Zweiter Teil

1

Er war schon ziemlich weit an das Haus herangekommen, ohne daß ihn jemand bemerkt hatte. Er hatte sich durch den hinteren Teil des Parks genähert, nicht durch das Tor, weil er hoffte, auf diese Weise ungestörter zu sein. Eine ganze Weile hatte er mitten im Dickicht auf einem Baumstumpf gesessen und das Haus betrachtet, die Terrasse mit ihren Stufen zum Garten, die Fensterreihen, den Dachgiebel. Er hatte an die zwanzig Grasketten geknüpft und um sich herum verteilt, ohne es zu merken. Schließlich stand er auf und wagte sich näher heran, weil er nirgendwo eine Menschenseele erblicken konnte. Flüchtig fragte er sich, wie es wohl auf andere gewirkt hätte, was er hier tat: Schlich im Gebüsch herum, fixierte ein Haus, tastete sich heran. Wie ein Täter an sein Opfer. War es bereits paranoid, was er hier tat?

Da er nicht plötzlich auf der Wiese hinter der Terrasse stehen wollte — gut sichtbar für jeden, der zufällig aus dem Fenster blicken würde —, schlug er einen seitlichen Bogen und pirschte sich von Südwesten an das Haus heran. Ziemlich spät bemerkte er die Frau, die auf einem flachen Felsstein saß und ihr Gesicht in die Sonne hielt. Zu spät, denn sie hatte das Knacken eines Zweigs vernommen und wandte sich um. Er erkannte die Dicke. Wie hieß sie noch? Sie war ihm vom ersten Moment an aufgefallen, allerdings nicht wegen ihrer beachtlichen Leibesfülle, sondern wegen des Ausdrucks der Trostlosigkeit in ihren Augen.

«Ach, Sie sind es«, sagte sie. Sie schien nicht erschrocken.

Er trat näher.»Ich kann mich einfach nicht recht losreißen «sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln,»es zieht mich immer wieder hierher.«

Sie lächelte ebenfalls. Selbst ihr Lächeln war traurig, fand er.

«Sie haben keine Chance«, sagte sie,»nicht gegen Patricia.«

«Oh, das wird sich finden. Wissen Sie, so schnell gebe ich mich nicht geschlagen. Wenn es stimmt, was meine Mutter mir gesagt hat, dann gehört mir die Hälfte dieses Anwesens, und dann werde ich das auch beweisen und durchsetzen.«

«Vielleicht«, sagte sie ohne jede Überzeugung.

Er wies auf den Felsen, auf dem sie saß.»Darf ich mich einen Moment ausruhen?«

Sie rückte bereitwillig ein Stück zur Seite.»Ja.«

Er setzte sich auf den warmen Stein.»Ein friedliches Plätzchen«, meinte er.»Kommen Sie öfter hierher?«

«Nein.«

Sie schüttelte den Kopf.»Eigentlich bin ich meistens im Haus. In der Küche. Ich…«

Sie unterbrach sich, verzog das Gesicht.»Das sieht man, oder? Daß ich gern in der Küche bin, meine ich.«

«Man sieht, daß Sie gern essen. Aber das finde ich nicht schlimm. Genuß ist doch etwas Schönes. Meine Freundin ist Fotomodell, und sie muß so gnadenlos auf ihre Figur achten, daß die meisten ihrer Mahlzeiten nur aus Mineralwasser bestehen. Ich finde immer, ihr entgeht eine Menge. Außerdem ist es für den Partner auch nicht besonders anregend.«

«Aber sie hat sicher eine Traumfigur.«

«Sehr schlank. Manchmal denke ich, sie ist zu dünn. Aber auf Bildern sieht es gut aus.«

In ihren Augen erwachte etwas wie Interesse.»Ist sie schön?«

«Meine Freundin? Ja. Ja, ich glaube, man kann sie wirklich schön nennen.«

«Werden Sie beide heiraten?«

Er lachte.»Fragen Sie immer so direkt?«

Sofort errötete sie, und der Glanz in ihren Augen erlosch.»Oh, entschuldigen Sie. Ich wollte nicht…«

«Kein Problem. Ich bin nicht so empfindlich. Nein, wir werden wohl nicht heiraten. Geraldine träumt von Ehe und Familie, aber ich… ich glaube, für mich ist das nichts.«

«Dann ist sie wohl sehr unglücklich?«

«Geraldine?«

«Ja. Wenn sie so gern heiraten würde und…«, sie verschluckte sich fast an dem Wort,»…Kinder haben möchte…«

«Ich fürchte auch, daß sie unglücklich ist. Wir werden wohl nicht zusammenbleiben. Es ist traurig, aber es hat auch keinen Sinn, etwas zu tun, wohinter man nicht steht.«

«Da haben Sie recht.«

Sie sprach mit monotoner Stimme. Sie tat ihm leid, aber er wußte nicht, wo er ansetzen sollte. Sie war dick und traurig und wahrscheinlich ziemlich depressiv, und vermutlich würde ihr nur ein Seelenklempner letztlich helfen können.

Er musterte sie von der Seite. Ihm fiel auf, wie weich und weiß ihre Haut aussah. Sie roch nach einem sehr guten Parfüm. Ihre Haare glänzten. Sie hätte eine hübsche Frau sein können, wenn sie dreißig Kilo abnehmen und etwas fröhlicher dreinblicken würde. Er fragte sich, weshalb sie in dem dicken, schwarzen Rollkragenpullover nicht verrückt wurde. Es war viel zu warm, um sich so winterlich anzuziehen.

«Ist Ihnen nicht zu heiß?«fragte er.»Wir haben heute bestimmt den bisher wärmsten Tag des Jahres.«

«Nein. Mir ist nicht zu heiß.«

Er wunderte sich, weshalb sie ihn überhaupt interessierte. Aber diese Menschen waren nun einmal in sein Leben getreten, und um einige Ecken herum hatten sie etwas mit ihm zu tun. Sie waren ihm nicht gleichgültig.

«Ich würde gern einmal wissen, weshalb Patricia so sehr gegen mich ist«, sagte er.»Wir beide sind miteinander verwandt. Unsere Geschichten überschneiden sich an einer Stelle, in dem Menschen Kevin McGowan. Ich finde das in erster Linie einfach interessant. Es wundert mich, daß sie das offenbar überhaupt nicht so sehen kann. Oder ist es das Geld? Das da«, er wies zu dem Haus hinüber, das mit dem frisch gemähten Rasen davor und den vielen neuen Pflanzen auf der Veranda plötzlich sehr gepflegt, sehr vornehm und stattlich aussah,»ist einiges wert. Vielleicht verabscheut sie den Gedanken, teilen zu müssen.«

Evelin zuckte mit den Schultern.»Ich glaube nicht«, sagte sie.»Ich glaube, sie will einfach allein das Sagen haben. Sie ist sehr…«

Sie suchte nach dem passenden Wort.»Sie ist sehr machthungrig.«

«Mögen Sie sie?«

«Sie war immer da.«

«Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

«Doch.«

Jetzt blitzte Aggression in ihrer Stimme und in ihren Augen.»Das ist eine Antwort. Weil sich die Frage nach mögen oder nicht mögen hier bei uns gar nicht stellt. Sie darf sich nicht stellen. Die Frau, die zuletzt darüber nachgedacht hat, gibt es jetzt nicht mehr.«

«Was heißt das?«

«Die Vorgängerin von Jessica. Alexanders Ex-Frau. Er hat sich von ihr scheiden lassen, weil sie mit Patricia nicht zurechtkam.«

Er starrte sie ungläubig an.»Das kann doch nicht wahr sein!«

Wieder zuckte sie mit den Schultern, erwiderte nichts.

«Das ist… mehr als ungewöhnlich«, sagte Phillip.»Weil sie mit Patricia nicht zurechtkam… Wer ist Patricia eigentlich? Der Dreh- und Angelpunkt von all dem hier? Die Person, auf die es einzig ankommt? Von der alles abhängt? Der sich niemand entziehen darf? Was, zum Teufel, hat sie in diese Position katapultiert?«

«Sie verstehen gar nichts«, erwiderte Evelin.»Es geht nicht um Patricia. Patricia nutzt einfach nur die Situation geschickt aus, um ihr Bedürfnis, andere zu beherrschen, auszuleben. In Wahrheit sind es die Männer. Es geht um die drei Männer.«

Sie legte wie fröstelnd die Arme um den Körper.»Es geht immer um die Männer, nicht wahr? Sie sind immer bestimmend.«

Er verstand nicht, was sie meinte, hatte jedoch auch nicht den Eindruck, durch Nachfragen zum Kern ihres Denkens vordringen zu können.

Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, sehr friedlich, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Phillip rupfte Grashalme aus und verknotete sie, und Evelin zupfte am Saum ihres riesigen Pullovers herum und grub mit den Fingernägeln Linien in den Stoff ihrer Hose. Dann plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper; er spannte sich wie der eines Tieres, das eine Gefahr wittert; sie hob den Kopf, und die Ausstrahlung von Furcht und Nervosität war so stark, daß Phillip meinte, sie riechen zu können — scharf, beißend, abstoßend. Er sah sie an.

«Was ist los?«

Sie stand auf.»Mein Mann«, sagte sie.

Er folgte ihrem Blick. Er sah den Bärtigen über die Wiese kommen, den Typen, mit dem er am Vortag gesprochen hatte. Er nahm seine Bewegungen wahr, und trotz der Entfernung etwas im Ausdruck seines Gesichts, und plötzlich verstand er.

Er tat einen scharfen Atemzug.

«Evelin«, sagte er.

Sie reagierte nicht. Sie war wie paralysiert.

Offensichtlich hatte Tim die Gestalt zwischen den Büschen entdeckt. Er blieb stehen, kniff die Augen zusammen.»Evelin? Bist du das?«

Er sprach deutsch, natürlich. Phillip verstand nur wenige Worte dieser Sprache, konnte sich jedoch meist einigermaßen zusammenreimen, worum es ging, wenn sich Deutsche unterhielten.

Sie machte einen Schritt nach vorn.»Ich bin hier!«

Ihre Stimme klang brüchig.»Verdammt noch mal.«

Das kam leise und voller Wut.»Ich suche dich schon eine Ewigkeit. Ich vermisse wichtige Aufzeichnungen. Computerausdrucke. Seit Stunden. Hier herrscht ein verdammtes Chaos. Wie immer. Ich will, daß du…«

«Tim«, sagte Evelin leise.

Er wandte sich bereits wieder zum Gehen. Offenbar hatte er Phillip, der noch auf dem Felsen saß, nicht bemerkt.

«Du bist in einer Minute bei mir im Haus«, sagte er, ohne sich noch einmal umzuschauen. Er schien nicht den geringsten Zweifel zu hegen, daß sie seinem Befehl Folge leisten würde.

Phillip stand auf. Er legte seine Hand auf Evelins Arm, und sie zuckte zusammen.

«Sie müssen sich diesen Ton nicht gefallen lassen«, sagte er.»Niemand sollte so mit Ihnen reden dürfen. Auch nicht, und erst recht nicht, Ihr Mann.«

Er war nicht sicher, ob sie ihm zugehört hatte. Sie ließ ihn stehen und ging los. Ihm fiel auf, daß sie stark hinkte und daß sie den Eindruck erweckte, sich wie ferngesteuert zu bewegen. Oder wie eine Marionette an Fäden.

Er wollte noch etwas sagen, aber er würde sie nicht erreichen, das konnte er spüren.

Im übrigen, er mußte sich das immer wieder sagen, ging ihn das alles wirklich nichts an.

Und hatte er nicht kürzlich erst — wie wenig weit lag das zurück! — erkannt, daß er sie alle haßte?


Donnerstag, 24. April — Freitag, 25. April

Seltsamerweise weigerte sich Jessicas Gehirn zu verarbeiten, was sie sah. Vielmehr, ein Teil ihres Gehirns weigerte sich. Ein anderer Teil sagte ihr klar und deutlich, daß es kein Trugbild war, Patricia mit durchschnittener Kehle in der Schaftränke liegen zu sehen, und daß sie es endlich glauben sollte. Aber etwas in ihrem Kopf wollte einfach nicht wahrhaben, was doch offensichtlich war.

Solche Dinge geschahen nicht. Es war einfach absurd. Noch dazu Patricia. Patricia würde nie zulassen, daß man Derartiges mit ihr tat.

Sie hörte plötzlich ein Lachen und erschrak furchtbar, bis sie erkannte, daß es ihr eigenes Lachen gewesen war, daß sie gelacht hatte über den Gedanken, daß Patricia es nicht dulden würde, so behandelt zu werden.

Der Gedanke an den Täter, der, wer immer er war, noch in der Nähe sein könnte, hatte sich für Momente verflüchtigt, trat nun aber wieder in den Vordergrund.

Irgend jemand hatte dies hier getan, und es gab keine Garantie dafür, daß er das Weite gesucht hatte.

Warum nur fingen die Vögel nicht endlich wieder an zu zwitschern? Das Schlimmste war diese Stille. Ohne die Stille, bildete sie sich ein, würde alles leichter zu ertragen sein.

Irgendwo mußten die anderen sein. Alexander, Tim, Evelin, Leon, die Mädchen. Warum ließ sich niemand blicken? Warum lag das Haus wie ausgestorben in der Mittagssonne?

Wie lange war sie eigentlich weg gewesen? Schwer zu sagen wenn sie lief, verlor sie leicht jedes Zeitgefühl. Auf jeden Fall war es ungewöhnlich, daß alle anderen in der Zwischenzeit weggegangen sein sollten. Obwohl — Patricia war ja zurückgeblieben und daß einer vorbeikommen und sie töten würde, hatte niemand ahnen können.

Daß einer vorbeikommen würde…

Vielleicht war es wirklich ein furchtbarer, tragischer Zufall. Ein Verrückter, ein Perverser war durch die Gegend gestreift, hatte die einsame Frau entdeckt, und… Kälteschauer jagten über Jessicas Körper.

Wenn sich ein Triebtäter hier herumtrieb, sollte sie nicht im Hof stehenbleiben.

Ihr fiel auf, daß eines der beiden Leihautos fehlte. Sie waren also weggefahren. Sie würden wiederkommen, aber bis dahin sollte sie sich unbedingt im Haus verbarrikadieren und die Polizei anrufen. Immerhin sangen die Vögel noch nicht wieder. Das sprach dafür, daß er noch in der Nähe war. Tiere hatten einen Instinkt für Gefahr.

O Gott, ihre Blase krampfte plötzlich. Jeden Moment würde sie vor Angst einfach lospinkeln.

Sie rief ganz leise Barneys Namen. Sie wollte niemanden auf sich aufmerksam machen. Der Hund knurrte wieder, kam langsam und widerwillig auf sie zu.

«Komm, Barney, komm«, lockte sie flüsternd,»alles in Ordnung. Sei lieb. Komm mit Frauchen!«

Sie huschte zum Haus hinüber, das ihr auf einmal riesig groß, düster und bedrohlich vorkam. In seinem Schatten war es viel kühler als in der Sonne, fast eisig. Jessica wurde noch immer

von Kälteschauern überflutet. Sie hatte Bauchschmerzen. Sie mußte auf die Toilette. Vielleicht würde sie sich übergeben.

Die Haustür war nicht abgeschlossen. Barney verharrte auf der Schwelle, knurrte erneut. Sein gesträubtes Fell war am Nacken feucht. In seinen Augen flackerte Angst.

Und wenn der Typ da drin war?

«Okay«, flüsterte sie,»du wartest hier. Ich hole den Schlüssel.«

Den Schlüssel des verbleibenden Autos. Und dann nichts wie weg. Fraglich, ob sie es zu Fuß schaffen konnte. Sie mußte das Risiko eingehen.

In der Halle war es kühl und dunkel. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Sie tastete sich langsam vorwärts, bemüht, keinen Laut von sich zu geben.

Vielleicht hätte sie doch lieber schnell weglaufen sollen.

Die Schlüssel hingen an einem Brett in der Küche — Schlüssel für die Haustür, für den Geräteschuppen, für das Parktor (obwohl es nie geschlossen wurde). Jessica betete, daß sie den Autoschlüssel nach ihrer Fahrt mit Evelin ins Dorf dorthin zurückgehängt hatte; ganz sicher war sie sich nicht. Vielleicht lag er auch noch in ihrer Handtasche, und die war oben in ihrem Schlafzimmer, wohin sie sich ganz sicher nicht begeben würde.

Die Küchentür stand halb offen. Sie huschte hinein und wäre beinahe über Tim gestolpert, der, mit dem Gesicht nach unten, hingestreckt auf dem Fußboden lag. Er schwamm in einer Lache von Blut. Seine nackten, stark behaarten Beine waren seltsam gespreizt. Die Küche stank nach Urin.

Sie starrte ihn wie hypnotisiert an, im ersten Moment eher überrascht als erschrocken, so als sehe sie etwas, das zwar ungewöhnlich, aber nicht wirklich grauenerregend war. Dann

dämmerte ihr nach und nach, was es bedeutete, auch Tim abgeschlachtet vorzufinden; es hieß, daß hier eine Bestie ihr Unwesen getrieben hatte, nicht einfach nur ein Triebtäter, sondern ein abartiger Schlächter, und es legte den furchtbaren Verdacht nahe, daß er sich nicht mit Patricia und Tim begnügt hatte und daß die unheimliche Stille über dem Park und dem Haus mehr bedeutete als nur die von Jessica zuerst angenommene Möglichkeit, daß alle weggefahren waren. Das Auto konnten auch der oder die Täter benutzt haben.

Am Ende waren alle tot. Alle. Nur sie nicht und Barney.

Sie hatte von Sekten gehört. Von Ritualmorden. Gerade in England. Gerade auf dem Land. Es kam nicht einmal allzu selten vor.

Sie dachte an Alexander, und alle Vorsicht verließ sie. Trotz allem, trotz aller Enttäuschung, allen Streits, all der Frustrationen die die letzten Tage mit sich gebracht hatten, war die Vorstellung, er könne nicht mehr dasein, unfaßbar und unerträglich. Sie lief aus der Küche.

«Alexander!«schrie sie. Ihre Stimme hallte in der völligen Stille des Hauses.»Alexander! Ich bin es! Jessica!«

Sie blieb stehen, lauschte. Die Halle schien sich um sie zu drehen. Niemand gab Antwort.

Es durfte nicht wahr sein! Irgendwo in ihrer Brust entstand ein Schluchzen, das sie mit aller Gewalt unterdrückte, weil sie wußte, daß Tränen sie nicht weiterbrachten, sondern alles nur schlimmer machten. Sie wartete ein paar Sekunden, bis der schlimmste Schwindel abebbte, dann stieg sie die Treppe hinauf. Es war schwierig, sie hatte Mühe, die Füße richtig zu setzen. Manchmal kamen Stufen auf sie zu, manchmal wichen sie vor ihr zurück. Noch ein paar Minuten, mutmaßte sie, und sie würde kollabieren. Sie würde ohnmächtig werden. Aber vielleicht wäre dies nicht das Schlechteste. Einzuschlafen und beim Aufwachen festzustellen, daß sie nur einen bösen Traum gehabt hatte.

Sie erreichte die Galerie, lehnte sich einen Moment lang schwer atmend gegen das Geländer. Sie spürte Stiche in der Seite. Der Schweiß überschwemmte sie in Wellen. Es gab nicht einen trockenen Faden mehr an ihrem Leib.

«Alexander!«krächzte sie.

Sie stieß die Tür zu ihrem Schlafzimmer auf. Es war leer. Das Bad dahinter ebenfalls.

Sie lief wieder hinaus, versuchte es im nächsten Zimmer. An den Wänden überall die gerahmten Familienbilder von Patricia, Leon und den Kindern. Lächeln, lächeln, lächeln. Patricia, die fleischgewordene Zahnpastareklame. Sie würde nie mehr lächeln. Die Familie würde es so nicht mehr geben. Lebte Leon noch? Was war mit Diane und Sophie?

Der Gedanke an die Kinder ließ sie erstaunlicherweise ruhiger werden. Etwas von der Hysterie, in die sie die Aussicht, Alexander könnte tot sein, gestürzt hatte, verflog. Sie mußte nach den Kindern sehen. Wenn sie noch lebten, durften sie keinesfalls ihre Mutter da draußen in der Schaftränke finden. Es würde sie traumatisieren bis ans Ende ihrer Tage.

Niemand im Zimmer, niemand im Bad. Der nächste Raum. Tims und Evelins Bett war noch zerwühlt, Tims Schlafanzug lag zusammengeknäuelt auf dem Fußboden. Tim, der unten in der Küche in seinem Blut schwamm. Sie schob das Bild sofort wieder weg. Sie brauchte jetzt ihre Nerven, zumindest den kläglichen Rest, der davon noch übrig war.

Sie kletterte die Stiege zum Dachboden hinauf. Es war einfacher als vorher bei der Treppe. Offensichtlich kehrten langsam ihre Lebensgeister zurück.

Ricardas Zimmer war leer. Das Mädchen war seit dem frühen Morgen verschwunden, und dies empfand Jessica mit einemmal als sehr beruhigend. Was immer hier geschehen war, Ricarda war dem Grauen mit einiger Sicherheit entgangen.

Nach der Szene vom Vorabend war sie vermutlich mit ihrem Freund durchgebrannt und trampte mit ihm durch die Lande. Dem Himmel sei Dank dafür!

Als sie in das Zimmer der Schwestern trat, dachte sie im ersten Moment, Diane liege auf dem Bett, und alles sei in Ordnung. Doch dann kam sie näher und bemerkte das Blut, das die Bettwäsche tränkte, und sie sah, daß Diane mit dem Gesicht auf den aufgeschlagenen Seiten eines Buches lag. Sie griff nach dem kalten Handgelenk des Mädchens und fühlte den Puls, wußte aber schon vorher, daß sie tot war. Kein Puls mehr. Diane hatte bäuchlings auf ihrem Bett gelegen und gelesen, jemand war von hinten gekommen und hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.

«Jesus«, murmelte Jessica, und dann drehte sie sich ganz schnell, bevor die Panik übermächtig werden konnte, zu dem anderen Bett um, gefaßt darauf, dort die Leiche der kleinen Sophie zu finden, doch das Bett war leer. Keine Spur von Sophie.

