommen?«

«Nach London?«

«Wir suchen uns jeder eine Arbeit. Irgendwelche Jobs. Gleichzeitig bemühe ich mich um eine Lehrstelle. In London finde ich bestimmt leichter eine als hier. Wir mieten eine Wohnung… für den Anfang kann es ja etwas ganz Kleines sein, und…«

Sie hatte leuchtende Augen bekommen.»Oh, Keith! Klar komme ich mit! Nach London! Wir beide zusammen! Wir fangen ein neues Leben an. Es wird so wunderbar werden!«

«Hast du Geld?«fragte er.

23

Jessica wachte auf und wußte nicht sofort, wo sie war. Es roch anders um sie herum als sonst, es war dunkler, kein Sonnenlicht fiel gegen die geschlossenen Vorhänge und ließ sie in warmem Rot aufleuchten, und überhaupt waren sie auch gar nicht rot, sondern beige, und das ganze Zimmer war völlig anders eingerichtet.

Sie begriff, daß sie sich nicht in ihrem und Alexanders Bett befand, und erinnerte sich daran, daß sie am Vorabend in die kleine Kammer umgezogen war, die unten im Haus neben der Küche lag.

Ein schmaler, länglich geschnittener Raum, der wohl ursprünglich als Vorratskammer gedient hatte, aber so viele Vorräte brauchten sie nie für die Zeit ihrer Urlaube, und die Küche mit ihren vielen Schränken hatte sich als völlig ausreichend erwiesen.

Irgendwann war Patricia auf die Idee gekommen, ein kleines Gästezimmer einzurichten,»falls wir einmal noch jemand anderen mitnehmen«, was aber nie passierte und was wohl auch niemand wirklich gewollt hätte.

Und nun ist es eben ein Ausweichzimmer, dachte Jessica, für zerstrittene Ehepaare.

Genaugenommen waren sie nicht einmal zerstritten. Eine Lüge stand zwischen ihnen, und die Ereignisse des gestrigen Abends hatten Jessica in eine Sprachlosigkeit getrieben, die sie nie zuvor an sich erlebt hatte.

Alexander hatte seine Tochter verraten.

Vermutlich hatte er Elena vor Jahren ebenso verraten.

Er würde auch sie, Jessica, verraten.

Er würde jede Person, ganz gleich, wie nah er ihr stand, über die Klinge springen lassen, wenn es um seine Freunde ging.

Die Frage war, wie man leben konnte mit einem solchen Menschen.

Sie war nach der Szene im Wohnzimmer am Abend zuvor ziellos im Park umhergelaufen, begleitet nur von Barney und auf nichts anderes erpicht als darauf, niemandem zu begegnen. Vor allem nicht Alexander. Ihm am wenigsten.

Sie hatte einen Strauß Narzissen gepflückt, dies jedoch erst wirklich registriert, als sie plötzlich mit den Blumen in der Hand dastand und sich fragte, weshalb sie das getan hatte. Weshalb sie Blumen pflückte in einer Situation wie dieser. Wahrscheinlich hatte sie eine Art von Trost daraus geschöpft.

Sie war hinaufgegangen in ihr Schlafzimmer, voller Angst, und doch entschlossen, mit Alexander zu sprechen, sollte er jetzt da sein. Um aber eine ungeheure Erleichterung zu empfinden, als sie feststellte, daß er nicht da war. Sie stellte die Blumen in eine Vase am Fenster, nahm ihr Nachthemd und ihre Zahnbürste und begab sich in das Gästezimmer, um dort die Nacht zu verbringen.

Es dauerte lange, bis sie einschlief, und dann war es ein unruhiger Schlaf, aus dem sie immer wieder verwirrt und ängstlich erwachte. Erst gegen Morgen fand sie für ein paar Stunden Ruhe, aber dennoch war sie müde und fühlte sich zerschlagen und angegriffen.

Alexander hatte sie nicht aufgesucht. Am Abend nicht, in der Nacht nicht. Plötzlich fanden sie den Weg zueinander nicht mehr.

Sie stand auf, tappte barfuß durch die Halle. In der Gästetoilette wusch sie sich notdürftig mit kaltem Wasser am Handwaschbecken, zog die Sachen an, die sie am Vortag schon getragen hatte. Sie waren zerknittert und verschwitzt und vermittelten ihr das Gefühl, ungepflegt und schmuddelig auszusehen. Im Spiegel sah sie, daß sie Ringe unter den Augen hatte. Immerhin war ihre Haut von den vielen Spaziergängen in der Sonne leicht gebräunt. Sonst hätte sie den Eindruck gehabt, eine Leiche starre ihr entgegen.

Sie beschloß, mit Barney eine Runde im Park zu drehen. Hunger hatte sie sowieso keinen. Ihr war leicht übel.

Der Tag würde sehr warm werden, das konnte sie bereits spüren.

Und auch, daß es kein guter Tag werden würde.

Leon saß in der Küche, vor sich eine große Kanne Kaffee und einen etwas trockenen Blaubeermuffin, den er im Kühlschrank gefunden hatte und der irgendwie Evelins Freßattacken entgangen sein mußte. Er zupfte daran herum und schob ihn sich krümelweise in den Mund. Dafür trank er eine Tasse Kaffee nach der anderen. Stark und schwarz, ohne Milch und Zucker. Er bekam Herzrasen, wenn er zuviel Kaffee trank, und sein Hausarzt hatte ihm vom übermäßigen Genuß abgeraten. Aber das war ihm jetzt egal. In seiner Situation war ihm ziemlich vieles egal.

In aller Herrgottsfrühe hatte er seine Mitarbeiterin Nadja angerufen, die junge Anwältin, die naiv und vertrauensvoll genug gewesen war, sich mit ihm zu assoziieren und selbständig zu machen. Er hatte ein paarmal mit ihr geschlafen, daher standen sie einander nah genug, um einen Anruf morgens um halb sieben in ihrer Wohnung zu riskieren.

Sie hatte das Telefon im Bad abgenommen, das konnte er an dem Nachhall ihrer Stimme erkennen.

«Wie geht's?«fragte er.

Sie stutzte, dann begriff sie offenbar, daß er mit seiner Frage nicht ihren persönlichen Zustand, sondern den des gemeinsamen Büros gemeint hatte.

Sie seufzte.»Leon, da ist nichts mehr zu wollen. Wir haben einfach keine Mandanten, und wenn mal einer kommt, dann geht es um einen Streitwert, der nicht erwähnenswert ist. Ich sitze herum und drehe Däumchen. Ich muß jetzt einfach sehen, daß ich meine Schäfchen ins trockene bringe.«

Davon redete sie seit Monaten, seit Ende letzten Jahres bereits. Vor einigen Wochen hatte sie von einem Angebot berichtet, das man ihr gemacht hatte, die Mitarbeit in einer renommierten Kanzlei.

«Natürlich weiß ich noch nicht, ob etwas daraus wird«, hatte sie hinzugefügt.

Nun sagte er:»Deine Schäfchen ins trockene bringen… Das bedeutet…?«

Sie seufzte erneut.»Sie nehmen mich dort, Leon. Und ich habe jetzt auch zugesagt. Am zweiten Juni fange ich an. Es tut mir leid, aber es ist eine große Chance, und…«

Sie ließ den angebrochenen Satz in der Luft schweben.

«Natürlich«, hatte er gesagt,»natürlich.«

Aber er fand es gar nicht natürlich, und so hatte er aggressiv hinzugefügt:»Und mit mir gemeinsam den Karren aus dem Dreck ziehen — das ist dir wohl nicht lukrativ genug?«

Sie hatte ein drittes Mal geseufzt. Sie fand die Situation höchst unangenehm, war aber wohl auch froh, sie endlich hinter sich zu bringen.

«Wir ziehen doch schon ewig an dem Karren, und es nützt nichts. Und ich verstehe nicht, weshalb du mir vorwirfst, ich sei bloß hinter irgendwelchen lukrativen Aufträgen her! Ich muß doch von etwas leben!«

«Genau wie ich. Und ich habe zudem auch noch eine Familie am Bein!«

«Du wirst es auch nicht durchhalten, Leon. Du schaffst es doch bis jetzt nur, weil du dich immer weiter verschuldest, wobei du offenbar keinen Gedanken daran verschwendest, wie und wovon du das alles eines Tages zurückzahlen sollst. Ich an deiner Stelle…«

Er hatte den Hörer aufgelegt. Er hatte einen Moment neben dem Telefon gewartet für den Fall, daß sie zurückrufen würde, aber der Apparat blieb stumm. Sie war erleichtert, daß sie sich verabschiedet hatte, sie würde sich nicht freiwillig seinen Vorwürfen oder seinem Gejammere aussetzen. Sie schaute jetzt nach vorn und ging ihren Weg. Er war sich auf einmal wie ein mutloser, alter Mann vorgekommen.

