Vierter Teil

1

Es war dunkel und kalt. Doch er fand, das war genau die richtige Atmosphäre für das, was sie taten. Das Frieren gab der Sache einen ernsthafteren Anstrich, der flackernde Kerzenschein, der nur schwach die Gesichter ringsum beleuchtete, machte sie abenteuerlicher. Manchmal bewegte sich jemand, und dann knarrte ein Dielenbrett, und die anderen zischten:»Psst!«

Sollte jemand von den Lehrern oder Erziehern auf sie aufmerksam werden, würden sie alle der Schule verwiesen werden — ohne die geringste Hoffnung auf Gnade oder auf das Gewähren einer zweiten Chance. Das wußten sie, und das machte es so spannend. Rauchen gehörte zu den Todsünden im Internat. Es war schlimmer als Alkoholkonsum. Der wurde auch geahndet, aber bei weitem nicht so unnachsichtig. Man kam in der Regel mit einem Verweis davon, durfte sich dann allerdings für den Rest der Schulzeit nicht den geringsten Fehltritt mehr erlauben.

Die Spitzen der Zigaretten glühten rot in der Dunkelheit. Inzwischen stand dicker Qualm in dem kleinen Raum und machte das Atmen mühsamer. Die Jungen hatten sich in eine winzige Abstellkammer zurückgezogen, nicht mehr im Grunde als eine Art Verschlag, der mit Bretterwänden vom übrigen Dachboden abgeteilt war. Sollte jemand Geräusche hören und nachsehen kommen, hatten sie hier drin eine winzige Chance, der Entdeckung entgehen zu können. Zudem hofften sie, daß ihre Körperwärme zusammen mit den Kerzen und den Zigaretten die frostige Temperatur ein wenig in die Höhe treiben würde. In dem eigentlichen Dachboden, der sich über die gesamte Länge und Breite des riesigen Schulgebäudes

erstreckte, wäre ein solcher Wunsch völlig unsinnig gewesen.

Die Jungen rauchten konzentriert und redeten wenig. Es gab auch kaum etwas, worüber man hätte sprechen müssen. Ein schweigendes Gemeinschaftserlebnis konnte intensiver und eindringlicher sein als eines, bei dem ein lebhafter verbaler Gedankenaustausch stattfand. Diese Nacht auf dem Dachboden hatte ihre eigene Bedeutung: In zehn Tagen war Weihnachten, und die Jungen würden einander drei Wochen lang nicht sehen. Insofern hatte das geheime Treffen in Kälte und Dunkelheit den Charakter einer Abschiedsfeier. Aber darüber hinaus sollte diese Nacht auch etwas sein, das sie in ihren Erinnerungen mitnehmen konnten. Für später, für die Zeit nach der Schule. Er stellte es sich so vor, daß das Leben am Ende einfach eine Ansammlung von Erinnerungen sein würde: traurige Erinnerungen natürlich auch, um die käme man nicht herum. Daher war es so wichtig, das Gedächtnis mit schönen Eindrücken zu füttern, mit fröhlichen, spannenden, lustigen, aufregenden Erlebnissen. Manchmal befiel ihn die Angst, er könnte kurz vor seinem Tod feststellen, daß er alles Wesentliche im Leben versäumt hatte. Aus irgendeinem Grund machte ihm der Gedanke schwer zu schaffen. Er sprach allerdings mit niemandem darüber. Weil er wußte, daß man ihn auslachen würde. Er war sechzehn! Und beschäftigte sich in seinen schlaflosen Nächten mit dem seelischen Zustand, in dem er sich im Alter von neunzig Jahren befinden würde.

Das gemeinsame Rauchen auf dem Dachboden war natürlich seine Idee gewesen. Eigentlich basierten die meisten ausgefallenen Unternehmungen auf seinen Ideen.

«Leon bringt uns alle noch mal in ernsthafte Schwierigkeiten«, sagte Alexander oft.

Klar, er provozierte nun mal gern und liebte die Herausforderung. Mit vierzehn Jahren hatte er einmal ein Auto geknackt und sie alle zu einer Spritztour überredet. Erstaunlicherweise waren sie nicht aufgeflogen. Ebensowenig wie in der Nacht, in der sie die Mauern um den Park des Internats mit Graffiti besprühten — wirklich witzige Sprüche über Lehrer und Erzieher, aber natürlich hatten die Betroffenen kein bißchen lachen können, und es hatte einen riesigen Skandal gegeben. Leon hatte sich köstlich amüsiert, und er hatte die einzelnen Mauerabschnitte noch rasch fotografiert, ehe eine Truppe Maler anrückte und alles überpinselte. Denn die Sprüche waren tatsächlich gut gewesen, und Leon meinte, irgendwie müsse das alles für die Ewigkeit festgehalten werden.

Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Es war nicht das erste Mal, daß er rauchte, natürlich nicht. In den Ferien tat er es oft, und ein paarmal hatte er es auch schon mit den Freunden getan, wenn sie samstags in die Diskothek gingen, oder auch mal im Park hinter einem Gebüsch. Das heißt, mit Tim hatte er es getan. Alexander hatte sich noch nicht getraut, und Marc hatte immer Angst gehabt wegen seines Asthmas. Er mochte die beiden, aber manchmal verachtete er sie auch ein bißchen. Marc war das typische verzärtelte Einzelkind, das sich ständig wegen irgendwelcher Wehwehchen aufregte — von denen, da war Leon überzeugt, wenigstens die Hälfte reinster Einbildung entsprangen. Beziehungsweise dem armen Marc von seiner überängstlichen Mutter eingeredet worden waren. Und Alexander lebte einfach ständig in der Sorge, er könne irgendwo anecken. Das Mißfallen seiner Mitmenschen erwecken. Unbeliebt sein. Abgelehnt werden. Mein Gott, war eigentlich auch kein Wunder bei dem Vater, unter dessen Fuchtel er hatte groß werden müssen. Leon kannte ihn, einmal hatten sie alle gemeinsam Ferien bei ihm gemacht. Alter Kotzbrocken! Aber allmählich könnte sich Alexander von seinem Einfluß befreien.

Seit ein paar Tagen herrschten klirrende Kälte und eisiger Frost. Die Jungen hatten in den Truhen und Kartons gestöbert, die im vorderen Teil des Dachbodens überall herumstanden, zwischen ausrangierten Schulmöbeln und den selbstgebastelten Bühnenbildern der Theatergruppe. Schließlich hatte jeder eine Decke oder etwas Ähnliches gefunden und sich damit notdürftig gewappnet. Am lustigsten sah Alexander aus: Ihm war ein bodenlanger schwarzer Mantel mit einem gewaltigen falschen Pelzkragen in die Hände gefallen, und er wirkte darin wie ein russischer Großfürst.

Wie ein tragischer russischer Großfürst, dachte Leon. Das lag an seinem stets zu ernsten, immer etwas melancholischen Gesichtsausdruck. Auch wenn er ihn gelegentlich für seinen Charakter verachtete, für sein Äußeres bewunderte Leon ihn. Alexander war ein entzückendes Kind gewesen, er war nun ein bildschöner Jüngling — wenn dieser altmodische Begriff heute noch auf jemanden zutraf, dann auf ihn, fand Leon —, und er würde ein ungemein gut aussehender Mann sein. Leon, der selbst viel Wert auf gutes Aussehen legte und, wie er wußte, hervorragend bei den Mädchen ankam, fühlte sich im Hinblick auf ästhetisches Empfinden mit Alexander durchaus seelenverwandt, auch wenn Alexander seiner eigenen Schönheit oft gleichgültig gegenüberzustehen schien. Tim hingegen… oh, Himmel, Eleganz besaß er nun überhaupt nicht! Leon warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Tim war frech und lustig und kannte keine Furcht, und deshalb verbrachten sie beide insgesamt die meiste Zeit miteinander, aber er sah einfach schrecklich aus, anders konnte man es nicht sagen. Seit ungefähr einem Jahr stand er der ökologischen Bewegung nahe, und aus Gründen, die Leon nicht nachvollziehen konnte, ließ er sich seitdem die Haare nicht mehr schneiden, trug Pullover, die ihm seine Mutter aus naturbelassener Schafwolle strickte, und nahm Jutetaschen zum Einkaufen mit — was immerhin konsequent mit den Naturkostläden und Reformhäusern harmonierte, die er gern aufsuchte. Mit seinen langen Haaren und in den übergroßen Pullovern (ob seine Mutter immer noch glaubte, er müsse da hineinwachsen? fragte sich Leon) sah er ein bißchen wie ein moderner Jesus aus. Er trug Tag und Nacht seinen Anti-AKW-Anstecker, las ständig Bücher über Psychologie und wollte nach dem Abitur zuerst für ein Jahr nach Indien gehen und dann Psychotherapie studieren. Er hätte unerträglich sein können in Leons Augen, aber da war noch etwas anderes in ihm, etwas, das sich nur schwer fassen, kaum definieren ließ. Er sah aus wie ein pazifistischer Weltverbesserer und Idealist, und er gab sich auch so, aber im tiefsten Inneren war er es nicht. Da war etwas in seinen Augen, das Leon mit Faszination erfüllte. Manchmal dachte er, daß er, wäre er nur älter, wissen würde, was es war. Dieses Aufglimmen einer geheimen Freude, die keine Wärme vermittelte, sondern eine Gänsehaut im Betrachter hervorrief.

Alexander hüstelte verstohlen und unterbrach damit das beinahe heilige Schweigen, das sie alle umfing. Leon grinste.

«Das wird doch nicht deine erste Zigarette sein?«fragte er.

«Natürlich nicht«, sagte Alexander.»Im übrigen habe ich auch gar nicht wegen der Zigarette gehustet. Ich habe Halsschmerzen, und die werden hier oben in dem Rauch und in der Kälte ganz sicher nicht besser.«

Tatsächlich war der Rauch inzwischen noch dichter geworden, so daß die Jungen einander nur noch durch einen Schleier sehen konnten.

«Wegen Halsschmerzen hustet man aber nicht«, meinte Tim. Er rauchte professionell und ungerührt.

Als wahrer Gesundheitsapostel müßte er das eigentlich ganz sein lassen, dachte Leon.

«Wieso sollte man nicht husten, wenn einem der Hals weh tut?«fragte Alexander.»Wenn es ganz tief unten ständig kratzt, huste ich jedenfalls immer.«

Tim setzte zu einer Erwiderung an, aber niemand erfuhr mehr, was er sagen wollte. Jedenfalls erinnerten sich später alle, daß es genau dieser Moment war, in dem Marc zu röcheln begann.

Marc hatte sich heftig gegen das Rauchen gesträubt unter Hinweis auf sein Asthma, aber niemand hatte genau hingehört, was daran liegen mochte, daß Marc tatsächlich ständig wegen irgendwelcher gesundheitlicher Probleme herumlamentierte. Es war auch nicht so, daß man ihn gezwungen hätte, mitzumachen. Er hätte beschließen können, im Bett zu bleiben, oder zwar auf den Dachboden mitzukommen, sich aber am Rauchen nicht zu beteiligen. Doch das war Theorie. In der Realität waren sie eine verschworene Gemeinschaft, eine langjährige Clique. Sich auszuschließen hätte bei jedem Mitglied mehr Größe und Reife vorausgesetzt, als einem Jungen im Alter von sechzehn Jahren üblicherweise zur Verfügung standen.

Marc war für seine gesamte Schulzeit vom Sportunterricht befreit. Es hing mit den Erstickungsanfällen zusammen, denen er als Kind immer wieder ausgesetzt gewesen war und die sich, wie er und seine Mutter unter Berufung auf die Ärzte behaupteten, bei erhöhter körperlicher Anstrengung wiederholen konnten.

«Ich war früher ein paarmal mit dem Notarztwagen im Krankenhaus«, hatte er erzählt,»weil ich überhaupt keine Luft mehr bekam und schon blau im Gesicht war.«

Man hatte seine Schilderungen zur Kenntnis, aber nicht wirklich ernst genommen.

Als er nun plötzlich nach Luft zu schnappen begann, drehten sich alle fast erstaunt zu ihm hin.

«Hast du auch Halsweh?«fragte Leon.

Was jedoch bei Alexander ein kurzes, kratziges Husten gewesen war, klang bei Marc außerordentlich bedrohlich. Er ließ seine Zigarette fallen, reckte den Kopf hoch und rang nach Atem. Er japste und schnaufte, und aus seiner Brust drang ein rasselndes, erschreckendes Geräusch.

Die Jungen bekamen Angst, auch wenn noch keiner es vor den anderen zugeben wollte. Tim, der am nächsten saß, reckte das Bein und trat Marcs glimmende Zigarette aus, damit nicht noch die Holzwände Feuer fingen.

«Komm, Marc, krieg dich ein«, sagte er barsch.»Soll ich dir mal kräftig auf den Rücken hauen? Vielleicht geht's dann wieder!«

Marc antwortete nicht, sondern schnappte verzweifelt nach Luft.

«Das ist ein Asthmaanfall«, meinte Alexander ängstlich.

Leon stieß einen leisen Schmerzenslaut aus. Seine Zigarette war bis an seine Fingerkuppe heruntergebrannt, ohne daß er es bemerkt hatte. Er warf sie auf den Boden und trat sie aus. Die anderen folgten seinem Beispiel.

Marc rutschte von der alten Apfelsinenkiste, auf der er gesessen hatte, und wand sich auf den Dielen. Trotz der schwachen Beleuchtung konnte man erkennen, daß sich sein Gesicht dunkel zu verfärben begann.

«O Gott«, rief Alexander leise.

Es mochten Sekunden oder Minuten sein, in denen sie alle wie gebannt auf ihren Freund starrten, der erfolglos um Atem kämpfte und sich anhörte wie ein verendendes Tier.

Leon bewegte sich als erster wieder.

«Wir müssen sofort einen Notarzt rufen. Er hatte als Kind doch solche Anfälle, und da konnte ihm auch der Notarzt helfen!«

«Nicht so laut!«zischte Alexander.»Willst du das ganze Haus aufwecken?«

«Ich glaube kaum, daß wir den Notarzt rufen können, ohne daß alle aufwachen«, entgegnete Leon. Alexander griff nach seinem Arm.

«Hör mal, weißt du, was dann passiert? Wir fliegen alle von der Schule. Die wissen doch dann, daß wir hier geraucht haben!«

Leon starrte ihn an.»Aber wir können doch nicht…«

Marcs Körper bäumte sich, von Krämpfen geschüttelt, auf. Er schlug mit den Armen um sich, stieß dabei an einen dreibeinigen Stuhl, der mit einigem Getöse umfiel.

Tim, der am ruhigsten schien, meinte:»Ich fürchte, bis der Arzt da ist, ist es zu spät.«

«Da hörst du es!«

Alexander war schneeweiß im Gesicht. Er zitterte.»Der Arzt kann ihm nicht mehr helfen, aber wir müssen die Schule verlassen.«

Marc röhrte wie ein Hirsch. Leon wühlte in seinen Haaren.»Er kriegt kaum Luft, aber er lebt doch noch«, sagte er verzweifelt.»Was ist, wenn sich das noch eine Stunde hinzieht?«

«Das zieht sich keine Stunde mehr hin«, meinte Tim.

Alexanders Fingernägel gruben sich schmerzhaft in Leons Arm.»Leon, bitte! Du weißt, ich wollte das hier nicht! Aber ich bin der, der am bittersten bezahlen muß. Mein Vater…«

«Ja? Was denn? Was kann er denn tun?«

«Wenn ich von der Schule fliege, dann… ihr habt doch keine Ahnung! Er verachtet mich. Ich bin die letzte Scheiße für ihn. Es gibt doch schon kaum noch etwas, das er akzeptiert an mir. Aber das hier… das ist eine Eliteschule. Wenn ich die schaffe… o Gott, versteht mich doch!«

Er schluchzte fast.»Wenn ich hier rausfliege, bin ich lebenslang der arme kleine Idiot, den er immer in mir gesehen hat!«

«Aber deswegen können wir Marc doch nicht verrecken lassen!«sagte Leon außer sich. Er dachte, daß dies eine unerträgliche Debatte war, auf die sich keiner von ihnen hätte einlassen dürfen. Vor allem er nicht. Ohne daß dies je ausdrücklich festgelegt worden wäre, bekleidete er eine Art Anführerposition in der Gruppe. Man hörte auf ihn. Er war in der Lage, Situationen zu entscheiden.

Alexander zitterte inzwischen wie Espenlaub. Von Marc erklang nur noch ein sehr leises, sehr schwaches Röcheln. Leon dachte später, daß dies den Ausschlag gegeben hatte: dieses unsagbar schwache Röcheln.

«Sammelt eure Zigaretten ein«, sagte er,»und die Aschenbecher. Rückt die Kisten und Stühle weg, auf denen ihr gesessen habt.«

Die anderen begriffen, ohne daß er es aussprach: Es sollte so aussehen, als sei Marc allein hier oben gewesen.

Lautlos und schnell hatten sie alle Spuren beseitigt. Die Decken, die sie sich zum Schutz gegen die Kälte umgelegt hatten, und der schwarze Fellmantel waren an ihren alten Plätzen verstaut.

Die Stühle weggeräumt. Die Kippen verschwunden. Lediglich die Kiste, auf der Marc gesessen hatte, stand noch da, davor ein Unterteller, der ihm als Aschenbecher gedient hatte, und zwei Kerzen, die mit Wachs am Boden befestigt waren. Marc selbst gab keinen Laut von sich und rührte sich nicht mehr. Keiner sah ihn an. Sie taten so, als wäre er gar nicht da. Alexander zitterte noch immer und kauerte, in sich zusammengesunken, neben der Leiter, die nach unten führte.