«Sophie?«fragte sie. Sie hatte in normaler Lautstärke sprechen wollen, aber es kam nur ein Flüstern.»Sophie, bist du hier irgendwo?«

Sie meinte, einen Laut zu vernehmen. Ein Jammern. Ganz leise nur und kläglich, so als miaue eine kleine Katze. Es kam aus dem winzigen Bad, das zwischen den Zimmern der Schwestern und Ricardas lag. Sie trat in die Diele, zog die Tapetentür auf, hinter der ein findiger Geist eine Toilette, ein winziges Waschbecken und eine schmale Dusche installiert hatte, das alles unter schrägen Wänden und unter einer alten Dachluke, die sich immer nur schwer öffnen ließ und zugleich nicht richtig schloß. Unterhalb der Luke klebten ein Pferdeposter an der Schräge, und daneben ein Bild der No Angels. Bei den Angels hatte sich an der Unterseite der Tesafilm gelöst, so daß sie halb herunterbaumelten. Fast berührten sie Evelins Haare. Evelin saß auf dem Deckel der Toilette, gehüllt in ihren schwarzen Rollkragenpullover. Sie hatte Blut im Gesicht, an den Händen, auf ihrer Hose. Wahrscheinlich auch auf dem Pulli, aber das konnte man nicht sehen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Hin und wieder stieß sie einen der leisen Klagelaute aus, die Jessica von nebenan gehört hatte.

Sie war vielleicht verletzt. Aber sie war am Leben.

Es war nicht möglich, sie zu bewegen.

Jessica redete mit ihr, versuchte sie auf die Beine zu ziehen.

«Wir müssen verschwinden. Evelin, bitte. Wer immer das getan hat, er ist vielleicht noch in der Nähe!«

Evelin sagte nichts. Hin und wieder stieg ein leiser Klagelaut aus ihrem Mund, aber sie schien nicht in der Lage, Worte zu formen oder ganze Sätze zu sprechen. Schon gar nicht vermochte sie aufzustehen.

Jessica hatte sie eilig untersucht, dabei festgestellt, daß sie nicht verletzt war. Das bedeutete, daß sie dicht an eine oder mehrere der Leichen herangetreten sein mußte, denn sonst hätte sie nicht von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert sein können. Jessica vermutete, daß sie versucht hatte herauszufinden, ob Patricia, Tim oder Diane noch am Leben waren, und sich dabei beschmutzt hatte. Wobei die Frage blieb, ob sie auch Tim bereits gefunden hatte. Wußte Evelin, daß ihr Mann tot war?

«Evelin, ich werde jetzt hinuntergehen und die Polizei anrufen.«

Es hatte keinen Sinn, sie zur Flucht überreden zu wollen. Sie stand vollkommen unter Schock, war vermutlich kaum in der Lage zu begreifen, wer mit ihr sprach und worüber. Also würde Jessica nichts anderes übrigbleiben, als noch einmal allein bis hinunter in die Halle zum Telefon zu laufen, Polizei und Notarzt zu rufen und dann so schnell wie möglich wieder auf den Dachboden zu flüchten. Ihr graute davor, aber sie konnte nicht ewig hier oben sitzen und darauf warten, daß Evelin aus ihrer Erstarrung erwachen würde.

Sie verließ das Bad, vermied den Blick in das Zimmer, in dem Diane tot auf dem Bett lag. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Tiefen des Hauses. Nichts rührte sich.

Alexander. Wenn doch nur Alexander noch am Leben wäre!

Sie huschte die beiden Treppen hinunter. Die Küchentür stand halb offen, sie konnte Tims Hand auf dem Fußboden sehen. Sie hatte weiche Knie, aber immerhin brachte sie es fertig, herumzulaufen und einigermaßen vernünftige Dinge zu tun. Vielleicht lag es an ihrem Beruf als Tierärztin. Sie hatte immer wieder mit jeder Menge Blut zu tun gehabt.

Ihre Stimme war ein heiseres Wispern, als sich der Beamte am anderen Ende der Leitung meldete.

«Können Sie herkommen? Bitte, schnell. Stanbury House. Wir brauchen auch einen Notarzt.«

«Sprechen Sie lauter. Wohin sollen wir kommen?«

«Stanbury House. Es liegt…«

«Ich weiß, wo das ist. Was ist denn passiert?«

Ihr war klar, wie verrückt es klingen mußte, was sie erzählte.»Hier liegen drei Tote. Vielleicht noch mehr, das weiß ich nicht. Eine Frau steht unter Schock. Der Typ, der das getan hat, ist vielleicht noch in der Nähe. Bitte, beeilen Sie sich!«

Seine Zweifel waren durch den Apparat förmlich spürbar.»Drei Tote?«

«Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Ich war weg, und als ich wiederkam, habe ich drei Tote gefunden. Mein Mann ist verschwunden, und seine Tochter auch, und der Mann meiner Freundin…«

Sie holte tief Luft.»Bitte«, stieß sie hervor,»bitte kommen Sie, so schnell Sie können!«

«Alles klar«, sagte er und legte auf.

Gleich werden sie da sein. Alles wird in Ordnung kommen.

Nichts würde in Ordnung kommen. Die Schrecken dieses Tages würden für immer über ihr liegen. Sie würde die Bilder nie vergessen, und nie die Gedanken an das Grauen, das ihnen zugrunde lag. Nichts würde je wieder sein, wie es gewesen war. Und noch immer wußte sie nicht, ob Alexander am Leben war.

Sie hörte ein Geräusch und fuhr herum. Sie erwartete, dem Killer gegenüberzustehen, aber statt dessen sah sie nur, wie sich die Tür zum Eßzimmer langsam bewegte. Im ersten Moment glaubte sie — hoffte sie —, der Wind habe sie angestoßen. Doch dann fiel ihr Blick auf die kleine Gestalt, die um die Tür herum, flach auf den Boden gepreßt, aus dem Zimmer gekrochen kam. Es war Sophie. Sie war blutüberströmt und brach auf der Schwelle reglos zusammen.

Sie lebte.

2

Phillip hatte natürlich gewußt, daß er Geraldine nicht ewig würde aus dem Weg gehen können, hatte den Moment jedoch gefürchtet und auf eine unsinnige Weise gehofft, er werde vielleicht gar nicht eintreten. Dabei kannte er sie zu genau: Ohne eine weitere Aussprache mit ihm würde sie nicht abreisen. Ganz abgesehen davon hatte er ihr durch das Ausleihen des Wagens selbst die Möglichkeit gegeben, guten Gewissens in Stanbury auszuharren.

Er hatte das Auto geparkt und betrat den Empfangsraum des The Fox and The Lamb und stieß dabei gleich hinter der Tür mit ihr zusammen. Ein Rückzug war ausgeschlossen. Sie standen einander direkt gegenüber.

Sie mußte viel geweint haben in den letzten Stunden, denn ihre Augen waren verquollen. Sie hatte sich nicht geschminkt und war zum erstenmal, seit er sie kannte, nachlässig gekleidet: schwarze Leggings, wie sie sie sonst nur zum Joggen trug, darüber ein weißes T-Shirt, das voller Flecken war und seit Tagen in die Waschmaschine gehört hätte. Kein Schmuck. Ihre Haare waren mit einem roten Gummi zusammengebunden; seitlich hatten sich Strähnen gelöst und hingen ihr ins Gesicht. Es war klar, daß sie sich in einer desolaten psychischen Verfassung befand.

«Ah«, sagte er,»Geraldine!«

Eine idiotische Begrüßung, aber das schien sie gar nicht zu bemerken.

«Ich dachte schon, du bist abgereist«, sagte sie.

Er lachte ein wenig hektisch.»Mit deinem Wagen? Du magst eine ziemlich schlechte Meinung von mir haben, aber du solltest doch wissen, daß ich kein Dieb bin. Ich würde nie dein Auto klauen.«

«Wo warst du?«

Er machte eine vage Handbewegung.Ȇberall. Hier und dort.

Ich wollte nach Leeds fahren und einen Anwalt aufsuchen, um alles mit ihm zu besprechen, aber ich bin dann doch wieder umgekehrt.«

«Du kennst doch gar keinen Anwalt in Leeds.«

«Eben. Ich wollte einen Freund in London anrufen, der mir vielleicht hätte weiterhelfen können, aber ich habe ihn nicht erreicht. Dann dachte ich, ich könnte es auf eigene Faust versuchen, aber…«

Er schüttelte den Kopf.»Dumme Idee. Ein halber Tag, den ich vertan habe. Egal. Ich muß mir andere Wege überlegen. Vielleicht werde ich einen Londoner Anwalt aufsuchen. Ich… im Grunde war alles noch nicht richtig von mir durchdacht.«

Sie lächelte, ohne dadurch auch nur im geringsten glücklicher zu wirken.»Du bist immer davon ausgegangen, daß dich diese Patricia in die Arme schließt und dich als neuen Verwandten willkommen heißt und gern ihr Haus mit dir teilt. Die andere Variante hast du gar nicht wirklich in Erwägung gezogen. Und jetzt flatterst du ein bißchen hilflos herum.«

«Mag sein. Aber ich werde eine Möglichkeit finden.«

«Natürlich. Vorher gibst du sowieso keine Ruhe.«

«Na ja«, sagte er, und dann standen sie einen Moment lang schweigend da, sahen einander an, und zwischen ihnen lagen die Erinnerungen an vergangene Jahre und das Wissen, daß es keine gemeinsame Zukunft gab.

«Es hat sich wohl nichts geändert bei dir«, sagte Geraldine schließlich. Er wußte, was sie meinte, und schüttelte den Kopf.

«Nein. Tut mir leid.«

«Es gibt für mich kaum noch einen Grund, hierzubleiben«, meinte Geraldine.

Er dachte, daß es für sie nie einen Grund gegeben hatte, mitzukommen, aber das sagte er natürlich nicht.»Ich glaube, für dich ist es nicht besonders spannend, hier in dieser noblen Herberge herumzusitzen. In London kannst du arbeiten.«

«Ja.«

Es war deutlich, daß sie schon wieder mit den Tränen kämpfte, aber sie schien wild entschlossen, nicht in Phillips Gegenwart zu weinen, und er war ihr dankbar dafür.»Ich werde dann jetzt anfangen, meine Sachen zu packen. Vielleicht schaffe ich es noch heute bis nach London zurück.«

«Es bleibt ja abends lange hell. Ich denke, du wirst kein Problem mit dem Fahren haben.«

Er reichte ihr den Autoschlüssel. Er dachte, daß sie wunderbar sachlich, vernünftig und freundschaftlich mit dem Ende ihrer Beziehung umgingen, genau so, wie es die lebensfremden Berater in Zeitungen oder im Fernsehen immer propagierten. Nichts davon war echt, nicht auf Geraldines Seite. Sie war das Opfer. Fast immer gab es ein Opfer, wenn eine Beziehung in die Brüche ging; es gab den, der das Aus wollte und vorantrieb, und den, dem keine Wahl blieb. Ihm war klar, daß Geraldine ihn am liebsten geohrfeigt, ihm mit sich überschlagender Stimme die verlorenen Jahre ihres vergeblichen Hoffens vorgehalten hätte. Irgendwann würde sie es wohl auch noch tun. Er glaubte nicht, daß sie einfach aus seinem Leben verschwinden würde. Sie war der Typ, der sehr lange kämpfte, ehe er aufgab.

Sie nahm den Schlüssel. Er sah, daß sie sich die Fingernägel abgebissen hatte. Als sie einander kennenlernten, hatte sie an den Nägeln gekaut, dann war das für eine Weile vorbei gewesen, war danach gelegentlich wieder aufgeflammt, aber nie mehr ganz schlimm. Jetzt konnte man wieder rohes, an manchen Stellen blutiges Fleisch sehen. Es ging ihr richtig schlecht, aber er wollte um keinen Preis Mitleid für sie empfinden. Und er wollte schon gar kein Schuldgefühl entwickeln.

«Also, dann«, sagte er unbeholfen.

Sie sah ihn an — er wußte den Blick nicht zu deuten — und drehte sich um. Im Weggehen sagte sie:»Vielleicht sieht man sich mal wieder.«

Und er erwiderte:»Klar, warum nicht? In London können wir doch mal zusammen was trinken.«

Aber nicht so bald, fügte er im stillen hinzu.

Sie antwortete darauf nicht, sondern stieg wortlos die Treppe hinauf. Von hinten konnte er sehen, daß ihre Schultern zuckten. Sie weinte schon wieder.

3

Die zwei jungen Constables — Jessica schätzte sie auf kaum älter als Mitte zwanzig —, die schließlich in Stanbury House eintrafen, mochten skeptisch und mißtrauisch wegen der eigenartigen Meldung über das Massaker dort gewesen sein, aber ihre Haltung löste sich blitzschnell auf beim Anblick der hingemetzelten Patricia in der Schaftränke. Der eine von ihnen setzte sich für ein paar Minuten auf einen Felsstein, der aus dekorativen Gründen vor dem Eingang lag, und wischte sich ein paarmal tief atmend mit seinem Taschentuch über das Gesicht, ehe er über Funk Verstärkung anforderte und auf die Dringlichkeit des Erscheinens eines Notarztes hinwies.

Der andere betrat tapfer das Haus und stieß dort auf Jessica, die nicht wieder nach oben gegangen war, sondern in der Tür zum Eßzimmer kauerte und die schwer verletzte Sophie im Arm hielt. Sie hatte weder gewagt, das Mädchen allein zu lassen, noch es zu bewegen, da sie über die Schwere möglicher innerer Verletzungen nichts wußte. Also hatte sie ausgeharrt und gebetet, die Polizei möge bald da sein.

«Guter Gott«, sagte der Beamte,»lebt das Kind noch?«

«Ja. Aber sie ist schwer verletzt. Stichwunden im ganzen Oberkörper. Wo ist der Notarzt?«

Der Beamte drehte sich zur Tür.

«Wir brauchen verdammt schnell einen Arzt!«rief er seinem Kollegen zu.»Hier ist ein schwer verletztes Kind!«

«Arzt kommt gleich!«tönte es von draußen.

Er drehte sich wieder zu Jessica um.

«Sind Sie die Dame, die angerufen hat?«

«Ja.«

«Okay. Okay.«

Er war sichtlich von der Situation überfordert.»Sie sprachen von mehreren Toten?«

«Da drüben in der Küche liegt ein toter Mann. Oben im Dachboden ein totes Kind. Dann ist da oben noch eine Frau, die lebt, aber komplett unter Schock steht. Sie braucht auch einen Arzt.«

«Okay«, sagte er wieder,»okay.«

Er überlegte.»Ich werde mir das jetzt alles ansehen. Sie haben nichts angefaßt?«

«Ich habe Patricia hochgehoben. Ich wußte nicht… ich mußte nachsehen, was los war. Ich habe bei Diane den Puls gefühlt — das ist das kleine Mädchen, das oben tot auf seinem Bett liegt. Sonst habe ich nichts angefaßt. Außer verschiedenen Türgriffen natürlich.«

«Hören Sie, der Arzt muß gleich da sein. Können Sie das Kind so lange halten? Ich muß mich im Haus umsehen. Hinweise, daß der Täter noch da ist?«

«Ich habe niemanden bemerkt.«

«In Ordnung. Ich gehe erst mal in die Küche.«

Er machte eine Bewegung hinüber zur Küchentür, hinter der noch immer Tims Hand hervorschaute.»Ich muß mir einen Überblick verschaffen.«

Leise sagte sie:»Ich konnte meinen Mann nicht finden. Ich hoffe, er ist nicht…«

Sie sprach das Schreckliche nicht aus.

Der Beamte versuchte ein Lächeln, das ziemlich hilflos geriet.»Versuchen Sie, nicht das Schlimmste zu denken.«

Angesichts dessen, was sich hier abgespielt hatte, empfand sie diesen Satz als ungewöhnlich naiv.

Sie fanden Alexander im Park, auf einer kleinen Waldlichtung. Er saß auf einer Bank, und sein Kopf hing seltsam abgeknickt zur Seite. Man hatte ihm mit einem einzigen kraftvollen Schnitt die Kehle durchgetrennt, genauso wie bei Patricia, Tim und Diane. Die Vermutung, daß er von hinten überrascht worden war, lag nahe, denn es hatte nicht den Anschein, als habe es irgendeine Gegenwehr seinerseits gegeben. Die einzige Person, die auf andere Art angegriffen worden war, war Sophie: Der Täter hatte hektisch und offenbar unkontrolliert von vorn auf ihren Oberkörper eingestochen. Dieser Umstand hatte ihr das Leben gerettet — zumindest vorläufig. Man hatte sie mit dem Hubschrauber in eine Klinik in Leeds gebracht, wo sie auf der Intensivstation mit dem Tod kämpfte. Ihr Zustand war äußerst kritisch. Der Polizeiarzt, der die Leichen untersuchte, hatte sich Sophies Verletzungen nicht mehr ansehen können, daher blieb es zunächst eine Vermutung, daß sie mit derselben Tatwaffe wie die anderen attackiert worden war. Bei den Toten war jeweils ein und dieselbe Waffe benutzt worden. Das Messer hatte man auch schon bald auf der rückwärtigen Veranda gefunden. Ein Anglermesser. Mehrere dieser Art hingen in der Küche über der Spüle, eines fehlte, so daß die Vermutung sehr nahe lag, daß die Tatwaffe aus dem Haus selbst stammte. Das Messer lag zwischen den Blumentöpfen, die Patricia noch wenige Stunden zuvor bepflanzt hatte, und es hatte nicht den Anschein, als ob der Täter — oder die Täter — versucht hätte, es zu verstecken. Die Leute von der Spurensicherung, die Haus und Grundstück durchkämmten, hatten es in eine Plastiktüte gepackt; es würde nun auf Fingerabdrücke untersucht werden.

Die ersten Ermittlungen leitete Superintendent Norman, Leiter der Polizeidienststelle Leeds, den man herbeigerufen hatte, als klar wurde, daß dieser Fall eine weit größere Dimension annahm, als ortsüblich war. In Stanbury und Umgebung ging es um Schlägereien in den Pubs, um Viehdiebstahl oder Trunkenheit am Steuer. Niemand konnte sich erinnern, daß je etwas Schlimmeres geschehen war.

Nun aber hatte man vier Tote, die noch dazu barbarisch abgeschlachtet worden waren, und ein schwerverletztes Kind, bei dem nicht sicher war, ob es sich von seinen Verletzungen erholen würde. Zu allem Überfluß handelte es sich bei den Opfern um Ausländer. Das Motiv der Tat lag völlig im dunkeln.

Superintendent Norman war klein und dick, hatte listige dunkle Augen und zwei Narben auf der rechten Wange, die sein fleischiges Gesicht ein wenig markanter wirken ließen. Er trug einen dunklen Anzug und schwitzte heftig. Seine Haut glänzte feucht, und seine Stirnhaare hatten sich zu Kringeln verklebt. Er saß mit Jessica im Wohnzimmer. Nebenan, im Eßzimmer, kümmerte sich ein Arzt um Evelin, während eine Beamtin versuchte, ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Der Arzt hatte es geschafft, Evelin die Treppe hinunterzuführen, aber sie hatte sich dabei bewegt wie eine Puppe, die nichts von dem mitbekam, was um sie herum geschah. Ihre Augen waren völlig starr.

«Eine unfaßbare Geschichte«, sagte Norman,»völlig unfaßbar. Glauben Sie, Sie können den Vormittag noch einmal mit mir durchgehen, Mrs. - äh«, er schaute auf seinen Notizblock,»Mrs. Wahlberg? Fühlen Sie sich dazu imstande?«

Sie wußte seit zwanzig Minuten, daß ihr Mann tot war. Eine junge, blonde Polizistin hatte es ihr schonungsvoll mitgeteilt. Sie war nicht besonders überrascht gewesen, hatte ruhig und gefaßt reagiert. Im Augenblick hatte sie das Gefühl, als gelinge es ihrem Verstand nicht, wirklich zu begreifen, was geschehen war. Das ganze Ausmaß ihres persönlichen Dramas drang nicht bis zu ihr vor.

«Ja. Ich bin okay.«

«Gut. Wenn Sie nicht mehr können, wenn Sie einen Arzt brauchen, dann sagen Sie es. Sie müssen sich nicht quälen, verstehen Sie?«

«Ja.«

«Zunächst: Wenn ich das richtig verstanden habe, was Sie dem Constable gesagt haben, so haben hier insgesamt neun Menschen ihre Ferien verbracht. Davon sind vier… ermordet worden. Dazu das verletzte Kind, die nicht ansprechbare Frau und Sie. Wer sind die zwei, die fehlen?«

«Meine… Stieftochter. Ricarda. Die Tochter meines Mannes aus seiner ersten Ehe. Und…«

«Wie alt ist Ihre Stieftochter?«

«Fünfzehn.«

Er nickte. Sie fuhr fort:»Und Leon. Leon ist Patricias Mann. Also der Mann der Frau, die ich… zuerst gefunden habe.«

«Die der Täter im Hof vor dem Haus getötet hat.«

«Ja.«

«Wissen Sie, wo sich Ricarda und Leon aufhalten?«

«Nein. Eines der Leihautos fehlt, und ich vermute, daß Leon damit weggefahren ist. Ich weiß aber nicht, wohin.«

«Fährt er öfter einfach so weg? Ohne zu sagen, wohin?«

«Eigentlich nicht.«

Der Beamte konnte, so dachte sie, keine Ahnung haben, wie sehr seine Frage den Kern des Beziehungsgeflechts der Menschen von Stanbury House traf: Nie hatte jemand etwas getan, ohne es mit allen anderen zu besprechen.

«Aber«, fügte sie hinzu,»vielleicht hat er ja mit seiner Frau gesprochen. Oder mit jemand anderem. Wir können das nur nicht mehr herausfinden.«

«Sie haben das Haus schon recht früh heute verlassen?«

«Gegen zehn Uhr, würde ich sagen.«

Er machte sich eine Notiz.