Jetzt, in der Küche, während er den Kaffee in sich hineinpumpte, überlegte er, was er als nächstes tun wollte. Aufgeben kam natürlich nicht in Frage.

Wieso eigentlich nicht?

Weil man neben einer Frau wie Patricia nicht aufgeben kann, dachte er, dann wäre man ja noch kleiner und mickriger und armseliger.

Aber vielleicht versuchte er jetzt nur, Patricia die Schuld zu geben. Das war nicht fair. Und doch hatte seine Unfähigkeit, die Niederlage einzugestehen, die Selbständigkeit aufzugeben und dahin zurückzukehren, von wo er einmal aufgebrochen war, auch mit ihr zu tun.

Das Wichtigste am heutigen Tag wäre ein Gespräch mit seiner Bank. Step by step, dachte er. Ich muß einen Schritt nach dem anderen tun, ruhig und ohne Panik. Wenn ich zu weit vorausdenke, bekomme ich wieder Herzschmerzen, und mir bricht der Schweiß aus, und ich kann nicht ruhig denken.

Also die Bank. Vielleicht stundeten sie ihm noch einmal die Zinszahlungen. Er war mit dem Bankdirektor recht gut befreundet gewesen, früher hatten sie manchmal sogar Tennis zusammen gespielt. Seitdem er die hohen Kredite laufen hatte und ständig mit den Zinsen in Verzug kam, war das Verhältnis merklich abgekühlt. Dennoch… im Namen der alten Freundschaft…

Da war schon wieder ein Stechen in seiner Brust.

Ruhig, befahl er sich, ganz ruhig!

Er würde keinesfalls von dem Telefon in der Halle aus sprechen, denn er mochte nicht von irgend jemandem belauscht werden, und man konnte nie wissen, wer gerade hinter welcher Tür stand. Aber auf dem ganzen Gelände würde er sich unsicher fühlen, also brachte es auch nichts, mit dem Handy in den Park zu gehen. Am besten, er nahm das Auto und fuhr ein Stück weg, irgendwohin in die Einsamkeit. Dort ließe sich die Angelegenheit dann sicher erledigen. Er mußte nur an die richtigen Ordner denken, worin er die Zahlen notiert hatte, und…

Er schrak zusammen, als sich die Tür öffnete. Er war so in Gedanken gewesen, daß er niemanden hatte kommen hören.

Es war Evelin. Sie hinkte stark. Sie sah ziemlich schlecht aus, fiel ihm auf.

Sie zuckte ebenfalls, als sie ihn sah.

«Oh… du bist schon wach? Ich dachte, alle schlafen noch.«

«Neuerdings mutiere ich zum Frühaufsteher«, sagte Leon und grinste, ohne zu wissen, was es dabei zu grinsen gab und weshalb er sich dieses unechte Verziehen seines Gesichts abverlangte.»Und du offenbar auch.«

«Ja, ich…«, sie machte eine hilflose Handbewegung,»ich konnte eigentlich gar nicht schlafen heute nacht.«

«Deswegen?«

Er wies auf ihren lädierten Fuß.»Tut der auch weh, wenn du stillhältst?«

«Er tut ständig weh.«

«Du solltest zu einem Arzt gehen. Da kann etwas gezerrt oder gerissen sein, und mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen.«

«Ach, ich weiß nicht.«

Sie warf ihm einen eigentümlichen Blick zu und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. Sie hat wirklich immer mehr von einem Mehlsack, dachte Leon.

«Weißt du, die Ärzte fangen immer davon an, daß ich zu dick bin und daß ich das ändern muß. Ich gehe hin wegen einem verknacksten Fuß oder einem verstauchten Handgelenk, und ich komme heraus voller Angst wegen Bluthochdruck und Osteoporose und Herzproblemen, und am Ende habe ich noch ein Rezept für Gymnastik und einen Ernährungsplan in der Hand.«

Sie verzog gequält das Gesicht.»Ich habe das so satt, verstehst du? Ich habe alles so satt.«

Er verstand sie, wußte aber auch, daß kein vernünftiger Arzt ihr Übergewicht einfach ignorieren konnte.

«Du solltest trotzdem zum Arzt«, meinte er unbehaglich.

«Kann ich Kaffee haben?«fragte sie.

Er nickte. Sie wuchtete sich wieder hoch, hinkte zum Schrank, nahm eine Tasse heraus, watschelte zum Tisch zurück, schenkte sich ein. Die Zuckerdose stand griffbereit. Er beobachtete fasziniert, wieviel Zucker sie sich in ihren Kaffee schaufelte. Dann bemerkte er ihren begehrlichen Blick und schob ihr den bröseligen Muffin zu.

«Möchtest du? Wenn es dich nicht stört, daß ich daran herumgepuhlt habe…«

Sie nickte. Natürlich mochte sie. Sie verschlang das trockene Gebäck, als habe sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Dann trank sie in großen, durstigen Zügen ihren Kaffee.

«Wußtest du…«, fragte sie dann zögernd, hielt inne und schien ihre ganze Willenskraft zu brauchen, den Satz zu beenden,»wußtest du, daß Jessica… ein Baby bekommt?«

«Nein.«

Es war ihm so gleichgültig, ob Jessica ein Baby bekam oder nicht, daß er die Neuigkeit bereits wieder vergessen hatte.»Nein, davon hatte ich keine Ahnung.«

«Ich auch nicht. Sie hat es ja geschickt geheimgehalten. Um dann unerwartet die Katze aus dem Sack zu lassen und den großen Überraschungscoup zu landen.«

Er meinte, Verärgerung aus ihrer Stimme zu hören, und wunderte sich. Gerade Evelin schien Jessica immer besonders zugetan gewesen zu sein.

«Ganz so war es nicht«, meinte er, sich widerwillig an den Ablauf des Vorabends erinnernd. Diese Dinge berührten ihn alle nicht, besonders nicht in seiner Situation.»Jessica hat gar nichts darüber gesagt, oder? Es war Alexander, der plötzlich damit herausrückte, und ich hatte den Eindruck, das war Jessica gar nicht recht.«

Sie zuckte mit den Schultern.»Auf jeden Fall war es unverantwortlich. Unverantwortlich! So macht man das nicht! Allein schon wegen Ricarda! Das war doch ein Schock für das Mädchen!«

«Mag sein.«

Sie nervte ihn. Er schaute auf seine Uhr.»Hm, ich fürchte, ich muß dich allein lassen. Ich habe nachher ein wichtiges Telefonat mit meinem… Büro und muß noch ein paar Unterlagen durchgehen.«

Sie nickte, teilnahmslos plötzlich und in eigene Gedanken versunken. Gerade noch hatte sie sich aufgeregt, hatte ihre Stimme gehoben, nun war sie wieder in sich zusammengesunken.

Tim, der große Psychologe, dachte Leon, sollte sich mal um seine Frau kümmern, anstatt ständig nur an seiner Doktorarbeit herumzubasteln.

Er stand auf.»Glaubst du nicht«, fragte er noch, während er sich schon der Tür näherte,»daß es dir zu warm wird in dem Ding?«

Er meinte ihren überdimensionalen Rollkragenpullover, den sie häufig trug und den er schrecklich fand. Er erinnerte sich, daß Patricia einmal gemeint hatte, Evelin glaube wohl, in diesem sackähnlichen Gewand am besten ihre vielen überflüssigen Pfunde zu kaschieren.»Es soll heute noch mal richtig anziehen mit den Temperaturen!«

Sie antwortete nicht. Sie starrte in ihre Kaffeetasse, als gebe es dort etwas Interessantes zu entdecken.

Leise verließ er die Küche.

Tim stand in der geöffneten Gartentür, als Jessica über die Terrasse zum Haus zurückkehrte. Er trug Shorts und präsentierte seiner Umwelt kräftige, stark behaarte Beine. Ausnahmsweise steckten seine Füße einmal nicht in den obligatorischen offenen Sandalen, sondern er war barfuß. Offenbar hatte er beschlossen, nun endgültig den Sommer einzuläuten.