Leon blies die Kerzen aus. Der Dachboden versank in Dunkelheit.

«Das geht so nicht«, meinte Tim.»Man wird sich wundern, weshalb… er«, er war nicht in der Lage, Marc beim Namen zu nennen,»weshalb er die Kerzen noch löschen konnte, ehe er… sein Asthma bekam.«

«Aber wenn wir sie runterbrennen lassen, fackelt am Ende das ganz Haus ab«, widersprach Leon.»Man könnte doch auch denken, die Kerzen sind durch den Luftzug erloschen.«

Sie beließen es dabei. Einer nach dem anderen kletterten sie schweigend und wieselflink die Leiter hinunter. Sie endete auf einem schmalen Flur im obersten Stockwerk. Hier schlief niemand, hier gab es nur ein paar Kammern, in denen Bettwäsche, Tischtücher und Servietten gelagert wurden. Eine Wendeltreppe führte zu den Gängen, auf denen sich die Schlafräume befanden.

«Die Leiter bleibt natürlich unten«, wisperte Leon.

«Was machen wir mit den Kippen, der Asche und den Kerzen?«fragte Alexander, der erst jetzt seine Sprache wiederfand. Es gab keine Beleuchtung als die des durch die Fenster einfallenden Mondes, aber selbst darin ließ sich erkennen, daß Alexander aussah wie der Tod.

«Gebt alles mir«, sagte Leon. Es war wie immer: Er steckte schon wieder in der Führungsrolle und fühlte sich verantwortlich, daß nun alles funktionierte.»Ich werfe das Zeug morgen in der Stadt in irgendeinen Mülleimer. Aber los jetzt. Wir müssen in unsere Betten!«

Sie hatten eine Entscheidung getroffen, von der es nun kein Zurück mehr gab. Für ein paar Sekunden sahen die drei Jungen einander an.

«Danke«, sagte Alexander leise.

Dann huschten sie die Wendeltreppe hinunter. Die Nacht war still, nirgends ein Laut zu hören.

Niemand war aufgewacht.


Samstag, 24. Mai — Dienstag, 27. Mai

Das Telefon klingelte, als Jessica die Haustür aufschloß. Es war fünf Uhr am Nachmittag, und sie war müde. Sie war den ganzen Tag über in der Praxis gewesen, hatte geputzt und Staub gewischt, vertrocknete Grünpflanzen entsorgt und neue entlang der Fenster aufgestellt, die alten Zeitschriften aus dem Wartezimmer durch aktuelle Ausgaben ersetzt. Es war Samstag, und die Praxis erstrahlte in neuem Glanz. Nichts stand der Wiedereröffnung am Montag im Weg.

Barney wartete schon hinter der Tür und begrüßte sie stürmisch, sprang an ihr hoch, jagte dann mit fliegenden Ohren den Flur entlang, kehrte mit einem Stoffbären im Maul zurück und hüpfte wieder an ihr hoch. Sie kauerte sich nieder, drückte ihn an sich.

«Du Armer! Warst du so lang allein? Gleich machen wir einen schönen Spaziergang!«

Bei dem Wort Spaziergang begann Barney auf und ab zu springen. Das Telefon verstummte.

Jessica richtete sich langsam auf, streckte den schmerzenden Rücken. Das Putzen hatte sie angestrengt.

Sie wußte, weshalb sie Angst gehabt hatte, ans Telefon zu gehen: Sie hatte gefürchtet, es könnte Leon sein.

Sie ging in die Küche, schenkte sich ein Glas Wasser ein, trank langsam, in kleinen Schlucken. Barney stand vor ihr, sah mit schief gelegtem Kopf zu ihr auf.

«Gleich«, sagte sie.

Sie hatte Leon zwei Nächte zuvor gefragt, weshalb er ihr die Geschichte von Marc erzählt habe, und er hatte geantwortet, er sei der Meinung, sie solle es wissen.

«Ihr habt nie jemandem davon erzählt?«

«Nie. Niemandem. Das hatten wir einander geschworen.«

«Warum nimmst du Alexanders Tod als Anlaß, diesen Schwur zu brechen?«

Er war unsicher gewesen, das hatte sie sehen können. Unsicher, ob er nicht vielleicht das Falsche getan hatte. Immerhin hatte der Tee, von dem er schließlich drei Tassen getrunken hatte, seinen Alkoholspiegel etwas gesenkt. Seine Sprechweise hatte sich gefestigt.

«Du bist zu Alexanders Vater gefahren, um Alexander besser kennenzulernen. So hast du es jedenfalls gesagt. Ich hatte den Eindruck, daß es wichtig für dich ist, ein klares Bild von deinem Mann zu gewinnen. Daß dies… nun, deine Art der Trauer, deine Art der Bewältigung ist. Und deshalb dachte ich, du solltest die Geschichte von Marc kennen. Jene Nacht auf dem Dachboden war das einschneidendste Erlebnis in Alexanders Leben.«

Ihr Kopf hatte gedröhnt, und sie hatte gemeint, eine Fremde sprechen zu hören. Konnte das ihre Stimme sein? So klar und so sachlich?

«Doch wohl nicht nur in Alexanders Leben. In euer aller Leben kann es kaum einen tragischeren Moment gegeben haben.«

Er hatte den nächsten Teebeutel aus der Pappschachtel, die sie inzwischen einfach auf den Tisch gestellt hatte, gefischt, den Deckel der Thermoskanne aufgeschraubt, heißes Wasser in

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seinen Becher gegossen. Er schien sich am Tee förmlich festzuhalten.

«Sicher. Das war es. Aber Alexander war der Auslöser. Tim und ich hätten Hilfe geholt. Wir wären von der Schule geflogen — na und? Es gab andere Schulen. So hätten wir das gesehen.«

«Habt ihr aber nicht.«

Worum geht es mir jetzt eigentlich?

Leon rührte Zucker in seinen Tee. Er rührte, als würde er dafür bezahlt.

«Vielleicht kannst du es dir nicht wirklich vorstellen. Vielleicht kann das niemand, der nicht dabei war. Alexander war… er sah aus, als ginge es um sein Leben. Er hat gezittert. Er war kalkweiß. Er hatte buchstäblich Todesangst. Er hat uns angefleht. Er war…«

Leon zuckte mit den Schultern.»Er ließ uns keine Wahl.«

«Vor euren Augen starb euer Freund!«

«Alexander ließ uns keine Wahl«, hatte Leon wiederholt, und es war dieser Satz, der sich in ihr Gedächtnis gegraben hatte, der sie umtrieb, der in ihr nachhallte.

Er stiehlt sich aus der Verantwortung, dachte sie immer wieder voller Wut, und Tim spricht er auch gleich mit frei. Wie schön. Wie bequem. Und wer sagt mir überhaupt, daß die Geschichte so stimmt?

Niemand. Nur sie selbst. Alles, was sie über Alexander wußte, bestätigte ihr, daß sich jene verhängnisvolle Nacht so zugetragen haben mußte, wie Leon es erzählt hatte. Es paßte zu dem, was sie über seinen Vater wußte. Es erklärte seine nächtlichen Albträume.

Es war absolut stimmig.

Sie wünschte, sie hätte nie davon gehört.

Sie wollte sich gerade ein zweites Glas Wasser einschenken, als das Telefon erneut klingelte. Sie beschloß, es zu ignorieren, und nach einer Weile hörte es auf, aber nur, um eine Minute später erneut einzusetzen. Irgend jemand schien sie sehr dringend erreichen zu wollen.

Wenn es Leon ist, lege ich einfach sofort auf, dachte sie und nahm den Hörer ab.

«Ja?«fragte sie mit bewußt schroffer Stimme.

Es war nicht Leon. Sondern Evelin.

Es war nicht so einfach gewesen, mit Evelin zu sprechen. Nachdem sie ihren Namen genannt hatte, war sie in Tränen ausgebrochen und hatte minutenlang hemmungslos geschluchzt.

«Beruhige dich doch«, hatte Jessica immer wieder gesagt.»Evelin, es ist alles gut. Du mußt nicht weinen!«

Endlich hatte Evelin sprechen können.»Ich hatte Angst. Ich habe es den ganzen Nachmittag bei dir versucht. Ich dachte, die Nummer stimmt vielleicht nicht mehr…«

Ihre Stimme zitterte.

«Alles okay. Ich bin nur eben erst nach Hause gekommen. Ich war in der Praxis.«

«Am Samstag?«

«Die Praxis war die ganze Zeit geschlossen. Ich fange erst am Montag wieder an. Ich habe saubergemacht.«

Evelin hatte sich einigermaßen gefaßt.»Entschuldige, daß ich eben die Beherrschung verloren habe. Es ist nur… ich weiß, ich kann das eigentlich nicht verlangen, aber… könntest du hierherkommen? Nach England?«

«Nach England? Jetzt? Was ist denn passiert?«

«Ich darf hier nicht weg. Die haben meinen Paß. Ich brauche Geld. Und ich bin unfähig, es hier allein auszuhalten. Meinst du nicht, du könntest kommen?«

«Evelin, bitte, der Reihe nach. Ich verstehe kein Wort. Wo genau bist du?«

«Ich bin in Stanbury. Ich habe ein Zimmer im The Fox and the Lamb genommen. Die haben mich aus dem Gefängnis entlassen, aber ich muß mich noch zur Verfügung halten, wie sie sagen. Ich habe überhaupt kein Geld, und…«

«Das könnte ich dir ja auch überweisen. Aber wieso haben die dich…«

«Nein, bitte, du mußt kommen. Ich drehe durch. Jessica, wirklich, ich drehe hier einfach durch!«

Sie kämpfte schon wieder mit den Tränen.

Jessica dachte an die Annonce in der Zeitung und ihren. Rundbrief an die Patienten der Praxis. Schöner Mist!

«Wieso haben die dich rausgelassen? Haben die…«, ihr Herz begann plötzlich wild zu hämmern bei diesem Gedanken,»haben die etwa den Täter gefaßt?«

«Kommst du?«

«Ja. Beruhige dich. Ich komme. Aber sag mir endlich…«

«Mein Anwalt hatte gestern noch mal einen Haftprüfungstermin angesetzt.«

Nachdem sie die Zusage erhalten hatte, daß Jessica herbeieilen würde, beruhigte sich Evelin.»Er hatte mir schon gesagt, daß sie mich vermutlich würden rauslassen müssen, weil sie ja noch immer nur mit dünnen Indizien herumhantieren, und da hatte sich auch noch nichts bestätigt. Aber dann wurde es noch einfacher als gedacht. Mein Anwalt hat erfahren, daß Phillip Bowen seit dem späten Donnerstagabend mit Haftbefehl gesucht wird. Sein Alibi war falsch, und irgendwie ist das aufgeflogen. Er ist untergetaucht. Es scheint ziemlich sicher, daß er es war.«

Wie Leon gesagt hatte. Von Anfang an. Jessica merkte, daß ihr Mund trocken wurde, daß sie sich schwindlig fühlte. Ein falsches Alibi. Sie konnte Superintendent Normans Stimme hören:»Er war den ganzen Nachmittag mit Geraldine Roselaugh zusammen.«

Und Leon darauf:»Die würde für ihn doch das Blaue vom Himmel herunterlügen!«

Offensichtlich hatte er recht gehabt.

«Auf jeden Fall«, fuhr Evelin fort,»besteht gegen mich kein dringender Tatverdacht mehr. Aber sie haben meinen Paß noch einbehalten. Sie wollen im Moment nicht, daß ich England verlasse. Aber mir geht es schlecht, Jessica, wirklich schlecht. Ich bin so verzweifelt und allein. Das Gefängnis war… die Hölle, ein Alptraum. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ich…«

«Ich habe dir doch gesagt, ich komme. Paß auf, ich werde versuchen, für morgen einen Flug zu buchen, okay? Bis zum Abend bin ich in Stanbury. So lange kannst du durchhalten, ja?«

Evelin war offenbar psychisch in einem desolaten Zustand, was, wie Jessica fand, nicht ungewöhnlich war, wenn ein Mensch vier Wochen lang unter Mordverdacht im Gefängnis festgehalten worden war. Sie schien ständig Mühe zu haben, ihre Fassung zu wahren.

«Ja. Aber sei so schnell wie möglich da. Bitte!«

Nachdem Jessica dies noch einmal versichert und dann das Gespräch beendet hatte, machte sie ihren Spaziergang mit Barney und dachte, daß sie Evelins Hilferuf wirklich im unpassendsten Moment ereilt hatte. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Leon zu bitten, an ihrer Stelle zu fliegen, denn schließlich hatte er im Moment nichts zu tun und war der Frau seines toten Freundes mindestens so verpflichtet wie sie. Aber sie wußte, daß Evelin dies als Verrat empfinden würde. Sie wollte jetzt eine Frau an ihrer Seite, keinen Mann, und schon gar keinen wie Leon.

Als sie zurückkam, hörte sie das Telefon erneut bereits klingeln, als sie an der Haustür war. Diesmal beeilte sie sich.

Wenn es Leon ist, dann nehme ich das als Zeichen. Dann soll er fliegen.

Aber wiederum war es nicht Leon. Es war Elena, und sie klang fast genauso aufgelöst wie zuvor Evelin.

«Jessica, Ricarda ist verschwunden! Ich rufe gerade bei allen Bekannten an. Ist sie vielleicht bei Ihnen?«

2

«Mir war völlig klar, daß du einen Rückzieher machen würdest, zumindest mental«, erklärte Lucy.»Aber glücklicherweise kannst du ihn diesmal nicht umsetzen. Du hast Phillip angezeigt. Du…«

«Ich habe ihn nicht angezeigt«, unterbrach Geraldine,»ich habe lediglich Superintendent Norman angerufen und ihm gesagt, daß Phillips Alibi nicht stimmt. Das ist nicht das gleiche wie anzeigen!«

«Es läuft aber auf das gleiche hinaus. Phillip wird dir nie verzeihen, und ich danke Gott, daß es so ist! Lieber Himmel, Geraldine, du kannst diesem Typen doch nicht noch ernsthaft hinterhertrauern!«

Sie saßen in Geraldines schicker Wohnung in Chelsea, tranken Sekt und hatten die Wohnzimmerfenster weit geöffnet, um die warme Luft des Frühlingsabends hereinströmen zu lassen. Es war ein herrlicher Tag gewesen, schon ganz sommerlich, und Lucy hatte vorgeschlagen, in einem der Parks spazierenzugehen oder hinaus aufs Land zu fahren.

«Du sitzt seit Donnerstag abend hier in der Wohnung und heulst und grübelst. Das tut dir nicht gut. Laß uns ein bißchen in der Sonne laufen.«

«Ich gehe nicht hinaus. Schau mich doch an!«

Von Geraldines langen, glänzenden Haaren waren nur schief abgeschnittene Stoppeln geblieben, die sie noch dazu seit jenem Abend nicht mehr gewaschen oder auch nur gekämmt hatte. Ebensowenig wie sie sich duschte und anzog. Sie trug ein verschwitztes, fleckiges Nachthemd — das bißchen Essen, das sie sich überhaupt zubereitet hatte, schien sie zum größten

Teil über den hellen Baumwollstoff verteilt zu haben, so schien es Lucy jedenfalls —, hatte verquollene Augen und eine unschön gerötete, von den vielen Tränen gereizte Haut. Sie hatte Lucy am Tag nach dem Streit — wobei das Wort Streit im Grunde zu klein war für das Ausmaß des Vorkommnisses — angerufen, nachdem sie mit Superintendent Norman telefoniert und ihm alles erzählt hatte. Er hatte sie gebeten, zu einem Londoner Polizeirevier zu gehen — er hatte ihr die Adresse genannt sowie den Namen eines Sergeant dort — und ihre Aussage protokollieren zu lassen. Er werde alles arrangieren, und man werde sie dort erwarten.

Geraldine, die sich außerstande gesehen hatte, diesen Gang allein zu bewältigen, hatte Lucy zu sich gebeten, die einen Ausruf des Entsetzens nicht hatte unterdrücken können, als sie den verstümmelten Haarschnitt ihres einst am besten vermittelbaren Models gesehen hatte.

«Um Gottes willen! Was hast du denn gemacht?«

Es war nicht ganz leicht für Lucy gewesen, die wirre, unter heftigen Tränen hervorgebrachte Geschichte Geraldines zu begreifen, und als sie endlich verstanden hatte, war sie von einem fast ungläubigen Grauen erfaßt worden.