«Was ist mit Ihrer Stieftochter? Ricarda. Wann haben Sie die zuletzt gesehen?«

«Gestern abend.«

Er zog die Augenbrauen hoch.»Heute morgen nicht?«

Sie empfand es als kompliziert, ihm all die Vorkommnisse aufzuzählen, war sich auch im klaren darüber, wie absurd sich das alles anhören mußte. Dennoch machte es wohl kaum einen Sinn, der Polizei gegenüber Informationen zurückzuhalten.

«Ricarda war offenbar bereits verschwunden, als wir alle heute früh aufwachten.«

Sie berichtete in kurzen Worten von dem Eklat mit dem Tagebuch, wobei sie die Haßgefühle, die darin zum Ausdruck gekommen waren, nicht erwähnte, sondern sich auf die Romanze beschränkte, die Ricarda mit einem Jungen aus der Gegend begonnen hatte.

«Sie hat sich verliebt, und sie wollte soviel Zeit wie möglich mit dem Jungen verbringen. Ich hielt das für ganz normal. Aber Patricia war anderer Meinung.«

«Patricia Roth«, sagte er nachdenklich,»sie gab hier den Ton an?«

«Nun, es ist… es war ihr Haus, und…«

«Schon. Aber Ricarda war nicht ihre Tochter. Mir erscheint es ungewöhnlich, wie stark sie sich offenbar in diese Angelegenheit eingemischt hat.«

«Sie war einfach so«, sagte Jessica, und voller Grauen dachte sie: Wir reden von ihr in der Vergangenheit. Vor ein paar Stunden habe ich noch mit ihr gesprochen, und jetzt ist aus dem Ist ein War geworden.

«Wer ist der junge Mann, mit dem sie sich trifft?«

«Wir kennen ihn nicht.«

Er zog eine Augenbraue hoch.»Nein?«

«Die Sache hatte sich hier so zugespitzt… sie weigerte sich schließlich, uns den Namen ihres Freundes zu nennen.«

Er musterte sie eindringlich aus seinen klugen Augen.»Nicht so ganz die harmonische kleine Feriengemeinschaft, oder?«

Sie erwiderte nichts darauf. Er seufzte leise.»Sie vermuten, Ricarda ist jetzt bei ihrem Freund?«

«Ja.«

«Man sollte sie finden. Schließlich muß sie erfahren, daß…«

Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Daß ihr Vater tot ist, dachte Jessica, und für einen Moment wurde ihr schwindlig, ihre Hand griff hilfesuchend nach der Armlehne des Sessels.

Das Gesicht des Superintendent war dicht vor ihrem.»Was ist? Ist Ihnen nicht gut? Soll ich den Arzt herüberbitten?«

Sie konnte wieder klar sehen.»Nein, danke. Es geht schon.«

«Sie sind eben ganz weiß im Gesicht geworden.«

Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ein feuchter Film hatte sich auf ihr Gesicht gelegt.»Ich… die ganze Sache…«

Er sah sie mit aufrichtigem Mitgefühl an.»Entsetzlich. Ein Alptraum. Ich bewundere, wie sehr Sie die Fassung bewahren.«

Irgendwann werde ich nicht mehr weiterkönnen, dachte sie.

«Sie sagen, Sie haben gegen zehn Uhr das Haus verlassen «fuhr Norman fort,»und zu diesem Zeitpunkt war Ricarda nicht auffindbar. War Mr. Roth — Leon — noch da?«

Sie überlegte.»Ich kann es Ihnen nicht sagen. Gesehen habe ich ihn nicht, als ich ging. Ob das Auto noch dastand oder nicht — das weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Ich habe einfach nicht darauf geachtet.«

«Wen haben Sie denn bewußt gesehen, als Sie fortgingen?«

fragte Norman.

Sie hatte im Eßzimmer gesessen und in Kevin McGowans Memoiren gestöbert und sich irgendwann erinnert, daß sie eigentlich hatte Spazierengehen wollen. Sie war in die Halle getreten…

«Patricia«, sagte sie,»Patricia stand in der Eingangshalle, als ich gehen wollte. Zusammen mit Steve. Das ist der Gärtner, der sich hier manchmal um den Park kümmert.«

«Wie heißt Steve mit Nachnamen?«

Sie wußte es tatsächlich nicht. Sie hatte sich nie darum gekümmert. Steve war einfach Steve.

Norman fand das nicht tragisch.»Das kriege ich heraus. Dieser Steve war also hergekommen, um zu arbeiten?«

«Vermutlich. Ich…«

Ihr Blick glitt zum Fenster hinaus, und nun endlich sah sie, was sich verändert hatte.»Der Rasen«, sagte sie,»der Rasen hinter dem Haus ist gemäht. Sicher war Steve deswegen da.«

«Das überprüfen wir. Also, Mrs. Roth und Steve standen in der Halle. Sonst noch jemand?«

Sie schluckte. Das letzte Mal, daß sie ihn lebend gesehen hatte…»Mein Mann«, sagte sie,»er kam die Treppe herunter.«

«Sie sprachen miteinander?«

«Ja. Natürlich.«

So natürlich war das gar nicht, dachte sie. Sie hatten die Nacht getrennt verbracht, zum erstenmal seit ihrer Hochzeit. Sie war nicht sicher gewesen, wie es weitergehen sollte. Sie war entsetzt über ihn gewesen, erschüttert, tief enttäuscht. Es hatte keine Gelegenheit mehr für eine Aussprache gegeben. Nun würde es auch keine mehr geben.

Ich werde weinen. Irgendwann. Aber nicht jetzt. Bloß nicht jetzt.

«Er machte sich Sorgen wegen Ricarda, wußte nicht, was er tun sollte. Ich sagte ihm, sie sei bestimmt bei ihrem Freund nach der Geschichte vom Vorabend. Er solle sie meiner Meinung nach in Ruhe lassen, also auch gar nicht nach ihr suchen. Sie brauche Zeit.«

«Und dann?«fragte Norman, nachdem Jessica eine Weile geschwiegen hatte.

Er erkannte die Trostlosigkeit in ihren Augen, als sie antwortete:»Dann bin ich gegangen.«

Er hatte feine Antennen.»Sie waren böse auf ihn wegen der Sache mit dem Tagebuch?«

Böse?» Ich glaube eher, ich war erschüttert«, sagte Jessica,»denn etwas von dem Bild, das ich von ihm hatte, war zerbrochen. Ich kam nicht damit zurecht. Ich wollte allein sein.«

«Es hat dann auch keine Klärung mehr gegeben?«

«Nein. Ich ging fort, und als ich wiederkam…«

Sie machte eine hilflose Bewegung mit den Armen.

«Sie sind sehr lange gelaufen.«

Norman rechnete nach.»Wenn Sie sagen, daß zwischen Ihrer Ankunft am Haus und Ihrem Anruf bei der Polizei etwa eine halbe Stunde lag, dann müßten Sie gegen vierzehn Uhr hier gewesen sein. Das heißt, Sie waren vier Stunden unterwegs.«

«Das ist nicht ungewöhnlich bei mir. Ich laufe jeden Tag viele Kilometer. Heute kam noch dazu… ich war aufgewühlt. Ich wollte nachdenken. Mich beruhigen. Ich bin gelaufen, ohne zu bemerken, wie die Zeit verging.«

«Ich verstehe.«

Norman nickte.»Mit wem von den Leuten hier haben Sie heute noch gesprochen? Mit allen?«

«Nein. Nur noch mit Tim. Mr. Burkhard. Frühmorgens.«

«Um wieviel Uhr?«

«Etwa… um kurz nach acht, würde ich sagen.«

«Wo war das?«

«In der Gartentür des Wohnzimmers. Ich kam von einem Spaziergang zurück, und…«

«Sie waren morgens schon einmal unterwegs?«

«Ja, in aller Frühe. Mit meinem Hund. Ich konnte nicht schlafen.«

Norman dachte an seinen Arzt, der ihm immer wieder empfahl, sich mehr zu bewegen, und seufzte. Er haßte es, zu laufen.

«Gut. Sie trafen ihn also. Und?«

«Er war… ein bißchen ärgerlich. Niemand hatte den Tisch gedeckt und das Frühstück vorbereitet. Außerdem erinnere ich mich, daß er irgendwelche Notizen suchte. Nein, eher Texte, die er im Computer geschrieben und dann ausgedruckt hatte. Er ist Psychotherapeut und saß während der ganzen Ferien an den Vorbereitungen zu seiner Promotion.«

«Er machte sich Sorgen?«

Sie zuckte mit den Schultern.»Er maulte jedenfalls herum, aber ich ließ ihn einfach stehen.«

Er musterte sie eindringlich.»Mochten Sie Mr. Burkhard?«

Warum hätte sie lügen sollen?

«Nein«, sagte sie.

«Warum nicht?«

«Ich empfand ihn als zudringlich. Vielleicht war er einfach durch seinen Beruf geschädigt. Er analysierte an mir herum und kam mir damit irgendwie zu nahe. Ich mochte meine Probleme nicht mit ihm besprechen.«

«Haben Sie denn Probleme?«

«Wer hat die nicht?«

«Würden Sie sagen, daß Ihre Ehe in Ordnung war?«.

«Ja.«

«Wie war Ihr Verhältnis zu den anderen Personen hier im Haus?«

Sie zögerte.»Wir waren Freunde. Doch manchmal, glaube ich, saßen wir hier ein bißchen zu dicht aufeinander. Es war nicht immer spannungsfrei. Aber insgesamt kamen wir gut miteinander zurecht.«

«War Patricia Roth eine enge Freundin von Ihnen?«

«Nein.«

Das Nein hatte scharf geklungen. Natürlich hakte Norman nach.»Sie mochten sie nicht?«

«Ich fand sie sehr anstrengend. Sie wollte hier immer alles managen und hatte nicht allzuviel Verständnis für Menschen, die eine individuelle Urlaubsgestaltung vorziehen. Daraus resultierten Probleme. Aber ich kann nicht wirklich sagen, daß ich sie nicht gemocht hätte.«

«Hm.«

Er sah ziemlich ratlos drein, und eigentlich, dachte Jessica, konnte man ihm das nicht verübeln.

«Haben Sie irgendeine Vorstellung, wer das hier getan haben könnte?«fragte sie nach einigen Momenten des Schweigens.

«Hm«, machte er wieder. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, er werde ihr gegenüber nicht ganz offen sein.

«Im Augenblick tappe ich noch ziemlich im dunkeln«, meinte er dann.»Wenn ich ehrlich bin, so war ich in meiner ganzen polizeilichen Laufbahn noch nie mit einem solchen Verbrechen konfrontiert. Ein solches Gemetzel…«

Er schüttelte den Kopf.

«Das muß ein Geistesgestörter getan haben«, sagte Jessica,»denn es gibt doch ganz offensichtlich kein Motiv. Es sieht

nicht so aus, als ob etwas gestohlen worden wäre. Es ist so sinnlos. Zwei kleine Kinder…«

«Was uns sinnlos erscheint, mag für einen anderen Menschen durchaus Sinn haben«, entgegnete Norman.»Wer immer der Täter war, er — oder sie — hatte ein Motiv.«

«Aber, um Gottes willen, welches Motiv sollte es denn da geben?«

«Wenn ich das wüßte, hätte ich den Täter.«

«Gibt es hier irgendwo ein Irrenhaus? Oder ein Gefängnis? Vielleicht ist jemand ausgebrochen, oder…«

«Mrs. Wahlberg, ich will Sie nicht beunruhigen. Natürlich können wir es hier mit einem Täter von außen zu tun haben. Aber eine Erfahrung habe ich während meiner Tätigkeit als Polizeibeamter immer wieder gemacht: Bis auf den klassischen Fall der im nächtlichen Park vergewaltigten Frau oder des Raubmordes in der Tiefgarage oder ähnliches hat sich bei den meisten Verbrechen am Schluß herausgestellt, daß die Täter innerhalb der Familie oder des Freundeskreises zu suchen waren. Selten war das Opfer zufällig ausgewählt worden. Es gab eine Vorgeschichte, die, kannte man sie erst einmal, geradezu zwangsläufig auf die Tragödie hingeführt hatte.«

Ihre Kehle wurde eng. Sie hatte ganz normal sprechen wollen, aber ihre Stimme war nur ein Flüstern.»Sie meinen… es war einer von uns?«

«Ich versuche, mir meinen Blick nicht durch irgendeine vorgefaßte Meinung trüben zu lassen. Deshalb meine ich in diesem Stadium noch gar nichts. Aber ich schließe auch nichts aus.«

Wieder hatte sie den Eindruck, daß er nicht ganz aufrichtig war, aber sie war zu deprimiert und erschöpft, um nachzufragen, und überdies hätte er ihr kaum eine ehrliche Antwort gegeben. Sie hatte brennenden Durst, wie sie plötzlich bemerkte, und ihr war leicht übel. Sie sehnte sich danach, allein zu sein, eine Tür hinter sich zumachen zu können, sich zwischen kühlen Bettlaken auszustrecken. Sie sehnte sich danach, begreifen zu können, was geschehen war. Sie sehnte sich danach, zu weinen.

«Sie verstehen sicher, daß Sie nicht hier im Haus bleiben können«, sagte Norman.»Es wird eine Weile dauern, bis die Spurensicherung ihre Arbeit beendet hat und wir danach alles wieder freigeben können. Wir werden ein Hotel für Sie finden.«

«Ich möchte so schnell wie möglich nach Deutschland zurück. Mein… mein Mann soll dort beerdigt werden, und…«

«So schnell wird das nicht gehen.«

Sie neigte sich nach vorn. Ihr Mund war so ausgedörrt, daß sie meinte, er sei mit Watte gefüllt.

«Ich bin schwanger. Im dritten Monat. Ich brauche meinen Arzt. Regelmäßige Kontrolluntersuchungen. Ich muß nach Deutschland!«

Seine Augen waren voll Mitgefühl.»Sie sollten da natürlich keinesfalls ein Risiko eingehen«, sagte er,»aber Sie können doch sicher so lange bleiben, wie Sie ohnehin geblieben wären?«

«Bis Ende dieser Woche. Ja. Am Sonntag wären wir zurückgeflogen«

«Ich danke Ihnen. Und dann…«, er zögerte.»Es ist reine Routine«, sagte er schließlich,»aber wir müssen Fingerabdrücke von Ihnen nehmen. Von den anderen auch. Es gehört einfach dazu.«

Sie nickte. Es war ihr egal. Ihre Augen brannten. Wann ließ er sie endlich allein?

Es wurde an die Tür geklopft, und die blonde Beamtin, die Jessica die Nachricht vom Tod Alexanders überbracht hatte, erschien.

«Ich glaube, Sie können jetzt mit Mrs. Burkhard sprechen«, sagte sie.

Norman erhob sich sofort.»Ich komme.«

Gleichzeitig entbrannte in der Eingangshalle ein Tumult. Laute Stimmen, ein Polizist rief:»Sie können hier nicht einfach herein! Sie müssen sich ausweisen!«

«Ich werde doch mein eigenes Haus noch betreten dürfen«, sagte Leon. Er schob die blonde Beamtin zur Seite und trat ins Wohnzimmer. Er starrte Jessica an.

«Was, zum Teufel, ist hier passiert?«fragte er. Er sprach deutsch.»Was wollen diese Horden von Bullen hier?«

Sie barg ihr Gesicht in beiden Händen und wandte sich ab.

Überließ es Superintendent Norman, zu sagen, was zu sagen war.

4

Die Nachricht von der schrecklichen Bluttat in Stanbury House machte blitzschnell die Runde im Dorf, ohne daß man später genau hätte sagen können, warum und an welcher Stelle die Neuigkeit so rasch durchgesickert war. Natürlich überschlugen sich die Gerüchte: Es gebe keinen Überlebenden, hieß es, von grausamen Folterungen war die Rede, von Gruppensex, den es zuvor unter den Fremden aus Deutschland gegeben haben sollte, und von einem Blutrausch der Eifersucht, der sich anschließend Bahn gebrochen hatte. Man erzählte sich furchtbare Dinge, und die ersten Bürger marschierten oder fuhren bereits hinaus zu dem Landhaus, ohne allerdings auch nur bis an das Tor gelangen zu können; die Polizei hatte das ganze Gelände weiträumig abgesperrt. Die Atmosphäre in Stanbury, die zuvor so friedlich, langweilig und idyllisch gewesen war wie in jedem Frühling, wandelte sich schlagartig. Das Böse war greifbar geworden. Noch wußte niemand es genau zu definieren, noch hatte es kein Gesicht. Aber es hatte alles Grauen, das es in sich barg, über dem kleinen, abgeschiedenen Ort ausgeschüttet, schlimmer und furchtbarer, als irgend jemand in der Gemeinde je fähig gewesen wäre, es sich auszumalen.

Alle hatten Angst. An diesem sonnigen, warmen Aprilnachmittag spielte nicht ein Kind auf den Straßen des Dorfes.

Geraldine erfuhr im Gemischtwarenladen von dem Drama. Sie hatte Stunden in ihrem Zimmer verbracht, sich mit der Frage herumgeschlagen, ob sie wirklich abreisen sollte, und war immer wieder zu dem Ergebnis gelangt, daß ihr nichts anderes übrigblieb, wenn sie einen Funken Selbstachtung bewahren und auch in Phillips Augen nicht völlig lächerlich dastehen wollte. Schließlich hatte sie schluchzend ihre Sachen gepackt und an der Rezeption Bescheid gesagt, daß sie an diesem Tag noch nach London zurückmüsse. Sie hatte ihre Sonnenbrille aufgesetzt, damit niemand ihre verweinten Augen sah, aber das picklige Mädchen vom Hotel musterte sie mit so penetranter Neugier, als wisse es ganz genau, was los war, und als brenne es nur darauf, nähere Details zu erfahren.

Es war halb fünf, als sie zum Laden hinüberging, um sich ein paar Flaschen Mineralwasser für die Fahrt zu kaufen. Gegessen hatte sie den ganzen Tag noch nichts, aber sie verspürte auch keinen Hunger, sondern fürchtete im Gegenteil, sich übergeben zu müssen, wenn sie auch nur einen Bissen zu sich nahm. Im Hotel war es kühl gewesen, und sie stellte überrascht fest, welche Wärme draußen herrschte. Sie trug eine graue Jogginghose und ein flauschiges, schwarzes Sweatshirt und war damit viel zu warm angezogen. Schon nach ein paar Metern lief ihr am ganzen Körper der Schweiß herunter, und auch mit ihrem Kreislauf schien irgend etwas nicht zu stimmen; jedenfalls flimmerte die Dorfstraße immer wieder vor ihren Augen.

Egal. Eigentlich war jetzt sowieso alles egal.

Der Gemischtwarenladen war voller Menschen, und fast wäre sie erschrocken zurückgewichen. Sie hatte in der Zeit, die sie hier verbracht hatte, schon mitbekommen, daß der Laden beliebter Treffpunkt und Umschlagplatz für Tratsch und Klatsch aller Art war, und es war durchaus nicht unüblich, dort ein paar Frauen in angeregtem Gespräch anzutreffen. Aber diesmal quoll der kleine Raum förmlich über, und die Gesprächswogen schlugen deutlich hoch, weit über das normale Maß hinaus.

Als Geraldine in der Tür erschien, verstummten alle und sahen wie auf Kommando zu ihr hin, und im ersten Augenblick dachte sie schon, sie selbst sei Gesprächsgegenstand gewesen, und fühlte sich instinktiv zu sofortiger Flucht bereit. Es verunsicherte sie, klebrig, verschwitzt und mit fettigen Haaren vor dem versammelten Dorf zu stehen, getarnt mit einer Sonnenbrille, hinter der sich monströs verschwollene, tiefrote Augen verbargen.

Doch wie sich herausstellte, interessierte sich niemand für ihre Aufmachung und ihren ganz persönlichen Kummer.

«Haben Sie es schon gehört?«fragte Mrs. Collins, gierig darauf, einen Menschen zu treffen, dem man die Sensation noch einmal ganz neu und von vorn darlegen konnte.»Haben Sie schon von den schrecklichen Morden in Stanbury House gehört?«

Sie hatte tatsächlich noch nichts davon gehört, wie sollte man auch etwas vom Weltgeschehen mitbekommen, wenn man den ganzen Tag im Zimmer saß und heulte? Später erinnerte sie sich jedoch, daß sofort eine Alarmglocke bei ihr angeschlagen hatte, als sie von dem Verbrechen in Stanbury House erfuhr. Etwas in ihr wurde hellwach und aufmerksam.

Mrs. Collins hatte sich mit ihrer raschen Frage das Recht erworben, die Geschichte vor Geraldine ausbreiten zu dürfen, und sie tat es voller Genuß, gelegentlich natürlich von den Einwürfen der anderen unterbrochen, die etwas hinzufügen oder ausschmücken wollten. Eine gewisse Uneinigkeit herrschte über die genaue Zahl der Opfer. Mrs. Collins beharrte darauf, von wenigstens zwei Überlebenden gehört zu haben, während ihre Schwester felsenfest behauptete, dem Massaker seien sämtliche Angehörige der kleinen Feriengruppe zum Opfer gefallen.

«Ein Kind soll im Krankenhaus liegen!«rief jemand, und ein anderer mischte sich ein:»Einer von denen ist ja angeblich geflüchtet und steht unter dringendem Tatverdacht!«

«Auf jeden Fall«, schloß Mrs. Collins,»verriegle ich meine Haustür jetzt doppelt und dreifach, und nach Sonnenuntergang

tu ich keinen Schritt mehr auf die Straße, bis das Ungeheuer gefaßt ist!«

«Mir tun die Leute auf den einsamen Gehöften ringsum leid«, meinte eine alte Dame, die sich mitsamt ihrer rollenden Gehhilfe in den Laden geschleppt hatte, um nur ja nichts zu verpassen.»Wie muß man sich jetzt fühlen ohne den Schutz von Nachbarn und ringsum nur Wiesen und Felder!«

Zustimmendes Gemurmel begleitete ihre Aussage.