«Schon wieder am Laufen?«fragte er leutselig.

Jessica hatte gerade festgestellt, daß sie zwei Stunden unterwegs gewesen war. Sie war völlig verschwitzt und hatte das Gefühl, ziemlich unattraktiv auszusehen.

«Ja«, sagte sie knapp.

Er schüttelte den Kopf. Sein zotteliger Bart wogte.»Wovor läufst du nur davon? Wenn ich doch einmal dahinterkäme…«

Sie deutete auf Barney.»Ein junger Hund braucht soviel Bewegung wie möglich.«

Weshalb rechtfertige ich mich eigentlich? Wieso höre ich seinem dummen Geschwätz überhaupt zu?

«Der Hund«, meinte er nachdenklich,»ja ja, der Hund…«

Wortlos wollte sie an ihm vorbei ins Haus.

«Weißt du, warum heute niemand frühstückt?«fragte er.

«Niemand hat einen Tisch gedeckt oder sonst etwas vorbereitet.«

«Du könntest das ja tun«, schlug sie vor.»Deck den Tisch, koche Kaffee, brate ein paar Eier, toaste das Brot… niemand hindert dich daran.«

«Aggressiv«, stellte er fest,»da brodelt es ganz schön in dir!«

Er lächelte.»Würdest du mit mir frühstücken, wenn ich die Vorarbeit leiste?«

«Nein.«

Einen Moment lang musterten sie einander. Eine fast greifbare Woge der Feindseligkeit schwappte von einem zum anderen, von ihr zu ihm ebenso wie umgekehrt.

Er hat mich auch von Anfang an gehaßt, dachte Jessica erstaunt, nicht nur ich ihn. Wir konnten einander beide nicht ausstehen.

«Hast du einen Stapel Computerausdrucke gesehen?«fragte Tim unvermittelt.»Ich suche schon den ganzen Morgen danach. Es handelt sich um wichtige Unterlagen für meine Promotion.«

«Nein«, antwortete Jessica wiederum und fügte hinzu:»Ich meine, ich habe diese Papiere nicht gesehen. Aber du mußt die Texte ja dann auch noch im Computer haben, also ist wohl nichts verloren.«

Sie ließ ihn stehen und verschwand im Haus. Sie mußte unbedingt duschen. Auch auf die Gefahr hin, daß sie dabei Alexander begegnen würde.

Das Zimmer war leer, zum Glück, so mußte sie Alexander nicht in ihrem abgerissenen, unattraktiven Zustand gegenübertreten. Sie duschte eine halbe Ewigkeit, verschwendete ungeheuer viel Schaum und heißes Wasser, merkte dabei aber auch, daß ihre Lebensgeister zurückkehrten.

Sie fönte ihre Haare und zog einen leichten Baumwollpullover an. Sie sah besser und adretter aus, als sie sich tatsächlich fühlte. Sie betrachtete die Sachen ihres Mannes im Bad, seinen Rasierschaum, den Pinsel in dem kleinen Porzellanschälchen, seine Nagelfeile, seinen Kamm, seine Zahnbürste. Vertraute Gegenstände, die zärtliche Gefühle in ihr auslösten. Sie fragte sich, wie es weitergehen würde. Ob ihre Ehe in einem Jahr wohl noch bestand?

Sie zog ihre Turnschuhe wieder an, obwohl ihre Füße noch vom Vortag und von der Runde im Garten am frühen Morgen schmerzten. Sie würde eine längere Wanderung unternehmen in der Hoffnung, etwas Klarheit in ihren Kopf zu bekommen. Ob es noch normal war, daß sie so viel lief? Immer allein, immer ängstlich, einer der Freunde könnte sie plötzlich begleiten wollen. Ängstlich auch bei der Vorstellung, Alexander könnte sich ihr anschließen.

Es kostete nicht allzuviel Überlegung festzustellen, daß ihr Laufen tatsächlich etwas mit Weglaufen zu tun hatte.

Vielleicht würde alles besser, wenn das Kind da war.

Kaum hatte sie dies gedacht, fragte sie sich voller Resignation: Was sollte das Kind eigentlich ändern? Wahrscheinlich gar nichts.

Phillip befand sich in einem eigenartigen Zustand: Er war müde und zugleich hellwach. Tief erschöpft und doch von einem elektrisierenden Kribbeln im Körper erfüllt. Die Nacht, die er vor der Pforte zu Stanbury House verbracht hatte, steckte ihm in allen Knochen, ließ ihn sehnsüchtig an viele Stunden erholsamen Schlafs denken. Zugleich wußte er, daß er es nicht würde aushalten können im Bett. Er mußte etwas unternehmen. Irgend etwas mußte endlich geschehen.

Er war erst um halb fünf am Morgen in sein Zimmer zurückgekehrt. Vor dem The Fox and The Lamb hatte er Geraldines Auto parken sehen. Sie war also noch immer da. Wahrscheinlich würde sie nie aus seinem Leben verschwinden, eine Vorstellung, die überraschenderweise auch eine tröstliche Seite hatte.

Oben hatte er sich auf sein Bett gelegt, nachdem er nur die Schuhe ausgezogen hatte. Er hatte an die Decke gestarrt, hatte auf Geräusche im Haus gelauscht. Irgendwo knarrten manchmal ein paar Dielenbretter, und einmal fiel ein Gegenstand laut scheppernd um — eine Milchkanne vielleicht, dachte er, die eine Katze umgestoßen hat. Ansonsten war es sehr still. Alles schlief. Er dachte an das junge Mädchen mit dem Rucksack. Wohin war sie gegangen? Ob sie versuchen würde, per Anhalter irgendwohin zu gelangen, an ein Ziel, das ihr schöner und verlockender erschien als das Leben mit ihrer Familie? Hätte er sie aufhalten müssen? Aber sie hatte von ihrem Freund gesprochen, also war sie vielleicht gar nicht allein unterwegs. Außerdem ging sie ihn nichts an. All die Menschen dort gingen ihn nur insoweit etwas an, als sie ihm bei der Verwirklichung seiner Pläne entweder halfen oder sich ihr in den Weg stellten. Der Rest konnte ihm gleichgültig sein.

Um sieben Uhr stand er auf, als ihm klarwurde, daß er trotz seiner brennenden Augen und der Mattigkeit in allen Gliedern nicht würde einschlafen können. Er ging im Zimmer auf und ab, dachte nach, analysierte sich und seine Situation, setzte sich in einen Sessel und versuchte sich auf ein Buch zu konzentrieren, aber auch das gelang ihm nicht. Er hörte sich die Nachrichten im Radio an und anschließend eine Sendung, in der Filme vorgestellt und besprochen wurden. Er hatte das Verlangen nach einem doppelten Whisky, aber es war zu früh am Morgen, um dem nachzugeben. Um neun Uhr beschloß er zu frühstücken. Er hatte am Vorabend nichts gegessen und merkte plötzlich, wie hungrig er war. Auf dem Weg zum Gastraum roch es bereits nach Eiern mit Speck, nach Toastbrot, gegrillten Champignons und Tomaten, aber als er eintreten wollte, entdeckte er Geraldine, die an einem der Tische saß, vor sich das obligatorische trostlose Glas mit Mineralwasser und sonst nichts. Sie saß seitlich zu ihm. Er konnte erkennen, daß sie schlecht aussah, fast so, als sei sie ernsthaft krank. Sie hatte verquollene Augen — vom Weinen, vermutete er — und war sehr blaß. Ihre Haare, die sie sonst so sorgfältig pflegte, wirkten strähnig.

Sie ist richtig fertig, dachte er und trat vorsichtig den Rückzug an. Sie hatte ihn noch nicht gesehen, und er war absolut nicht in der Stimmung, jetzt eine Debatte mit ihr zu ertragen. Er überlegte, was er nun tun sollte. Er könnte natürlich anderswo frühstücken. Dann würde er einen Freund in London anrufen — einen Freund mit guten Kontakten. Vielleicht konnte der ihm einen Anwalt in Leeds empfehlen, und dann würde er versuchen, möglichst schnell einen Termin zu bekommen. Um wenigstens endlich mit einer kompetenten Person sprechen zu können. Wie und wovon er das Gespräch bezahlen sollte, mußte er sich dann später überlegen.