«Er ist ein Verbrecher! Ein Massenmörder! O Himmel, Geraldine, ist dir klar, in welcher Gefahr du die ganze Zeit geschwebt hast? Daß er nicht ganz normal ist, habe ich ja schon immer gesagt, aber daß er… verdammt, mir wird richtig schlecht, wenn ich mir vorstelle…«

Geraldine hatte sie unterbrochen.»Ich weiß nicht, ob er… es getan hat. Er hat Stein und Bein geschworen, daß er es nicht war. Er…«

«Und wozu hat er dann ein falsches Alibi gebraucht? Ich bitte dich, Geraldine, ein Mensch mit einem guten Gewissen hat doch solch abenteuerliche Konstruktionen nicht nötig! Ich frage mich, wie du dich dafür hergeben konntest. Ist dir nicht

klar, daß du dich damit strafbar machst? Ganz abgesehen davon — wie konntest du denn ernsthaft noch immer eine Zukunft planen mit einem Mann, der fünf Menschen einfach abgestochen hat? Wie konntest du noch ernsthaft Kinder mit ihm haben wollen? Wie konntest du…«

Geraldine war unter dem Maschinengewehrfeuer von Lucys Tiraden zu einem Häufchen Elend zusammengesunken und hatte irgendwann nur leise gefragt:»Kommst du mit zur Polizei?«

«Natürlich komme ich mit. Und sei es nur deshalb, um sicherzustellen, daß du deine Aussage nicht in letzter Minute widerrufst! Denn das wäre dir zuzutrauen, wie ich dich kenne. Großer Gott, wenn ich mir vorstelle, daß auch ich noch in der Wohnung dieses Monsters war…«

Wie in Trance hatte Geraldine ihre Aussage zu Protokoll gegeben, alles hatte ziemlich lange gedauert, aber sie hatte Kaffee und Mineralwasser, die man ihr anbot, abgelehnt, weil ihr zu übel war, als daß sie auch nur hätte trinken können.

Immerhin machte ihr niemand einen Vorwurf oder sprach das Thema an, ob sie wegen ihres Verhaltens in naher Zukunft mit juristischen Konsequenzen zu rechnen hätte. Man schickte sie jedoch — natürlich — mit der obligatorischen Auflage, sich jederzeit zur Verfügung zu halten, nach Hause. Lucy war sofort klar, daß dies zunächst eine Reihe von Problemen in Geraldines Beruf mit sich bringen würde. Allerdings war Geraldine wohl in der nächsten Zeit ohnehin nicht einsetzbar, was weniger an ihrem verunglückten Haarschnitt lag als an ihrer depressiven Stimmung und dem Ausdruck schwärzester Hoffnungslosigkeit in ihren Augen. Als sie das Polizeirevier endlich hatten verlassen dürfen, hatte Lucy vorgeschlagen, irgendwo zusammen einen Kaffee zu trinken und dann Geraldines Friseur aufzusuchen.

«Wir müssen etwas mit deinen Haaren unternehmen. So können sie nicht bleiben. Bruno bringt das sicher in Ordnung.«

Bruno war der schwule Friseur aus der South Kensington Road, der für die meisten Models aus Lucys Agentur zuständig war.»Wir machen einfach einen neuen Typ aus dir. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Langhaarig, mädchenhaft, verträumt warst jetzt über viele Jahre. Ich könnte mir vorstellen, du siehst mit kurzen Haaren viel jünger und frecher aus.«

Aber Geraldine war nicht zu bewegen gewesen, weder zum Kaffeetrinken noch zu einem Friseurbesuch, und Lucy hatte schließlich nachgegeben und sie heimgebracht. Am heutigen Samstag war sie wieder zu ihr geeilt und hatte sie erneut in einem Zustand völliger Apathie angetroffen. Nachdem alle ihre Bemühungen, Geraldine zu einem Spaziergang zu überreden, gescheitert waren, hatte sie schließlich einen Vorrat an Sektflaschen aus dem Keller geholt und kalt gestellt und nun am Abend die erste geöffnet. Tatsächlich schien der Alkohol Geraldine ein wenig zu entspannen. Sie war zumindest wieder ansprechbar.

«Weißt du, Lucy«, sagte sie nun,»ich bin im tiefsten Inneren davon überzeugt, daß Phillip niemanden ermordet hat. Ich kann dir nicht erklären, warum, aber da ist in mir…«

Lucy unterbrach sie mit einem unwilligen Schnauben.»Sei mir nicht böse, Geraldine, aber du wirst zugeben müssen, daß man dich kaum als eine Person ansehen kann, die auch nur im entferntesten geeignet ist, Phillip Bowen einigermaßen objektiv zu beurteilen. Dieser Mann hat dich jahrelang wie einen Fußabstreifer behandelt und deine Gefühle ausgenutzt, und du hast dich treten lassen und bist trotzdem immer wieder angekrochen gekommen. Wie ich dir schon oft erklärt habe, weist das auf eine gefährliche psychische Abhängigkeit hin, für deren Auflösung du vermutlich sogar therapeutischer Hilfe bedürftest. Das heißt, auch jetzt, nachdem er dir das angetan hat«, sie wies auf Geraldines verstümmelte Haare,»kannst du nicht aufhören, dich nach ihm zu verzehren, und natürlich träumst du insgeheim immer noch davon, daß er zu dir zurückkommt, daß ihr euch versöhnt und alles wieder gut wird.«

Geraldine senkte die Augen. Es stimmte, was Lucy sagte. Sie wünschte nichts mehr, als daß…

«Und deshalb täuschen dich deine Gefühle«, fuhr Lucy fort,»du fühlst, was du fühlen willst, und nichts, was mit irgendeiner Wahrheit zu tun hat. Das heißt — für ein paar Momente war dir offenbar schon klar, was du zu tun hast. Denn sonst hättest du an jenem Abend nicht diesen Superintendent in Yorkshire angerufen.«

«Das war nur ein… ein Racheakt. Ich war verstört, verzweifelt, völlig… aufgelöst. Phillip hatte… ich hatte zum erstenmal richtig Angst vor ihm, und…«

Sie biß sich auf die Lippen.

«Das«, sagte Lucy,»war wahrscheinlich das einzige Mal, daß du ein stimmiges Gefühl diesem Mann gegenüber hattest.«

«Er hätte mich töten können. Warum sollte sich ein Killer, ein Irrer damit begnügen, jemandem die Haare abzuschneiden, wenn er ihm die Schere auch… auch ins Herz stoßen könnte?«

«Auch ein Irrer«, berichtigte Lucy im Brustton der Überzeugung, obwohl sie sich bislang keineswegs als Spezialistin für Menschen dieser Art empfunden hatte,»läuft nicht den ganzen Tag total durchgeknallt herum. Es sind nur einzelne Momente, in denen er austickt. Offenbar ist das in — wie hieß der Ort? — in Stanbury passiert. Ansonsten kann er ganz normal wirken und handeln. Obwohl«, fügte sie hinzu, «Phillip Bowen, wenn du mich fragst, nie normal gewirkt hat. Wie auch immer, an jenem Abend war ihm wohl klar, daß er seine Lage nur verschlimmert, wenn er einen weiteren Mord begeht. Seine maßlose Wut auf dich brauchte jedoch ein Ventil. Das fand er im Abschneiden deiner Haare. Das ist übrigens an sich schon ziemlich krank. Wie auch das Sammeln dieser Artikel über Kevin McGowan und diese ganze idiotische Geschichte über seinen angeblichen Vater. Alles an dem Mann ist… unheimlich. Und das würde dir auch jeder andere Mensch sagen.«

«Du hast ihn nie gemocht.«

«Weil ich es nicht mit ansehen konnte, wie er dich behandelt hat.«

Geraldine starrte aus dem Fenster. Sie sah aus wie ein kleines, frierendes, gerupftes Küken. Lucy, die selten zärtliche Regungen in sich verspürt hatte, merkte, daß es sie drängte, sie in den Arm zu nehmen und wie ein Baby zu wiegen. Sie unterließ es natürlich. Es wäre ihr peinlich gewesen, und Geraldine vielleicht auch.

«Ich weiß nicht, wie mein Leben weitergehen soll, Lucy. Es ist… es ist, als ob alles zu Ende sei. Alles ist hoffnungslos und ohne Zukunft. Ich bereue so tief, was ich getan habe…«

Sie vergrub das Gesicht in den Händen.»Ich hätte seine Sachen nicht zerschneiden dürfen. Was immer ich über seinen… seinen Wahn mit Kevin McGowan dachte — ich hätte mich nicht einmischen dürfen. Es war seine Angelegenheit. Im Grunde habe ich nichts anderes getan als er. Er hat mir die Haare abgeschnitten, und ich habe zerstört, woran sein Herz hing. Aber ich habe angefangen. Ich habe die Grenze als erste überschritten.«

«Also, das sind zwei Dinge, die man wohl kaum miteinander vergleichen kann!«

«Doch, Lucy. Doch!«

Geraldine sah auf.»Ich habe ja sein Gesicht gesehen, als er begriff, was ich da tat. Es war sein Innerstes, an das ich gerührt habe. Es war ein Übergriff, wie er schlimmer nicht hätte sein können. Ich habe alles damit zerstört.«

Es lag Lucy auf der Zunge zu sagen, daß zwischen ihr und Phillip nichts gewesen war, was hätte zerstört werden können, aber sie schluckte es hinunter. Weshalb gegen taube Ohren predigen?

«Und dann gehe ich auch noch zur Polizei! Nie, nie, nie wird er es mir verzeihen…«

Alles von vorn, dachte Lucy erschöpft. Wieder und wieder.

«Ich weiß, daß er unschuldig ist. Er hat mit diesem scheußlichen Verbrechen nichts zu tun. Aber sie werden ihn schnappen, und nach der Geschichte mit dem Alibi wird er für sie als Täter feststehen, und er…«

«Er wird einen Prozeß bekommen. Wir leben in einem Rechtsstaat. Wenn er unschuldig ist, was ich nicht glaube, dann wird sich das herausstellen, und er hat nichts zu befürchten.«

«Lucy, es wäre doch nicht das erste Mal, daß jemand lediglich aufgrund von Indizien verurteilt wird und daß sich Jahre oder Jahrzehnte später seine Unschuld herausstellt. Wie kannst du an die Unfehlbarkeit von Gerichten glauben?«

«Wenn er unschuldig ist, warum dann das konstruierte Alibi? Warum jetzt seine Flucht? Nein, Geraldine, hör auf, dir ständig etwas vorzumachen. Und zwar in jeder Hinsicht. Phillip Bowen hat dich nie geliebt. Er hat nie an eine gemeinsame Zukunft mit dir gedacht. Um es deutlich zu sagen: Du gingst ihm immer am Arsch vorbei! Kapiert?«

Lucy stand auf. Sie war erregt und wütend, und sie hatte auf das alles keine Lust mehr. Geraldine war ihr bestes Pferd im Stall gewesen, und jahrelang hatte sie mit ansehen müssen, wie sie sich von ihrer hoffnungslosen Liebe zu diesem Tunichtgut hatte ausbremsen lassen. Wie oft waren Termine geplatzt, weil sie verheult war, wie oft hatte sie wichtige Verabredungen mit einflußreichen Männern — die für ihre Karriere hätten wichtig sein können — abgesagt, um wieder einen Abend lang frierend in der indiskutablen Absteige von Phillip Bowen zu sitzen und zu hoffen, daß er das eine oder andere nette Wort an sie richtete. Lucy hatte es satt, so abgrundtief satt. Überdies kränkte es sie als Frau, daß sich eine andere Frau so tief von einem Mann erniedrigen ließ.

«Es war verdammt gut, daß du dich aus dieser unsäglichen Nummer mit dem Alibi herausmanövriert hast. Es war verdammt richtig. Und es gibt nur eines, was mich daran besorgt sein läßt…«

Sie machte eine kurze Pause, überlegte, ob sie Geraldine von ihren Befürchtungen berichten sollte. Sie hatte den ganzen gestrigen Tag über daran gedacht. Sie wollte Geraldine in ihrem desolaten Zustand nicht auch noch verunsichern, andererseits war es vielleicht ihre Pflicht, sie zu warnen…

Geraldine sah sie an.»Was denn, Lucy?«

«Ich weiß, du weist es weit von dir, aber angenommen, nur angenommen, er hat es getan…«

«Was?«

«Die Morde. Diese scheußlichen, blutigen Morde an fünf Menschen… Wenn sie auf sein Konto gehen — und du hast nicht den geringsten Beweis dafür, daß es nicht so war —, dann ist er ein extrem gefährlicher Mann. Ein Irrer. Eine wandelnde Zeitbombe. Und du hast ihn sehr wütend gemacht.«

«Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.«

Lucy sah sie sehr ernst an.»Vielleicht öffnest du besser nicht die Tür, wenn es klingelt. Läßt nachts die Fenster geschlossen und schließt auch die Terrassentür, egal, wie warm es noch wird. Verlaß das Haus nur tagsüber und am besten nur in meiner Begleitung. Bis sie ihn haben, solltest du kein Risiko eingehen.«

«Aber du glaubst doch nicht…«

«Ich sage nur, du sollst kein Risiko eingehen. Vielleicht ist er rachsüchtiger, als du denkst. Vielleicht verliert er wieder die

Kontrolle über sich. Ich will nicht, daß… ich will einfach nicht, daß dir etwas passiert, okay? Versprichst du mir, vorsichtig zu sein?«

«Lucy, ich denke, daß du…«

«Versprich es mir!«

Geraldine ließ sich zurück in die Kissen des Sofas fallen. Ihr schmuddeliges, zerknittertes Nachthemd klaffte über ihrem Bauch auseinander. Lucy sah die tiefe Kuhle zwischen den spitzen Hüftknochen und die Rippen, die sich so hoch wölbten, als wollten sie die dünne Haut durchbohren.

Wie mager sie ist, dachte Lucy.

«Ich verspreche es dir«, sagte Geraldine ausdruckslos.

Sie hätte auch versprechen können, den Kilimandscharo auf einem Schlitten hinunterzufahren — es hätte den gleichen Wert gehabt.

3

Es gab Fotos von Elena, die sie als außergewöhnlich schöne Frau zeigten, als die typische schwarzhaarige, dunkeläugige Spanierin, temperamentvoll und lebendig. Bei den wenigen kurzen Begegnungen, die es gelegentlich gegeben hatte, war Jessica jedoch aufgefallen, daß Elena ihren älteren Bildern im normalen Alltag immer weniger glich: Mehr und mehr schien sie zu verblühen, an Strahlkraft zu verlieren, schien kleiner, dünner, faltiger zu werden.

Noch nie aber hatte sie so schlecht ausgesehen wie an diesem Abend.

Sie ist ja richtig alt geworden, hatte Jessica gedacht, als sie ihr die Tür öffnete.

«Ich nehme an einer Fortbildung teil«, hatte Elena am Telefon berichtet,»deshalb war ich von heute früh an fort, obwohl Samstag ist. Um halb sechs kam ich nach Hause. Ricarda war nicht da.«

«Aber sie könnte doch bei einer Freundin sein, oder…«

«Sie hat das Haus nicht mehr verlassen, seit sie aus den Osterferien zurück ist«, hatte Elena unterbrochen.»Und eine richtige Freundin hat sie eigentlich gar nicht. Bei ein paar Klassenkameradinnen, mit denen sie sich ganz gut versteht, habe ich schon angerufen, und bei den Mädchen aus dem Basketball-Team auch. Da hat keine etwas von ihr gehört oder gesehen.«

«Dennoch würde ich nicht gleich das Schlimmste denken. Ich…«

Wieder unterbrach Elena.»Es fehlen eine Reisetasche, ein paar T-Shirts, Jeans und Unterwäsche aus ihrem Schrank.

Außerdem hat sie… sie hat Geld aus einer Kassette in meinem Schreibtisch genommen.«

«Oh…«, sagte Jessica leise.

Elenas Stimme hatte klein und verzagt geklungen.»Ich würde Sie nicht damit behelligen, Jessica, glauben Sie mir, wenn ich nicht völlig verzweifelt wäre.«

«Leider hat mich Ricarda nie als die neue Frau an der Seite ihres Vaters akzeptiert«, sagte Jessica,»und sich mir daher niemals auch nur in den kleinsten Kleinigkeiten anvertraut. Also kann ich Ihnen, wie ich fürchte, auch kaum weiterhelfen.«

«Es gibt da noch etwas«, hatte Elena nach ein paar Sekunden des Schweigens gesagt.»Sie hat ihr Tagebuch hiergelassen. Für gewöhnlich würde ich eine solche Grenze nie überschreiten, aber in dieser Situation…«

«Sie haben das Tagebuch gelesen?«

«Sie muß krank sein, Jessica, ernsthaft krank! Was ich gelesen habe, hat mich zutiefst erschüttert. Hätten Sie… ich meine, dürfte ich zu Ihnen kommen? Ich muß mit Ihnen darüber sprechen. Ich habe Angst, Jessica. Ich habe noch nie solche Angst um meine Tochter gehabt.«

Sie saßen auf der Terrasse, denn der Abend wollte nicht kühler werden, und es war draußen angenehmer als drinnen. Jessica hatte Weißwein gebracht und zwei Gläser, und sie hatte Baguettescheiben mit Olivenpaste bestrichen und dazugestellt, aber Elena rührte von dem Essen nichts an. Sie nippte nur hin und wieder an ihrem Wein und runzelte gelegentlich die Stirn, als wehre sie sich gegen aufkeimende Kopfschmerzen. Sie trug ein elegantes, helles Kostüm, das etwas verschwitzt und zerknittert wirkte. Offenbar hatte sie seit der Rückkehr von dem anstrengenden Tag weder geduscht noch sich umgezogen. Ihre schweren, schwarzen Haare — von reichlich Grau durchzogen inzwischen — schienen im Nacken feucht zu sein.

Der Garten war voller Schatten, voll sommerlicher Gerüche und erster wispernder Geräusche, die nur die Nacht hervorbringt, und mitten im Gras lag Barney und kaute hingebungsvoll auf einem großen Ast herum, den er beim Spazierengehen gefunden und keuchend vor Anstrengung in sein Revier geschleppt hatte. Es war alles wie immer, vielleicht sogar von besonderer Friedlichkeit und Idylle, und dennoch hatte sich für Jessica alles verändert in dem Moment, da Elena das Haus betrat. Elena verhielt sich zurückhaltend und wie ein Gast, und dennoch bewegte sie sich in einer Art durch den Flur und das Wohnzimmer hinaus auf die Terrasse, die verriet, daß ihr die Umgebung vertraut war.