Geraldine hielt sich unauffällig mit einer Hand an einem Regal mit Puddingpulver, Zucker und Tortenguß fest.»Gibt es denn schon irgendeine Erkenntnis, wer das getan hat und warum?«

Auch zu dieser Frage existierten natürlich jede Menge Gerüchte und Theorien, wobei eindeutig die Variante eines Eifersuchtsverbrechens —»Da hat es ja jeder mit jedem getrieben«, sagte Mrs. Collins,»und solche Geschichten gehen nie gut!«favorisiert wurde. Manche glaubten auch an einen Wahnsinnigen, der aus einem Irrenhaus ausgebrochen war, oder an einen Ritualmord von Satansanhängern. Nicht einmal jedoch fiel der Name Phillip Bowen, noch berichtete jemand von einem Mann, auf den seine Beschreibung gepaßt hätte. Auch schien es Geraldine, als sei man sehr unbefangen ihr gegenüber, und da man im Dorf sicher längst wußte, daß sie die Freundin oder Lebensgefährtin des attraktiven Londoners war, der im The Fox and The Lamb Urlaub machte, hätte man sich sicher ganz anders ihr gegenüber verhalten, hätte man Phillip in Verdacht gehabt. Trotzdem hatte sie weiche Knie, und als sie die drei Flaschen Mineralwasser bezahlte, zitterten ihre Hände. Zum Glück fiel das niemandem auf, denn längst schon ging es im Gespräch wieder hoch her, und niemand achtete mehr auf sie.

Sie hastete die Straße entlang, die Flaschen mit dem Wasser dicht an den Körper gepreßt, immer noch schwitzend, aber sie

kümmerte sich nicht darum. Ihr war schwindlig, noch schwindliger als zuvor, und in ihrem Kopf kreiste ein Wirbel aus konfusen und beängstigenden Gedanken. Hatte nicht sie selbst Phillip immer wieder als fanatisch bezeichnet? Hatte sie sich nicht manchmal sogar fast gefürchtet vor ihm, wenn er so voller Wut war, weil niemand ihn verstehen, weil niemand ihm entgegenkommen wollte? Er hatte alles dem Wahn untergeordnet, ein Sohn des verstorbenen Kevin McGowan zu sein, hatte geglaubt, sein ganzes weiteres Leben hänge von dem verdammten Haus ab, davon, dort offiziell aus und ein gehen zu dürfen. Er hatte Patricia Roth gehaßt, nicht nur, weil sie ihm nicht glaubte und das Erbe ihres Großvaters für sich allein beanspruchte, sondern auch für die Verachtung, mit der sie ihn behandelt hatte. Als sei er ein erbärmlicher kleiner Landstreicher, der etwas an sich zu raffen suchte, was ihm nicht gehörte. Er hatte sie gehaßt — aber hatte er sie auch getötet?

Aber doch nicht alle anderen, dachte sie, es sind doch offenbar alle tot oder jedenfalls ganz viele, und das hätte er doch nie getan. Niemals. Er ist neurotisch, er ist verrückt, er ist ein Fanatiker, ein hoffnungsloser Träumer, aber er ist nicht gewalttätig, das würde nicht zu ihm passen, nie, und ich liebe ihn. Ich liebe ihn so unendlich. Ich werde nie damit aufhören können.

Die Tränen flossen schon wieder, ausgelöst durch die Spannung, die Angst und die ganze ausweglose Verzweiflung ihrer Lage. Warum hatte ihr das passieren müssen? Einen Mann so hoffnungslos zu lieben und nichts von ihm zurückzubekommen.

Weinend stolperte sie in den kleinen Empfangsraum des Hotels und wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen. Es war eine absurde Wiederholung der Situation vom Mittag: Sie rempelten in der engen Tür des The Fox and The Lamb aneinander und erschraken beide. Nur daß es diesmal andersherum war, sie kam von draußen, er befand sich drin. Er sah blaß aus, angespannt, das konnte sie selbst in dem düsteren Licht erkennen. An der Rezeption saß das neugierige Mädchen und glotzte.

«Oh, Geraldine, da bist du ja«, sagte er nervös,»ich warte schon auf dich. Kann ich dich sprechen?«

Er wollte seine Hand auf ihren Arm legen, doch sie wich spröde zurück.

«Ich bin eigentlich dabei, abzureisen. Ich hab mir nur noch Reiseproviant gekauft.«

Er blickte auf die Flaschen in ihren Armen. Er lächelte.

«Mineralwasser! Nimmst du überhaupt noch etwas anderes zu dir?«

Sie war nicht gewillt, auf seinen leichten Ton einzugehen.»Meine Figur ist mein Kapital. Ich wollte nicht in dieser Form für meinen Beruf leben, aber da es mir offenbar nicht möglich ist, ein erfülltes Privatleben zu haben…«

Er ging darauf nicht ein. Sein Lächeln war schon wieder ausgeknipst, Nervosität beherrschte seine Züge.»Geraldine, es ist wichtig. Wenn wir zehn Minuten reden könnten…?«

Sie wies auf die kleine Sitzgruppe im Eingangsbereich, aber er schüttelte den Kopf.»Unter vier Augen. Gehen wir zu dir oder zu mir?«

Die vielfach benutzte Redewendung vermochte sie nicht zu amüsieren.»Zu mir«, sagte sie, und hintereinander stiegen sie die schmale, knarrende Treppe hinauf.

«Geraldine, ich habe ein riesiges Problem«, begann er, kaum daß sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.»Hast du von diesem Verbrechen in Stanbury House gehört?«

Der Schreck durchzuckte sie wie ein Stromstoß, jäh und schmerzhaft. Sie hatte es einfach gewußt.

Liebte sie tatsächlich einen verrückten Massenmörder?

Als er ihr Zimmer eine Dreiviertelstunde später verließ, wußte sie noch immer keine Antwort auf diese Frage. Natürlich hatte er vehement abgestritten, irgend etwas mit dieser unfaßbaren Tragödie zu tun zu haben.

«Guter Gott, was hältst du von mir?«hatte er gefragt, war im Zimmer auf und ab gegangen und hatte sich immer wieder kreuz und quer durch die Haare gestrichen, bis sie in komischen kleinen Wirbeln vom Kopf abstanden. Sie hatte zuvor keineswegs etwas gesagt, hatte ihn nur angesehen, und er mußte den Ausdruck von Zweifel und Angst in ihren Augen gelesen haben, denn er hatte sofort gewußt, welche Gedanken ihr im Kopf herumgingen.

«Patricia Roth war in meinen Augen eine widerliche, egozentrische, zutiefst von sich selbst eingenommene Hexe, aber deshalb würde ich sie doch nicht töten! Ich würde überhaupt niemals jemanden töten! Ich hebe Regenwürmer von der Straße auf und setze sie in die Erde, diese Art Mensch bin ich! Ich gehe doch nicht irgendwohin und richte ein Blutbad an!«

«Ist Patricia unter den Toten?«

«Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen? Das ganze Dorf redet darüber, und jeder sagt etwas anderes. Manche behaupten alle sind tot da draußen, andere meinen, es gibt Überlebende. Aber niemand weiß, wer noch lebt und wer nicht.«

«Wenn noch jemand lebt«, hatte Geraldine gesagt,»dann wird er oder sie der Polizei von deinen Auftritten dort berichten.«

Sie stand mitten im Zimmer, immer noch die Wasserflaschen im Arm wie einen Schutzschild.»Sie werden feststellen, daß du ein Motiv hattest.«

«Ein Motiv, dort zu wüten wie ein Wahnsinniger? Was bringt es mir denn, wenn Patricia tot ist? Oder ihr Mann? Ihre Kinder? Meinem Ziel komme ich damit keinen Schritt näher.

Für mich ist nur wichtig zu beweisen, daß ich Kevin McGowans Sohn bin. Patricia spielt dabei keine Rolle!«

Sie hatte für einen kurzen Moment müde ihre verschwollenen Augen geschlossen. Jetzt kam er mit dieser Erkenntnis. Aber vorher hatte er Patricia förmlich die Tür eingerannt, hatte auf eine Unterstützung gehofft, die diese Frau ihm gar nicht hatte geben können.

«Jeder hat mitbekommen, wie fanatisch du warst«, sagte sie,»und deshalb wird man sich auch vorstellen können, daß du allein aus Haß und Rachegefühlen heraus gehandelt hast. Das kann als Motiv schon ausreichen.«

Er war endlich stehengeblieben, hatte genickt.»Deshalb bin ich hier«, sagte er,»ich brauche deine Hilfe.«

Sie sah ihn abwartend an.

«Kannst du nicht die Sonnenbrille abnehmen?«fragte er nervös.»Es irritiert mich, wenn ich deine Augen nicht sehen kann.«

«Nein«, sagte sie.

Er seufzte.»Okay. Okay, Geraldine, die Sache ist die: Ich sitze noch ein bißchen tiefer im Schlamassel, als du denkst. Tatsache ist — ich war heute dort. Ich war im Park von Stanbury House.«

Eigentlich war sie nicht einmal wirklich erschrocken. Da er sich praktisch jeden Tag dort herumgetrieben hatte, wäre es eher ungewöhnlich gewesen, wenn er gerade heute von seinem Rhythmus abgewichen wäre.

«Das erwähntest du vorhin nicht«, sagte sie trotzdem.»Du sagtest, du habest nach Leeds fahren wollen, und…«

Er unterbrach sie ungeduldig.»Ja. Später. Aber vorher war ich dort.«

«Hat dich jemand gesehen?«

«Ich war diesmal nicht nur vorn am Tor. Ich bin von hinten in den Park gekommen. Ich habe dort eine von den Frauen getroffen. Die Dicke, Unglückliche.«

Geraldine schüttelte den Kopf.»Ich kenne niemanden dort.«

«Egal. Ich habe mich neben sie gesetzt und mich ein paar Minuten mit ihr unterhalten. Sie war ziemlich… neben sich. Dann erschien ihr Mann und rief nach ihr.«

«Er hat dich auch gesehen?«

«Ich glaube nicht. Aber sie kann ihm natürlich von mir erzählt haben. Sie kann jedem erzählt haben, daß ich da war, deswegen könnte ich nicht einmal sicher sein, wenn sie unter den Opfern wäre. Oder ihr Mann. Ich könnte überhaupt nur sicher sein, wenn alle tot wären.«

«Sollte die Polizei dich vernehmen, würde ich an deiner Stelle sofort sagen, daß du dort warst. Wenn du es verschweigst und sie erfahren es dann doch irgendwie, machst du dich erst recht verdächtig.«

Er hatte unglücklich genickt.»Du hast vermutlich recht.«

Sie hatte sich bemüht, kühl zu klingen.»Und was willst du nun von mir?«

Er fing wieder an, hin- und herzulaufen.»Also, nach meiner Berechnung muß es ungefähr zwölf Uhr mittags gewesen sein, als ich die Dicke im Park traf. Eher ein paar Minuten später. Ich denke, es war noch nicht ganz halb eins, als ich wieder ging. Irgendwann danach muß das… das Schreckliche passiert sein.«

«Das vermutest du. Vielleicht passierte es, während du da warst. Vielleicht sind die Dicke und ihr Mann die einzigen Überlebenden. Oder waren später an der Reihe.«

«Das ist möglich, aber ich glaube es nicht. Das Haus lag so friedlich in der Sonne. Ich glaube nicht, daß man gar nichts merkt, wenn ein Irrer einen Haufen Menschen abschlachtet. Ich vermute, das alles ist passiert, nachdem ich weg war.«

«Vermuten! Vermuten ist nicht…«

Er unterbrach sie wütend:»Ich weiß das! Ich weiß, verdammt noch mal, daß ich im dunkeln tappe und daß alles noch ungünstiger für mich sein kann, als ich jetzt denke. Aber irgendwo muß ich anfangen, und ich kann mich nur für das entscheiden, was am wahrscheinlichsten klingt. Als ich wegging, lebten definitiv noch zwei Menschen in Stanbury House: die dicke Frau und ihr Mann. Und nichts, aber auch gar nichts, wies darauf hin, daß gerade irgendwo auf dem Gelände ein Verbrechen geschah oder kurz zuvor geschehen war. Daher gehe ich davon aus, daß der oder die Täter später zuschlugen. Irgendwann nach halb ein Uhr mittags.«

Sie begriff jetzt, was er von ihr wollte.

«Du brauchst ein Alibi«, sagte sie.

«Für die Zeit nach halb eins, ja.«

Sie versuchte, den Mittag in der Erinnerung zu rekonstruieren.»Wann haben wir uns unten getroffen?«

Offenbar hatte er sich darüber bereits Gedanken gemacht.»Es war Viertel vor drei. Das weiß ich, weil ich auf die Uhr im Auto schaute, als ich den Motor abstellte.«

«Wo warst du zwischen halb eins und Viertel vor drei? Das waren immerhin mehr als zwei Stunden.«

«Ich habe es dir doch gesagt. Ich wollte eigentlich nach Leeds. Ich wollte einen Anwalt kontaktieren.«

«Du kennst keinen Anwalt in Leeds. Du hattest keinen Termin. Das klingt irgendwie… unglaubwürdig.«

«Ich weiß. Aber es war so. Ich war durcheinander. Ich fuhr einfach drauflos und versuchte zwischendurch, einen Freund in London wegen einer Anwaltsadresse in Leeds zu erreichen. Der meldete sich aber nicht.«

«Selbst wenn er sich gemeldet hätte«, sagte Geraldine,»hätte er dir bestimmt nicht von einem Moment zum anderen einen Termin verschaffen können. Das Ganze war doch eine Schnapsidee von dir!«

Er hob hilflos beide Arme.»Klar. Weißt du, ich bin sicher, daß praktisch jeder Mensch schon einmal in einer Situation gewesen ist, in der er konfus und sinnlos agiert, dies dann irgendwann begreift — so wie ich heute mittag — und daraufhin beschließt, erst einmal wieder zur Ruhe zu kommen und sich dann eine neue Strategie zu überlegen. Aber wenn man plötzlich der Polizei einen Überblick geben muß, was man zu einer bestimmten Zeit getan hat, hört sich eine solche im Grunde alltägliche Geschichte auf einmal verdächtig an.«

Es klang plausibel, was er sagte, und dennoch wurde sie den Schatten des Verdachts nicht los. Im Moment war er zwar nervös, aber auch vernünftig und überlegt. Sie kannte ihn jedoch auch anders. Fanatisch, hitzig, unzugänglich für jedes logische Argument. Wäre er in einer solchen Verfassung zu Gewalt fähig?

«Wo warst du vormittags?«fragte sie.

«Ich bin ziemlich weit gefahren. In einem gottverlassenen Dorf habe ich in einem Pub einen Brunch eingenommen. Danach bin ich nach Stanbury House gefahren.«

«Wir können nicht behaupten, den ganzen Vormittag zusammengewesen zu sein«, sagte Geraldine.»Falls du den Namen des Pubs nennen mußt und sie sich dort erkundigen, wird man sagen, daß du allein warst. Auch die dicke Frau in Stanbury House — falls sie noch lebt — hat dich nur allein gesehen.«

«Ich habe mir folgendes überlegt«, sagte Phillip,»und ich bete, daß es hinhaut: Ich kam vom Brunch zurück und habe dich hier im Hotel abgeholt. Etwa um Viertel nach zwölf. Du hast hoffentlich zu dieser Zeit nicht gut sichtbar im Gastraum gesessen und zu Mittag gegessen?«

Sie lächelte ein wenig.»Du weißt, ich esse praktisch nie. Ich

war die ganze Zeit in meinem Zimmer.«

«Okay. Sehr gut. Ich habe dich also abgeholt. Wir… wir planten eine letzte Aussprache. Wegen unserer Trennungssituation…«

Er sah sie abwartend an, offenbar nicht sicher, wie sie auf den Vorschlag, diese für sie tragische Entwicklung ihrer Beziehung zur Konstruktion eines Alibis zu benutzen, reagieren würde. Sie erwiderte nichts, und was in ihren Augen stand, konnte er durch die Sonnenbrille nicht sehen.

«Ich wollte dann jedoch noch einmal nach Stanbury House«, fuhr er schließlich fort,»so wie jeden Tag. Du warst gereizt — du findest ja, ich sollte diese ganze Geschichte endlich vergessen und aufgeben. Ich parkte ein ganzes Stück vom Tor entfernt, neben ein paar Resten der einstigen Mauer. Dort werden sie auch Reifenspuren finden. Du bliebst im Auto sitzen, du wolltest einfach nichts mit all dem zu tun haben. Ich begab mich in den Park, traf die Dicke. Kehrte dann zu dir zurück, nach ungefähr einer halben Stunde. Wir fuhren ein bißchen kreuz und quer, hielten dann irgendwo zwischen Wiesen und Schafherden. Und redeten. Über uns, unsere Beziehung, über all das, was schiefgelaufen ist.«

«An welcher Stelle genau war das?«fragte Geraldine.

Er überlegte.»Ich denke, es ist gar nicht so wichtig, das genau zu wissen. Würde man in einer solchen Situation wirklich darauf achten, an welchem Wiesenrand man anhält? Ich werde sagen, daß ich in Richtung Leeds gefahren bin, weil das ja der Wahrheit entspricht. Irgendwo auf halbem Weg bog ich in irgendeinen Feldweg ein. Etwa auf der Höhe von Sandy Lane. Na ja, und dort redeten wir dann über alles.«

«Und dann fuhren wir hierher zurück?«

«Und kamen gegen Viertel vor drei an. Von da an stand ja auch das Auto wieder hier, also müssen wir uns an den tatsächlichen zeitlichen Ablauf halten.«

«Wenn dich jemand gesehen hat, wie du ausgestiegen bist, könnte derjenige aber aussagen, daß ich nicht ausgestiegen bin.«

«Dann bist du zwei, drei Minuten später ausgestiegen. Wir waren ziemlich zerstritten. Du hattest geweint, wolltest nicht gesehen werden…«

Er hielt wieder inne.

Wie trefflich das alles paßt, dachte Geraldine. Voller Trauer und voller widerwilliger Bewunderung für seine Kaltblütigkeit.

«Die Sache ist jetzt die«, sagte Phillip,»ich habe dich ja unten im Empfangsraum getroffen. Woher kamst du da gerade? Hatte dich jemand gesehen?«

Sie schüttelte den Kopf.»Ich glaube nicht. Ich wollte eigentlich nur an der Rezeption Bescheid sagen, daß ich abreisen würde. Ich habe ein paarmal geklingelt, aber niemand ist erschienen. Als du zur Tür hereinkamst, wollte ich gerade wieder in mein Zimmer gehen und packen und es später noch einmal unten versuchen.«

«Gut. Wir sind dann beide in dein Zimmer gegangen, haben noch eine Weile geredet…«

Als ob du je bereit gewesen wärst, soviel mit mir zu reden!

«Wo warst du tatsächlich?«fragte sie.

«In meinem Zimmer. Ich habe versucht, ein bißchen zu schlafen, aber das funktionierte nicht. Vor einer Stunde etwa bin ich ein wenig im Dorf umhergeschlendert, dabei hörte ich von dem Verbrechen. Ich bin dann gleich hierher zurückgekommen und habe auf dich gewartet. Das Auto stand ja noch da. Ich wußte, du bist noch nicht abgereist.«

«Ich war den Nachmittag über auch nur in meinem Zimmer«, sagte Geraldine.»Einmal war ich noch kurz unten und habe ausgecheckt. Später bin ich losgegangen und habe das Wasser gekauft, und… na ja, den Rest weißt du ja.«

«Ja«, sagte er,»den Rest weiß ich.«

Sie standen einander gegenüber. Schweigend.

«Hilfst du mir?«fragte er schließlich.

«Ich wollte jetzt eigentlich nach London fahren.«

«Bitte!«

«Ich habe kein Zimmer mehr.«

«Zieh wieder bei mir ein. Begründe deinen geänderten Entschluß mit einem letzten Versöhnungsversuch. Aber laß mich jetzt nicht allein.«

«Weißt du eigentlich, was du da von mir verlangst?«

«Ja.«

Sie stellte endlich ihre Wasserflaschen ab. Die Bewegung hatte den Ausdruck einer Kapitulation.»Ich werde es tun«, sagte sie.»Ich weiß, daß es falsch ist, aber ich werde es tun.«

Sie nahm mit einer ruckartigen Geste die Sonnenbrille ab, und er sah ihre verquollenen, verzweifelten Augen.

«Verdammte Scheiße«, sagte sie in einer für sie völlig untypischen rabiaten Art,»am Schluß werde ich wieder die sein, die leidet!«

5

Geraldine war tatsächlich gezwungen, in Phillips Zimmer überzusiedeln, denn ihr eigenes Zimmer war am späten Nachmittag bereits wieder vergeben worden, und auch sonst war keines mehr frei in der kleinen Pension. Die verfügbaren Räume waren von der Polizei angemietet worden für die Unterbringung der Überlebenden des Verbrechens, das am Mittag in Stanbury House stattgefunden hatte: für Jessica, Leon und Evelin.

Jessica hatte Geraldines früheres Zimmer zugewiesen bekommen. Gegen sechs Uhr am Abend stand sie dort, räumte die Sachen, die sie hastig zusammengepackt hatte, in den Schrank: ein wenig Wäsche, Strümpfe, ein paar T-Shirts, Hosen und Pullover. Den Rest würde sie aus Stanbury House holen, bevor sie abreiste. Nur noch ein paar Tage. Sie konnte es kaum abwarten, wieder in Deutschland zu sein.

Für Barney hatte sie eine Decke mitgenommen und in eine Ecke gelegt. Der kleine Hund hatte sich völlig erschöpft darauf zusammengerollt und schlief nun tief. Die Bedrohung, die vielen Menschen, die Anspannung des ganzen Tages hatten ihn ausgelaugt und waren zuviel für ihn gewesen. Er spürte, daß seine Welt völlig aus dem Gleichgewicht geraten war. Er schien förmlich in den Schlaf zu flüchten.

Jessica wünschte, sie könnte es ihm nachtun.