In seinem Zimmer hatte er noch den Zweitschlüssel für Geraldines Auto, und er beschloß, sich den Wagen einfach auszuleihen. Er war damit wesentlich beweglicher, und zudem würde er Geraldine richtig glücklich machen: Ganz sicher schlug sie sich mit dem Gedanken herum, eigentlich abreisen zu müssen, wenn sie ihre Selbstachtung behalten wollte, aber wenn er das Auto entführte, hatte sie einen guten Grund, länger zu bleiben.

Das mindeste, was er für sie tun konnte, bestand darin, ihr eine Ausrede für ihre Unentschlossenheit zu liefern.

«Ich dachte, ich frage einfach mal, ob es etwas zu tun gibt für mich«, sagte Steve. Unsicher trat er von einem Fuß auf den anderen.»Rasen mähen oder so…«

«Wenn wir hier sind, kümmern wir uns eigentlich selbst um alles«, erwiderte Patricia. Sie stand in der Halle, streifte gerade ihre Gartenhandschuhe über. Sie trug Jeans und ein blauweiß kariertes Hemd.»Ich will heute sowieso ein paar Blumen pflanzen.«

Steve nickte. Er sah eher aus wie ein Ire als wie ein Engländer mit seinen roten Haaren und seinem sommersprossigen Gesicht. Er war zweiundzwanzig Jahre alt, wirkte jedoch jünger.

Wie ein Schuljunge, dachte Patricia. Wahrscheinlich brauchte er dringend Geld.

Sie überlegte es sich anders.

«Sie könnten hinter dem Haus den Rasen mähen«, meinte sie,»er hat es dringend nötig, und wer weiß, ob noch jemand von uns heute dazu kommt.«

Steve lächelte erleichtert.»Alles klar. Ich fange gleich an.«

Jessica kam aus dem Eßzimmer. Sie hatte noch ein wenig in Kevin McGowans Unterlagen gestöbert, jedoch nichts von größerem Interesse gefunden.

«Ich gehe spazieren«, verkündete sie.

«Was auch sonst«, sagte Patricia spitz.

Alexander kam die Treppe herunter. Wie immer in der letzten Zeit sah er grau und sorgenvoll aus.»Ich kann Ricarda nirgends finden«, sagte er.

Jessica sah ihn an. Trotz allem taten ihr sein offensichtlicher Kummer, seine Verstörtheit weh.

«Wundert dich das?«fragte sie.

«Ich sage dazu nichts mehr«, erklärte Patricia.

«Jessica…«, sagte Alexander bittend.

Sie konnte jetzt nicht mit ihm sprechen. Es war zuviel geschehen.

«Ich mache einen längeren Spaziergang«, sagte sie,»wartet nicht mit dem Mittagessen auf mich. Ich weiß nicht, wie lange ich wegbleibe.«

«Kann ich mitkommen?«fragte Alexander.

«Ich würde lieber allein sein«, antwortete Jessica steif.

Er nickte langsam.

«Ich sage dazu nichts mehr«, hielt Patricia noch einmal fest.

«Danke«, sagte Jessica,»das ist außerordentlich nett von dir.«

Patricia verließ wortlos die Halle. Steve war bereits verschwunden, um sich den Rasenmäher aus dem Geräteschuppen zu holen.

«Glaubst du, daß sie in Gefahr ist?«fragte Alexander. Er meinte Ricarda.

«Ich glaube nicht, nein«, sagte Jessica,»aber sie braucht Ruhe und Abstand. Es war zu grausam, was gestern abend passiert ist. Patricias Verhalten war unmöglich, aber das sind wir alle, auch Ricarda, gewöhnt von ihr. Das Schlimme war, daß du dich nicht vor deine Tochter gestellt hast, Alexander. Sie hätte deine Unterstützung und Hilfe gebraucht, und du bist ihr in den Rücken gefallen. Du solltest sie jetzt erst einmal in Ruhe lassen.«

«Fandest du es nicht erschreckend, was sie da schrieb in ihrem Tagebuch? Daß sie uns alle haßt und uns den Tod wünscht, und…«

«Man muß schon Patricia heißen, um das derart zu dramatisieren«, meinte Jessica.»In Ricardas Alter hassen sie leidenschaftlich, lieben inbrünstig, verzweifeln zutiefst und erleben ungeheure Euphorien. In rasendem Tempo nacheinander oder sogar gleichzeitig. Das ist normal. Sie kommen mit sich und dem Leben noch nicht zurecht. Aber irgendwann landen sie dann doch in den Bahnen, die zu ihnen passen.«

«Oder in der Drogenszene.«

«Ricarda nicht. Sie ist nicht der Typ.«

«Glaubst du, es gibt da einen bestimmten Typ?«

Sie antwortete nicht darauf. Sie hatte bereits zuviel gesagt, führte ein Gespräch, das sie nicht hatte führen wollen.

«Ich muß jetzt gehen«, sagte sie. Gefolgt von Barney, verließ sie das Haus. Sie schaute sich nicht nach Alexander um, aber sie fragte sich, ob er wohl nun zum Telefon gehen und Elena anrufen würde.

«Wir sind fast auf der Höhe von Nottingham«, sagte Keith,»aber eigentlich wollte ich um diese Zeit schon viel weiter sein.«

Er war ärgerlich. Sie hatten länger geschlafen als beabsichtigt. Beide waren völlig übermüdet gewesen, hatten sich auf dem Sofa eng aneinandergekuschelt und waren sofort eingeschlafen. Es war spät, als sie erwachten, und Keith hatte zum Aufbruch gedrängt.

«Wir müssen los, schnell, beeil dich! Wir wollen doch möglichst früh in London ankommen!«

Sie hatten sich angezogen und ihr leichtes Gepäck im Auto verstaut. Keith wollte im nächsten Dorf tanken. Ricarda hatte all ihr Geld mitgebracht: ein bißchen Erspartes und das, was ihr Elena bereits im voraus zu Ostern geschenkt hatte. Insgesamt verfügten sie nun über etwa zweihundert Pfund. Das gab ihnen nicht viel Spielraum, aber sie konnten damit bis London kommen und dort für ein paar Tage in einer billigen Absteige leben, bis sie beide Arbeit und eine Wohnung gefunden hatten. Im Tageslicht sah alles natürlich ein wenig anders aus als in der Euphorie der nächtlichen Stunden, und insgeheim fragten sich beide, wie sie dieses Abenteuer wohl durchhalten und bestehen sollten. Keiner mochte jedoch seine Angst dem anderen gegenüber preisgeben.

«Wir werden zunächst ziemlich asozial wohnen«, sagte Keith. Er hatte das schon ein paarmal am Morgen gesagt, und Ricarda überlegte, ob er vielleicht weniger sie darauf vorbereiten als vielmehr sich selbst Mut zusprechen wollte.»Es darf uns nur darum gehen, so billig wie möglich davonzukommen, das muß dir klar sein.«

«Klar.«

«Wenn wir jeder einen Job haben, wird es besser. Ich meine, du wirst mehr verdienen als ich, denn du kannst den ganzen Tag arbeiten. Ich muß ja meine Lehre machen. Wenn ich eine Lehrstelle finde.«

«Du hast doch gesagt, in London wimmelt es nur so von Lehrstellen«, sagte Ricarda ein wenig verzagt.

Keith lächelte optimistisch.»Schon. Tut es auch. Trotzdem weiß man nie, wie schnell so etwas geht. Es wird eine Durststrecke geben. Aber wir packen das schon!«

Ricarda sah zum Fenster hinaus. Es war nicht allzuviel Verkehr auf der Autobahn, die in den Süden des Landes führte, sie kamen gut voran. Die Landschaft glitt rasend schnell vorüber: Felder, Wälder und Dörfer, kleine Städte, immer wieder Industrieanlagen. Überall begannen die Bäume zu blühen; Wärme und Sonne der letzten Tage hatten die Vegetation kräftig vorangetrieben. Am lichtblauen Himmel segelten ein paar Wölkchen. Ricarda wußte, daß es nach Sommer zu riechen begann.

Trotzdem hatte sie Angst.

Sie wollte nicht mehr zurück, darin war sie sicher. Aber es kam ihr wie ein großer, vielleicht zu großer Schritt vor, alles hinter sich abzubrechen und sich in ein Ungewisses Leben mit Keith zu stürzen. Sie ließ ihre Familie zurück, die Schule, ihre Freunde in Deutschland. Die Basketball-Mannschaft. Alles, was zu ihrem Leben, zu ihrem Alltag gehört hatte. Wenigstens Elena würde sie anrufen müssen, sonst würde diese verrückt vor Sorge, und sie hatte ihr schließlich nichts getan. Papa würde sie natürlich nicht anrufen!