Woran liegt das? fragte sich Jessica, die bis zu diesem Moment gar nicht daran gedacht hatte, daß Elena ja jahrelang in diesem Haus gewohnt hatte. Ist es das Fehlen des Zögerns, das andere Besucher an den Tag legen, bevor sie ein fremdes Zimmer betreten? Die mangelnde Neugier, mit der sie sich umsieht? Eine taktvolle Zurückgenommenheit? Oder liegt es nur daran, daß ich weiß, sie hat hier gelebt? Daß ich sie plötzlich vor mir sehe zwischen diesen Wänden, den Möbeln, den Vorhängen? Vielleicht ist es eine ungewöhnliche Stimmigkeit. Sie paßt zu der Umgebung, und die Umgebung paßt zu ihr.

Und auf einmal, blitzartig, entschied sich für sie die Frage, mit der sie sich seit ihrer Rückkehr aus England immer wieder ergebnislos beschäftigt hatte, und sie entschied sich mit einer Klarheit, daß Jessica später gar nicht mehr begriff, wie es überhaupt nur den geringsten Zweifel hatte geben können: Sie würde in diesem Haus nicht bleiben. Sie hatte es nie als Heimat empfunden, und daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Es war das Haus von Alexander, Elena und Ricarda.

Nicht das von ihr und ihrem Kind.

Und weh tat dabei nur die Erkenntnis, daß es wichtig gewesen wäre, zusammen mit Alexander ein neues Zuhause zu schaffen, denn dann hätte sie nun etwas, das ihr blieb.

Ein Fehler, den sie begangen hatte, einer, den sicher viele Menschen begingen, nur daß er in ihrem Fall durch Alexanders plötzlichen Tod unkorrigierbar geworden war.

Kann passieren. Nur warum mußte es gerade mir passieren?

Sie versuchte sich auf Elena zu konzentrieren, die von Ricarda sprach. Wie verändert sie gewesen war seit dem Geschehnis, daß sie entweder frech und rücksichtslos oder völlig in sich gekehrt und wie in einer anderen Welt gewesen war. Daß sie sich geweigert hatte, in die Schule zu gehen oder in ihren Basketball-Club. Sich überhaupt nur anzuziehen und das Haus zu verlassen.

«Ich wußte natürlich, daß sie dringend in psychologische Behandlung gehört«, sagte Elena,»aber auch dagegen sträubte sie sich mit Händen und Füßen. Kann ich eine fast Sechzehnjährige zwingen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie das nicht will? Vielleicht hätte ich sie stärker unter Druck setzen sollen.«

«Ich glaube nicht, daß das etwas gebracht hätte«, meinte Jessica.»Wir alle müssen, jeder für sich, unseren Weg finden, das Grauen zu verarbeiten. Für jeden wird das eine ganze Zeit dauern. Für Ricarda vielleicht am längsten. Sie ist in einem schwierigen Alter.«

«Sie hat unsere Scheidung nie verkraftet«, sagte Elena.»Sie hat ihren Vater abgöttisch geliebt. Ihn nur noch an den Wochenenden sehen zu können muß schrecklich für sie gewesen sein. Und dann noch…«

Sie sprach nicht weiter, aber Jessica wußte, was sie hatte sagen wollen.

«…und dann noch die Heirat mit mir«, vollendete sie.»Das hat ihre letzte Hoffnung zerschlagen.«

«Ja«, sagte Elena müde,»das war wohl so.«

Ihre Hände zitterten leicht, während sie ihre Handtasche öffnete und das dicke, grüne Schreibheft hervorzog. Jessica kannte es nur zu gut. Ricardas Tagebuch. Wieder sah sie es in Patricias Händen, hörte die kühle Stimme der Freundin — Freundin? — , mit der diese daraus vorlas. Jener Abend stand so dicht plötzlich vor ihr, daß sie in der Erinnerung erschrocken seufzte.

Elena mißinterpretierte diesen Laut.»Ich weiß«, sagte sie hastig,»ich hätte mich daran nicht vergreifen dürfen. Sie müssen mir glauben, unter einigermaßen normalen Umständen wäre dieses Buch absolut tabu für mich gewesen, aber da ich mir gar nicht mehr zu helfen wußte und mir solche Sorgen machte…«

«Ich verstehe«, sagte Jessica,»ich hätte vermutlich genauso gehandelt.«

Elenas Gesicht war sehr blaß, während sie auf das Buch starrte.»Und jetzt wünschte ich, ich hätte nie hineingeschaut«, sagte sie leise.»Gott… es stehen so furchtbare Dinge darin. Voller Haß und Wut. Grausame Phantasien… Das meinte ich vorhin, als ich sagte, sie ist krank. Das… das ist nicht normal…«

Jessica stand auf. Da sie einige Passagen kannte, war ihr klar, was Elena meinte, und sie hoffte, daß ihr Gesicht nicht verriet, daß sie mehr wußte, als sie jetzt zugeben wollte. Intuitiv beschloß sie, daß es besser war, jenen Abend im Wohnzimmer von Stanbury House nicht zu erwähnen. Sie war fast sicher, daß Ricarda ihrer Mutter nichts davon erzählt hatte, und es würde Elenas Schrecken und ihre Angst nur verstärken, wenn sie nun davon erfuhr.

Sie blieb hinter ihrem Stuhl stehen.»Ich kenne die Einträge nicht«, sagte sie,»aber ich bin der Meinung, man sollte so etwas keinesfalls überbewerten. Als ich in Ricardas Alter war, bin ich auch manchmal fast geplatzt vor lauter Aggressionen gegen meine Eltern, und hätte ich ein Tagebuch geführt, wäre es sicher voller Wuttiraden gewesen. Das ist normal.«

«Aber sie wünscht allen den Tod«, sagte Elena,»allen, die in Stanbury House lebten. Sie malt sich aus, wie es wäre, sie zu erschießen und… und sie einzeln zu Boden sinken zu sehen. Es… ist grauenhaft.«

«Es ist grauenhaft, weil später wirklich ein Verbrechen geschehen ist. Dadurch rückt alles so weit in die Realität vor. Wäre nichts passiert, würde man derlei Phantasien als viel harmloser empfinden. Da bin ich sicher.«

«Dieser Keith Mallory«, sagte Elena,»ihr Freund… kennen Sie ihn?«

«Nein. Leon hat ihn mal kurz gesprochen, gleich nach dem Verbrechen. Er sei ein sympathischer junger Mann, sagt er. Sicher nicht der falsche Freund für ein junges Mädchen.«

«Ich weiß nicht… Die Beziehung geht wesentlich weiter, als ich dachte. Die beiden hatten versucht, nach London durchzubrennen und dort ein neues Leben anzufangen… Nur weil Keiths Vater durch einen Schlaganfall plötzlich arbeitsunfähig wurde, sind sie umgekehrt. Aber Ricarda scheint fest entschlossen, ihr Leben mit ihm zu verbringen. Jedenfalls schreibt sie ständig davon. Im Juni, nach ihrem sechzehnten Geburtstag, wollte sie zu ihm und dann dort bleiben.«

«Aber dann«, sagte Jessica erleichtert,»brauchen Sie doch gar nicht mehr zu rätseln, wo sie jetzt ist. Sie hat es nicht mehr ausgehalten und ihre Reisepläne vorverlegt. Sie dürfte auf dem Weg nach England sein. Oder ist dort bereits angekommen.«

Elena nickte langsam.»Ich hatte gehofft… aber da mir nun auch niemand mehr einfällt, bei dem sie sonst sein könnte, muß ich wohl davon ausgehen, daß sie wirklich zu diesem… diesem Keith gereist ist.«

Jessica merkte, wie sich ihr ganzer Körper zu entspannen begann. Es mochte für eine Mutter keineswegs angenehm sein, ihre fünfzehnjährige Tochter auf dem Weg nach England und zu einem jungen Mann zu wissen, bei dem zu bleiben sie fest entschlossen war. Aber andererseits gab es schlimmere und gefährlichere Situationen, in denen ein psychisch schwer angeschlagenes Mädchen wie Ricarda hätte stecken können. Ohne daß sie Keith persönlich kannte, ohne daß sie über Details der Beziehung Bescheid wußte, hatte Jessica doch das instinktive Gefühl, daß Ricarda bei ihm gut aufgehoben war.

«Vielleicht ist Keith die Therapie, die Ricarda jetzt braucht«, meinte sie.»Das Zusammensein mit ihm, die Arbeit auf seiner Farm, dieses völlig andere Leben… Nach allem, was passiert ist, kann Ricarda ja offenbar nicht einfach wieder in die Schule gehen oder in ihren Sportclub — so als sei nichts gewesen. Da weitermachen, wo sie vor den Osterferien war, das funktioniert nicht. Bei keinem von uns übrigens. Sie bricht aus, sie sucht Heilung. Das ist nicht das Schlechteste.«

«Aber mit diesem Keith wollte sie sich schon vorher zusammentun.«

«Es ging ihr ja auch schon damals nicht gut. Sie sagten selbst gerade, daß sie Ihre und Alexanders Scheidung nicht verkraften konnte. Ihr Leben ist schon lange aus dem Gleichgewicht, und sie sucht einen Weg, sich selbst wieder in die Reihe zu bringen. Das ist in jedem Fall besser, als den ganzen Tag depressiv im Bett zu liegen!«

«Aber hören Sie!«

Elena hatte für den Moment ihre zusammengesunkene Haltung aufgegeben und saß aufrecht und angespannt in ihrem Stuhl. Kaum daß ein wenig Leben in ihre Augen und in ihre Gesichtszüge zurückkehrte, gewann sie etwas von ihrer früheren Ausstrahlung zurück.»Meine Tochter ist fünfzehn. Gut, in ein paar Wochen wird sie sechzehn, aber das ändert auch nichts! Sie hat keinen Schulabschluß und nicht die geringste Vorstellung davon, wie eine berufliche Zukunft für sie aussehen könnte. Sie ist zudem schwer traumatisiert und ganz sicher nicht in der Lage, irgendwelche Schritte, die sie jetzt tut, in ihrer Konsequenz zu erkennen und abzuwägen. Sie flüchtet zu einem Mann, den weder ihre Mutter noch ihre… ihre Stiefmutter kennen und folglich auch nicht beurteilen können. Alles, was ich von diesem jungen Mann weiß — und auch das nur aus diesem Tagebuch hier —, ist, daß er gewissenlos genug war, ein junges Mädchen zur gemeinsamen Flucht nach London zu überreden, um dann dort mit ihr auf irgendeine Art zu leben. Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie Ricarda diesen Menschen am Ende noch heiratet und dann mit ihm auf einer einsamen Schaffarm irgendwo in Nordengland haust! Sie zerstört doch ihre ganze Zukunft, all ihre Chancen und Möglichkeiten dadurch!«

«Vielleicht bleibt sie nur vorübergehend bei ihm, so lange, bis ihre Seele geheilt ist. Sie versäumt ein Jahr in der Schule — aber das versäumt sie auch, wenn sie Tag für Tag daheim im Bett liegt. Sie tut, wovon sie im Moment spürt, daß es das beste für sie ist.«

«Dieses Gespür kann falsch sein, und ich möchte nichts riskieren. Als Mutter fühlt man da eine ungeheure Verantwortung. Sie werden mich verstehen, wenn Sie erst… wenn erst Ihr Baby da ist.«

Jessica sah sie erstaunt an. Elena deutete auf das Tagebuch, das auf ihrem Schoß lag.»Ich weiß es aus Ricardas Eintragungen. Es hat sie sehr getroffen, von dem Kind zu erfahren.«

«Sie werden verstehen«, sagte Jessica,»daß ich meinen Wunsch nach einem Kind nicht von Ricardas Reaktion abhängig machen konnte.«

Elena nickte.»Ich hatte das nicht vorwurfsvoll gemeint. Wirklich nicht. Im Gegenteil, ich… ich wollte Ihnen noch sagen, wie sehr ich mitfühle. Es muß sehr schwer sein, nun ganz allein auf die Geburt des Kindes zu warten. Ich bewundere, mit welcher Stärke und Gefaßtheit Sie das alles durchstehen.«

«Danke«, sagte Jessica, und als ob Elenas Worte bereits zu intim, zu persönlich gewesen wären, breitete sich plötzlich ein befangenes Schweigen zwischen ihnen aus. Beide hatten sie jegliche Vertrautheit stets vermieden, und auf einmal waren sie peinlich berührt von der Nähe, die zwischen ihnen entstanden war.

Jessica faßte sich als erste.

«Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Elena. Ich fliege morgen nach England. Nach Stanbury. Den Flug habe ich vorhin gebucht, ich muß morgen früh nur noch ein paar Sachen packen. Ich…«

«Weshalb…?«

«Das erkläre ich Ihnen später. Jedenfalls könnte ich mich um Ricarda kümmern. Ich könnte herausfinden, ob sie wirklich bei Keith ist, und vielleicht gelingt es mir auch, mit ihr zu reden. Auf jeden Fall wissen wir dann, woran wir sind.«

«Meinen Sie nicht, daß ich als Mutter selbst zu ihr müßte?«

«Das steht Ihnen natürlich frei. Allerdings scheinen Sie im Moment nicht den besten Draht zu ihr zu haben. Und Sie sind emotionaler in der Angelegenheit. Machen ihr vielleicht Vorwürfe, setzen sie unter Druck.«

Jessica hielt inne.»Ich will Sie keinesfalls ausschalten, Elena«, sagte sie dann behutsam,»aber ich muß sowieso nach Yorkshire, und ich kann mit mehr Sachlichkeit agieren. Es ist nur ein Angebot.«

Elenas Miene verriet, daß sie hastig hin und her überlegte, alles Für und Wider abwog.

«Sie haben recht«, sagte sie schließlich,»es ist besser, Sie sehen allein nach ihr. Wenn Sie das wirklich für mich tun…«

«Selbstverständlich. Ich habe nur eine Bitte: Darf ich meinen Hund bei Ihnen lassen?«

4

Es war noch gar nicht so spät — kurz vor halb elf am Abend —, aber Ricarda war hundemüde. Zutiefst erschöpft und trotz der warmen Luft im Inneren kalt und verfroren.

Du bist lange unterwegs, sagte sie sich, kein Wunder, daß du schlappmachst.

Sie hatte Hunger, aber sie hatte kein Geld. Genauer gesagt: Das bißchen, das sie noch hatte, mußte für die Fahrkarte nach Leeds oder Bradford reichen. Und dann brauchte sie noch etwas für den Bus nach Stanbury. Vielleicht mußte sie auch mehrere Busse nehmen, ein paarmal umsteigen, sie hatte keine Ahnung. So umständlich war sie noch nie dorthin gereist.

Trotzdem war sie glücklich. Oder vielleicht nicht direkt glücklich, aber sie spürte erste Anzeichen einer Erleichterung darüber, daß sie eine Entscheidung gefällt hatte. Daß sie sich endlich wieder bewegen konnte. Daß sie ihren eigenen Weg gewählt hatte.

Am Ende des Wegs würde Keith stehen. Am Morgen hatte sie noch versucht, ihn anzurufen, aber niemand war ans Telefon gegangen. Dann hatte sie festgestellt, daß der Akku ihres Handys fast leer war, aber es war nicht die Zeit geblieben, es noch einmal ans Stromnetz zu hängen. Sie hatte es noch einmal von unterwegs probiert, in Frankfurt, als sie dort am Flughafen saß, aber noch während es drüben in England klingelte, war das Netz zusammengebrochen. Nach der Landung in London-Stansted hatte sie nach einem öffentlichen Telefon gesucht, aber nur solche gefunden, für die man eine Karte benötigte. Und jetzt, hier an der Victoria Station, probierte sie es schon gar nicht mehr. Es war ohnehin zu spät, Farmer gingen früh schlafen, und sie mochte nicht als erstes in ihrer neuen Familie dadurch auffallen, daß sie alle nachts aus dem Bett klingelte. Zwischen ihr und Keith war alles klar. Sie kam etwas früher als erwartet, aber zwei Wochen hin oder her — welche Rolle spielte das?

Sie würde vor der Tür stehen, und er würde sie in die Arme nehmen, und ihr gemeinsames Leben würde beginnen. Und weiter mochte sie nicht denken.