Sie war todmüde, und zugleich vibrierten ihre Nerven und würden sie keine Sekunde lang zur Ruhe kommen lassen. Ihr Mund fühlte sich trocken an, weil sie den ganzen Nachmittag über geredet hatte, zuerst mit Superintendent Norman, später mit einer Beamtin, dann noch mit einer Psychologin. Allen hatte sie immer wieder das gleiche erzählt, war sich vorgekommen wie eine Platte, die ständig neu abgespielt wird und irgendwann zu leiern beginnt. Die Psychologin wollte vor allem über das Verhältnis der drei Paare und der Kinder zueinander Bescheid wissen, aber mit jeder ihrer bohrenden Fragen war Jessicas Kopfschmerz schlimmer geworden. Sie hatte schließlich um ein Aspirin gebeten, aber das hatte es nicht besser gemacht, und irgendwann hatte sie gesagt, sie könne nicht weiter.

«Es tut mir leid. Ich habe rasendes Kopfweh, und ich fange an, alles doppelt zu sehen. Ich habe Probleme, Ihre Fragen zu verstehen. Es funktioniert einfach nicht mehr.«

Die Psychologin war voller Verständnis gewesen.»Natürlich. Das ist doch kein Wunder. Sie haben heute Schreckliches mitgemacht, und wahrscheinlich haben Sie noch gar nicht richtig begriffen, was geschehen ist. Ich denke, Sie müssen jetzt einfach mal allein sein.«

«Danke«, sagte Jessica, lehnte aber die Beruhigungstabletten ab, die die andere ihr anbot. Sie war überzeugt, daß sie ihr nichts nützen, am Ende aber noch ihr ungeborenes Kind gefährden würden.

Sie hätte gern mit Evelin oder Leon gesprochen, bekam aber beide nicht zu Gesicht. Evelin hatte man in ein Krankenhaus gebracht, wo sie die kommende Nacht verbringen würde; es ging ihr besser, aber sie sollte unter medizinischer Aufsicht bleiben. Leon befand sich noch im Gespräch mit Superintendent Norman. Danach, so sagte die Psychologin, werde man ihn ebenfalls ins Krankenhaus bringen, damit er seine Tochter Sophie sehen konnte. Er würde aber in derselben Pension übernachten wie Jessica.

Sie fragte sich, wie es ihm ging. Man hatte sie aus dem Zimmer geführt, ehe man ihm mitteilte, was geschehen war. Sie sah noch sein fassungsloses Gesicht, hörte seine Stimme.

«He, Jessica, bleib hier! Was ist denn nur los? Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?«

Zwei Beamte fuhren sie und Barney ins Dorf. Es mußte sich herumgesprochen haben, daß man sie ins The Fox and the Lamb brachte — wahrscheinlich hatten die Besitzer geplaudert —, denn es hatte sich eine ansehnliche Menschenmenge vor der Pension versammelt. Man wich zurück, als sich das Polizeiauto näherte, und es herrschte vollkommene Stille, als sie ausstieg. Dann blitzten Fotoapparate, und der eine Beamte stellte sich sofort schützend vor sie, während der andere die Fotografen abdrängte.

«Verdammt«, murmelte der Polizist,»die Presse ist besonders schnell diesmal!«

Sie hatte aufgeatmet, als sie endlich in der schützenden Stille ihres Zimmers angelangt war. Eine Viertelstunde lang lag sie auf dem Bett und hoffte, sich genügend entspannen zu können, um der stechenden Kopfschmerzen Herr zu werden, aber es gelang ihr nicht. So war sie wieder aufgestanden und räumte ihre Sachen in den Schrank, schichtete sie in penibler Ordnung aufeinander, so als könne sie in den akkuraten Stapeln ihrer Pullover einen Halt finden für ihre aufgewühlte Seele.

Zuunterst in der Tasche lag das gerahmte Foto von Alexander. Zu Hause in Deutschland stand es auf ihrem Schreibtisch in der Praxis, und sie hatte es auch mit nach England genommen, um sich in dem Gästezimmer dort heimischer zu fühlen. Jetzt war es hier gelandet, in einer schäbigen kleinen Pension, wohin sie ausquartiert worden war, weil ein Alptraum ihr ganzes Leben umgestürzt hatte.

Der Mann auf dem Foto war tot.

Einige Male während des unendlich langen, anstrengenden Nachmittags hatte sie gewünscht, endlich allein zu sein, um weinen zu können. Der Schmerz saß wie ein fester Pfropfen in ihr, unbeweglich und viel zu groß für sie, und sie sehnte die Tränen als eine Erleichterung herbei. Aber obwohl sie jetzt allein war, gelang es ihr nicht, zu weinen. Es gelang ihr nicht einmal, den Schmerz über sich hinwegfluten zu lassen, ihn mit jeder Faser ihres Körpers aufzunehmen. Sie war blockiert, sie konnte ihn nicht erreichen. Eine Sekunde war es ihr, als müsse alles andere ebenfalls stagnieren, als könne sie nicht mehr atmen, nicht mehr sprechen, als müsse ihr Herzschlag jeden Augenblick aussetzen.

«Du kannst sprechen«, flüsterte sie beschwörend,»du kannst atmen. Dein Herz ist völlig in Ordnung.«

Tatsächlich entspannte sie sich. Sie stellte das Foto auf einen kleinen Tisch neben ihrem Bett.

Warum, verdammt, kann ich nicht endlich weinen?

Es klopfte an die Tür. Sie rief ein vorsichtiges Herein, plötzlich nicht sicher, ob sie jemanden sehen wollte, selbst wenn es Leon oder Evelin gewesen wären, aber es war nur ein pickliges Mädchen, das für das Hotel arbeitete.

«Ich wollte fragen, ob Sie etwas zu essen auf das Zimmer gebracht haben möchten«, nuschelte sie. Ihre Augen verrieten blanke Neugier, und in dem Bedürfnis,»einen von denen «zu sehen, war sicherlich auch ihre Fürsorglichkeit begründet.»Unten im Gastraum haben wir jeden Abend ein Büffet, aber da sind jetzt auch Leute von der Presse… und ich dachte, vielleicht wollen Sie da gar nicht so gern hin.«

«O Gott, danke, daß Sie mich warnen«, sagte Jessica.»Ich bleibe auf jeden Fall in meinem Zimmer. Aber ich möchte nichts essen.«

«Gar nichts?«

«Nein. Wirklich gar nichts.«

Das Mädchen verschwand enttäuscht. Sicher wäre es gern mit einem Tablett heraufgekommen und hätte bei dieser Gelegenheit noch einmal die Möglichkeit gehabt, Fragen zu stellen. Jessica streckte sich auf dem Bett aus und versuchte erneut, mit dem Schmerz in ihrem Kopf fertig zu werden. Sie reagierte gereizt, als es kurz darauf wieder an der Tür klopfte.

«Ich habe doch gesagt, ich möchte nichts haben!«rief sie.

Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und Leon schob seinen Kopf herein.

«Jessica?«

Sie setzte sich auf.»Ach, du bist es. Komm herein. Wie geht es Sophie?«

Leon betrat das Zimmer, schloß sorgfältig die Tür hinter sich. Er war ein großer, kräftiger Mann und schien das Zimmer völlig auszufüllen. Aber noch mehr als in den letzten Tagen waren seine Schultern gebeugt, bot er den Anblick eines Menschen, den schwere Gewichte zu Boden drückten. Um Jahre gealtert — diesen Ausdruck erlebte Jessica an Leon in die Wirklichkeit umgesetzt.

«Nimm Platz«, sagte sie und wies auf den einzigen Sessel im Zimmer. Sie selbst blieb auf dem Bett sitzen und beobachtete ihn, wie er mit müden Bewegungen zu dem Sessel ging und sich hineinsinken ließ.

«Sie liegt auf der Intensivstation«, sagte er auf ihre Frage hin,»voller Schläuche und Kabel, die sie mit irgendwelchen Apparaturen verbinden. So ein kleines, dünnes Ding…«

Seine Stimme brach, er schaute zur Seite.

«Was meint der Arzt?«fragte Jessica.

Er zuckte mit den Schultern.»Sie hat eine Chance. Aber eine geringe. Sie hat unheimlich viel Blut verloren… ihre Milz war zerfetzt, sie haben sie entfernt…«

«Man kann gut ohne Milz leben.«

«Ich weiß.«

Er strich sich mit beiden Händen durch die Haare.»Mein Gott«, sagte er.»Heute früh wachte ich auf und hatte eine Familie. Eine Frau und zwei Töchter. Zwölf Stunden später bin ich Witwer, eine Tochter ist tot, die andere kämpft ums Überleben, und die Ärzte haben nicht allzuviel Hoffnung für sie. Alles hat sich verändert… in so kurzer Zeit… so unfaßbar plötzlich…«

«Ja«, sagte Jessica,»unfaßbar plötzlich. Das ist es. Unfaßbar. Unwirklich. Wie ein böser Traum.«

«Ich frage mich, wer so etwas tut. Wer geht hin und schlachtet ein halbes Dutzend Menschen einfach ab? Wer macht das? Wo gibt es denn so etwas?«

Er starrte sie an. Die fahle Blässe nahm ihm nichts von seinem guten Aussehen, wie sie zu ihrer eigenen Verwunderung registrierte. Von den drei Freunden war er der attraktivste gewesen. Der Mann mit dem charmanten Lächeln, der dunklen Stimme, der Mann, dem überall die Blicke der Frauen folgten. Und jetzt zudem der einzige Überlebende.

«Ich lag heute auf einer Blumenwiese«, fuhr er unvermittelt fort,»zwischen lauter Schafen, unter einem blauen Himmel, über den hin und wieder eine kleine, zerrupfte Wolke trieb. Ich hatte Herzschmerzen, aber die wurden besser, während ich so lag. Ich malte mir aus, wie es wäre, noch einmal von vorn anzufangen, frei von jeder Belastung. Noch einmal so dazustehen, wie man als junger Mensch dasteht, am Beginn des Lebens, wenn alles offen ist. Ich dachte…«, er stockte, sah sich wohl selbst, wie er da in der Wiese lag und in den Himmel schaute und den beängstigenden Schmerz in seiner Brust abklingen ließ, und erschrak vor den Gedanken, die ihm durch den Kopf gegangen waren,»ich dachte, wenn ich nur die Familie nicht hätte… Patricia und die Kinder mit all ihren Ansprüchen und Erwartungen und den Verpflichtungen, die ich ihnen gegenüber erfüllen muß… verstehst du, ich dachte, wie es wäre, wenn sie auf einmal nicht mehr da wären. Es war ein Gefühl größter Erleichterung, es war, als bekäme ich lange verlorene Jahre meines Lebens zurück, dürfte noch einmal von vorn anfangen… o Gott, und während ich so dachte, ging jemand hin und tötete sie, und…«

Er sah sie voller Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit an, grau im Gesicht vor Erschöpfung.»Das wollte ich nicht. In meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir so etwas nicht ausmalen können, und ganz gleich, wie sehr das Leben mit Patricia nur noch… Fassade war, niemals hätte ich gewollt, daß sie stirbt. Niemals hätte ich gewollt, daß sie auf so grauenhafte Weise getötet wird. Und die Kinder…«

Er brach ab, hilflos in seinem Gefühl der Reue und Schuld.»Ich habe meine Kinder geliebt. Immer. Vom Tag ihrer Geburt an. Ich war nur so überfordert in der letzten Zeit. Ich konnte ihre Wünsche nicht mehr erfüllen, konnte dem Bild nicht mehr entsprechen, das sie von mir hatten. Papi kann alles, macht alles, bringt alles in Ordnung! In Wahrheit steckte Papi bis zum Hals in Schwierigkeiten…«

«Ich weiß«, sagte Jessica,»Evelin hat mir davon erzählt.«

Er lächelte bitter.»Ja, wahrscheinlich wußten es alle. Ich hatte Tim gebeten, nichts davon verlauten zu lassen, aber wie kann ich erwarten, daß er seiner Frau nichts erzählt?«

«Ich weiß nicht, ob es sonst jemand wußte. Ich fand es nur im nachhinein eigenartig, daß Patricia immer so tat, als habe sie nicht die geringsten Probleme. Ich meine, ich war sicher irgendwo immer noch die Neue in eurem Kreis, aber ihr anderen wart jahrelange Freunde. Da kann man doch über solche Dinge sprechen!«

«Sie war nun mal so. Nie und unter keinen Umständen eine Schwachstelle zeigen. Und sie auch bei anderen nicht tolerieren. Ich habe seit Jahren schlimmste finanzielle Probleme, aber weißt du, wann ich mich traute, meiner Frau davon zu erzählen? Vor drei Tagen! Vor drei Tagen, am Abend des Ostermontags, habe ich all meinen Mut zusammengerafft und Patricia gestanden, daß ich pleite bin, daß in meinem Büro nichts läuft, daß unser Haus bis unters Dach beliehen ist, daß ich meine Kredite nicht abbezahlen kann, mit den Zinsen im Rückstand bin und mir von Tim fünfzigtausend Euro borgen mußte. Und ich habe es auch nur deshalb fertiggebracht, weil mir absolut kein Ausweg mehr blieb, weil ich nicht einmal mehr die Reitstunden meiner Töchter bezahlen konnte und keine Chance mehr sah, irgend etwas zu vertuschen! Es war einer der schlimmsten Abende meines Lebens.«

Er sah sie an, aber mit einem Blick, als schaue er durch sie hindurch, und dann wechselte er abrupt das Thema.»Wenn nur Sophie es schafft! Lieber Himmel, wenn sie es nur schafft!«

Er stand auf, ging zum Fenster.»Wer tut so etwas? Wer, verdammt, tut das? Hat die Polizei bei dir eine Vermutung durchblicken lassen?«

Jessicas Kopfschmerz, der sich ein wenig zurückgezogen hatte, zückte wieder die Krallen.»Dieser Superintendent Norman hat angedeutet, er vermute eine interne Geschichte.«

Leon starrte sie verblüfft an.

«Eine interne Geschichte? Er meint, es war einer von uns?«

«Er hat das so direkt nicht gesagt. Aber er scheint die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen.«

«Ach du Scheiße«, sagte Leon.»Das ist doch nicht zu glauben! Einer von uns? Wer kommt da in Frage? Du und ich und Evelin! Was für ein Blödsinn!«

«Und Ricarda. Ricarda hat auch überlebt und ist zudem nicht auffindbar.«

«Ricarda ist ein fünfzehnjähriges Mädchen!«

«Aber sie zu verdächtigen ist nicht absurder, als uns zu verdächtigen!«

«Stimmt. Na, toll. Ich würde sagen, ich stehe an vorderster Stelle im Rampenlicht, nicht wahr? Ich bin der einzige überlebende Mann. Und Männern traut man Gewaltverbrechen am ehesten zu. Zudem hatte ich hohe Schulden bei Tim, die Ehe mit meiner Frau bestand nur noch auf dem Papier, meinen Töchtern hätte ich in nicht allzu ferner Zeit nicht den kleinsten materiellen Wunsch mehr erfüllen können. Was liegt da näher, als die Familie einfach auszulöschen, und dazu den Mann, der mir seit Wochen die Pistole auf die Brust setzt, weil er sein Geld zurückhaben will?«

«Du vergißt Alexander.«

Es würgte sie, seinen Namen aussprechen zu müssen.»Alexander ist auch tot.«

«Ich konnte keinen Zeugen gebrauchen. Evelin ist mir irgendwie entwischt, du und Ricarda wart nicht da! Na bitte! Paßt doch alles!«

Er ließ sich wieder in den Sessel fallen, lachte hysterisch.»Mr. Norman wird froh sein, den Fall so schnell zu lösen!«

«Du hast die ganze Zeit nur auf der Wiese gelegen?«

Er neigte sich vor, fixierte sie scharf.»Aha, du glaubst tatsächlich…«

Sie fühlte Zorn in sich aufsteigen.»Quatsch!«sagte sie scharf.»Nichts glaube ich. Aber ja, du hast recht, der Superintendent könnte bei dir Motive vermuten und dich in die Mangel nehmen, und darauf solltest du dich vorbereiten. Ich nehme an, er hat dich bereits gefragt, wo du warst, aber ich könnte mir vorstellen, seine Befragung würde um einiges intensiver und unangenehmer ausfallen, wenn tatsächlich der Schatten eines Verdachts auf dich fällt.«

«Der Schatten eines Verdachts! Du bist naiv. Der Schatten eines Verdachts liegt längst auf uns allen, wenn er tatsächlich meint, den Täter im inneren Kreis suchen zu müssen. Hat er dich gefragt, wo du warst? Klar hat er. Mich auch. Ich habe mit meinem Bankdirektor telefoniert, das läßt sich nachweisen, aber daß ich dabei meilenweit von Stanbury entfernt war, ist schon schwieriger zu belegen. Und dann? Dann habe ich tatsächlich stundenlang in einer Wiese gelegen. Zwischendurch bin ich aufgestanden und barfuß durch einen Bach gewatet. Ich habe ein paar Schafe gestreichelt. Ich habe mir zum erstenmal seit Monaten einen Abstand zu meinen Problemen erlaubt. Ich habe so getan, als sei ich allein auf der Welt, als gebe es nur mich, die Schafe, die Wiese, den Himmel. Ich hatte starke Herzstiche, die sich auf wundersame Weise auflösten. Aber für all das habe ich natürlich keinen verdammten Zeugen. Nicht einen einzigen!«

«Leon«, begann sie, aber er ließ sie nicht ausreden.»Und du? Was hast du ihm gesagt? Du bist doch wahrscheinlich mal wieder stundenlang in der Gegend herumgestapft, und kein Mensch hat dich gesehen!«

«So ist es. Das habe ich ihm geschildert. Mehr kann ich ja auch nicht tun.«

«Du machst dir keine Sorgen, weil du kein Motiv hast, nicht wahr? Warum hättest du etwas so Grauenhaftes tun sollen? Die nette, sympathische Jessica, die sich auf ihr Baby freut und keiner Fliege etwas zuleide tun kann! Die…«

«Verdammt!«

Sie funkelte ihn an, wütend und verletzt.»Hör auf, so mit mir zu reden! Ich habe meinen Mann verloren. Mein Baby hat seinen Vater verloren. Ich möchte nicht von dir angegriffen werden, nur weil deine Nerven plötzlich durchdrehen!«

Er wurde schlagartig ruhig.»Entschuldige«, bat er,»wirklich, entschuldige bitte.«

«Schon gut«, sagte Jessica.

Er stand wieder auf.»Es war dieser Phillip Bowen«, sagte er.»Die ganze Zeit, als ich mit Superintendent Norman sprach, hatte ich einen Gedanken im Hinterkopf, an den ich nicht herankam. Ich war zu geschockt, zu fassungslos, aber dauernd wußte ich, daß da was war. Phillip Bowen ist schon einmal in unser Haus eingedrungen. Er hat Patricia wiederholt bedroht. Er ist fanatisch, ein Wirrkopf, ein Verrückter. Ich werde Norman sofort anrufen und ihm das sagen.«

«Sei vorsichtig, Leon. Warum sollte Phillip Bowen so viele Menschen töten?«

«Weil er nicht ganz richtig im Kopf ist! Hör zu, Jessica, du stimmst sicher mit mir überein daß das, was in Stanbury House geschehen ist, das Werk eines Verrückten sein muß. Bowen ist ein Verrückter, der sich in eine fixe Idee hineingesteigert und alle Symptome einer obsessiven Persönlichkeit gezeigt hat.«

Er zog sein Handy aus der Tasche.»Du hast doch sicher die Nummer von Norman hier. Er soll Bowen umgehend verhaften.«

«Leon…«

«Die Nummer!«

Sie diktierte sie ihm, und während er sprach, wühlte sie ihren Kopf tief in ihr Kissen. Der Bezug roch nach Waschpulver, und irgendwie empfand sie diesen Umstand als ein wenig tröstlich.

6

Keith fand es sehr erstaunlich, wie Ricarda auf die Nachricht von dem Massaker in Stanbury House reagierte. Er hatte ihr nicht genau sagen können, wer unter den Toten war und wer nicht, aber daß es eine ganze Anzahl Opfer gegeben hatte, soviel hatte sich im Dorf und in der Umgebung herumgesprochen. Selbst in die Einöde des Bauernhofs, auf dem Keith mit seiner Familie lebte, war die Nachricht gedrungen; Keiths Schwester hatte aufgeregt davon erzählt, und Keith hatte voller Ungläubigkeit ein paar Freunde angerufen und die Nachricht bestätigt bekommen. Seine Mutter, Gloria Mallory, nahm natürlich nichts davon zur Kenntnis. Sie saß wie erschlagen in der Küche, in der sie am Morgen noch mit ihrem gesunden Mann gefrühstückt hatte, und versuchte zu begreifen, daß sie nun womöglich für den Rest ihres Lebens mit einem Pflegefall belastet sein würde. Am Nachmittag war die Gemeindeschwester vorbeigekommen und hatte ihre Hilfe für den Fall angeboten, daß man Greg bald entlassen und Gloria zunächst mit der Pflege überfordert sein würde. Schließlich hatte sie mit Keith im Wohnzimmer zwei Schnäpse getrunken, und sie hatten über die grausige Bluttat gesprochen, die das ganze liebliche Tal von Stanbury mit Entsetzen und Erschütterung erfüllte.

«Unglaublich«, hatte die Schwester wieder und wieder gesagt, so etwas in unserer Gegend! Und nach meiner Information hat die Polizei noch niemanden verhaftet! Im Dorf gibt es Leute, die trauen sich nur noch in größeren Gruppen auf die Straße!«

Keith, der davon ausging, daß Ricarda nach Hause gelaufen war, konnte es vor Unruhe irgendwann kaum mehr aushalten.

Er mußte endlich Bescheid wissen, mußte herausfinden, ob ihr etwas zugestoßen war. Seine Schwester reagierte pikiert, als er am Abend schließlich sagte, er müsse noch einmal weg.

«Wenn du meinst, daß du Mum jetzt allein lassen kannst«, bemerkte sie spitz, und er erwiderte, daß sie ja da sei, sich um die Mutter zu kümmern. Gloria saß sowieso nach wie vor in der Küche und sagte kein Wort.

Er fuhr zunächst nach Stanbury House, parkte in einiger Entfernung und lief das letzte Stück. Der Aprilabend war hell und warm und so friedlich, daß jeder Schrecken unvorstellbar schien.