Papa…

Ihr krampfte sich das Herz zusammen, wenn sie an ihn dachte. Zweimal gestern abend hatte er ihr ein Messer ins Herz gestoßen: als er tatenlos danebenstand, während Patricia aus dem Tagebuch vorlas. Und als er stolz verkündete, daß J. ein Baby bekommen würde. Zweimal verraten. Zweimal auf eine nicht wiedergutzumachende Weise.

Ihr fiel etwas ein, das Elena ihr vor nicht allzu langer Zeit gesagt hatte. Sie hatte wieder einmal unter Tränen wissen wollen, wieso sich ihre Eltern hatten scheiden lassen, und Elena hatte zögernd erklärt:»Weißt du, er stand nie wirklich zu mir. Nicht wenn es gegen die anderen gegangen wäre. Patricia, Leon und die restliche Meute. Ihnen gegenüber ließ er mich fallen wie eine heiße Kartoffel, wenn ich mit ihnen auf Konfrontation ging. Er hat mir damit sehr, sehr weh getan. Und es ist mehr als einmal passiert — wesentlich mehr!«

Sie hatte noch lauter geweint. Sie wollte zwar immer wieder und wieder wissen, warum es schiefgegangen war zwischen Alexander und Elena, aber sie wollte als Antwort nie ein böses Wort über Alexander hören. Sie hoffte immer, es sei irgendeine fremde, bedrohliche Macht, die zwischen ihren Eltern Intrigen gestiftet hätte. Eine Macht, die man entlarven und deren Ränkespiele man nachträglich würde bagatellisieren können. Dann könnten die beiden wieder zusammenkommen, und alles wäre wie früher.

Seit dem gestrigen Abend hatte sie zum erstenmal eine klare Vorstellung von dem, was Elena gemeint hatte. Zum erstenmal dachte sie, daß ihr Vater schwach war, ein willfähriges Werkzeug in den Händen seiner Freunde. Etwas sagte ihr, daß Elena, die unabhängige, stolze, aufrechte Elena, niemals zu einem solchen Mann zurückkehren würde.

Und außerdem, dachte sie voller Trauer, kommt ja nun auch ein neues Baby.

«He, Kleines!«

Keith stupste sie von der Seite an.»Du siehst ja total betrübt aus! Was ist los?«

«Nichts!«

Sie riß sich aus ihren Gedanken, versuchte zu lächeln.»Ich glaube, ich habe nur Hunger. Und Durst. Können wir nicht irgendwo anhalten und etwas frühstücken?«

Er nickte.»Da kommt bald eine Raststätte. He!«

Er lachte.»Von nun an frühstücken wir jeden Morgen zusammen! Jeden einzelnen Morgen unseres Lebens!«

24

Leon hatte sein Handy auf dem Schoß liegen. Er saß sehr aufrecht, starrte durch die Windschutzscheibe hinaus in den sonnigen Tag. Vor ihm breitete sich ein zauberhaftes, an drei Seiten von Wald umsäumtes Tal aus, in dem eine Schafherde graste, aber er nahm Schönheit und Frieden der Landschaft nicht wahr. Alles um ihn herum schien ihm dunkel und hoffnungslos.

Er hatte sich so weit von Stanbury House entfernt, wie er nur konnte. Unsinnig weit, denn schon bald nachdem er das Gelände dort verlassen hatte, hätte niemand mehr ihm folgen und das Gespräch mit dem Bankdirektor anhören können. Aber er hatte es nicht fertiggebracht, anzuhalten. Es war wie eine Flucht gewesen; ob vor den anderen, vor sich selbst oder dem Leben überhaupt, das wußte er nicht. Irgendwann war er auf einen Schotterweg abgebogen und zwischen hochgewachsenen Bäumen entlanggeholpert, bis plötzlich der Weg endete und sich in dieses liebliche Tal öffnete, ein Ort, der das Ende der Welt hätte sein können, so fern und unberührt erschien er. Leon hatte endlich angehalten, den Kopf für einen Moment in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Er hatte wieder leichte Schmerzen in der Herzgegend. Es gab Minuten, in denen er wünschte, durch einen Infarkt von allen Problemen erlöst zu sein.

Dann hatte er die Nummer seines Bankdirektors und Tennisfreundes in das Handy getippt und alle Kraft zusammengenommen. Er hatte versucht, optimistisch und fröhlich zu klingen, so als habe er im Grunde keine wirklichen Schwierigkeiten. Wenn der Bankdirektor das Gefühl hatte, er sehe die Dinge positiv, würde ihn dies vielleicht überzeugen, und er würde den Kreditrahmen noch ein wenig erweitern…

Fehlanzeige, natürlich. Der Ton des anderen war kühl gewesen, professionell, distanziert. So sehr sich Leon bemüht hatte, das Thema alte Zeiten anzuschneiden, das gemeinsame Tennisspiel, gemütliche Abende im Club, so wenig Bereitschaft hatte sein einstiger Partner gezeigt, darauf einzugehen. Es war, als hätte es Zeiten der Freundschaft nie gegeben. Die Möglichkeit der Bank, ihm Kredit einzuräumen, war erschöpft, weit überstrapaziert. Es ging nicht mehr, beim besten Willen nicht. Mit Tilgung und Zinsen war er weit im Rückstand, wie er ja wohl wisse. Die Bank sehe sich notfalls gezwungen, eine Zahlungsvollstreckung gegen ihn zu erwirken. Er kenne die Regeln. Er habe sie möglicherweise zu weit überzogen. Nein, anderes könne er ihm nicht sagen.

Leon hatte seinen fröhlichen Ton verloren, er hatte schließlich nur noch gebettelt. Man könne doch einen Mann nicht einfach in den Ruin treiben. Er habe schließlich Familie! Es müsse doch Wege und Möglichkeiten geben…

«Ihr großer Fehler war, damals zu teuer zu bauen«, sagte der Bankdirektor.»Man kann nicht in die Selbständigkeit wechseln, was immer Anlaufschwierigkeiten und finanzielle Engpässe mit sich bringt, und sich fast gleichzeitig in der feinsten Münchner Gegend einen solchen Palast hinstellen. Ihnen hätte doch klar sein müssen, daß das nicht funktioniert!«

«Ich habe das Haus fast ausschließlich mit Krediten Ihrer Bank finanziert!«sagte Leon voller Bitterkeit. Er und der Typ am anderen Ende der Leitung hatten einander in besseren Zeiten geduzt, aber auch das Du schien seine Gültigkeit verloren zu haben.»Damals haben Sie nicht davon gesprochen, daß es gefährlich ist, was ich tue. Im Gegenteil, Sie haben mich ermutigt und mir…«

«Sie sollten nicht versuchen, Ihre Fehlleistungen anderen in die Schuhe zu schieben. Es ist nicht meine Aufgabe, meinen Kunden deren Pläne und Vorhaben auszureden. Ich unterstütze sie, wo ich kann. Aber auch mir sind irgendwann Grenzen gesetzt.«

«Sie sind zweimal Gast bei uns gewesen! Sie haben…«

«Bleiben Sie bitte sachlich. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. So leid es mir tut, ich kann Ihnen nicht mehr helfen. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich habe noch ein paar andere Dinge zu erledigen.«

Damit hatte er aufgelegt.

Leon hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn noch einmal anzurufen, hatte ihn aber verworfen. Er würde für einige Zeit nicht mehr zu ihm vordringen. Die Vorzimmerdame hatte mit Sicherheit strikte Anweisungen.

Nun saß er da und starrte in das liebliche Tal, und nur ganz allmählich gelang es ihm, überhaupt wieder etwas von dem, was um ihn war, wahrzunehmen. Er sah die Sonne, die grasenden Schafe, die umhertollenden Lämmer. Die Wiesen, die von leuchtendem, frischem Grün waren, die Bäume, die mit Macht austrieben. Die Narzissen am Rand des Wegs und eine Vielzahl kleiner weißer Blumen, die mitten in der Wiese wuchsen. Er kannte ihren Namen nicht, aber sie sahen aus wie kleine Sterne, die jemand verschwenderisch ausgeschüttet hatte.

Wie friedlich es hier ist, dachte er.