Zu einer anderen Zeit hätte sie die prächtige viktorianische Kulisse der Victoria Station wahrscheinlich fasziniert, die Säulen, das hoch gewölbte Dach, die bunten Mosaiksteine in den Wänden, aber an diesem späten Abend war sie zu entkräftet, um Bilder aufnehmen und verarbeiten zu können. Die Reise war für sie in erster Linie ein Problem des Geldes gewesen. Ihre ersparten zweihundert Pfund waren damals nach der abgebrochenen Flucht in Keiths Auto zurückgeblieben, und obwohl sie sicher war, daß er sie nicht angerührt hatte, hatte er sie doch auch nicht an sie überwiesen oder ihr zugeschickt. Sie war gezwungen gewesen, Geld von Elena zu leihen — sie nannte es ganz bewußt leihen, weil sie ihr die entsprechende Summe selbstverständlich zurückgeben würde —, aber sie hatte so wenig Geld wie möglich aus dem Schreibtisch ihrer Mutter nehmen wollen. Der mit Abstand billigste Flug ging von Frankfurt nach London-Stansted, also hatte sie diesen gebucht, aber das hatte bedeutet, daß sie, kaum war Elena morgens aus dem Haus gewesen, eine Odyssee mit Bussen und Bahnen hatte antreten müssen, um rechtzeitig in Frankfurt zu sein. Der Intercity war hoffnungslos überfüllt gewesen, fast die ganze Strecke hatte sie, auf ihrem Gepäck kauernd, im Gang verbracht. Der Flug nach London hatte Verspätung gehabt, und sie hatte ewig auf dem Frankfurter Flughafen herumgesessen und sich geärgert, daß sie nicht daran gedacht hatte, wenigstens ein Brot für unterwegs mitzunehmen. Sie war mörderisch hungrig, wagte sich aber nicht an ihr Geld. Um nicht in Versuchung zu kommen, tauschte sie es noch am Flughafen in englische Pfund um; nun konnte sie hier in Deutschland ohnehin nichts mehr kaufen.

Wenigstens wurden im Flugzeug ein Sandwich, pappiger Kartoffelsalat und zum Nachtisch eine paar trockene Kekse serviert, und sie hatte alles mit Heißhunger in sich hineingeschlungen. Sie trank Kaffee dazu und bestellte so häufig Mineralwasser, daß die Stewardeß fast schon ärgerlich wurde. Egal. Irgendwie mußte sie schließlich durchhalten.

Da sie sich in London nicht im mindesten auskannte, geriet ihre Fahrt zur Victoria Station zu einem Abenteuertrip, bei dem sie mehrfach mit der Underground in völlig abwegigen Gegenden landete und ängstlich und entnervt wieder umkehren mußte. Daß sie schließlich dort ankam, wo sie hin wollte, war eher Zufall. Nach schier endlosem Studium verwirrend vieler Fahrpläne begriff sie, daß erst am nächsten Morgen wieder ein Zug zur Forster Square Station in Bradford gehen würde und daß ihr nichts übrigblieb, als die Nacht auf einer Bank zu verbringen. Es erschien ihr am sichersten, auf dem Bahnhofsgelände zu bleiben, sie mußte nur aufpassen, daß sie nicht von der Polizei aufgegriffen wurde. Wenn man sie als fünfzehnjährige Ausreißerin identifizierte, hatte sie die Chance verspielt, zu Keith zu gelangen.

Sie fand ein Plätzchen ganz am Ende eines Bahnsteigs, eine Bank, die sich noch dazu halb verborgen hinter einem Pfeiler befand. Hier müßte schon jemand ganz gezielt Streife gehen, um sie zu entdecken. Obwohl die Temperaturen trotz der fortgeschrittenen Stunde kaum abkühlten, wollte ihr Frieren nicht nachlassen, was sie auf ihre Übermüdung und ihren bohrenden Hunger schob. Sie kramte einen warmen Pullover aus ihrem Rucksack, zog ihn über und schlüpfte dann in ihre Jeansjacke. Kuschelte sich in eine Ecke. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, aber ihr Herz schlug schnell und heftig und hielt sie wach. Sie würde bestenfalls in einen Dämmerschlaf fallen, dabei jedoch immer in einem Zustand höchster Wachsamkeit verharren.

Wie ein Tier, dachte sie, ein wildes Tier, das zu jeder Minute mit seinen Feinden rechnen muß.

Aber sie war weit gekommen. Sie war in seiner Nähe.

Sie war in England.

5

…und plötzlich sah ich ein Bild… und auf dem Bild war ich mit einer Pistole, und ich schoß in diese Gesichter hinein, und ihre Augen waren ganz weit aufgerissen, und Blut quoll aus ihren Mündern. Krank und kaputt will ich sie sehen. Am allerliebsten TOT. Als ich im Bett lag, habe ich Fieber gekriegt. Ich habe dauernd Bilder vor mir gesehen. Papa. Vor allem Papa. Papa mit durchgeschnittener Kehle. Er war voller Blut… überall lagen Tote… Ich wollte Mama sagen, daß J. ein kleines Miststück im Bauch hat, das sie Papa abgeluchst hat… diese Bilder von Blut, die ich auch gesehen habe, als ich das Fieber hatte. Inmitten von all dem Blut ist dann J. Sie ist tot. Ihre Kehle ist durchgeschnitten, und im Todeskampf ist das Miststück zwischen ihren Beinen herausgeflutscht, so ein schleimiger Zellhaufen, den man gar nicht als Baby erkennt…

Sie stand im Bad und starrte in den Spiegel. Ihr Gesicht war bleich und wächsern wie das einer Toten. Ihre Beine zitterten; sie konnte nur stehen, indem sie sich am Waschbecken festhielt. Sie preßte die Oberschenkel zusammen, als könne sie damit ihr Baby in sich behalten. Sie hatte sich erbrochen, minutenlang, immer und immer wieder, bis nach jedem Würgen nur noch bräunlicher Gallensaft aus ihrem Mund kam. Sie hatte nach Luft geschnappt und eine Hand auf ihren Bauch gedrückt, in einer hilflosen Geste des Festhaltens, denn der Brechreiz schüttelte sie so stark, daß sie meinte, nichts, gar nichts, nicht einmal ihr ungeborenes Kind, könne in ihrem Körper bleiben, weil dieser Körper in übelkeitserregendem Entsetzen alles loswerden wollte, was er jemals aufgenommen hatte. Die ganze Zeit klang Elenas Stimme in ihrem Kopf, diese zaghafte, ängstliche Stimme, die zur schönen, stolzen Elena nicht passen mochte und mit der sie aus dem Tagebuch ihrer Tochter vorlas, zögernd und zaudernd, voller Fassungslosigkeit über das, was dort stand.

Ihr Wispern:»Ich habe solche Angst, Jessica, daß sie es getan hat. Ich habe so entsetzliche Angst.«

Ihr Flüstern:»Halten Sie es für möglich, Jessica? Ich habe Dinge gelesen, die mir sagen, sie muß krank sein. Sie muß krank sein!«

Ihre Frage, fast lautlos:»Wissen Sie, ob sie ein Alibi hat für die Tatzeit? Wo war sie? Wo war sie, Jessica?«

Und dann, um zu überzeugen — oder um vom Gegenteil überzeugt zu werden —, die Texte. Ganz bestimmte Passagen. So leise, als könnte hinter jedem Busch, in jedem Schatten jemand lauern, der nicht mithören durfte, wie sie ihr eigenes Kind eines furchtbaren Verbrechens verdächtigte.

«…und im Todeskampf ist das Miststück zwischen ihren Beinen herausgeflutscht, so ein schleimiger Zellhaufen, den man gar nicht als Baby erkennt…«

Die Übelkeit war so jäh gekommen, als habe jemand einen Schalter betätigt. Etwas wie einen Lichtschalter, der ein Zimmer völlig unvermittelt, von einer Sekunde zur nächsten, in Helligkeit taucht. Sie war aufgesprungen, die Terrasse, der Garten, das Haus hatten sich vor ihren Augen gedreht, und durch einen Schleier hatte sie Elena erkannt und durch eine Wand aus Watte ihre Stimme vernommen, jedoch nicht mehr verstanden, was sie sagte. Wie sie den Weg ins Bad hatte finden können, hätte sie später niemandem, schon gar nicht sich selbst, erklären können, denn alle Wände stürzten auf sie zu, und der Fußboden schlug Wellen. Und dann kotzte sie, kotzte ihr Entsetzen heraus, ihren Abscheu, ihre Angst, ihr Grauen, und meinte, nie wieder damit aufhören zu können und es vielleicht nicht einmal zu wollen. Kotzte und schwor sich dabei, daß sie ihr Kind verteidigen, daß sie es durch diesen ganzen Wahnsinn tragen und beschützen würde und daß all diese Verrückten um sie herum, diese kranken, perversen, gestörten Typen, machen konnten, was sie wollten, aber ihr Kind würde sie vor ihnen in Sicherheit bringen.

Sie sagte das auch zu dem bleichen, totenähnlichen Gesicht im Spiegel, und schließlich lächelte das Gesicht zaghaft, und sie wußte, daß sie noch lebte.

Elenas Stimme war noch immer so leise, daß sich Jessica anstrengen mußte, sie zu verstehen. Fast so, als spreche sie zu sich und nicht zu einem Gegenüber. Manchmal waren die nächtlichen Laute des Gartens — ein Rascheln, ein Zirpen, ein Seufzen — stärker als ihre Worte, dann neigte sich Jessica nach vorn, um aufzufangen, was sonst an ihr vorübergeweht wäre.

«Alexander hat die Geschichte mit Marc nie verwunden. Die anderen beiden, Tim und Leon, wohl auch nicht, aber irgendwie konnten sie besser damit umgehen. Alexander hatte Albträume furchtbare Albträume, die ihn so sehr ängstigten, daß er es zu manchen Zeiten nicht wagte, überhaupt einzuschlafen. Oder er schluckte starke Schlafmittel, die ihn so betäubten, daß er traumlos blieb. Dafür kam er dann am nächsten Tag kaum auf die Füße.

Lange Zeit hatte ich keine Ahnung, was mit ihm los war. Ich begann diese nächtlichen Attacken ebenso zu fürchten wie er. Ich bedrängte ihn immer mehr, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber er wehrte sich vehement. Und eines Nachts erzählte er mir dann alles. Er wußte sich nicht mehr zu helfen, er weinte wie ein Kind. Und er sagte, daß er seitdem, seit jener Nacht, eigentlich auch nicht mehr leben wollte.

Ich glaube, es hat sie alle drei fertiggemacht. Tim und Leon konnten sich noch einreden, daß sie mit Rücksicht auf Alexander jede Hilfeleistung unterlassen hatten, aber beide sind nicht dumm. Sie wußten im Grunde ganz genau, daß ein Verweis von der Schule und Alexanders damit zusammenhängende Angst vor seinem Vater in keinem Verhältnis standen zum Tod eines Menschen. Marc war qualvoll verreckt. Dafür gab es keine Entschuldigung. Zunächst, als die Geschichte um den toten Jungen zwar einen ungeheuren Aufruhr an der Schule bewirkte, aber für sie drei ohne Konsequenzen blieb, offenbar wurden sie nicht einmal verdächtigt, mögen sie erleichtert gewesen sein. Aber die Zeit vergeht, und sie relativiert die Ereignisse, nicht wahr? Irgendwann waren sie erwachsen. Hatten ihr Abitur, begannen zu studieren. Bestanden Prüfungen, hatten Liebschaften, dachten irgendwann an ernsthafte Bindungen. Und wußten, daß sie am selben Punkt wären, wenn sie sich damals, in jener Nacht, nicht ihrer Feigheit ergeben hätten. Sie hätten ihren Abschluß an einer anderen Schule gemacht, würden nun studieren, Prüfungen bestehen, Liebschaften haben, an ernsthafte Bindungen denken. Aber da würde nicht der Schatten des toten Freundes neben ihnen stehen. Der Schatten eines jungen Menschen, den sie geopfert hatten. Wofür? Die Sinnlosigkeit, die Überflüssigkeit dieses Opfers muß ihnen immer wieder zu Bewußtsein gekommen sein. Denn auch zwischen Alexander und seinem Vater hatte sich nichts dadurch geändert, daß Alexander diese tolle Eliteschule absolviert hatte. Er wurde von ihm weiterhin verachtet und zunehmend ganz ignoriert.

Sie hatten Marcs Leben hingegeben und nichts dafür zurückbekommen.

Ihrem jeweiligen Naturell entsprechend, gingen sie unterschiedlich mit diesem Trauma in ihrem Leben um. Alexander na ja, wie gesagt, er hatte diese Alpträume, war oft in sich gekehrt, grüblerisch. Fast schwermütig. Tim hingegen riß seine große Klappe immer weiter auf, prahlte mit seinen phantastischen therapeutischen Fähigkeiten und dem vielen Geld, das er verdiente. Er liebte es, andere zu analysieren und sie dabei auf subtile Weise niederzumachen. Wahrscheinlich fühlte er sich dann größer und stärker. Und nicht mehr als der jämmerliche Feigling, der er damals, genau wie die anderen, gewesen war.

Und Leon? Leon ist ein wirklich gut aussehender Mann, das ist Ihnen sicher genauso aufgefallen wie mir, und natürlich holte er sich seine Selbstbestätigung in den Betten zahlreicher Frauen. Auch dann noch, als er längst mit Patricia verheiratet war. Auch dann noch, als er zwei niedliche kleine Töchter hatte. Er vögelte, was immer weiblich war und seinen Weg kreuzte. Er ließ sich von seinen Referendarinnen anhimmeln und hatte mit jeder einzelnen von ihnen ein Verhältnis. Woher ich das weiß? Er konnte den Mund nicht halten über seine Erfolge bei den Frauen. Hat sich Tim anvertraut. Und Tim hat es Evelin erzählt. Und Evelin mir. So waren sie, diese engen, engen Busenfreunde: Letztlich hat da immer wieder einer den anderen verraten.

Ich habe mich oft gefragt, inwieweit jenes Verbrechen in ihrer Jugend — denn ein Verbrechen kann man das schon nennen, finden Sie nicht? — wohl ursächlich war für ihre Unfähigkeit, ihre Freundschaft innerhalb eines normalen Wechselspiels zwischen Nähe und Distanz zu führen. Ich meine, wir haben alle gute Freunde, zum Teil auch noch aus der Schulzeit, und ich empfinde es als große Bereicherung des Lebens, wenn diese Freundschaften sich über den Ablauf langer Jahre bewähren. Aber es gibt Zeiten, da rückt man näher an den einen heran, und dann an einen anderen, und dann gibt es Zeiten, da geht man eigene Wege und ist mehr mit der Familie beschäftigt oder mit dem Beruf und neuen Bekanntschaften, die sich aus beidem ergeben. Aber die drei, Alexander, Leon und Tim — sie krallten sich immerzu aneinander. Gemeinsame Ferien. Gemeinsame Theater- und Opernbesuche. Abendessen. Wochenendausflüge. Was weiß ich nicht alles. Ging Ihnen das nie auf die Nerven? Ich hätte manchmal schreien können, wenn wir schon wieder als Clique loszogen. Ich hatte nicht den Eindruck, einen Mann geheiratet zu haben. Ich hatte drei Männer geheiratet und dazu deren ganzen Anhang.

Meine Theorie ist die, daß es die gemeinsame Schuld war, die sie derart zwanghaft aneinanderfesselte. Keiner von ihnen konnte je vergessen, was geschehen war, und gemeinsam konnten sie es leichter ertragen. Draußen, unter den sogenannten normalen Menschen, müssen sie sich manchmal wie Monster gefühlt haben. Miteinander jedoch gewann jene grauenhafte Nacht eine Art eigene Normalität. Ein Monster unter Monstern fühlt sich womöglich nicht mehr als Monster. Es lebt nicht mehr nur in seinem von der übrigen Welt ausgegrenzten Ich. Es kann sich wieder als Teil eines Wir fühlen. Und brauchen wir nicht alle immer wieder ein WirGefühl? Der eine mehr, der andere weniger? Alexander, Tim und Leon jedenfalls schienen förmlich in ihrem ganzen Selbstwert davon abzuhängen.

Vielleicht haben sie auch immer wieder Gespräche untereinander geführt, in denen sie sich rechtfertigten, Erklärungen suchten, einander gewissermaßen immer wieder von neuem vergaben. Ich weiß das nicht, aber ich vermute es. Ich könnte es mir gut vorstellen. Von wem hätten sie Absolution bekommen können, wenn nicht voneinander? Nur daß diese nie lange vorhielt. Sie mußte ständig erneuert werden.

Als Stanbury in ihr Leben trat — indem Leon Patricia heiratete —, bekam ihre Freundschaft eine weitere Dimension. Nun gab es einen Ort, an den sie sich zurückziehen konnten und die Tür vor der Welt verschließen. Stanbury wurde ihre Zuflucht. Ein Apartment in London oder ein Häuschen in einer belebten Feriengegend hätte nie diesen Stellenwert einnehmen können, aber Stanbury war wie… abseits der Welt. Yorkshire, ein kleines Dorf, von dem kaum ein Mensch je gehört hat, verwunschenes Brontë-Land, irgendwo im neunzehnten Jahrhundert stehengeblieben. In Stanbury war nichts mehr wirklich. Da war alles weit weg. Dort stärkten sie sich, dort beruhigten sie ihre Nerven, dort leckten sie ihre Wunden, dort übten sie sich im Verdrängen. Hat Alexander bei Ihnen auch so oft über die Stille von Stanbury gesprochen? Manchmal wollte ich von ihm wissen, warum wir nicht auch einmal woanders hinfahren können, und jedesmal antwortete er mir, daß er sich keinen Platz auf der Welt vorstellen könne, an dem er diese Stille finden würde. Es ging dabei nicht einfach um Ruhe, um Abgeschiedenheit. Die Stille von Stanbury war etwas Besonderes. Von Zeit zu Zeit empfand sogar ich es selbst so. Eine Stille, die etwas mit einer Unberührtheit zu tun hatte. Als bliebe die Welt draußen vor den Toren, respektvoll und unaufdringlich. Was meinen Sie, kann ein Ort einen solchen Zauber haben? Oder brachten wir ihn dorthin — besser gesagt: die drei Männer? War Stanbury still an sich, oder wurde es still durch uns? Ein Platz der Ruhe und des Vergessens. Das Tor fiel zu, und alles Böse der Vergangenheit, alles Bedrohliche der Zukunft rückte in weite Ferne.