Aber bereits hundert Meter vor dem Tor bemerkte er die Menschenansammlung und sah die Absperrbänder der Polizei. Es wimmelte von Autos und Beamten, und er erkannte sogar einige Spürhunde, die durch die wuchernden Büsche entlang der Mauerreste um das Grundstück geführt wurden. Keith sah ein, daß es ihm kaum gelingen würde, bis zum Haus vorzudringen, und er wagte es auch nicht, sich bei einem der gereizt und ungeduldig wirkenden Polizisten nach Ricarda zu erkundigen. In seiner wachsenden Hilflosigkeit und Angst war er schließlich zu dem verlassenen Hof gefahren, der ihm als zweites Zuhause diente, denn es war der einzige Ort, an dem er sich noch vorstellen konnte, Ricarda zu finden. Er hätte schreien mögen vor Erleichterung, als er sie auf dem Sofa kauern sah, mit angezogenen Beinen, in eine Decke gewickelt, Tränenspuren auf dem Gesicht. Er hatte sich neben sie gesetzt und sie in den Arm genommen, festgehalten und sanft hin- und hergeschaukelt, von seiner Mutter erzählt und wie geschockt sie war, und er hatte gesagt, wie leid es ihm tue, daß nun nichts geworden war aus dem gemeinsamen Neuanfang in London.

«Aber das heißt nicht, daß wir nicht doch eines Tages zusammenleben werden. Nur nicht jetzt, verstehst du? Ich kann Mum nicht allein lassen. Es ist sowieso die Frage, was nun aus dem Hof werden soll. Daß meine Schwester das alles schafft, kann ich mir nicht richtig vorstellen. Es ist einfach… so plötzlich gekommen Wir müssen herausfinden, wie es weitergehen kann.«

Sie hatte genickt. Er fragte sie, ob sie etwas gegessen habe seit dem Stopp an der Autobahnraststätte am Morgen, und diesmal schüttelte sie den Kopf. Natürlich war in der Scheune wieder einmal nichts aufzutreiben. Er ärgerte sich, daß er nicht daran gedacht hatte, wenigstens etwas Obst mitzunehmen, aber er war ja nicht einmal sicher gewesen, daß sie noch lebte. Nun gut, Essen konnte man nachholen. Schwieriger fand er es, ihr sagen zu müssen, was in Stanbury House passiert war.

Er hatte sich dem Thema so vorsichtig genähert, daß sie eine Weile überhaupt nicht begriff, worauf er hinauswollte, und als sie schließlich verstand, war kaum eine Bewegung über ihr trotziges, verletztes Gesicht gegangen.

«Ein Irrer hat sich dort rumgetrieben? Weißt du, ob Patricia tot ist?«

Es klang nicht so, als ob sie diesen Fall bedauern würde. Er hatte den Kopf geschüttelt.»Keine Ahnung. Es gibt noch keine offizielle Erklärung der Polizei an die Presse, und wie üblich erzählt wohl jeder im Dorf etwas anderes. Vielleicht ist ja auch nur eine Person tot, und alles wird aufgebauscht.«

Nur eine Person tot… Eine Bemerkung, die in seinen eigenen Ohren unendlich absurd klang.

«Nun, dann ist es hoffentlich Patricia«, erklärte Ricarda, und Keith starrte sie entsetzt an. Wußte sie, was sie da sagte? War ihr überhaupt klar, was geschehen war?

Sie läßt es nicht an sich heran, dachte er, sie hat sich völlig abgeschottet.

Er empfand ihren Zustand als besorgniserregend, wußte aber nicht, was er dagegen hätte tun sollen.

«Weißt du«, sagte er nach einer Weile,»du solltest nicht hier bleiben. In euer Haus darf im Moment niemand, aber ich könnte versuchen herauszufinden, wo sie deine Leute untergebracht haben. Dann könntest du zu ihnen.«

Sie schüttelte den Kopf.

«Dein Vater macht sich bestimmt schreckliche Sorgen um dich«, versuchte Keith sie zu überzeugen.

«Du weißt ja gar nicht, ob mein Vater noch lebt«, sagte Ricarda. Offensichtlich hatte sie durchaus etwas begriffen, hielt aber Distanz zu all den grausamen Möglichkeiten, die sich aus dem Gehörten ergaben. Auch als sie über ihren Vater sprach, veränderte sich nichts in ihrer Miene.

«Bestimmt lebt er noch«, meinte Keith, obwohl er keineswegs dieser Überzeugung war,»und deshalb finde ich, du solltest…«

«Nein.«

Sie sagte das mit einer Bestimmtheit, die er an ihr bislang nicht gekannt hatte.»Ich gehe nicht zu ihnen zurück. Nie.«

«Hör mal!«

Keith wurde ungeduldig.»Da ist wirklich etwas Schlimmes passiert! Ich weiß ja auch nichts Genaues, aber offenbar hat irgendein Geisteskranker ein paar von deinen Leuten die Kehle durchgeschnitten und dann das Weite gesucht. Egal, was du gegen sie hast, aber dein Platz ist jetzt dort!«

«Ich habe nichts mehr mit ihnen zu tun.«

«Du kannst doch nicht hier in dieser Scheune sitzen bleiben!«

Sie antwortete nicht.

«Ich kann dich nicht mit zu mir nehmen. Meine Mum ist völlig fertig, ich kann ihr im Moment nicht einen wildfremden Menschen präsentieren. Das verstehst du, oder?«

Sie lächelte ein wenig, sehr spöttisch.»Klar. Klar verstehe ich das. Du hast dich aus unserer gemeinsamen Nummer längst verabschiedet.«

«Quatsch. Das stimmt doch gar nicht! Aber, verflucht noch mal, mein Vater liegt in einer Art Koma, und niemand weiß, wann und wie er daraus erwachen wird. Ich kann doch nicht so tun, als wäre nichts passiert!«

Er sah sie an und hatte den Eindruck, daß sie durchaus fand er könne das tun. Er begriff, daß sie tatsächlich die weitaus Radikalere von ihnen beiden war. Sie hatte den Bruch mit ihrer Familie, zumindest mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter, mit außerordentlicher Konsequenz vollzogen, mit einer Härte, die es ihr selbst in dieser dramatischen Situation unmöglich machte wieder umzukehren. Für ihn selbst hatte es keine Sekunde lang außer Frage gestanden, wohin er in einem Krisenmoment gehörte.

«Du mußt etwas essen«, sagte er, so sanft er nur konnte,»und etwas trinken. Duschen, frische Wäsche anziehen. Das alles. Was willst du denn hier in dieser Scheune auf die Dauer tun?«

«Ich gehe nicht zurück «war alles, was sie sagte.

«Ich kann nicht bleiben.«

«Ich weiß.«

Er seufzte. Er erreichte sie nicht. Sie hatte sich vollkommen in sich selbst zurückgezogen.

Es mußte etwa neun Uhr sein. Eine halbe Stunde konnte er sich noch nehmen, dann mußte er dringend nach Hause. Seine Schwester war ohnehin schon sauer auf ihn. Sie saß da mit Gloria, die sich ähnlich verhielt wie Ricarda, nämlich völlig teilnahmslos, und fluchte auf ihn, weil sie sicher dachte, er treibe sich irgendwo herum und drücke sich vor seinen Verpflichtungen. Er hatte Ricarda wirklich sehr gern, aber in diesem Moment wünschte er, er wäre die Verantwortung für sie los. Verdammt, dieser Tag hatte einfach nur Scheußlichkeiten mit sich gebracht.

So saß er und hielt sie im Arm, und draußen verdämmerte der Abend.

Die Nacht brach schwarz und sternenklar herein.

7

Im Lauf des folgenden Vormittages brachten zwei Polizeibeamte Evelin zum The Fox and The Lamb. Zuvor war Superintendent Norman bei Jessica gewesen und hatte sie über Phillip Bowen ausgefragt.

«Mr. Roth hat uns da gestern abend einen interessanten Hinweis gegeben«, sagte Norman.»Eigenartig, daß Sie sich während unseres Gesprächs überhaupt nicht an Mr. Bowen und seine offenbar recht heftigen Auftritte in Stanbury House erinnert haben!«

Jessica hatte in der Nacht nicht eine Minute geschlafen, und ihre Kopfschmerzen quälten sie unvermindert heftig. Statt zu frühstücken, hatte sie nur zwei Aspirin geschluckt. Ihr war übel, und sie empfand Norman an diesem Morgen als aggressiv und unangenehm insistierend.

«Leon hat sich ja auch erst nach dem Gespräch mit Ihnen erinnert«, sagte sie.

Norman nickte, aber aus irgendeinem Grund schien er dennoch nicht überzeugt, so als mache es für ihn einen Unterschied, ob Jessica nicht gleich an Phillip gedacht hatte oder Leon.

«Mr. Bowen wohnt übrigens zufällig hier im selben Hotel«, sagte er.»Ich war bereits bei ihm, da lag er jedoch noch im Bett. Er macht sich gerade fertig. Ich habe eine Reihe von Fragen an ihn.«

«Ich glaube nicht, daß er eine ergiebige Quelle für Sie sein wird«, entgegnete Jessica.

Norman sah sie interessiert an.»Nein? Wieso denken Sie das?«

«Weder hatte er etwas mit den Strukturen zu tun, die unser Zusammensein dort bestimmten und in denen Sie ja, wenn ich Sie richtig verstanden habe, ein Motiv vermuten. Noch gibt es sonst irgendeinen Grund, weswegen er über auch nur einen von uns hätte herfallen müssen, geschweige denn gleich über fünf Personen. Und auch die dritte Variante, die des geistesgestörten Killers, scheidet aus. Phillip Bowen ist nicht verrückt.«

«Wie verschieden doch Einschätzungen sein können«, sagte Norman.»Mr. Roth bezeichnete Phillip Bowen als genau das — verrückt. Besessen von der völlig absurden Idee, er sei der illegitime Sohn dieses prominenten Fernsehjournalisten Kevin McGowan. Und habe einen Erbanspruch auf Stanbury House. Er soll Mrs. Roth, aber auch andere aus dem Freundeskreis, wiederholt deswegen massiv belästigt haben. Außerdem sei er vor Ihrer aller Ankunft in das Haus eingedrungen und habe die Räumlichkeiten sehr genau inspiziert.«

«Eingedrungen ist das falsche Wort«, korrigierte Jessica.»Die Putzfrau, Mrs. Collins, war da und hat ihn eingelassen.«

«Ich vermute, damit sie das tut, hat er ihr irgendeinen gewaltigen Bären aufgebunden. Stimmt's?«

Jessica schwieg. Norman nickte.»Ich finde, das alles klingt schon so, als sei bei Bowen zumindest eine Schraube ziemlich locker. Aber das heißt nicht, daß ich mich auf ihn als Täter bereits eingeschossen habe, so wie Mr. Roth, für den das offensichtlich außer Frage steht. Wir stehen noch ganz am Anfang der Ermittlungen.«

Das Gespräch hatte in Jessicas Zimmer stattgefunden, und bevor Norman ging, war er noch einmal an der Tür stehengeblieben.

«Ich war gestern recht spät noch einmal im Krankenhaus in Leeds, bei Mrs. Burkhard. Evelin Burkhard. Es hat sich noch ein interessanter Aspekt ergeben.«

Sie sah ihn an.

«Mrs. Burkhard traf gestern mittag im Park von Stanbury House mit Mr. Bowen zusammen«, fuhr Norman fort,»offenbar schlich der wieder einmal auf dem Grundstück herum. Nach ihrer Ansicht muß das gegen zwölf Uhr mittags gewesen sein. Etwa zwanzig Minuten später ging sie ins Haus, weil ihr Mann nach ihr rief. Bowen blieb zurück. Nach den vorläufigen Erkenntnissen unseres Gerichtsmediziners müssen die Morde irgendwann zwischen halb eins und halb drei begangen worden sein. Sollte Bowen für diese Zeit kein Alibi haben, wird es eng für ihn.«

Er nickte ihr zu.»Es kann sein, daß ich nachher noch ein paar Fragen habe. Sie bleiben im Hotel?«

Noch als er gegangen war, überlegte sie, ob sein letzter Satz eine Frage oder ein Befehl gewesen war.

Eine knappe Stunde später traf Evelin ein.

Sie tranken Tee. Wie in jedem englischen Gästezimmer befanden sich auch in den Schlafräumen des The Fox and The Lamb jeweils ein Wasserkocher, ein Körbchen mit zahlreichen Teebeuteln in verschiedenen Sorten, Zuckertütchen und Milchpulver. Jessica hatte diese Sitte immer gemocht, war aber noch nie so dankbar dafür gewesen wie jetzt: Um etwas zu trinken zu bekommen, mußte sie nicht hinuntergehen und dabei Gefahr laufen, einem Journalisten zu begegnen.

Evelin trug eines ihrer sackähnlichen Gewänder und hatte einen etwas dramatisch wirkenden Schal um den Hals geschlungen. Sie war sehr blaß, aber sie sah nicht anders aus als sonst auch: wie ein verschrecktes Kaninchen. Aber sie hatte nicht mehr die irritierende Starre in den Augen, diese Blicklosigkeit, mit der Jessica sie in dem winzigen Mansardenbad vorgefunden hatte. Obwohl es nicht kühl im Zimmer war, hielt sie beide Hände um ihre Teetasse gepreßt, als wollte sie sich daran wärmen.

«Die Polizisten waren alle sehr nett zu mir«, sagte sie,»und auch die Psychologin, die mit mir gesprochen hat, und der Arzt im Krankenhaus. Es ist so schwierig für mich, ihnen allen richtig zu antworten. Irgendwie fehlt mir ein Stück in der Erinnerung. Ich sehe Blut und lauter Tote, dann ist ein großes Nichts, und dann bin ich im Eßzimmer in Stanbury House, ein Arzt ist da und eine Polizeibeamtin, und dann die Psychologin. Alle sind sie sehr liebevoll mit mir… es hat ganz lange gedauert, bis ich wieder wußte, was passiert war.«

«Bevor die Polizei kam, hast du oben im Bad neben den Kinderzimmern gekauert«, sagte Jessica.»Ich habe dich dort gefunden. Nachdem ich…«

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, aber Evelin sah sie aufmerksam an.»Ja?«fragte sie.

«Nachdem ich Patricia gefunden hatte. Und… und Tim. Und Diane…«

Sie schwiegen beide. Jessica nahm einen tiefen Schluck von ihrem Tee. Er schmeckte heiß und süß und tröstlich.

Evelin rieb sich über die Stirn.»Hast du auch den Eindruck, du müßtest jeden Moment aus einem bösen Traum erwachen?«

«Ja. Ich kann nicht glauben, daß das alles passiert sein soll. Es ist so… unwirklich.«

«Ich habe zuerst Patricia gefunden«, sagte Evelin unvermittelt,»ich habe sie noch angesprochen. Sie kauerte so eigenartig da, aber das habe ich nicht richtig realisiert. Ich habe sie gefragt, ob ihr nicht zu heiß ist in der Sonne beim Arbeiten, und als sie nicht antwortete, dachte ich, sie hat mich nicht gehört. Ich bin näher hingegangen und habe noch mal gefragt, und wieder kam keine Antwort, und da dachte ich plötzlich, daß sie irgendwie eine eigenartige Haltung hat und sich ja auch gar nicht bewegt… ja, und dann sah ich, daß ihr Gesicht in der Erde lag und daß… du weißt ja. Du hast es selbst gesehen.«

«Ja«, sagte Jessica. Für einen Moment verstärkte sich das Gefühl der Übelkeit, das sie schon den ganzen Morgen belastete. Es stieg an zu einer Welle und ließ sie krampfhaft schlucken.»Ja. Ich habe es selbst gesehen.«

«Ich bin ins Haus gerannt. Ich glaube, daß ich in dem Moment nicht einmal daran dachte, die Polizei oder den Krankenwagen zu rufen. Ich wollte nur weg. Ich wollte sie nicht mehr anschauen. Ich bin in die Küche gelaufen…«

Sie hielt inne, lächelte gequält.»Typisch, nicht? Selbst in einer Situation wie dieser lande ich noch unweigerlich in der Küche.«

Ihr Lächeln knipste sich so schnell aus, wie es gekommen war.»Dort lag Tim. Diesmal wußte ich sofort, daß er tot war. Um ihn herum war Blut. Ich bin auf die Knie gefallen, ich habe ihn festgehalten. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so bei ihm gelegen habe, eine Ewigkeit vielleicht oder auch nur eine Minute. Ich bin aufgestanden und aus der Küche gegangen, und dann bin ich die Treppe hinaufgelaufen…«

Ein angestrengter Ausdruck trat in ihre Augen.»Ich wollte nach den Kindern sehen. Ich hatte plötzlich schreckliche Angst um die Kinder… ja, ich glaube, so war es. Oben lag Diane und war tot, und das ist das letzte Bild, das ich sehe. Diane in ihrem Bett, zusammengebrochen über einem Buch, sicher eines der Pferdebücher, die sie immer las… das arme, kleine Ding… Von da an«, sie schüttelte hilflos den Kopf,»von da an ist alles dunkel…«

«Du hast dich verschlossen. Das ist völlig normal in solch einer Situation.«

«Superintendent Norman hat ständig nachgebohrt. Ich bin ja die einzige, die da war und… und überlebt hat. Natürlich hofft er, daß ich jemanden gesehen habe, daß ich irgend etwas mitgekriegt habe… Aber sosehr ich mir den Kopf zerbreche, mir fällt nichts ein!«

«Etwas ist dir eingefallen«, sagte Jessica,»jedenfalls hat

Norman das erzählt. Dir ist eingefallen, daß Phillip Bowen, kurz bevor die Verbrechen geschahen, bei dir im Park war.«

Evelins Gesicht sah klein und zergrübelt aus.»Ja. Ich hoffe, ich habe ihn damit nicht in Schwierigkeiten gebracht.«

Jessica verkniff es sich zu sagen, welch große Probleme sie ihm bereitet hatte. Aber es war natürlich richtig gewesen, daß sie Norman diese Information nicht verschwiegen hatte.

«Weißt du«, fuhr Evelin fort,»ich glaube nicht, daß er etwas mit der… Sache zu tun hat. Ich fand ihn ja immer ziemlich unheimlich, aber als wir in dem Park saßen und miteinander redeten, da war er… ja, er war so verständnisvoll, so nett. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er irgend jemandem etwas zuleide tun kann.«

«Ich glaube es auch nicht«, sagte Jessica,»und ich denke, als Unschuldiger hat er nichts zu befürchten.«

Davon war sie in Wahrheit keineswegs überzeugt, aber weder sich noch Evelin wollte sie das Herz schwermachen.

«Wo warst du, bevor du Patricia gefunden hast?«fragte sie.»Ich meine, nachdem du von Phillip weggegangen bist? Norman sagt, Tim hätte nach dir gerufen.«

Evelin schluckte. Die Blässe ihrer Haut vertiefte sich.»Tim war… sehr zornig. Er konnte seine Ausdrucke nicht finden. Er war überzeugt, daß ich etwas damit zu tun hätte.«

«Wieso solltest du das?«

Evelin zuckte mit den Schultern.»Ich glaube, er brauchte einfach einen Sündenbock. Er suchte schon den ganzen Morgen, und aus irgendeinem Grund hatte er ziemliche Angst, die Papiere könnten von jemand anderem als ihm gefunden werden. Er sagte, sie lagen zuletzt auf dem Tisch in unserem Zimmer, und sicher hätte ich aufgeräumt und sie dabei verlegt. Er schimpfte herum, und wir hatten einen fürchterlichen Streit. Ich sagte ihm, ich hätte nichts damit zu tun, aber er hörte mir gar nicht zu. Ich habe zu weinen angefangen und bin aus dem Haus gelaufen, so schnell ich konnte.«

Sie machte eine Kopfbewegung zu ihrem Fuß hin.»Der Fuß tut immer noch weh. Ich glaube, ich sah ziemlich komisch aus, wie ich da in den Wald humpelte… wie eine fette Raupe, der ein Bein fehlt!«

«Mach dich doch nicht immer so schlecht. Du sahst wahrscheinlich einfach wie eine Frau aus, die sich den Fuß verletzt hat!«

«Egal. Ich heulte ganz schrecklich, und erst nach einer ganzen Weile kehrte ich wieder um. Ich dachte, ich gehe jetzt zurück und helfe ihm suchen. Das ist vernünftiger als zu streiten. Aber dann… sah ich Patricia, und…«, sie machte eine hilflose Handbewegung,»den Rest kennst du.«

«Hast du Phillip noch irgendwo gesehen, als du nach dem Streit in den Park liefst?«

«Das hat Norman auch sofort gefragt. Nein, hab ich nicht. Allerdings war ich auch an einer anderen Stelle als vorher.«

«Hast du Alexander gesehen?«

«Nein.«

«Dann muß das alles in einer ziemlich kurzen Zeitspanne passiert sein«, meinte Jessica,»nämlich genau zwischen eurem Streit und deiner Rückkehr ins Haus.«

«Ja, aber ich sagte bereits, ich kauerte eine ganze Weile zwischen den Bäumen und heulte. Das kann eine Dreiviertelstunde gewesen sein. Genau weiß ich es natürlich nicht.«

Sie sah Jessica an.»Glaubst du, Superintendent Norman wird Phillip Bowen verhaften?«

«Auf jeden Fall«, sagte Jessica,»wäre es besser für Phillip gewesen, er wäre an diesem Tag einmal ausnahmsweise nicht nach Stanbury House gekommen.«

Sie stand auf, trat ans Fenster und sah hinaus in den sonnigen Frühlingstag.»So ein Dummkopf«, murmelte sie unruhig.

Wegen dieses jungen Mannes hatte Patricia ein solches Theater veranstaltet! Leon wollte nichts Böses über seine tote Frau denken, beileibe nicht, aber sie hatte ein gewisses Talent gehabt, Unfrieden zu stiften, das konnte er einfach nicht anders sehen. Ein netter, sympathischer, riesengroßer und ziemlich dünner Bursche hatte unten am Eingang auf ihn gewartet. Leon war voller Mißtrauen heruntergekommen, halb und halb darauf gefaßt, daß es sich doch um einen Journalisten handelte. Das Mädchen von der Rezeption hatte oben an seine Zimmertür geklopft und gesagt, er habe Besuch, und er hatte sofort geantwortet, er sei für niemanden von der Presse zu sprechen.