Es war so eng in seiner Brust, eine dumpfe, beklemmende Enge. Als werde das Herz zusammengepreßt und könne nicht frei schlagen. Wenigstens spürte er keinen Schmerz im Augenblick. Dieses Stechen, das ihm stets so nachdrücklich klarmachte, daß er zu lange schon über seine Kräfte lebte. Wie mochte es sein, an einem Herzinfarkt zu sterben? Wie lange dauerte der Todeskampf? Wie schmerzhaft war er am Ende?

Er stieß die Autotür auf. Warme, weiche Luft strömte herein. Es roch nach Blüten und nach feuchter Erde. Er hörte ein Schaf blöken, ein Bächlein plätschern.

In einer Wiese liegen. In den blauen Himmel blicken. Den Geruch der Natur atmen, ihren Stimmen lauschen. Wann hatte er das zuletzt getan? Es mußte ewig her sein, vielleicht war er noch ein Junge gewesen. Langsam stieg er aus. Schlenderte den Hang hinunter. Die Schafe ließen sich nicht stören, sie beachteten ihn nicht.

Er bückte sich, zog Schuhe und Strümpfe aus. Er spürte das Gras unter seinen nackten Füßen. Hatte es je irgendwo so stark, so intensiv nach Blüten gerochen? Oder hatte er es einfach nie bemerkt?

Er setzte sich in die Wiese. Atmete tief und ruhig. Er war in England. In einem Tal in the middle of nowhere. Zum erstenmal kam ihm der Gedanke, alles abzustreifen. Seine erdrückenden Probleme. Seine unglückliche Ehe. Sein ganzes bisheriges Leben. Den alten Leon abzugeben und ein neuer Mensch zu werden. Aussteigen und neu anfangen.

Als Schaffarmer, dachte er, oder als Bauer. Ein kleines, bescheidenes Häuschen. Eine nette Frau. Abends wissen, was man geschafft hat. Von der Hand in den Mund leben, ernährt vom eigenen Land, von der eigenen Hände Arbeit. Am Ende eines Tages auf solch einer Wiese sitzen und den Schafen zusehen.

Er mußte lachen über das naive Bild, das er von seinem Leben zeichnete.

Er legte sich ins Gras zurück und blickte hinauf in den blauen Himmel.

Ricarda hatte auf ein gemütliches Frühstück gehofft — sofern ein Frühstück in der Imbißgaststätte einer Autobahntankstelle überhaupt gemütlich sein konnte —, aber Keith, der ihr zunehmend nervöser vorkam, sagte, dazu hätten sie nicht die Zeit.

«Wir müssen bis London! Und dort ein Dach über dem Kopf finden! Und vielleicht schon erste Erkundigungen einziehen!«

«Welche Erkundigungen?«

«Mensch, wegen eines Jobs! Was glaubst du, wie weit wir mit deinem bißchen Geld kommen?«

Sie fühlte sich ein wenig elend, weil er so gereizt mit ihr umging, außerdem beunruhigt, weil er sich Sorgen zu machen schien, aber sie versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, daß alles besser werden würde. Sie mußten sich nur erst an das neue Leben gewöhnen.

«Ich werde tanken«, sagte Keith,»und du gehst so lange hinein und organisierst etwas zu essen und zu trinken. Aber gib bloß nicht zuviel Geld aus, hörst du?«

Sie ging in die Raststätte, suchte die Toilette auf, wusch sich dort am Waschbecken mit kaltem Wasser das Gesicht und kämmte ihre Haare. Es erstaunte sie zu sehen, wie ängstlich ihre Augen dreinblickten.

Im Verkaufsraum erstand sie zwei große Pappbecher mit heißem Kaffee und zwei in Plastik eingeschweißte Sandwiches mit Tomaten, Eiern und Mayonnaise. Es war nicht das Frühstück, das ihr vorgeschwebt hatte, aber es war billig, und Keith würde zufrieden mit ihr sein.

Als sie hinaustrat, sah sie ihn an der Zapfsäule stehen, sein Handy ans Ohr gepreßt. Er entdeckte sie ebenfalls sofort und winkte ihr hektisch zu. Als sie ihn erreichte, beendete er gerade das Gespräch und schaltete den Apparat aus. Er war blaß geworden.

«Meine Mutter hat angerufen«, sagte er.»Mein Vater ist zusammengebrochen. Es sieht wohl ziemlich ernst aus.«

«Was hat er denn?«

«Eine Art Schlaganfall oder so etwas. Der Notarzt ist da. Dad ist nicht bei Bewußtsein! Oh, Mist!«

Er wühlte hektisch in seinen Haaren.»Ausgerechnet jetzt! Wir müssen umkehren, Ricarda!«

«Aber du kannst ihm doch sowieso nicht helfen!«

«Aber ich muß bei meiner Mum sein. Die ist am Durchdrehen. Die glaubt, daß er stirbt. Ich kann jetzt nicht einfach abhauen!«

Sie reichte ihm einen Kaffeebecher.»Hier. Trink das erst mal.«

Er trank ein paar Schlucke, verzog das Gesicht, weil der Kaffee so heiß war, schüttelte den Kopf, als er das Sandwich sah.»Ich hasse Eiersandwiches! Komm, steig ein. Wir müssen los!«

«Du mußt noch das Benzin bezahlen«, erinnerte sie ihn, und fluchend entfernte er sich in Richtung Kasse.

Sie sah ihm nach. Ihr war kalt, und sie merkte, daß sie vor Enttäuschung gleich zu weinen beginnen würde. So sehr sie sich gefürchtet hatte, so wenig hatte sie zurückgewollt. Ein zweites Mal würden sie nicht aufbrechen, das spürte sie.

Sie warf beide Sandwiches in einen Abfallkorb. Sie hatte keinen Hunger mehr.

«Wenn alles klar ist, geh ich dann«, sagte Steve. Wie immer, wenn er sprach, trat er von einem Fuß auf den anderen.»Oder kann ich noch etwas machen?«

Patricia blickte auf. Sie war auf der großen Terrasse beschäftigt. Sie hatte die vertrockneten Pflanzen aus den Terrakottatöpfen entfernt, frische Erde aufgefüllt und war nun dabei, Geranien, Fuchsien und Margeriten zu pflanzen. Sie arbeitete konzentriert und mit dem für sie typischen Anspruch auf Perfektion.

«Nein, Steve, den Rest erledige ich. Danke fürs Mähen. Erstaunlich, wieviel gepflegter so ein kurzer Rasen gleich aussieht!«

«Am Tag, an dem Sie ankamen, hab ich ja morgens noch gemäht«, sagte Steve,»aber jetzt war es schon wieder so hoch. Im April und Mai kommt man nicht hinterher.«

Patricia erhob sich, klopfte die Erde von ihren Hosen und ging, gefolgt von Steve, ins Haus, um ihm seinen Lohn auszuhändigen. Im Wohnzimmer stießen sie auf einen schlechtgelaunten Tim.

«Ich kann meine Aufzeichnungen nicht finden«, sagte er wütend,»und ich will einfach nicht glauben, daß so etwas verlorengeht! Im übrigen kann ich nicht mal Evelin finden, die vielleicht weiß, wo die Papiere sind. Es ist wirklich zum Kotzen!«

«Hast du schon in der Küche nachgesehen?«fragte Patricia.

Tim lächelte, aber es war weder ein freundliches noch ein amüsiertes Lächeln.»Natürlich. Als erstes. Aber da ist sie nicht.«

«Du schreibst doch in deinen Laptop, denke ich.«

«Ja. Aber ich hatte ein paar Seiten ausgedruckt. Ich möchte nicht, daß… daß sie in falsche Hände gelangen.«

«Also«, sagte Patricia,»außer uns ist hier niemand. Aber vielleicht sind wir in deinen Augen auch schon falsche Hände.«

Tim ignorierte ihre Bemerkung.

«Wer kocht heute eigentlich das Mittagessen?«fragte er übergangslos.»Evelin ist offenbar nicht da, Jessica rennt wie üblich in der Gegend herum, und du scheinst ziemlich beschäftigt mit deinen Pflanzen.«

«Oh«, sagte Patricia spitz,»dann schlage ich doch vor, es kocht der, der fragt! Im übrigen hat das ja auch noch ein bißchen Zeit. Es ist gerade elf Uhr!«

Sie winkte Steve, ihr zu folgen, und ließ einen ziemlich verdatterten Tim einfach stehen.