Wobei dies natürlich in Wahrheit nur ein frommer Wunsch war. Denn nichts war in Ordnung, gar nichts, und die alten Mauern, der verwunschene Park, die endlose Einsamkeit dienten nur dazu, all das Unstimmige totzuschweigen. Was sage ich — das Unstimmige? Das trifft es nicht ganz. Es ging nicht um Unstimmiges. Sondern um allerlei Häßliches, Böses, Verdorbenes. Brutales und Widerwärtiges. Ja, darum ging es. Und vielleicht war die berühmte Stille von Stanbury nichts anderes als ein kollektives Totschweigen dessen, was man nicht hätte ertragen können, hätte man sich ihm gestellt. Tot und Schweigen. Wenn ich es mir richtig überlege, verbinde ich diese Begriffe weit eher mit der Erinnerung an Stanbury als den Begriff Stille.

Was alles nicht in Ordnung war? Wo soll ich anfangen? Bei dem Ehedesaster zwischen Leon und Patricia? Bei dem Ehedesaster zwischen Tim und Evelin? Bei dem Ehedesaster zwischen Alexander und mir? Leon hat Patricia geheiratet, weil sie schwanger wurde und weil sowohl ihre Eltern als auch seine daraufhin Druck machten. Auf dem Standesamt machte er ein Gesicht, als erwäge er, aus dem Fenster zu springen, und Patricia schaute drein, als habe sie eine Beute erlegt. Ich vermute, sie hatte frühzeitig beschlossen, einmal Anwaltsgattin zu werden, denn ein Mensch wie Patricia läßt sich nicht zufällig von irgend jemandem schwängern. Tim und Alexander versuchten Leon zu trösten, indem sie ihm einredeten, bald sei immerhin Stanbury auch sein Besitz und damit für sie alle uneingeschränkt zugänglich. Aber das war eine Sache. Die andere Sache war, Tag für Tag mit einer Frau wie Patricia leben zu müssen, mit ihren Ansprüchen und Forderungen, ihrem Ehrgeiz, ihrer eisernen Disziplin, ihrer Herrschsucht und eben all dem, was sie so unwiderstehlich machte. Leon hat Patricia ohne Ende betrogen, und dennoch war sie immer die Stärkere. Leon kam mir vor wie ein kleiner Junge, der völlig untergebuttert wird und dafür gelegentlich hinter dem Rücken seines Peinigers Grimassen schneidet und die Zunge herausstreckt. Patricia schien damit leben zu können, solange nach außen hin das Bild der perfekten Familie gewahrt wurde. Sie war eine Frau, der es hauptsächlich darum ging, vor ihrer Umwelt als makellos und unangreifbar dazustehen. Die Fassade mußte stimmen, das war ihr wichtig. Das Gebälk im Inneren konnte voller Würmer sein. Ich weiß nicht, was das alles letzten Endes mit Leon gemacht hat. Aber wissen Sie, was ich als erstes dachte, als ich von dem scheußlichen Verbrechen hörte? Ich dachte: Das war Leon. Er ist ausgerastet, und das ist weiß Gott kein Wunder.

Wenn man dann genauer nachdenkt, kann man es sich nicht vorstellen, aber eigentlich kann man sich so etwas von keinem

Menschen vorstellen, und doch muß es irgend jemand getan haben. Vielleicht ist die erste Intuition nicht die schlechteste. Aber vielleicht beharre ich jetzt auch nur darauf, weil ich solche Angst habe, daß Ricarda mehr damit zu tun hat, als man sich ausmalen möchte.

Und zwischen Tim und Evelin lief es natürlich auch furchtbar schief, im Grunde von Anfang an. Er hat sie bei einem Seminar kennengelernt, irgend etwas wie So werden Sie über Nacht ein selbstbewußter Mensch. Tim hatte gerade sein Diplom gemacht und stürzte sich mit Feuereifer ins Berufsleben, was bedeutete, er bot Kurse und Seminare mit eben Themen dieser Art an. Lief übrigens sofort ungemein erfolgreich, und Tim verdiente richtig viel Geld. Dieses guruhafte Äußere, das er hatte, wird von vielen Menschen als sehr vertrauenerweckend empfunden. Dazu diese etwas schleimige Art, mit der er gern in seine Patienten hineinkroch — manche glaubten offenbar, mit ihm dem Heilsbringer begegnet zu sein, der sie aus dem tagtäglichen Schlamassel ihres Daseins herausführen würde. Ich persönlich bezweifle, daß er jemals jemandem wirklich hat helfen können.

Jedenfalls saß da also auch Evelin unter den Teilnehmern und hoffte, etwas zu lernen, womit sie ihr schwaches Selbstwertgefühl aufbessern konnte. Kaum daß die beiden ein Paar waren, lernte ich sie kennen. Ich muß sagen, sie war bei weitem nicht so schlecht dran wie später, als sie dann mit Tim verheiratet war. Sie wirkte außerordentlich schüchtern und gehemmt, aber nicht depressiv, und sie war viel schlanker als später. Sie ging in eine psychotherapeutische Behandlung, die ihr recht guttat, und womöglich hatte sogar dieser Arzt den Anstoß dazu gegeben, daß sie sich zu Kursen wie dem von Tim anmeldete. Ist ja auch eine Möglichkeit, neue Menschen kennenzulernen und Kontaktschwächen zu überwinden. Er konnte nicht voraussehen, daß sie sich mit Tim liieren würde, was dann zum Verhängnis ihres Lebens wurde. Sie hat übrigens nie wirklich darüber gesprochen, weshalb sie seit frühester Jugend und dann über so viele Jahre psychotherapeutische Betreuung brauchte. Es gab ein paar Andeutungen, denen ich zu entnehmen meinte, daß sie eine ziemlich gewaltgeprägte Jugend hinter sich hat, aber Genaues weiß ich nicht. Es würde allerdings dazu passen, daß sie mit Tim erneut in einer Lebenskonstellation gelandet ist, in der Gewalt eine Rolle spielte. Physische wie psychische Gewalt. Verbal machte er sie so lange nieder, bis sie glaubte, der letzte Dreck zu sein und im Grunde meinte, ihm die Füße küssen zu müssen vor Dankbarkeit, daß er sich mit so etwas wie ihr überhaupt abgab. Ja, und dann ihre vielen Verletzungen, ihre blauen Flecken, ihre Prellungen… diese vielen Sportunfälle… Unsere tolpatschige Evelin! Schon wieder gestolpert, schon wieder unglücklich gefallen, schon wieder irgendwo dagegengerannt. Die neckischen Kommentare der anderen am Frühstückstisch… Soll ich Ihnen etwas sagen, Jessica? Jeder hat es gewußt. Jeder hat ganz genau gewußt, daß das keine Sportunfälle waren. Jeder hat gewußt, daß Evelin überhaupt keinen Sport macht. Ich habe es ein paarmal erlebt auf Stanbury, da haben Leon oder Alexander im Wohnzimmer die Stereoanlage lauter gedreht, wenn es oben in ihrem Zimmer zwischen Evelin und Tim losging. Ich meine nicht Sex. Ich meine, wenn er sie in den Bauch boxte oder ihr den Arm verdrehte oder ihr mit aller Kraft gegen das Schienbein trat. Wenn sie schrie. Da wurden sie zu den berühmten Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sprechen. Die heilige Freundschaft. Tim war einer von ihnen. Sie gehörten zusammen. Sie pflegten ihre Stanbury-Idylle. Ein gewalttätiger Ehemann in ihren Reihen hätte alles zerstört. Also gab es ihn einfach nicht. Also war alles in Ordnung. Also hatte Evelin einfach Pech beim Sport.

Über meine Ehe mit Alexander will ich nicht sprechen. Ich denke, da sind Sie auch einfach die falsche Adresse. Ich will Ihnen nur etwas über unser endgültiges Scheitern sagen: Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Seine Freunde, dieses zwanghafte Miteinander, die Verlogenheit. Die vor allem, die Verlogenheit.

Ich hatte ihm ein Ultimatum gestellt. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt sollte er sich zwischen mir und seinen Freunden entscheiden. Ich wollte ein eigenes, unabhängiges Leben mit ihm und Ricarda.

Natürlich hat er es nicht geschafft, sich von den anderen abzunabeln. Natürlich hat er sich gegen mich und damit gegen den Fortbestand unserer Ehe entschieden. Es hat mich nicht einmal wirklich erstaunt. Ich glaube, ich hatte es erwartet, ich habe gewußt, wie der Kampf ausgehen würde. Ich denke, ich habe dieses Ultimatum nicht gestellt, um zu gewinnen, denn es war von vornherein klar, daß ich keine Chance hatte. Es ging wohl vielmehr darum, eine Entscheidung herbeizuführen. Klarheit zu schaffen. Einen für mich unerträglichen Zustand zu beenden. Ich konnte ihn nur beenden, indem ich ganz eindeutig begriff, daß mein Mann sich nie auf meine Seite schlagen würde. Daß er zu den anderen gehörte. Es tat weh, das können Sie mir glauben, es gab wohl kaum je in meinem Leben etwas, das mir so weh getan hat. Aber ich brauchte diesen Schmerz, um den Schlußstrich ziehen zu können. Und nach allem, was geschehen ist, bin ich mehr denn je davon überzeugt, das richtige getan zu haben.

Aber wissen Sie, was falsch war? Ich hätte Ricarda, mein Kind, diesem Irrsinn nicht aussetzen dürfen. Ich wußte, daß das eine kranke Gesellschaft ist, und ich hätte darum kämpfen müssen, daß Ricarda an diesen Urlauben nicht teilnimmt. Ein Umgangsrecht konnte ich Alexander nicht völlig verweigern, aber ich hätte, notfalls auf juristischem Weg, erkämpfen müssen, daß Ricarda an diesen Stanbury-Reisen nicht teilnehmen durfte. Sie hat Patricia gehaßt und Tim auch. Sie hat genau gespürt, wie sehr ihr Vater ein Gefangener dieser Menschen war, auch wenn sie natürlich über den Hintergrund nicht Bescheid wußte. Ich meine die Geschichte mit Marc. Das soll sie nie erfahren. Versprechen Sie mir, daß Sie ihr nie davon erzählen.

Ich hätte, ich hätte… aber dann hätte es für sie überhaupt keinen Urlaub mehr mit ihrem Vater gegeben, denn für ihn kam nur Stanbury in Frage. Und sie hing so an ihrem Vater. Wahrscheinlich hätte ich es so oder so nur falsch machen können. Ganz gleich, was ich getan hätte. Die Frage ist nur, ob ich in jedem Fall an den Punkt gekommen wäre, an dem ich jetzt stehe. Ob ich diese Angst haben müßte. Die Angst, daß mein Kind… daß es meine Tochter war, die… die diese furchtbare Stille von Stanbury nicht mehr ertragen hat.«

6

Evelin sah schlecht aus, aber sie hatte deutlich abgenommen, was sie weit weniger plump erscheinen ließ als sonst. Sie trug eine Hose, die für ihre Verhältnisse recht locker saß, und dazu ein T-Shirt, das dringend hätte gewaschen und gebügelt werden müssen. Überhaupt wirkte sie völlig ungepflegt. Sie roch nach Schweiß, so als hätte sie tagelang nicht mehr geduscht, ihre Haare waren fettig, sie hatte sich nicht geschminkt, und ihre Füße — sie lief barfuß — waren grau von Dreck. Sie saß in einem besonders kleinen, billigen Zimmer des The Fox and The Lamb am Fenster, und irgendwie vermittelte sie den Eindruck, sie habe sich seit des panischen Anrufs bei Jessica von dort nicht fortgerührt.

Jessica empfand es als seltsam anstrengend und berührend, plötzlich wieder hier zu sein. Obwohl es kaum einen Monat her war, daß sie genau hier, in dieser schlichten Herberge, gesessen hatte, betäubt von den Geschehnissen und fassungslos von der Schnelligkeit, mit der die Polizei Verdächtigungen traf und wieder fallenließ und Dinge ans Tageslicht förderte, von denen sie nichts gewußt hatte. Die Zeit dazwischen, die Zeit zu Hause, hatte dies alles in die Ferne gerückt, und nun, kaum war sie hier, stand alles wieder dicht vor ihr: die Erinnerung an die Ferien, die Erinnerung an das Grauen. Als sei kein Tag vergangen seitdem, als habe sich nichts verändert.

Und es hat sich auch nichts verändert, dachte sie, wir wissen nicht, wer es war. Erst hat die Polizei vermutet, es sei Phillip gewesen. Dann dachten sie, es sei Evelin. Jetzt glauben sie wieder, es sei Phillip. Elena fürchtet, es sei Ricarda. Ich hatte Leon im Verdacht. Nichts hat sich geändert. Wir wissen nichts.

«Evelin«, sagte sie,»ich bin froh, dich zu sehen. Außerhalb des Gefängnisses!«

Sie ging auf die Freundin zu und schloß sie in die Arme.»Du hast abgenommen«, fügte sie hinzu. Es war sicher nicht wirklich wichtig, aber sie hatte plötzlich das Bedürfnis, Evelin eine Freude zu machen, und sie dachte, daß diese Feststellung sie vielleicht ein wenig glücklich machen würde.

«Ich weiß«, sagte Evelin,»meine Sachen sitzen nicht mehr so eng.«

Es klang nicht so, als bedeute ihr dies etwas. Sie stand auf, erwiderte Jessicas Umarmung mit Inbrunst. Fast war es, als klammere sie sich an sie.

«Danke, daß du gekommen bist«, flüsterte sie.»Ich danke dir so sehr!«

«Das ist doch selbstverständlich«, sagte Jessica, jetzt ein wenig beschämt, weil sie am Anfang gezögert hatte. Evelin hatte ihren Kopf hinhalten müssen und war vielleicht so unschuldig wie sie selbst. Man konnte sie nicht im Stich lassen. Nicht schon wieder. Man hatte es oft genug getan.

«Mein Anwalt war gestern abend noch einmal hier«, sagte Evelin,»das ist sehr nett, oder? Am Samstag abend… Er meinte, ich könnte jetzt bestimmt bald England verlassen. Er will morgen beantragen, daß ich umgehend meinen Paß zurückbekomme. Er sagt, die haben nichts mehr, womit sie noch begründen können, mich hierzubehalten.«

«Das ist doch eine wunderbare Nachricht. Weißt du, ob sie Phillip Bowen gefaßt haben?«

Evelin schüttelte den Kopf.»Nein. Ich meine, sie haben ihn nicht gefaßt. Jedenfalls gestern noch nicht, wie mein Anwalt sagte. Und heute ist auch nichts dergleichen im Radio gesagt worden. Dabei haben sie über Radio und Fernsehen nach ihm gefahndet. Das würden sie doch auch sagen, wenn sie ihn hätten, oder?«

«Vermutlich. Ist man denn ganz sicher, daß er es war?«

Evelin zuckte mit den Schultern.»Sein Alibi war jedenfalls von Anfang bis Ende erlogen und konstruiert. Und als das aufflog, ist er aus seiner Wohnung geflüchtet. Manches spricht für ihn als Täter, denke ich. Vieles sogar.«

Jessica seufzte tief.»Entweder er hat es getan. Oder er hat sich hinterher so abgrundtief dumm verhalten, daß er wenig Chancen haben wird zu beweisen, daß er es nicht war. Ich wünschte nur, die ganze Sache würde endlich geklärt werden.«

«Ja«, sagte Evelin.

Auf einmal war Befangenheit zwischen ihnen entstanden. Nach der spontanen Umarmung war ihnen beiden wieder bewußt, was alles geschehen war, und dies schien jede Leichtigkeit zu verbieten.

«Wem hast du davon erzählt, daß du zu mir fliegst?«fragte Evelin, und fast hätte Jessica geantwortet, daß es ja gar nicht mehr viele gab, denen sie es erzählen hätte können, aber sie hatte Angst vor Evelins Reaktion und schluckte den Satz herunter.

«Ich wollte Leon Bescheid sagen«, sagte sie statt dessen.»Ich habe zweimal heute versucht, ihn zu erreichen, aber er war nicht zu Hause. Und dann weiß es Elena.«

Evelin sah völlig erstaunt aus.»Elena? Habt ihr überhaupt Kontakt?«

«Seit neuestem. Seit gestern abend. Es ging eigentlich um Ricarda.«

Rasch berichtete sie, daß Elena und sie selbst vermuteten, daß Ricarda zu Keith Mallory durchgebrannt war. Von Elenas darüber hinausgehenden Ängsten sagte sie nichts; Evelin vermittelte nicht den Eindruck, in der Lage zu sein, beunruhigende Informationen verarbeiten zu können.»Ich will noch heute abend zu der Mallory-Farm hinausfahren. Elena macht sich größte Sorgen, und vielleicht kann ich sie beruhigen.«

«Sie soll Ricarda doch ihren Weg gehen lassen. Wenn sie diesen Keith liebt und bei ihm bleiben will — warum nicht? Ich finde es gut, daß Ricarda so eigenwillig ist. Sie ordnet sich niemandem unter, folgt ihrem eigenen Instinkt. Weißt du, irgendwie bewundere ich sie.«

«Ja. Aber sie ist noch nicht einmal sechzehn. Elena ist verantwortlich für sie. Sie kann nicht die Hände in den Schoß legen und so tun, als gehe sie das alles nichts an. Sie muß wenigstens herausfinden, wo Ricarda ist!«

Evelin antwortete darauf nicht, sondern fragte statt dessen übergangslos:»Weißt du zufällig, ob bei mir zu Hause alles in Ordnung ist? Ich hatte meine Putzfrau gebeten…«

«Sie war bei mir. Ich habe sie bezahlt und habe auch den Schlüssel übernommen und nach dem Rechten gesehen. Du mußt dir keine Gedanken machen. Alles ist in bester Ordnung.«

«Nicht, daß das wirklich wichtig wäre«, murmelte Evelin. Sie sah an Jessica vorbei zum Fenster hinaus.»Eigentlich ist gar nichts mehr so richtig wichtig. Aber irgendwie klammert man sich an den banalen Dingen fest, geht dir das auch so? Als ich im Gefängnis war, mußte ich dauernd daran denken, ob die Putzfrau wohl die Blumen im Garten gießt, und ich habe mich schrecklich aufgeregt bei der Vorstellung, daß sie es nicht tut und am Ende alles verdorrt. Ist das nicht verrückt? Ich meine, da sitze ich unter Mordverdacht in einem Gefängnis in England und habe keine Ahnung, wie das alles für mich ausgeht, und mein Mann ist umgebracht worden und einige meiner besten Freunde — und ich heule, weil vielleicht die Blumen in meinem Garten vertrocknen! Als ob ich nicht ganz normal wäre!«

«Was ist schon normal nach solch einem Ereignis?«

Jessica strich sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirn.