«Nein, ich glaube, das ist keiner von der Presse. Er sagt, es ist wichtig. Es geht um jemanden von der Familie.«

Welche Familie? hatte er zynisch und verzweifelt gedacht, die einzige Person, die von meiner Familie noch übrig ist, liegt im Krankenhaus und ringt mit dem Tod.

Er war dennoch hinuntergegangen, und dann hatte sich der dünne junge Mann als Keith Mallory vorgestellt und gesagt, er sei der Freund von Ricarda Wahlberg.

Leon hatte sogleich erklärt, Ricarda sei nicht unter den Opfern des Massakers, denn er war überzeugt gewesen, daß Keith deshalb gekommen war. Aber wie sich herausstellte, wußte Keith das bereits.

«Ich weiß, wo sie ist«, erklärte er,»und ich meine, jemand sollte sich um sie kümmern. Von mir läßt sie sich nichts sagen.«

«Dafür ist eher Jessica Wahlberg zuständig«, sagte Leon.

Keith sah ihn an.»Jessica hat überlebt? Und…«

Leon wußte, was er fragen wollte.»Nein. Alexander

Wahlberg ist tot.«

«Oh, Scheiße«, murmelte Keith. Er sah Leon hilfesuchend an.»Sie sitzt in einer Scheune, die zu einem verlassenen Bauernhof gehört, und ist nicht ansprechbar. Ißt nichts, trinkt nichts. Reagiert fast gar nicht. Ich kann nichts für sie tun. Mein… mein Vater hat gerade einen schweren Schlaganfall erlitten, wir wissen nicht, wie das ausgeht, meine Mutter hängt total durch, und meine Schwester will nicht, daß alles nur ihr überlassen bleibt. Ich kann einfach ganz schlecht im Moment von daheim weg.«

«Ich verstehe«, sagte Leon. Er empfand Keith als wirklich sehr sympathisch.»Ich werde Jessica Bescheid sagen. Könnten Sie mir den Weg zu dem Gehöft beschreiben?«

Zwei Minuten später wußte er, wo sich Ricarda befand. Eine Ricarda, die ihr Freund als nicht ansprechbar beschrieben hatte, als einen Menschen, der nichts aß, nichts trank, auf nichts reagierte. Während er die Treppe hinaufstieg, um Jessica Bescheid zu sagen, fielen Leon die Tagebucheintragungen ein, die Patricia am Abend vor ihrem Tod vorgelesen hatte. Patricia mochte Dinge häufig dramatisiert haben, was diese von Ricarda verfaßten Texte anging, hatte sie sich jedoch offensichtlich an Fakten gehalten. Und die waren zutiefst erschreckend gewesen — um so mehr noch vor dem Hintergrund dessen, was kurz danach geschehen war. Er überlegte, ob er Superintendent Norman Bescheid geben mußte. War das Verrat an seinem toten Freund Alexander? Oder einfach bittere Notwendigkeit angesichts einer ungeheuren Tragödie?

Er war noch zu keinerlei Ergebnis gelangt, als er an Jessicas Zimmertür klopfte. Er beschloß, daß sie als Stiefmutter die Frage würde entscheiden müssen.

8

An diesem Tag überschlugen sich die Ereignisse.

Superintendent Norman führte die Befragung von Phillip Bowen nicht, wie zunächst geplant, im The Fox and The Lamb durch, sondern nahm ihn zusammen mit Geraldine mit auf das Polizeirevier in Leeds. Inzwischen war das kleine Wirtshaus von Stanbury geradezu umlagert von Journalisten, und als Phillip und Geraldine zu dem wartenden Auto gebracht wurden, flammten überall die Blitzlichter auf. Längst hatten sich findige Reporter mit Mrs. Collins unterhalten, die inzwischen vor Wichtigkeit fast platzte, und so kannte man Phillips Namen und wußte, daß er sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen bereits zwei Wochen zuvor in Stanbury House eingeschlichen und die Räumlichkeiten ausgekundschaftet hatte. Für die Presse stand er als Täter fest, heftiges Rätselraten herrschte nur um die Frage des Motivs. Inzwischen war auch bekannt, um wen es sich bei seiner äußerst attraktiven Begleiterin handelte.

Norman schäumte später, als er die Zeitungen las. Die undichte Stelle konnte im Grunde nur jemand vom Personal des The Fox and The Lamb gewesen sein, aber was wollte man schon unternehmen gegen die Klatschlust der Leute? Geraldine Roselaugh wurde in den Schlagzeilen des nächsten Tages als berühmtes Fotomodell bezeichnet, wobei es niemanden interessierte, daß zuvor noch kein Mensch je von ihr gehört hatte. Man wußte auch, daß es zwischen ihr und Phillip Bowen — über dessen private und berufliche und sonstige Hintergründe etwas in Erfahrung zu bringen den Journalisten in der Eile nicht geglückt war — recht eisig zugegangen war; Roselaugh war zwischendurch sogar aus dem gemeinsamen Zimmer ausgezogen und war bereits zur Abreise nach London entschlossen gewesen. Im letzten Moment schien es zu einer Versöhnung gekommen zu sein.

Hat ein scheußliches Verbrechen sie wieder vereint? fragte die Sun am nächsten Tag, und der Daily Mirror wollte wissen: Mittäterin aus Leidenschaft? — ohne zu ahnen, wie nah er mit seiner Theorie einer Hörigkeit, in der sich Geraldine Roselaugh (»eine wunderschöne Frau, die immer nur Pech mit den Männern hat«) gegenüber Phillip Bowen befinden sollte, der Wahrheit um das persönliche Beziehungsdrama der beiden kam. Tatsächlich nahmen die Dinge jedoch eine so rasante Entwicklung, daß all die Schlagzeilen des folgenden Tages bereits überholt waren, als noch die Druckerpressen liefen.

Während Phillip und Geraldine nach Leeds gebracht wurden, fuhr ein Polizeibeamter mit Jessica hinaus zu dem einsamen Hof, von dem Keith erklärt hatte, daß sich dort Ricarda befinde. Es gelang Jessica, das Hotel ungesehen durch eine Hintertür zu verlassen, wohl aber nur deshalb, weil sich die Wachsamkeit der Pressemeute gerade geballt auf den Haupteingang konzentrierte, aus dem fast zeitgleich Phillip und Geraldine ins Freie traten.

Jessica traf auf Ricarda, ein Häufchen Elend mit eiskalten Händen, zitternd vor Hunger und Durst und nicht im mindesten ansprechbar. Sie wurde ins Hotel gebracht, wiederum durch den Hintereingang und glücklicherweise erneut ungesehen. Wieder wurde ein Arzt geholt, der nach etwa zwei Stunden zögernd einer Befragung Ricardas durch einen weiblichen Sergeant zustimmte. Jessica bot an, dabeizusein, aber da hob Ricarda zum erstenmal den Kopf und öffnete den Mund.

«Nein!«

Ihr Haß auf die ungeliebte Stiefmutter schien um nichts gemildert. Jessica hatte den Eindruck, daß sie der Mensch war, bei dem Ricarda zuallerletzt Trost und Unterstützung suchen würde.

Und wenn schon, dachte sie zutiefst erschöpft.

Leon fuhr nach Leeds ins Krankenhaus, um Sophie zu besuchen. Er hatte befriedigt beobachtet, wie Phillip Bowen und seine Freundin» abgeführt wurden«, wie er es nannte. Es gab für ihn nicht den geringsten Zweifel an Bowens Schuld.

Die Stunden verstrichen in lähmender Langsamkeit. Der Tag war wie mit Blei gefüllt, schien sich nicht vom Fleck zu bewegen. Er kam Jessica alptraumhafter vor als der Tag zuvor, was daran liegen mochte, daß sich langsam der Schock zu lösen begann und sich erstes Begreifen dessen, was geschehen war, herantastete. Zudem machte ihr der Zustand des Eingesperrtseins zu schaffen. Draußen war der Himmel jetzt von wolkenlosem Blau, und wenn sie das Fenster öffnete, strömte eine fast sommerliche Wärme herein. Ihr fehlten das Laufen, die Bewegung, sie wollte im warmen Gras sitzen und den Duft der Apfelblüten riechen. Aber sie hätte das Haus nicht verlassen können, ohne einen Rattenschwanz von Journalisten hinter sich herzuziehen. Sie war schon froh, daß es ihr gelang, am Nachmittag Barney ungesehen für eine Viertelstunde in den rückwärtigen Garten zu lassen, damit er wenigstens die Möglichkeit hatte, sein Bein zu heben.

Evelin war in ihr Zimmer gegangen und hatte sich schlafen gelegt. Die Beamtin, die mit Ricarda gesprochen hatte, erschien bei Jessica und erklärte, das Gespräch mit dem jungen Mädchen habe kaum etwas gebracht.»Ich habe allerdings nicht den Eindruck, daß sie unter einem Schock steht, so wie gestern Mrs. Burkhard«, sagte sie.»Es kommt mir eher so vor, als wolle sie einfach über nichts reden, was in einem Zusammenhang mit Stanbury House und seinen Bewohnern steht. Als habe sie… ja, irgendwie mit ihrer Familie, mit den Menschen dort, gebrochen. Könnte das sein?«

Sie sah noch einmal stirnrunzelnd in ihre Unterlagen.»Sie sind nicht die Mutter, nicht wahr?«

«Nein. Ihr Vater und ich haben vor etwa einem Jahr geheiratet. Sie lebt bei der geschiedenen Frau meines Mannes, verbringt aber regelmäßig die Ferien mit uns.«

«Wie ist Ihr Verhältnis zueinander?«

Jessica zögerte.»Ich mag sie gern«, sagte sie dann,»und ich hatte nie die Hoffnung aufgegeben, daß sie irgendwann begreift daß ich es gut mit ihr meine. Sie selbst lehnt mich ab. Ich war nicht der Scheidungsgrund ihrer Eltern, aber indem ich ihren Vater geheiratet habe, habe ich wohl ihre bis dahin ständig wache Hoffnung auf einen Neuanfang der beiden zerstört. Das konnte sie mir nicht verzeihen.«

Die Beamtin nickte.»Der Abend, an dem Mrs. Roth in größerer Runde aus Ricardas Tagebuch vorgelesen hat, ließ dann wohl das Faß überlaufen?«

«Ja. Aber nicht, was speziell das Verhältnis zu mir anging. Ihr Vater…«, sie schluckte. Sie sprach über ihren toten Mann, und etwas in ihr sträubte sich heftig, etwas Schlechtes über ihn zu sagen, und doch erschien ihr sein Verrat an diesem letzten Abend noch immer als eine ungeheuerliche Tat.»Ihr Vater stellte sich nicht auf ihre Seite. Er solidarisierte sich… mit den anderen, verstehen Sie? Mit Patricia. Gegen sein eigenes Kind. Trotz der vielen Reibereien in der letzten Zeit hat sie ihren Vater immer vergöttert. Ich glaube, sie kann bis jetzt nicht fassen, was er getan hat.«

«Was hätte er nach Ricardas Meinung tun sollen?«

«Das, was er auch nach meiner Meinung hätte tun sollen«, sagte Jessica.»Aufspringen. Patricia das Tagebuch aus der Hand reißen. Ihr in schärfster Form klarmachen, daß sie etwas ganz Unmögliches getan hat — in dem Tagebuch zu lesen, es an sich zu nehmen, nun daraus vortragen zu wollen. Statt dessen hat er Patricia gewähren lassen und hat ihr damit gestattet, seine Tochter gewissermaßen öffentlich vorzuführen. Es hat mich nicht im geringsten gewundert, daß Ricarda danach nicht mehr auffindbar war.«

Die Beamtin blickte wieder in ihre Notizen.»Im Gespräch mit Superintendent Norman sagten Sie, bei den vorgelesenen Tagebucheintragungen handelte es sich um Passagen, in denen Ricarda ihre Romanze mit Mr.… Mr. Keith Mallory beschrieb. Ist das richtig?«

«Ja«, sagte Jessica. Leon hatte sie darauf angesprochen, ob man der Polizei sagen müsse, daß Ricardas Tagebuch offenbar an zahlreichen Stellen das Verlangen des jungen Mädchens wiedergab, die Bewohner von Stanbury House tot zu sehen, aber Jessica hatte sich dagegen entschieden. Instinktiv und spontan hatte sie das ja bereits während ihrer Unterredung mit Norman getan.

«Es schafft nur Verwirrung«, hatte sie zu Leon gesagt,»denn wir beide sind uns ja wohl einig, daß Ricarda als Täterin nicht in Frage kommt und daß die pubertären Aggressionen, die sie in Worte gefaßt hat, für ihr Alter durchaus normal sind. Wir brauchen das nicht breitzutreten.«

Leon, für den der Täter ohnehin feststand, hatte sofort eingewilligt. Evelin, die ebenfalls anwesend war, hatte gedankenverloren vor sich hingestarrt, Jessicas Ausführungen jedoch nicht widersprochen.

Die Beamtin notierte sich etwas und nickte dann.»Ich habe vorerst keine Fragen mehr. Ich werde jetzt Mr. Keith Mallory aufsuchen und mit ihm sprechen. Vielleicht ergeben sich ja dabei noch ein paar interessante Aspekte.«

Sie grüßte und verließ das Zimmer.

Ich werde hier drinnen noch verrückt, dachte Jessica.

Sie legte sich auf ihr Bett. Im Fenster konnte sie den blauen Himmel sehen. Ein quadratisches Stück davon. Sie dachte an Alexander und hoffte auf die Tränen, die ihre Erstarrung lösen sollten.

Sie mochten sich noch immer nicht einstellen.

Leon kam am frühen Abend zurück. Ein Polizist, der ihn begleitet hatte, bahnte ihm den Weg ins Haus. Leon sah grau und müde aus. Jessica fing ihn auf der Treppe ab.

«Wie geht es Sophie?«

Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen.»Nicht gut. Die Ärzte können immer noch nicht sagen, ob sie es schaffen wird.«

Er wirkte verbittert.»Einer von Normans Leuten lungert vor der Intensivstation herum. Den interessiert gar nicht, wie es dem Kind geht, der giert nur darauf, daß sie aufwacht und ihm sagen kann, wer das getan hat. Für die ist sie einfach nur ein wichtiger Zeuge — der wichtigste Zeuge überhaupt.«

«Leon, die tun nur ihre Arbeit«, entgegnete Jessica leise,»und wir alle wollen doch, daß der Täter gefaßt wird.«

«Der Täter heißt Phillip Bowen, und ich frage mich, wie noch irgend jemand daran zweifeln kann!«sagte Leon aggressiv.

Jessica legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.»Dafür spricht manches, das stimmt, aber noch gibt es keinen Beweis. Du weißt doch, wie schwer es sein kann, einzig über Indizien einen Schuldspruch bei Gericht zu erwirken. Die Aussage der einzigen Überlebenden, und wenn es ein kleines Mädchen ist, hätte da ein ganz anderes Gewicht.«

Er nickte, und dann sank er plötzlich auf eine der Treppenstufen und barg sein Gesicht in den Händen, und seine breiten Schultern waren nach vorn gekrümmt und zitterten vor Schluchzen. Er weinte und weinte, ohne ein Wort zu sagen, und Jessica kauerte hinter ihm, legte beide Arme um ihn, versuchte ihm Wärme und Halt zu geben. Sie störte seinen Schmerz nicht mit Worten; ohnehin hätte es nichts gegeben, was nicht banal geklungen hätte im Angesicht einer solchen Tragödie. Sie ließ ihn einfach weinen und beneidete ihn dabei um dieses Fluten seines Schmerzes, dessen sie selbst nicht fähig war.

«Entschuldige«, sagte er irgendwann und sah sie dabei nicht an, sondern starrte gegen die Wände,»es ist einfach… ich konnte nichts dagegen tun…«

«Du solltest auch nichts dagegen tun. Was du in dir verschließt, quält dich nur.«

Er nickte, die Augen voller Trostlosigkeit.

«Wie soll es nur weitergehen? Wie soll das Leben für uns alle weitergehen?«

«Möchtest du einen Tee?«fragte Jessica. Ein Tee löste nicht die Lebensfrage, war aber das nächstliegende, das ihr einfiel.

Leon stand mühsam auf.

«Ja«, sagte er und folgte ihr in ihr Zimmer.

Leon hatte vier Tassen heißen Tee mit viel Milch und Zucker getrunken, war für einen Moment im Sessel sitzend eingeschlafen und hatte, nachdem er aufgewacht war, sichtlich etwas von seinem Gleichgewicht wiedergefunden. Seine Augen waren noch gerötet und geschwollen, aber die Tränenspuren auf seinen Wangen waren getrocknet; er wirkte noch immer sehr traurig, aber zugleich gefaßter und ein wenig getröstet. Während er schlief, hatte Jessica versucht, noch einmal mit Ricarda zu sprechen, aber die hatte ihre Zimmertür von innen verschlossen und reagierte weder auf rufen noch auf klopfen. Dann hatte sie nach Evelin gesehen, die jedoch tief schlafend in ihrem Bett lag. Als sie zurückkam, wachte Leon gerade auf. Zum ersten Mal an diesem Tag sah sie ihn zaghaft lächeln.

«Ich habe Hunger«, sagte er.

«Ich werde sehen, daß ich etwas für uns alle hierher aufs Zimmer bestellen kann«, sagte Jessica,»denn unten würde man uns kaum in Ruhe lassen.«

Leon stand auf, streckte sich, trat ans Fenster und blickte hinaus. Plötzlich straffte sich sein Körper.

«Das kann doch nicht wahr sein!«rief er.

«Was denn?«fragte Jessica.

«Sie bringen ihn zurück! Bowen! Und das Fotomodell!«

Sie trat neben ihn, schaute ebenfalls auf die Straße. Phillip und Geraldine waren soeben aus einem Polizeiwagen gestiegen und wurden von mehreren Beamten durch die Journalistenmenge hindurch zum Hotel eskortiert. Ihnen folgten Superintendent Norman und ein anderer Mann, den Jessica zuvor noch nicht gesehen hatte. Offensichtlich bedrängte man sie von allen Seiten mit Fragen, aber Norman schüttelte nur immer wieder abwehrend den Kopf und hielt die Lippen zusammengepreßt. Auch sein Begleiter schien nicht gewillt, irgendeine Information von sich zu geben.

«Die Beweise haben wohl nicht gereicht, um ihn festzuhalten«, sagte Jessica.

Leon schlug mit der Faust auf das Fensterbrett.»Nicht gereicht? Du meinst, die Beweise haben nicht gereicht? Welche Beweise will dieser schwachsinnige Norman denn noch haben?«

Schon drehte er sich um, durchquerte mit schnellen Schritten das Zimmer und riß die Tür auf.

«Nicht, Leon!«

Jessica versuchte vergeblich, ihn zurückzuhalten.»Du hast doch gar keine Ahnung, was genau los ist!«

Aber Leon lief bereits die Treppe hinunter. Und Jessica folgte ihm.

Zum Glück hatten es die Polizisten verhindert, daß auch nur

ein einziger Journalist das The Fox and The Lamb betrat, so daß sich in dem kleinen Eingangsraum nur Phillip, Geraldine, Superintendent Norman und der fremde Begleiter befanden. Leon stürzte wie ein wütender Stier auf Norman zu.

«Weshalb bringen Sie ihn zurück? Wieso lassen Sie den Kerl noch frei herumlaufen? Reicht es nicht, was er getan hat? Soll er noch mehr Menschen umbringen, bis ihr ihn einsperrt?«

«Mr. Roth, ich kann verstehen, was Sie…«, versuchte Norman zu beschwichtigen, aber Leon fiel ihm sogleich wieder ins Wort:»Meine Frau ist tot! Mein Kind ist tot! Meine jüngste Tochter hat eine winzigkleine Überlebenschance! Und den Kerl, der das alles zu verantworten hat, lassen Sie seelenruhig hier hereinspazieren, weil ihn vermutlich bereits irgendein geschickter Anwalt herausgeboxt hat! Aber ich sage Ihnen eines, ich bin auch Anwalt! Und es gibt keinen Schritt, den zu unternehmen ich zurückschrecken werde, um Sie für Ihr fahrlässiges Verhalten und Ihre…«

«Mr. Roth, bei allem Schmerz, den Sie auszuhalten haben, möchte ich Sie bitten, sich nicht im Ton zu vergreifen!«

Das kam von dem fremden Mann, der zusammen mit Norman und den beiden Verdächtigen aus dem Wagen gestiegen war. Er sah Leon und Jessica an.»Gestatten? Ich bin Inspector Lewis von Scotland Yard. Der Fall wurde an uns übertragen.«

«Und Ihre erste Handlung besteht darin, einen Mann, der vier, bald vielleicht sogar fünf Menschenleben auf dem Gewissen hat, auf freien Fuß zu setzen?«blaffte Leon.

«Leon!«mahnte Jessica.

Sie wich Phillips Blick aus. Sie mochte Leon nicht das Gefühl geben, daß zwischen ihr und ihm eine gewisse Vertrautheit herrschte.

«Mr. Roth, es haben sich wirklich völlig neue Gesichtspunkte ergeben«, sagte Norman. Weder seine Stimme noch sein

Gesichtsausdruck verrieten, ob er durch den Umstand, einen Scotland-Yard-Beamten vor die Nase gesetzt bekommen zu haben, gekränkt war.»Es gibt keine Hinweise, die für Mr. Bowen als Schuldigen sprechen.«

«Das kann doch nicht wahr sein!«schrie Leon.»Der Typ hat meine Frau mehrfach bedroht! Er ist in unser Haus eingedrungen! Er lungerte ständig vor dem Park oder im Park herum! Er ist komplett verrückt, durchgeknallt, größenwahnsinnig! Er ist…«

«Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ziehen Miss Roselaugh und ich uns schon einmal in unser Zimmer zurück«, sagte Phillip höflich zu Norman.»Alles Weitere kann ja auch in unserer Abwesenheit geklärt werden.«

«Ja, gehen Sie nur«, meinte Norman, erleichtert, daß sich die Situation ein wenig entzerrte. Jessica, die noch auf der Treppe stand, trat zur Seite, um Phillip und Geraldine vorbeizulassen.