«Es ist ja wohl nicht einzusehen, daß bestimmte Arbeiten immer für Frauen reserviert sein sollen«, sagte sie zu Steve, während sie ihm sein Geld gab, aber Steve, in dessen nordenglische Bauernfamilie das Wort Emanzipation noch nicht wirklich vorgedrungen war, zuckte nur hilflos mit den Schultern.

«Bei uns kocht meine Mum«, sagte er.

Das Dorf hieß Bradham Heights, und es befand sich an einer Straße, von der Phillip schon geglaubt hatte, daß sie irgendwann am Meer enden würde, ohne daß vorher noch eine Stadt, ein Dorf oder sonst eine menschliche Ansiedlung auftauchen würde. Bradham Heights lag hinter einer Hügelkuppe und war inmitten der sanft geschwungenen Landschaft wie eine Handvoll hingewürfelter Spielzeughäuschen anzusehen. Die Häuser bestanden aus dem typischen grauen Granitstein der Gegend, und es gab eine wuchtige Kirche, die von einem zauberhaften Friedhofsgarten voll blühender Apfelbäume umgeben war. Auf den Hängen, die sich rund um das Dorf erstreckten und die von zahllosen steinernen Mauern durchzogen waren, grasten Schafe und vereinzelt Kühe.

Ob es hier irgend etwas von dem Dreck gibt, dem wir in den Großstädten ausgesetzt sind? fragte sich Phillip. Drogen und Alkohol und Computerspiele mit Gewaltdarstellungen und pornographische Filme und das alles? Man meint, daß nichts davon bis hierher dringen könnte.

Er fand ein Pub, das gleich an der Hauptstraße lag, und zu seiner Überraschung erwies es sich als gepflegt und komfortabel. Er bekam einen großartigen Brunch dort; Kaffee, soviel er wollte, Orangensaft, Rühreier, gebutterten Toast und ein Omelett mit Champignons, wie er es besser nie gegessen hatte. Er aß sich satt, trank einen Sherry zum Abschluß und war erstaunt über den vergleichsweise niedrigen Preis. Zudem war er höchst erstaunt über sich selbst. Denn er fühlte sich wohl hier, friedlich und geborgen, und Gefühle dieser Art hatte er nicht mehr gekannt, seit er ein kleines Kind gewesen war und sich in den Armen seiner Mutter beschützt gefühlt hatte. Er und das Landleben! Und noch dazu Yorkshire, Brontë-Land! Diese wilde, melancholische Einsamkeit, diese Düsternis und Kargheit, in der sich dann plötzlich idyllische Dörfchen, blühende Bäume und Blumengärten fanden, und kleine Bäche, in deren dahinplätscherndes Wasser tief die Zweige alter Trauerweiden eintauchten. Er konnte nicht begreifen, weshalb ihn dies so berührte, ihn, der es nie außerhalb der großen Städte, der rastlosen, quirligen Metropolen ausgehalten hatte. London natürlich, aber oft hatte er gedacht, eigentlich sei er im Herzen ein New Yorker, Bewohner der Stadt, die niemals schläft, denn so hatte er die für sich einzig möglich erscheinende Lebensform stets charakterisiert: Nur keine Stille! Nur kein Moment des Schlafs! Immer und jede Sekunde den jagenden Pulsschlag vernehmen. Hektik, Lärm, Bewegung. Als sei jede Ruhe eine Vorform des Todes.

Und auf einmal ergötzte er sich am Anblick weidender Schafe. Genoß zutiefst die Stille eines einsamen Dorfs. Betrachtete voll Staunen und Freude die blühenden Apfelbäume eines Friedhofs. Friedhof! Allein die Tatsache, daß er nach Beendigung seiner Mahlzeit freiwillig dorthin ging, zwischen den Gräbern herumschlenderte, dem Summen der ersten Bienen des Jahres lauschte und die verwitterten Grabsteine betrachtete, grenzte an ein Wunder. Außer zum Besuch von Kevin McGowans Grab war er nur zweimal in seinem Leben auf Friedhöfen gewesen: bei der Beerdigung seiner Mutter natürlich, und dann viele Jahre zuvor, als Fünfzehnjähriger, zum Begräbnis seiner Großmutter. Er hatte nicht mitgewollt damals, wie er sich erinnerte. Mummie hatte ihn gezwungen. Sie waren mit dem Zug nach Devon gefahren, in das Dorf, in dem Mummies Mutter gelebt hatte. Er hatte einen schwarzen Anzug und eine Krawatte tragen müssen. Der Friedhof war ähnlich gewesen wie der von Bradham Heights, voller Blumen und Bäume. Es war August gewesen, die Luft warm und mild und schon ein bißchen herbstlich, und die Blumen hatten die tiefen, starken Farben des ausgehenden Hochsommers gehabt. Trotzdem war ihm kalt gewesen, und er hatte nichts als Grauen und Furcht gespürt und den Wunsch, zu verschwinden. Nie hätte er geglaubt, er könne einmal an solch einem Ort verweilen und Frieden verspüren, tiefen Frieden.

Ich fange an, dieses Land zu lieben, dachte er, irgend etwas hier berührt mich. Es wird schließlich nicht mehr nur um meinen Vater gehen. Es wird mehr und mehr auch um mich gehen.

Er starrte einen Grabstein an, auf dem ein eingemeißelter Engel flehend die gefalteten Hände zum Himmel hob. Ein Kind lag hier begraben, wie er an den Jahreszahlen erkannte, ein Kind, das knapp sechs Jahre alt geworden war.

Unwillkürlich mußte er an Geraldine denken, daran, daß sie sich so sehr Kinder wünschte und ein Familienleben. Nicht, daß er sich hätte vorstellen können, Teil ihres Traumes zu werden es war definitiv klar für ihn, daß sie nicht die Frau war, mit der er sein Leben würde verbringen wollen —, aber erstmals konnte er in Ansätzen nachvollziehen, worum es ihr ging und weshalb sie so festhielt an ihren Wünschen. Fast hatte er Angst, es könne auch ihm irgendwann so ergehen. Er könnte sich plötzlich nach einer Art Leben sehnen, das er bislang nicht gewollt hatte und das vielleicht auch für ihn nicht erreichbar war.

Er wollte nicht mit sinnlosen Träumen herumlaufen.

Oder war Stanbury House bereits solch ein sinnloser Traum?

Es fiel ihm ungewöhnlich schwer, sich von dem idyllischen

kleinen Garten loszureißen. Als er wieder auf die Straße trat, spürte er ein so übermächtiges Verlangen nach dem Haus seines Vaters, daß er beschloß, jetzt sofort dorthin zu fahren. Einfach ein wenig durch den Park zu streifen, aus der Ferne die schlichte Schönheit des Baus zu betrachten. Sehen, wie sich der Himmel in den blanken Fensterscheiben spiegelte.

«Ist Ricarda aufgetaucht?«fragte Patricia. Sie kniete vor der zum Blumenkasten umarrangierten Schafstränke vor der Eingangstür und entfernte die Tannengestecke, die dort seit Weihnachten vor sich hin kümmerten. Zum Teil schlangen sich noch Lichterketten um die verdorrten Nadeln, aber sie hatten bereits zu Silvester ihren Geist aufgegeben und konnten weggeworfen werden. Sie landeten in der großen Pappschachtel, die sich Patricia für die Abfälle bereitgestellt hatte.

«Nein«, sagte Alexander auf ihre Frage hin. Er war gerade aus dem Haus gekommen und unschlüssig stehengeblieben, und Patricia dachte, daß er in der letzten Woche tatsächlich im Zeitraffer zu altern schien. In rasantem Tempo wurde er grauer, müder, sogar langsamer in seinen Bewegungen. Seine Schultern schienen ein wenig nach vorne gesackt.

Patricia grub mit zusammengebissenen Zähnen in der Erde herum und verkniff es sich, noch einmal zu betonen, daß sie zu diesem Thema nichts mehr sagen würde.

«Na ja«, meinte sie schließlich nur.