Es war so warm, und sie war sehr müde.»Wie vielen Menschen passiert was uns passiert ist? Normen sind da kaum aufzustellen. Jeder versucht, die Dinge auf seine Weise zu verarbeiten, und du klammerst dich eben, wie du sagst, an banalen Dingen fest. Ich denke, das ist schon in Ordnung so.«

«Ja, wenn du meinst«, sagte Evelin, und sie wirkte ein wenig getröstet, so als habe sie sich wirklich Gedanken gemacht, daß etwas nicht stimmte mit ihr.

Jessica wußte, daß Elena daheim neben ihrem Telefon saß und ihrem Anruf entgegenfieberte.

«Wenn ich dich eine Stunde allein lassen kann«, sagte sie,»würde ich gern zur Mallory-Farm fahren. Es würde mich sehr beruhigen zu wissen, ob Ricarda dort ist, und ich muß auch Elena Bescheid sagen.«

«Du kommst aber wieder?«

«Natürlich komme ich wieder. Paß auf, du legst dich einfach noch ein bißchen hin. Du siehst sehr erschöpft aus. Und wenn ich zurück bin, essen wir zusammen etwas Schönes. Okay?«

«Okay«, sagte Evelin.

Sie hatte ein billiges Leihauto genommen, dessen schlechte Federung sie die Unebenheiten der Landstraße in heftigen Stößen am ganzen Körper spüren ließ. Sie überlegte, ob sich ihr Baby eigentlich noch wohl fühlte bei ihr, und beschloß, daß sie mehr auf sein Wohlbefinden achten mußte. Also keinen Wein heute abend. Sie seufzte. Sie lechzte so sehr nach Entspannung.

Sie hatte sich bei dem Mädchen am Empfang nach dem Weg zur Mallory-Farm erkundigt. Es war immer noch dasselbe Mädchen wie im April, und es war noch genauso picklig. Es hatte sie fasziniert angeglotzt. Die Morde von Stanbury, der anschließende Aufenthalt der Überlebenden im The Fox and The Lamb und die ständige Präsenz der Polizei, sogar die eines Beamten von Scotland Yard, hatten zum erstenmal etwas Aufregung und Dramatik in das kleine Dorf und das Leben seiner Bewohner gebracht. Nun war zuerst Evelin wieder aufgetaucht, jetzt Jessica. Jessica sah dem Mädchen an, daß es sich eine Neuauflage der spannenden Ereignisse wünschte, und dies entfachte heftigen Widerwillen in ihr.

«Ich heiße Prudence«, sagte das Mädchen mit vertraulich leiser Stimme, die Abneigung, die ihm entgegenschlug, offenbar nicht im geringsten bemerkend.»Ich muß sagen, das alles ist doch sehr mysteriös, nicht wahr? Die Unschuld von Mrs. Burkhard ist wohl erwiesen?«

«Ja«, sagte Jessica kurz.

Prudence setzte eine mitfühlende Miene auf, was ihr nicht überzeugend gelang.»Die arme Mrs. Burkhard! Es muß schrecklich sein, unter einen solchen Verdacht zu geraten! Immerhin war sie vier Wochen im Gefängnis. Ohne zu wissen, ob man ihr am Ende glauben würde!«

«In eine solche Situation kann jeder von uns kommen«, sagte Jessica.»Könnten Sie mir jetzt bitte erklären, wie ich…«

Prudence war nicht gewillt gewesen, ihr Opfer, aus dem sich möglicherweise Informationen ziehen ließen, so schnell gehen zu lassen.»Schrecklich, daß dieser Kerl noch immer frei herumläuft! Gerade vorhin habe ich noch mal eine Fahndungsmeldung der Polizei im Radio gehört. Da packt einen richtig das Grauen. Ich meine, der ist doch komplett verrückt! Ein Serienkiller vielleicht?«

«Ich möchte…«, setzte Jessica an.

«Wie gut, daß die Presse noch nicht mitbekommen hat, daß Mrs. Burkhard hier ist«, sagte Prudence, die genau dies ganz offensichtlich tief bedauerte.»Die hatten nämlich vor dem Gefängnis gewartet, und Mrs. Burkhards Anwalt muß ein richtiges Verwirrspiel inszeniert haben. Jedenfalls haben die dann wohl gedacht, sie ist nach London gebracht worden. Ein Glück! Wer möchte in solch einer Situation auch noch von Reportern belagert werden?«

Jessica hatte den fast sicheren Verdacht, daß ein Journalist, der im The Fox and The Lamb nachfragen würde, von Prudence sofort einen unmißverständlichen Tip erhielte, der die ganze Meute erneut anziehen würde. Sie hoffte, daß Evelins Anwalt vielleicht schon am folgenden Tag die Freigabe des Passes würde durchsetzen können. Sie mußten schnell hier weg.

Es gelang ihr endlich, der geschwätzigen Prudence die gewünschte Wegbeschreibung zu entlocken (»Es gibt mehrere Möglichkeiten. Sie bevorzugen sicher eine, die Sie nicht an Stanbury House vorbeiführt, oder? An Ihrer Stelle könnte ich es absolut nicht ertragen, noch einmal auch nur in die Nähe dieses Ortes zu kommen!«), und dann war sie aufgebrochen. In einen sehr hellen, warmen Abend hinein. Die Natur hatte sich noch erheblich weiterentwickelt in den vergangenen vier Wochen. Die Bäume trugen nicht mehr das zarte, hellgrüne Laub des Frühlings, sondern die dichten, kräftigen Blätter des Sommers. Auf den Feldern begann das Korn zu wachsen. Roter Klatschmohn glühte an den Rändern der Feldwege. Selbst diese eher karge, sehr nordische Landschaft hatte Farben und Fülle angenommen. Der Himmel war von einem lichten Blau.

Wie schön es hier ist, dachte Jessica und wunderte sich selbst, welch warme Gefühle sie für eine Gegend hegte, mit der sie so grausame Erinnerungen verbanden. Einmal mußte sie anhalten und eine Herde Schafe die Straße überqueren lassen. Sie versuchte, sich Ricarda in dieser ländlichen Idylle, die gerade im Herbst und Winter auch sehr schnell zur ländlichen Einsamkeit und Düsternis werden konnte, vorzustellen. Als Frau eines Farmers. Die in Gummistiefeln über die Felder lief, die Hühner fütterte, Zäune reparierte, deftiges Essen kochte. Für die Kino und Theater und Konzerte eher Seltenheitswert hatten. Überraschenderweise bereitete es ihr keine größeren Probleme, Ricarda in dieses Bild zu integrieren.

Die Farm lag sehr einsam, wirkte jedoch im verdämmernden Licht des Tages warm und einladend. Niemand war auf dem Hof zu sehen, als Jessica dort einbog und anhielt. Erst als sie ausstieg, entdeckte sie einen schwarzen Hund, der auf einem Stück Gras zwischen zwei Ställen lag und vor sich hindöste. Er hob den Kopf, wedelte ein wenig mit dem Schwanz, stand jedoch nicht auf. Seine graue Schnauze und der milchige Schleier über den Augen verrieten, daß er sehr alt war. Offenbar hatte er beschlossen, daß seine Aufgabe als Wächter des Hauses beendet war.

Sie ging zur Haustür und betätigte den Klopfer. Es dauerte eine Weile, bis sie Schritte hörte, dann öffnete eine verhärmt aussehende Frau die Tür. Sie hatte strähnige Haare, war völlig ungeschminkt, und ihren Augen sah man an, daß sie viel weinte.

«Ja?«fragte sie mißtrauisch.

Jessica streckte ihr die Hand hin.»Ich bin Jessica Wahlberg. Eine… Verwandte von Ricarda.«

Sie fixierte das Gesicht ihres Gegenübers genau und sah, daß ein kurzes Erschrecken darüber hinwegglitt. Ricarda war dieser Frau also auf jeden Fall bekannt.

«Ich bin Gloria Mallory«, sagte die Frau.»Möchten Sie meinen Sohn sprechen?«

«Eigentlich möchte ich Ricarda sprechen.«

Gloria hatte sich jedoch bereits umgewandt und rief in den dämmrigen Flur hinein:»Keith! Keith, hier ist jemand für dich!«

Ein junger Mann tauchte auf, groß, breitschultrig, mit einem offenen, sympathischen Gesicht. Jessica empfand ihn sofort als sehr angenehm.

«Ja?«fragte er.

«Die Dame da…«, sagte Gloria und zog sich einen Schritt zurück.

«Ja?«fragte Keith noch einmal.

«Ich bin Jessica Wahlberg. Sie sind Keith Mallory?«

«Ja.«

Er ging spürbar auf Distanz. Nicht, daß er plötzlich feindselig gewirkt hätte, aber es war, als weiche er innerlich vor ihr zurück. Sein Gesicht nahm von einem Moment zum anderen einen verschlossenen Ausdruck an.

«Keith, Ricardas Mutter und ich sind in großer Sorge um Ricarda. Sie ist verschwunden, und das in einer seelischen Ausnahmesituation. Es ist wichtig, daß wir sie finden.«

«Und was wollen Sie bei mir?«

«Sie sind doch eng befreundet mit ihr. Wir vermuten daher, daß sie vielleicht zu Ihnen wollte.«

«Hier ist sie nicht«, sagte Keith.

Jessica sah ihn scharf an.»Keith, Sie müssen mir bitte die Wahrheit sagen. Wir meinen es ja nicht böse mit Ricarda. Aber ihre Mutter macht sich entsetzliche Sorgen. Das müssen Sie doch verstehen können.«

Erstmals während des Gesprächs trat ein Ausdruck von Abneigung in Keiths Augen.»Sie sollten sich zur Abwechslung alle einmal in Ricarda hineinversetzen. Für ihr Alter hat sie verdammt viel mitgemacht. Erst die Scheidung ihrer Eltern, dann die nächste Heirat des Vaters. Diese unsäglichen Urlaube hier in Stanbury House, zusammen mit einer Horde von Neurotikern, die ihr nicht den kleinsten Freiraum zugestanden. Und dann dieses Massaker, bei dem sie ihren geliebten Vater verloren hat. Es gibt viele, die würden unter all dem zusammenbrechen.«

«Aber das habe ich doch gerade gesagt. Sie ist traumatisiert.

Sie braucht Hilfe. Sie ist nicht in der Verfassung, sich irgendwo ganz allein durchzuschlagen.«

«Vielleicht ist sie nicht in der Verfassung, ihre sogenannte Familie noch länger zu ertragen. Könnte doch auch sein, oder? Ihre Mutter, die sie begluckt. Ihre Stiefmutter, die ihr den Vater weggenommen hat. Und«, sein Blick glitt zu ihrem Bauch, verweilte eine Sekunde darauf,»schon gar nicht dieses zukünftige Geschwisterchen, von dem sie so sehr gefürchtet hat, es werde sie noch weiter von ihrem geliebten Vater entfernen. Manchmal muß ein Mensch in seinem Leben einen Trennungsstrich ziehen.«

Jessica schluckte eine scharfe Erwiderung hinunter. Sie schaute an ihm vorbei zu Gloria hin, die dem Gespräch schweigend aus dem Hintergrund gefolgt war.

«Mrs. Mallory, Sie haben auch keine Ahnung, wo Ricarda stecken könnte?«

Gloria zuckte mit den Schultern. Jessica fand, daß sie Unbehagen ausstrahlte, und fragte sich, was der Grund dafür sein mochte.

Sie wandte sich noch einmal an Keith.»Keith, ich wohne in Stanbury im The Fox and The Lamb. Sollten Sie irgend etwas über den Verbleib von Ricarda erfahren, dann suchen Sie mich doch bitte auf, oder rufen Sie an. Weder Ricardas Mutter noch ich wollen etwas tun, was dem Mädchen schadet. Aber sie ist fünfzehn. Minderjährig. Wir können nicht die Hände in den Schoß legen und so tun, als gehe uns ihr Verschwinden nichts an.«

Er nickte. Seine Miene verriet nicht, ob sie ihn mit ihren Worten erreicht hatte.

Jessica ging zu ihrem Auto zurück, stieg ein. Während sie den Wagen wendete, betrachtete sie noch einmal das Haus. Es war aus dem grauen Stein der Gegend gemauert, hatte quadratische Fenster, deren Rahmen weiß lackiert waren. Sie stellte sich vor, daß man Blumen davorpflanzen könnte, und wie hübsch es aussehen müßte, die Haustür in einem leuchtenden Rot zu streichen.

Ein schönes Zuhause für Ricarda, dachte sie.

Als sie außer Sichtweite des Hofs war, hielt sie am Wegrand an, kramte ihr Handy aus der Tasche und wählte Elenas Nummer. Wie sie erwartet hatte, hielt sich Elena offenbar tatsächlich in unmittelbarer Nähe des Apparats auf, denn der Hörer wurde sofort abgenommen.

«Ja?«erklang es atemlos.

«Elena, ich bin es. Jessica. Ich komme gerade von Keith Mallory…«

«Und? Haben Sie Ricarda gesprochen? Ist sie dort?«

«Ich habe sie weder gesehen noch gesprochen. Keith hat auch nicht zugegeben, daß sie bei ihm ist. Dennoch habe ich das sichere Gefühl, sie ist da. Ich kann Ihnen nicht genau erklären, weshalb… Vielleicht lag es an dem Unbehagen, das sowohl Keith als auch seine Mutter ausstrahlten.«

«Aber…«

«Keith war vermutlich zunächst entschlossen, Ricarda zu decken, aber er wird jetzt über meine Worte nachdenken. Und vor allem seine Mutter. Ich habe noch einmal klargestellt, daß Ricarda minderjährig ist und daß wir die Angelegenheit keinesfalls auf sich beruhen lassen. Ich denke, Mrs. Mallory hat begriffen, daß ihr Sohn in Schwierigkeiten kommen könnte, wenn man Ricarda bei ihm entdeckt, und sie wird ihm sicher die Hölle heiß machen, sich mit mir in Verbindung zu setzen.«

«Aber das alles ist nur ein Gefühl von Ihnen. Meinen Sie nicht, ich sollte mich jetzt doch an die Polizei wenden?«

«Das können Sie natürlich tun. Aber ich würde noch nichts davon sagen, daß wir die Vermutung haben, sie könnte in England bei Keith sein. Es wäre nicht gut, wenn hier plötzlich Interpol auftauchte und sie von der Farm holte. Ich meine, es wäre für Ihr Verhältnis zu Ricarda nicht gut.«

«Sicher. Aber wenn ich jetzt die Polizei anrufe und ihr das Wesentliche verschweige…«

Elena schien völlig zerrissen.»Wissen Sie, ich muß mir das überlegen«, sagte sie dann plötzlich mit entschlossener Stimme.»Lassen Sie sich jetzt davon nicht verrückt machen. Vielleicht rufe ich auch bei ein paar Fluggesellschaften an. Am Ende ist Ricarda geflogen, und ihr Name steht auf einer Passagierliste. Ich danke Ihnen, daß Sie zur Mallory-Farm gefahren sind. Und vielleicht haben Sie ja das richtige Gefühl.«

«Ich fahre morgen noch einmal hin. Ich lasse nicht so schnell locker.«

Elena lachte ein wenig, wenn auch gequält.»Ja. So habe ich Sie auch eingeschätzt. Sagen Sie, wie geht es Evelin?«

«Sie kommt mir ein bißchen benommen vor. Als könne sie immer noch nicht alles begreifen, was passiert ist. Es ist sicher gut, daß sie hier jetzt nicht allein herumhängt.«

«Auf jeden Fall. Übrigens, Barney geht es gut. Ich habe mich vorhin sogar für eine Stunde vom Telefon losgeeist und einen langen Spaziergang mit ihm gemacht. Seitdem liebt er mich. Und morgen früh nehme ich ihn einfach mit in die Arbeit.«

«Danke für Ihre Hilfe, Elena. Ich melde mich wieder.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, wählte Jessica Leons Nummer. Sie wartete lange, aber wiederum meldete sich niemand.

Ich möchte wissen, wo er steckt, dachte sie.