Noch immer vermied sie es, Phillips Augen zu begegnen. Verstohlen betrachtete sie die blasse Geraldine, die alles andere als glücklich dreinsah.

Was für eine wunderschöne Frau, dachte sie.

«Ich würde jetzt gern mit Mrs. Burkhard sprechen«, sagte Inspector Lewis.

Jessica war erstaunt. Mit Evelin?

«Sie ist in ihrem Zimmer«, sagte sie,»sie schläft noch, glaube ich, aber…«

«Dann wecken Sie sie bitte«, bat Lewis. Er war kühler und knapper als Norman, sein Gesicht verriet keinerlei Emotion. Ein Mann, der persönliche Regungen aus seiner Arbeit heraushielt.

«Soll sie herunterkommen? Oder wollen Sie in ihrem Zimmer…?«

«Das kann sie entscheiden«, sagte Lewis.»Es wäre sehr freundlich, wenn Sie dies für uns klären und uns dann gleich benachrichtigen würden.«

«Ich möchte jetzt aber schon wissen…«, begann Leon wieder, doch Lewis herrschte ihn an:»Was Sie möchten, Mr. Roth, interessiert im Moment niemanden. Bitte lassen Sie uns jetzt allein, und halten Sie sich für später zu unserer Verfügung.«

Der Ton schien Leon zu überzeugen, denn er hielt endlich den Mund. Jessica hastete die Treppe hinauf, um Evelin zu wecken. Sie fühlte sich beunruhigt. Irgend etwas an beiden Männern hatte sie stutzig gemacht: Ihr Auftreten war so selbstsicher, fast ein wenig triumphierend. Dieser Inspector Lewis mochte immer so sein, aber Normans Haltung hatte sich deutlich verändert.

Die wissen etwas, dachte sie, oder sie nehmen etwas an… Etwas, wovon man uns noch nichts gesagt hat. Etwas Neues…

Sie fror plötzlich. Sie trat in Evelins Zimmer. Die Freundin war inzwischen wach, lag jedoch im Bett. Sie hatte sich ein Nachthemd angezogen, trug aber immer noch den Schal um den Hals und sah dadurch wie eine Kranke aus, die erkältet ist und unter Halsschmerzen leidet.

«Evelin, es tut mir leid, aber Superintendent Norman möchte dich noch einmal sprechen. Und ein… ein anderer Inspector.«

Sie erwähnte Scotland Yard noch nicht. Ihr eigenes ungutes Gefühl war bedrückend genug, sie mußte es nicht auch noch in Evelin auslösen.

Evelin richtete sich auf.

«Ich komme«, sagte sie.

Eine Stunde später wurde sie unter Mordverdacht verhaftet.

9

«Es ist einfach so«, erklärte Superintendent Norman,»daß wir gegen Mr. Bowen nichts in der Hand haben. Hingegen sprechen eine ganze Reihe von Indizien gegen Evelin Burkhard.«

Sie saßen in Jessicas Zimmer: Norman, Leon und Jessica. Letztere noch völlig benommen von der überraschenden Wendung der Geschehnisse. Inspector Lewis war mit Evelin nach Leeds gefahren, um sie dort auf der Polizeidienststelle zu vernehmen, und da er ihr geraten hatte,»das Nötigste «einzupacken, schien er nicht mit ihrer Rückkehr am selben Abend zu rechnen. Sein bis dahin undurchdringliches Gesicht hatte Entschlossenheit verraten.

Evelin war leichenblaß gewesen, als sie hinter ihm die Treppe hinunterging.

«Jessica, ich habe das nicht getan«, hatte sie gefleht, als sie an Jessica vorbeigekommen war.»Bitte, du mußt mir das glauben!«

«Natürlich«, sagte Jessica,»und die Polizei wird auch ganz schnell davon überzeugt sein!«

Tatsächlich hielt sie das Ganze für einen so gigantischen Irrtum, daß sie sich keine wirklichen Sorgen machte. Jedenfalls nicht auf Verstandesebene. Irgendein unterschwelliges Gefühl hingegen verursachte ihr Herzklopfen. Machte sie nervös. Nicht, was Evelins Unschuld anging, die stand für sie auf jeden Fall fest. Aber Inspector Lewis machte ihr Angst. Und Superintendent Norman tat nichts, ihre Angst zu zerstreuen, ganz im Gegenteil.

Es war dunkel geworden draußen, und im Zimmer brannte nur die kleine Lampe, die neben dem Bett stand. Die Glühbirne der Deckenlampe hatte ihren Geist aufgegeben, und bislang war niemand erschienen, sie auszuwechseln. Im Dämmerlicht konnte Jessica erkennen, wie bleich und angespannt Leons Gesicht war, und wie gestreßt und übermüdet Superintendent Norman aussah. Barney war ein paarmal unruhig hin und her gelaufen; ihm fehlten die langen Spaziergänge, er hatte zu wenig Bewegung, zu wenig Luft und Sonne. Schließlich sah er resigniert ein, daß auch die beiden Männer nicht mit ihm hinausgehen würden, und rollte sich seufzend auf seiner Decke zusammen.

«Sie haben gegen Phillip Bowen nichts in der Hand?«fragte Leon nun ungläubig.»Reicht es Ihnen denn nicht, daß er…«

Norman hob beschwichtigend die Hand.»Mr. Roth, ich verstehe ja Ihre Sicht der Dinge durchaus. Und daher haben wir uns sehr lange und ausgiebig mit Mr. Bowen unterhalten. Er hat eine fixe Idee, was seine Herkunft betrifft und daraus sich ableitende Ansprüche, das stimmt, aber dennoch…«

Er zögerte.»Er ist nicht verrückt«, sagte er schließlich,»das sagt mir einfach meine Erfahrung und Menschenkenntnis. Er hat durchaus seinen Verstand beieinander, und was er will, ist Anerkennung. Die Anerkennung, daß er Kevin McGowans Sohn ist. Für diese Anerkennung wird er kämpfen, aber nicht, indem er fast ein halbes Dutzend Menschen ermordet. Weil ihm das nämlich gar nichts bringt. Er kommt dadurch nicht einen Schritt weiter. Er hat vor, eine Exhumierung Kevin McGowans durchzusetzen, und…«

«Und das nennen Sie nicht verrückt?«fragte Leon entrüstet.»Ab wann ist denn dann bei Ihnen jemand ein Verrückter?«

Norman strich sich über die vor Müdigkeit geröteten Augen.

«Ich gebe ja zu, daß er sich da in etwas hineingesteigert hat. Daß er eine gewisse Besessenheit an den Tag legt. Aber trotz allem ist er überaus zielorientiert, und die Schritte, die er für die Erreichung seines Zieles plant, sind nicht verrückt! Sie mögen uns radikal erscheinen, aber wenn man die Dinge von seiner Warte aus betrachtet, tut er das einzige, was er überhaupt tun kann. Er hat ein großes Problem damit, von seinem Vater nie angenommen worden zu sein, und er versucht, dieses Problem für sich zu lösen. Daran kann ich noch keinen Psychopathen erkennen.«

«Ich wußte gar nicht, daß Sie im Nebenberuf Psychologe sind, Superintendent Norman«, sagte Leon zynisch,»denn sonst wären Sie wohl kaum derart sicher, was Ihre Analyse der Persönlichkeitsstruktur von Phillip Bowen angeht!«

«Ich habe bereits eine ganze Reihe von Verbrechen aufgeklärt, Mr. Roth.«

«Aber keines von diesem Ausmaß.«

Norman nickte.»Dann lassen Sie uns zu den Fakten kommen — denn die sind es letztlich, worauf wir uns stützen müssen. Zum einen: Mr. Bowen trug heute, als wir ihn abholten, dieselbe Kleidung, die er auch gestern mittag trug, als er im Park von Stanbury House herumstreifte. Das ist von Evelin Burkhard bestätigt worden. Wir haben ihn gebeten, sich etwas anderes anzuziehen und uns die Sachen zu überlassen. Abgesehen davon, daß es schon mit bloßem Auge erkennbar war, so hat auch die technische Untersuchung ergeben, daß sich nicht ein einziger Spritzer Blut auf Hose oder Pullover befand. Und es ist vollkommen ausgeschlossen, daß jemand hingehen und vier Leute mit einem Messer töten und einen weiteren Menschen schwer verletzen kann, ohne auch nur das geringste bißchen Blut abzubekommen. Ich denke, das ist auch Ihnen klar.«

«Mein Gott, wie sicher will Evelin denn sein, daß es wirklich dieselben Klamotten waren? Jeans ist Jeans, und dunkle Wollpullover habe ich auch mehrere! Er hat seine blutbefleckte Kleidung vernichtet und etwas Ähnliches angezogen, und Sie sind so naiv und fallen auf diesen simplen Trick herein!«

«Okay. Auf der Tatwaffe befinden sich keinerlei Fingerabdrücke von ihm und…«

«Abgewischt! Der Kerl ist verrückt, aber nicht blöd!«

«…und er hat für die Tatzeit ein Alibi.«

Leons Schultern, zuvor straff vor Wut und Empörung, sanken ein wenig nach vorn.»Ein Alibi?«

«Er war den ganzen Nachmittag mit Miss Geraldine Roselaugh zusammen.«

«Ach, du lieber Himmel! Seine kleine Maus! Also, was so ein Alibi wert ist, möchte ich wissen! Die würde für ihn doch das Blaue vom Himmel herunterlügen!«

«Wir sind Polizeibeamte, Mr. Roth. Mit Unterstellungen dieser Art können wir nicht so leichtfertig umgehen wie Sie. Zunächst einmal müssen wir die Tatsache akzeptieren, daß ein erwachsener Mensch — und sie ist nicht seine Frau — behauptet, zur Tatzeit mit Phillip Bowen zusammen- und überdies viele Meilen von Stanbury House entfernt gewesen zu sein. Auf entsprechende Befragung erklärte sich Miss Roselaugh zudem bereit, dies notfalls zu beeiden.«

«Aber haben Sie denn nicht bemerkt, wie die ihn anhimmelt? Sie frißt ihm aus der Hand. Wenn der sagt, gib mir ein Alibi, dann tut sie es. Wenn er sagt, beeide das, dann schwört sie einen Meineid. Ich kenne diese Art Frau! Mr. Norman, was Miss Roselaugh auch sagt, es ist nichts wert!«

«Mr. Roth«, sagte Norman mit einiger Schärfe in der Stimme,»ich kann nicht einen Mann verhaften, gegen den ich keinerlei Beweise habe, nur weil Sie sich auf ihn als Täter fixiert haben. Damit komme ich nicht durch!«

«Er war aber im Park, kurz bevor die Verbrechen geschahen! Er war bereits einmal in unser Haus eingedrungen! Er hat uns immer wieder belästigt! Er…«

«Leon«, sagte Jessica beschwichtigend,»du zeichnest da ein falsches Bild, und das weißt du auch. Phillip Bowen ist uns vielleicht auf die Nerven gegangen, aber er hat nichts getan oder gesagt, was auf ein derart furchtbares Verbrechen hinweisen würde.«

Leon fuhr herum, starrte sie an.»Wie kannst du eine Lanze für diesen Menschen brechen? Er hat auch deinen Mann auf dem Gewissen, vergiß das nicht!«

«Aber das wissen wir doch nicht! Mr. Norman«, sie zwang Festigkeit in ihre Stimme, weil das, was sie nun fragen wollte, so schrecklich war, daß sie Angst hatte, sie könnte dünn und unsicher klingen,»Mr. Norman, was haben Sie gegen Evelin Burkhard in der Hand?«

Norman wirkte erleichtert, zunächst aus dem schwierigen Disput mit dem zornigen Leon erlöst zu sein.

«Ich sage nicht, daß wir felsenfest überzeugt sind, in Evelin Burkhard die Täterin gefunden zu haben. Aber es gibt da ein paar Hinweise, die einen dringenden Verdacht gegen sie entstehen lassen. Erstens: Ihre Fingerabdrücke — und nur ihre — befinden sich auf der Tatwaffe. Zweitens: Ihre Kleidung wurde labortechnisch untersucht. Sie ist mit dem Blut aller Ermordeten wie auch mit dem Blut des verletzten Kindes intensiv in Berührung gekommen. Und da…«

«Aber…«, begann Jessica, doch Norman unterbrach sie mit einer Handbewegung.

«Ich weiß, was Sie sagen wollen. Mrs. Burkhard hat erklärt, Mrs. Roth, ihren Mann Tim Burkhard sowie die kleine Diane Roth gefunden und auf Lebenszeichen hin untersucht zu haben. Sie erklärte, keinen Kontakt mit Mr. Wahlberg und Sophie Roth gehabt zu haben. Dennoch befand sich auch deren Blut auf ihrer Kleidung. Und noch etwas kommt hinzu: Unsere Untersuchungsmethoden erlauben uns, auch etwas über die zeitliche Abfolge zu sagen, in der das Blut auf Mrs. Burkhards

Kleidung gekommen ist. Das war einwandfrei zuallererst das von ihrem Mann. Danach erst das von Mrs. Roth. Evelin Burkhard hat dies jedoch genau andersherum beschrieben.«

Leons sensibles, erschöpftes Gesicht drückte ein geradezu verletzendes Ausmaß an Verachtung für den Polizisten aus.»Wie können Sie eine derart traumatisierte Frau wie Evelin in vollem Umfang verantwortlich machen für das, was sie in der ersten Vernehmung unmittelbar nach Geschehen einer solch schrecklichen Tat von sich gibt? Sie hat selbst zugegeben, einen Filmriß gehabt zu haben, sich an einen bestimmten Zeitraum des vergangenen Tages überhaupt nicht mehr zu erinnern. Wie soll sie noch wissen, in welcher Reihenfolge sie über einen Toten nach dem anderen stolperte? Und vielleicht weiß sie gar nicht mehr, daß sie zwischendurch im Park umherirrte, schockiert und verzweifelt, und dabei auf Alexanders Leiche stieß. Bei ihrer Rückkehr ins Haus traf sie auf meine halbtote Tochter Sophie, hat aber auch daran jetzt keine Erinnerung. Würden Sie das nicht auch für möglich halten?«

Norman wollte etwas erwidern, aber Jessica schaltete sich rasch ein.

«Superintendent Norman, ich habe ja Evelin oben in dem kleinen Bad im Dachgeschoß gefunden. Sie war wirklich in einem schlimmen Zustand. Absolut nicht ansprechbar. Sie wimmerte wie ein Kind, konnte sich nicht bewegen. Sie hatte einen schweren Schock, und ich bin sicher, ganz gleich, was sie über den gestrigen Tag auch sagt, es muß alles unter dem Vorbehalt betrachtet werden, daß sie über eine lange Zeitphase absolut nicht Herrin ihrer Sinne war.«

«Ich denke, daß sie auch die Tatwaffe gefunden hat«, sagte Leon,»vielleicht direkt bei einem der Opfer, und daß sie sie an sich genommen, später dann weggeworfen hat. Als Täterin hätte sie ja wohl die Fingerabdrücke abgewischt.«

«Vorausgesetzt«, sagte Norman,»sie war während der Tat bei klarem Verstand. War sie in einem Moment des Wahnsinns, hätte sie sicher nicht an so etwas wie Fingerabdrücke gedacht oder daran, ihre blutige Kleidung zu beseitigen.«

«Halten Sie es denn überhaupt für möglich, daß eine Frau dieses Verbrechen begangen haben kann?«fragte Jessica.»Ich meine, allein von ihren Kräften her. Unter den Opfern sind auch zwei große, kräftige Männer. Es kann nicht ganz einfach gewesen sein, sie umzubringen.«

Norman schüttelte den Kopf.»Das war keine Frage der Kraft. Alle Opfer sind überrascht worden, und zwar von hinten. Tim Burkhard suchte offenbar gerade im unteren Bereich eines Küchenschranks herum, jedenfalls lag er direkt vor dessen geöffneter Tür. Mrs. Roth kniete an dem Blumentrog. Mr. Wahlberg saß auf einer Bank, döste vielleicht vor sich hin. Das Mädchen Diane lag bäuchlings auf dem Bett und las. Einzig die kleine Sophie hatte wohl etwas bemerkt, versuchte, sich zu wehren und wegzulaufen. Ansonsten hat ja niemand etwas von Evelin befürchtet oder Böses erwartet.«

«Ich finde Ihre Theorie völlig absurd«, sagte Leon.»Ich meine, selbst wenn es keiner allzu großen physischen Kraftanstrengung bedarf, jemandem von hinten die Kehle durchzuschneiden, so besteht da doch eine psychische Hemmschwelle, die kaum zu überwinden sein dürfte. In lebendes Fleisch hineinschneiden, noch dazu an der Halsschlagader… das ist… das ist…«

Er suchte nach Worten, die wiedergeben sollten, für wie völlig ausgeschlossen er es hielt, daß Evelin dies hatte tun können, aber es gab wohl nichts, was seiner Entrüstung über diesen Verdacht wirklich hätte Ausdruck verleihen können.»Das ist absurd«, wiederholte er schließlich seine Anfangsworte.

Norman zeigte sich unbeeindruckt.»Wenn Sie meinen Job hätten, Mr. Roth, würden Sie irgendwann absolut nichts mehr von dem, was Menschen tun, noch für absurd halten. Meine Erfahrung hat mich zu der tiefen Überzeugung gelangen lassen, daß es unter bestimmten Umständen überhaupt nichts gibt, was nicht jeder von uns in der Lage wäre zu tun.«

«Und welche bestimmten Umstände waren das bei Evelin?«fragte Jessica.

Superintendent Norman seufzte tief.»Mr. Bowen hat uns da einen interessanten Hinweis gegeben«, begann er,»er…«

«Er wird Ihnen sicher viele interessante Hinweise geben, wenn es darum geht, den Verdacht von sich auf andere zu lenken «warf Leon ein.

Norman wandte sich ihm zu, und in seinem Gesicht stand eine Härte, die Jessica verriet, daß dieser stets so verbindliche Mann ein nicht zu unterschätzender, gefährlicher Gegner sein konnte.

«Mrs. Burkhard ist eine schwer depressive Frau«, sagte er.»Ich denke, das ist nicht zu übersehen, und das ist auch Ihnen seit längerem klar?«

Er schien auf diese Frage, die eigentlich eine Feststellung war, keine Antwort zu erwarten, denn er fuhr sogleich fort:»Als Mr. Bowen gestern im Park von Stanbury House mit ihr sprach, schien sie ihm völlig in sich zurückgezogen, weitabgewandt, tief versunken in düstere Gedanken. Mr. Bowen hatte den Eindruck, sie nicht wirklich erreichen zu können, so als befinde sie sich in einer Welt, in die niemand ihr folgen könnte. Wörtlich sagte Mr. Bowen: ›Ihre Verzweiflung war so greifbar wie eine hohe Wand, die vor einem steht.‹ Es muß beängstigend gewesen sein.«

Greifbar wie eine Wand, dachte Jessica, ja, so habe ich es auch oft empfunden. Eine dichte, unüberwindliche Verzweiflung.

«Und dann auf einmal erschien ihr Mann. Aber noch bevor Phillip Bowen ihn sehen konnte, noch bevor er rief oder sich sonst irgendwie bemerkbar machte, schien Evelin bereits seine Nähe zu spüren. Bowen sagt, sie habe Angst gehabt. Eine Angst, die er habe riechen können. Sie habe etwas von einem Tier gehabt, das seinen schlimmsten Feind wittert. Und die Art, wie er gleich darauf nach ihr gerufen habe, sei eindeutig gewesen auch wenn Bowen nicht jedes einzelne deutsche Wort verstehen konnte.«

Er machte eine Pause.

«Eindeutig wofür?«fragte Jessica. Sie begriff nicht, worauf Norman hinauswollte. Dann sah sie Leons Gesicht und wußte, daß er verstand.

«Leon…?«fragte sie hilflos.

Norman fixierte Leon scharf.»Es stimmt, nicht wahr, Mr. Roth? Mrs. Burkhard lebte in Todesangst vor ihrem Mann. Seit Jahren schon vermutlich. Seit Jahren wurde sie von ihm auf jede nur vorstellbare Weise gequält und mißhandelt, und es ist durchaus denkbar, daß sie nur noch einen Ausweg sah.«

In Jessicas Ohren begann es zu rauschen. Das konnte nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein, daß so etwas in ihrer aller Mitte geschehen war, und keiner hatte etwas gemerkt.

«Aber«, sagte sie mit einem Mund, der sich plötzlich so trocken anfühlte, als sei er mit Watte gefüllt,»aber… warum dann die anderen? Mein… mein Mann, Patricia und…«

Sie mochte sich täuschen, aber es glomm etwas wie Verachtung in Normans Augen.

«Vielleicht weil nach ihrem Gefühl Mitwisser auch Mittäter sind. Solche, die wegschauen und den Mund halten. Mr. Roth? Sie haben es gewußt. Und die anderen auch. Aber keiner hat je etwas gesagt. Geschweige denn unternommen.«

Leon sah sehr unbehaglich drein.

«Nun…«, begann er.

«Leon!«

Jessicas Stimme klang beschwörend.»Stimmt das? Ihr habt das gewußt? Alexander hat es gewußt?«

Leon wich ihrem Blick aus. Er betrachtete Barney so eindringlich, als habe er nie zuvor einen schlafenden Hund gesehen.

«Herrgott«, sagte er plötzlich, zugleich wütend und hilflos,»ja, wir haben es gewußt, verdammt! Du etwa nicht?«

Sie schluckte trocken und schüttelte den Kopf.

Leon hob beide Arme.»Was hätten wir schon tun können?«fragte er.

Weder Superintendent Norman noch Jessica gaben ihm eine Antwort.

10

Sophie starb am späten Abend dieses 25. April. Sie hatte das Bewußtsein nicht mehr erlangt. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, sie zu befragen.

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