«Ich dachte, ich setze mich im Garten auf die Bank, auf der Ricarda gestern saß«, sagte Alexander.»Ich muß für mich sein.«

Patricia schaute auf.»Wir alle sind seit Tagen nur noch für uns«, sagte sie.»Fällt dir das auf?«

«Gestern abend…«

«Die Mahlzeiten, ja, das schaffen wir gerade noch miteinander. Obwohl es mit dem Frühstück kaum noch klappt. Aber sonst… tagsüber… wir machen doch nichts mehr gemeinsam. Jeder hängt herum, allein, in sich gekehrt. Keiner scheint Lust zu haben, mit den anderen zusammen etwas zu unternehmen.«

«Hm.«

Alexander sah sie nachdenklich an.»Was meinst du, woran das liegt?«

«Wir hatten schon einmal so eine Phase«, sagte Patricia.

Er nickte langsam.»Ich weiß. In den anderthalb Jahren, bevor…«

«…bevor du dich von Elena getrennt hast. Nachdem sie voll auf Konfrontation gegangen war, stimmte es zwischen uns allen nicht mehr.«

«Aber Elena ist nicht mehr hier.«

Patricia schwieg bedeutungsvoll.

Alexander atmete tief.

«Nein«, sagte er,»nein, das kannst du nicht vergleichen. Jessica sucht nie die Konfrontation. Sie lehnt… das alles hier nicht ab. Sie mag manchmal ein wenig eigenbrötlerisch erscheinen, aber sie hat sich integriert und fühlt sich dazugehörig.«

«Aber seitdem sie da ist, rastet Ricarda aus. Und auch das bringt alles durcheinander.«

Alexander hob hilflos die Schultern.»Sie ist ein heranwachsendes Mädchen. Die scheren immer irgendwann aus.«

«In der Zeit dazwischen«, sagte Patricia,»zwischen Elena und Jessica, meine ich, war es am besten.«

«Ich konnte doch nicht für immer allein bleiben.«

Patricia ließ diese Bemerkung unkommentiert und machte sich wieder daran, die Lichterketten zu entwirren.

«Telefonierst du eigentlich mit Elena?«fragte sie dann unvermittelt.»Ich meine jetzt, wegen der Sache mit Ricarda?«

Er kam sich vor wie ein Schuljunge, der beim Abschreiben erwischt worden ist.

«Ja«, gab er zögernd zu.

Sie sah wieder zu ihm hoch. Wie sie da hockte — die Finger mit den langen, spitzen Nägeln voller Erdklumpen, die blonden Haare wie helle Seide in der Sonne schimmernd, die Augen gegen die Sonne zu schmalen Schlitzen gezogen wie eine hungrige Katze —, kam sie ihm vor wie ein lauerndes, räuberisches, durch und durch erbarmungsloses Geschöpf.

Er erschrak vor seinen eigenen Gedanken. Erbarmungslos. Durfte man das von einem Menschen behaupten? Und doch spürte er es ganz deutlich, ihre Mitleidlosigkeit, ihre Skrupellosigkeit. Elena hatte sie gehaßt. Patricia war der Grund gewesen, weshalb Elena sich irgendwann geweigert hatte, noch einmal nach Stanbury zu fahren. In gewisser Weise war Patricia der Grund für alles. Der Grund für die Scheidung.

«Also, ich bin dann im Garten«, sagte er.

Sie nickte, lächelte verächtlich und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

Der Hof lag wie ausgestorben in der Sonne. Keith bremste mit quietschenden Reifen. Es war eine mörderische Fahrt gewesen, einfach fürchterlich. Ricarda hatte manchmal geglaubt, sie würden nicht lebend ankommen. Keith war gerast wie der Teufel, hatte sämtliche Vorschriften und Verbote ignoriert, und es waren immer wieder Situationen entstanden, in denen Ricarda den Atem angehalten hatte.

«Fahr doch ein bißchen vorsichtiger«, hatte sie zweimal gefleht, aber beim ersten Mal hatte Keith überhaupt nicht reagiert, und beim zweiten Mal hatte er sie angefaucht:»Verdammt, laß mich in Ruhe! Es ist ja nicht dein Vater, der im Sterben liegt!«

«Du weißt doch gar nicht, ob er im Sterben liegt.«

«Ich weiß aber, daß es ihm verdammt dreckig gehen muß, sonst wäre Mum nicht so verzweifelt!«

Er hängt doch sehr an seinem Vater, dachte Ricarda..

Inzwischen brannten ihre Augen vor Müdigkeit und vor Kummer und sie sehnte sich nur noch nach der stillen Zweisamkeit in der verlassenen Scheune; nur sie und Keith und ein paar brennende Kerzen und das Licht des Mondes draußen über dem Hof. Die Zärtlichkeit und Wärme dieser Stunden schienen auf einmal unfaßbar weit entfernt. Die Wirklichkeit bestand jetzt aus einem gereizten Keith, der auf beinahe selbstmörderische Art Auto fuhr, aus einem gescheiterten Fluchtversuch, aus der Aussicht auf eine demütigende Rückkehr nach Stanbury House — denn wohin sonst sollte sie gehen?

Sie hätte gern geweint, aber sie hatte Angst, daß Keith sie dann anschreien würde, und so verbiß sie sich die Tränen und starrte mit versteinertem Gesicht aus dem Fenster.

Keith sprang aus dem Wagen und lief zur Haustür, die sich soeben öffnete; offenbar hatte man ihre Ankunft mitbekommen. Ricarda sah eine Frau heraustreten, die bleich und mager wirkte und offenbar zittrig auf ihren Beinen stand. Sie fiel in Keiths Arme, brach förmlich in ihnen zusammen.

«Ach du Scheiße«, murmelte Ricarda.

Sie stieg aus und blieb unschlüssig neben dem Wagen stehen.

Keith verschwand mit seiner Mutter im Haus. Es verstrichen einige Minuten, ehe er wieder herauskam. Er sah sehr blaß aus.

«Meinen Vater hat's böse erwischt«, sagte er.»Schlaganfall.

Er ist im Krankenhaus in Leeds, aber sie wissen nicht, ob er es übersteht und ob er… ob er danach wieder der alte wird. Verdammter Mist!«

Wieder wühlte er in seinen Haaren, die inzwischen wie eine Art Wischmop zu Berge standen.»Wir hatten ja den schlimmen Streit gestern, und jetzt…«

Er schien schockiert, so als könne er noch nicht wirklich begreifen, was geschehen war.»Hoffentlich…«

Er sprach nicht weiter, aber Ricarda erriet, was er hatte sagen wollen. Sie strich ihm vorsichtig über den Arm, aber er zuckte dennoch unter der plötzlichen Berührung zusammen.

«Mach dir keine Vorwürfe«, tröstete sie,»das hatte bestimmt nichts mit eurer Auseinandersetzung zu tun.«

Er nickte, aber er schien nicht überzeugt.

«Ich muß mich um Mummie kümmern«, sagte er,»sie ist.. ziemlich fertig.«

«Ist deine Schwester nicht da?«

«Die ist wohl heute früh nach Bradford gefahren. Keine Ahnung, was sie da macht. Jedenfalls ist sie nicht zu erreichen. Hör zu, ich…«

«Klar. Du wirst hier jetzt gebraucht. Kümmere dich nicht um mich. Ich komm schon klar.«

Die Verzweiflung drohte über ihr zusammenzuschlagen, aber noch immer erlaubte sie es sich nicht, einfach zu weinen.

«Wo gehst du hin?«fragte er.

«Noch keine Ahnung«, sagte sie, zog ihren Rucksack aus dem Auto und schulterte ihn mit einer Entschlossenheit, die sie in Wahrheit nicht fühlte.»Ich werd mal sehen…«

Er hörte schon gar nicht mehr hin, strebte wieder dem Haus seines Vaters zu, ein junger Mann, der sich wie eine Marionette bewegte und nicht wußte, wie er mit der Situation umgehen sollte, in die er sich plötzlich gestellt sah.

Ricarda ging los, mit bleischwerem Herzen. Der Gedanke, nach Stanbury zurückzukehren, erschien ihr unerträglich. Die Gesichter wiedersehen, die Menschen wieder ertragen, Patricias Heimtücke zu erleben, Alexanders Schwäche, Tims Gehässigkeit und Evelins Leid… Und zu wissen, daß in J.s Bauch ein Baby wuchs, das Kind ihres Vaters, ihres einzigen, geliebten, gehaßten, enttäuschenden Vaters…

Endlich konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Sie sank am Rande des Feldwegs ins hohe Gras und krümmte sich im Schluchzen, gefangen in einer Verzweiflung, in der sich Schmerz und namenlose Wut gleichmäßig mischten.

Sie sah keinen Ausweg mehr.

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