Ob er eine Ferienreise machte? Aber dafür dürfte er kaum das nötige Geld haben.

Sie beschloß, daß Leon nicht ihr Problem sein sollte. Sie legte das Handy auf den Beifahrersitz, startete ihren Wagen.

Evelin wartete.

Sie fragte sich, ob sie und Evelin in der Lage sein würden, miteinander zu sprechen. Oder ob sie das Schweigen fortsetzen würden, das stets zwischen ihnen geherrscht hatte.

7

Er stand an genau derselben Stelle, an der er vier Wochen zuvor neben Evelin gestanden hatte. An der Stelle, von der aus er zuletzt einen Blick auf das Haus geworfen hatte. Alles war wie in seiner Erinnerung, nichts hatte sich geändert. Nur das Gras im Garten war hoch gewuchert, zu einer wilden Wiese war es geworden. Steve, der Gärtner, war sich wohl nicht mehr sicher, ob seine Dienste noch erwünscht waren, oder aber ihm war jede Ambition, dieses Grundstück zu betreten, ein für allemal vergangen.

Aber sonst — was hätte sich auch ändern sollen? Irgendwo hatte man vielleicht die irrationale Vorstellung, es müsse einem Haus anzusehen sein, wenn sich eine solche Tragödie zwischen und vor seinen Mauern ereignet hatte, aber natürlich schien es völlig unberührt von dem Geschehen. Friedlich lag es im Schein der Morgensonne, voller Ruhe und Harmonie. Er kannte jeden Schornstein, jedes Fensterkreuz, jede bröckelige Ecke an der Balustrade. Nichts war anders geworden.

Alles war anders geworden.

Er sah das Haus an mit einer tiefen inneren Verzweiflung, mit dem Schmerz eines Liebenden, eines Besessenen, der weiß, daß er das Objekt seiner Liebe, das Objekt seiner Besessenheit loslassen muß, wenn er nicht untergehen will. Er war hergekommen, um Abschied zu nehmen, und nun brach ihm dieser Abschied fast das Herz. Denn jenseits dessen, was er nun verlieren würde, lag das vollkommene Nichts, die absolute Sinnlosigkeit. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie er damit leben würde können.

Der Morgen war so schön, wie nur ein Maimorgen sein kann, voller Klarheit und Frische und dem Versprechen auf einen wunderbar warmen, sonnigen Tag. Noch lag Feuchtigkeit über den Gräsern, und die Blätter der Bäume glänzten vom Tau, aber die Luft war bereits mild und der Himmel von einem tiefen Blau.

Jemand, dachte er, sollte durch die Tür auf die Veranda treten und einen Frühstückstisch dort decken, und dann sollte sich eine Familie dort versammeln, eine große, lebhafte Familie, und ein paar Hunde sollten herumspringen und laut bellen.

Es war ein eigenartig heftiger Wunsch in ihm, das Bild vor seinen Augen zu beleben, Haus und Garten mit Gesichtern und Stimmen zu füllen, und zugleich wußte er, daß ihm dies in der Wirklichkeit nie gelingen würde. Selbst wenn er eine Chance hätte, das Haus zu bekommen, oder man ihm zumindest das Recht würde einräumen müssen, dort zeitweise zu wohnen, würde er doch nicht fähig sein, eine Familie zu gründen und dort auf der Veranda zu sitzen und zu frühstücken und seine Frau und seine Kinder und seine Hunde zu betrachten und Pläne zu schmieden für den Tag. Er war nicht dafür geschaffen. Es würde ihm nicht gelingen, ganz gleich, wie sehr er es ersehnen mochte.

Und er würde auch seinem Vater nicht näherkommen. Sein Vater war tot. Sein Vater konnte ihm nichts mehr sagen. Die Wände seines Hauses würden nicht für ihn sprechen.

Er sah es auf einmal glasklar, sah sich selbst glasklar: einen langsam alternden Mann, einsam und verloren in einem großen Haus, auf der Suche nach einem Toten, während das Leben mit unnachsichtiger Unbeirrbarkeit ablief.

Was hatte diese Suche nach dem Toten schon mit ihm gemacht? Wozu hatte sie ihn verleitet? In welche Lage hatte sie ihn gebracht?

Er war so müde. So hungrig. Gehetzt, gejagt, in die Enge getrieben. Zu spät erkannte er, wie trügerisch der Sinn gewesen war, den er seinem Leben zu geben geglaubt hatte, als er seinen

Kampf um Kevin McGowan begann. Und obwohl als Täuschung entlarvt, würde ein schwarzes Loch dort bleiben, wo einst der Kampf geführt worden war. Ein Abgrund, vor dem ihm schauderte, und in den er doch blicken mußte, in den er würde hinabsteigen müssen. Denn dieser Abgrund war sein Leben.

Sein verpfuschtes, verkorkstes, zur Hälfte verstrichenes Leben. Und doch das einzige, das er hatte.

Er hatte als Schauspieler gearbeitet und dachte manchmal in den dramaturgisch angeordneten Sequenzen eines Theaterstücks oder Films, und er fand, dies war der Moment, in dem er laut Anweisung der Regie einen tiefen Zug aus seiner Zigarette nehmen, den Glimmstengel dann aus dem Mund ziehen, auf den Boden werfen und nachdrücklich austreten sollte. Ein letzter Blick zum Haus, umdrehen, gehen.

Er hatte bloß keine Zigarette. Er hatte buchstäblich überhaupt nichts mehr. Schon gar keinen Regisseur, der ihm hätte sagen können, wie es weitergehen sollte.

Vielleicht eine innere Stimme. Die ihm sagte, daß es das beste wäre, zur Polizei zu gehen und sich zu stellen. Oder auch nicht das beste, aber auf jeden Fall das einzige. Möglich, daß es keine Alternative gab. Und daß er deshalb hier stand und Abschied nahm, weil er das längst realisiert und sogar akzeptiert hatte.

Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht bei der Vorstellung, wie er ins Dorf wandern, in den Gemischtwarenladen von Mrs. Collins' Schwester hineinspazieren und der alten Tratschtante in ihr schreckensstarres Gesicht sagen würde, sie möge bitte die Polizei herbeitelefonieren.

Nicht gleich. Nachher. Später.

Er überquerte den Rasen, langsam, ohne Hast. Setzte sich auf eine Bank, die seitlich vom Haus stand.

Vielleicht konnte er sich noch eine Weile der Illusion hingeben, irgendeine Wahl zu haben.

8

Jessica hatte schlecht geschlafen, und gegen halb sieben am Morgen hielt sie es nicht mehr im Bett aus. Sie stand auf, duschte und zog sich an und sah durch das Fenster, daß ein herrlicher Tag heraufdämmerte. Sie überlegte, ob sie Evelin wecken und zu einem gemeinsamen Spaziergang überreden sollte, aber auf einmal erschien es ihr zu anstrengend, sich zu so früher Stunde bereits in die Gesellschaft einer derart verzweifelten Frau zu begeben. Wer wußte, wie lange sie es überhaupt noch mit Evelin hier zusammen in Stanbury aushalten mußte. Der gestrige Abend war schwierig gewesen. Sie hatten zusammen im Gastraum gegessen, und Jessica hatte von Leon erzählt, von seiner neuen Wohnung, seinem neuen Arbeitsplatz. Daß er ihr seine Gefühle gestanden hatte, ließ sie unerwähnt. Aber ohnehin hatte sie nicht den Eindruck gehabt, daß Evelin mit mehr als minimalem Interesse zuhörte. Einoder zweimal hatte sie versucht, die Freundin auf die Zeit im Untersuchungsgefängnis anzusprechen, aber sie war sofort ausgewichen und hatte keine Antwort gegeben. Das sogenannte Gespräch war im Grunde nur auf einen zähen Smalltalk hinausgelaufen. Irgendwann waren sie beim Wetter und beim englischen Essen angelangt und hatten darüber hinaus nur ein bißchen über die plumpe Prudence gelästert, die hinter der Theke gestanden und ganz offensichtlich sehr heftig die Ohren gespitzt hatte.

Als sie über den Gang lief, kam sie an Evelins Zimmertür vorbei und lauschte kurz nach drinnen, konnte aber keinen Laut vernehmen. Erleichtert begab sie sich die Treppe hinunter in den Gastraum.

Sie war der erste Mensch dort, aber nach allem, was sie mitbekommen hatte, befand sich außer ihr und Evelin sowieso nur noch ein einziger Gast im Haus, ein älterer Herr, der immer in Wanderstiefeln und einem scheußlichen rotweiß karierten Hemd herumlief. Aber auch der schlief um diese Zeit wohl noch.

Nach einer Weile kam Prudence müde herangeschlurft und brachte heißen Kaffee, der Jessicas Lebensgeister sofort weckte.

«Was woll'n Sie denn frühstücken?«fragte sie und gähnte.

Jessica bestellte Toastbrot und Rührei, und Prudence schlich in die Küche zurück. Jessica trank ihren Kaffee in kleinen Schlucken, wärmte sich die Finger an der dickbauchigen Keramiktasse und überlegte, wie sie den Tag verbringen wollte. Auf jeden Fall würde sie eine schöne, lange Wanderung unternehmen. Die Frage war, ob sie es fertigbringen würde, Stanbury House aufzusuchen. Sie empfand es als eigenartig, sich in dieser ihr so vertrauten Gegend aufzuhalten und nicht ein einziges Mal zu dem alten Haus zu gehen, das trotz des Schreckens, der sich über seine Mauern gelegt hatte, ein Stück Heimat für sie gewesen war.

Ich werde das ganz spontan entscheiden, nahm sie sich vor.

Sie aß den Toast mit ziemlich wabbeligem, ungesalzenem Rührei und versuchte einmal, trotz der frühen Stunde, Leon mit ihrem Handy zu erreichen. Wieder meldete sich niemand. Sie mußte das Gefühl der Beunruhigung, das sie beschlich, mit einiger Energie beiseite drängen.

Sie war bei ihrer zweiten Tasse Kaffee angelangt, als sich die Tür öffnete und Gloria Mallory auf der Schwelle erschien. Sie sah sich suchend um, erblickte Jessica und kam mit einem erleichterten Gesichtsausdruck auf sie zu.

«An der Rezeption ist niemand«, sagte sie anstelle einer Begrüßung,»und da dachte ich, ich schaue mal nach, ob Sie vielleicht beim Frühstück sind. Ich habe wirklich Glück — so früh am Morgen!«

«Setzen Sie sich«, sagte Jessica,»möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

Gloria schüttelte den Kopf, nahm aber den angebotenen Platz.»Danke. Ich kann nur kurz bleiben. Mein Mann…«

«Sie pflegen ihn ganz allein?«

«Mein Sohn und meine Tochter helfen mir. Aber beide haben sehr viel mit der Farm zu tun, und letztlich bin ich dann doch oft nur auf mich gestellt. Es ist sehr schwer… er kann ja praktisch nichts mehr allein tun. Und er ist völlig verwirrt. Man kann ihm nichts erklären. Es ist alles… sehr schwer.«

Jessica sah die verhärmte Frau mitfühlend an, wartete dann, was kommen würde, obwohl sie es ahnte.

Gloria Mallory senkte den Kopf.»Mein Sohn weiß nicht, daß ich hier bin. Wahrscheinlich wäre er sonst sehr böse auf mich. Aber es hat mir keine Ruhe gelassen…«

«Ricarda ist bei Ihnen?«fragte Jessica.

Gloria nickte.»Sie kam gestern, wenige Stunden bevor Sie sich nach ihr erkundigt haben. Völlig erschöpft, am Ende ihrer Kräfte. Sie hat sich mit den verschiedensten Verkehrsmitteln und am Ende zu Fuß zu Keith durchgeschlagen. Als Sie bei uns waren, schlief sie.«

Jessica streckte den Arm über den Tisch, drückte kurz die Hand der anderen Frau.»Danke, Mrs. Mallory. Danke, daß Sie es mir gesagt haben.«

«Ich kann mir gut vorstellen, was Ricardas Mutter und Sie durchgemacht haben. Ich habe selbst Kinder. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, und heute früh war mir klar, daß ich Sie wissen lassen muß, daß es Ricarda gutgeht.«

«Kann ich mit ihr sprechen?«

Gloria zögerte.

«Ich will sie nicht gegen ihren Willen mit nach Hause nehmen«, sagte Jessica rasch.»Ich will sie überhaupt zu nichts drängen. Ich möchte ihr nur sagen, daß ihr alle Wege offenstehen und daß sie sich Zeit nehmen soll zu entscheiden, was sie tun will.«

«Ich glaube«, sagte Gloria,»daß sie meinen Sohn sehr liebt. Und Keith erwidert ihre Gefühle.«

«Das ist das beste, was Ricarda in ihrer jetzigen Situation passieren kann. Ist es Ihnen denn recht, wenn sie, zumindest vorläufig, bei Ihnen wohnt?«

«Ich kenne sie kaum. Aber sie scheint meinen Sohn glücklich zu machen. Daher ist es in Ordnung.«

Jessica stand auf.»Ich ziehe andere Schuhe an. Dann fahre ich mit Ihnen zu Ihrer Farm.«

«Nun…«

«Bitte.«

«In Ordnung«, sagte Gloria ergeben.

Sie hatte für Evelin einen Zettel geschrieben und unter ihrer Tür hindurchgeschoben. Bin noch mal zu Ricarda unterwegs. Werde mittags zurück sein!

Sie hatte ihre Turnschuhe angezogen und eine Jacke um die Schultern gehängt, denn der strahlende Morgen war noch recht frisch. Ihre Handtasche mit dem Handy darin hatte sie dabei, sie war also jederzeit für Evelin zu erreichen.

Gloria Mallory fuhr einen völlig verrosteten Jeep, den man auf den ersten Blick eher auf einem Schrottplatz als auf einer Landstraße vermutet hätte.

«Wollen Sie nicht lieber Ihr Auto nehmen?«fragte sie.»Ich meine, für den Rückweg?«

«Zurück werde ich laufen«, erwiderte Jessica.»Ich wollte heute sowieso eine Wanderung unternehmen.«

Der Himmel hatte ein beinahe gläsernes Blau angenommen und die Luft fühlte sich an wie glatte, kühle Seide.»Es ist ein wundervoller Tag«, sagte Jessica. Gloria nickte.»O ja. Wir haben hier in Yorkshire sehr häufig schlechtes Wetter, aber dazwischen gibt es Tage wie diesen, und irgendwie versöhnen sie einen wieder.«

Sie warf Jessica einen Blick von der Seite zu.»Wann kommt Ihr Baby?«

Sie schaut genau hin, dachte Jessica.»Im Oktober«, antwortete sie.

«Es ist eine schwere Zeit für Sie, oder? Ich meine, nach allem, was war… dort in Stanbury House…«

«Ich glaube, ich habe es immer noch nicht wirklich realisiert«, sagte Jessica.»Manchmal denke ich, ich werde es nie ganz begreifen, was da über mein Leben hereingestürzt ist. Und manchmal habe ich Angst, daß ich irgendwann ganz plötzlich zusammenbrechen werde. Und daß dann der eigentliche Alptraum erst beginnt.«

«Sie müssen stark sein für Ihr Kind.«

«Ich weiß.«

«Was wird aus Stanbury House?«

Jessica zuckte mit den Schultern.»Mir gehört da nichts. Der Mann, der es jetzt geerbt hat, hat seine ganze Familie bei dem… Unglück verloren. Er ist dabei, sein Leben auf die Reihe zu bringen.«

Wieder hatte sie plötzlich ein beunruhigendes Gefühl, als sie an Leon dachte, der ständig unerreichbar war. Er hatte euphorische Phasen gehabt in den letzten Wochen, aber auch solche, in denen er zutiefst deprimiert nur im Alkohol Trost finden konnte. Sie machte sich Sorgen um ihn.

«Er wird sicher erst später entscheiden können, was mit dem Haus passieren soll«, meinte sie schließlich.

Sie sprachen nicht mehr, bis sie die Farm erreichten. Als sie auf den Hof einbogen, trat gerade Keith aus der Scheune. Als er erkannte, wer neben seiner Mutter im Auto saß, erstarrte er.

Jessica stieg aus und ging auf ihn zu.

«Keith, ich weiß, daß Ricarda hier ist«, sagte sie,»und ich möchte mit ihr sprechen. Und Ihrer Mutter sollten Sie keine Vorwürfe machen. Weder ich noch Elena haben Ricarda etwas getan. Es wäre nicht fair gewesen, uns in Sorge und Angst zu belassen.«

«Ich will, daß Ricarda hier bleibt«, sagte Keith.

«Ich werde sie Ihnen nicht wegnehmen«, beteuerte Jessica.

Einen Moment lang sahen sie einander an. Schließlich nickte Keith.

«Sie ist in der Küche. Im Gang die zweite Tür rechts.«

«Danke«, sagte Jessica.

Gloria Mallory war verschwunden. Jessica ging den niedrigen, dunklen Gang entlang, öffnete vorsichtig eine aus rohen Holzbalken gezimmerte Tür. Zwei steinerne Stufen führten in die Küche hinunter. Eine gemütliche Küche mit einem großen Holztisch in der Mitte und Strohblumen an den kleinen Fenstern mit den weißlackierten Kreuzen. An dem wuchtigen Herd stand Ricarda und schenkte sich gerade Kaffee aus einer Emaillekanne in einen Becher. Sie wirkte nicht erschrocken, als sie ihre Stiefmutter sah.

«Mir war klar, daß du nicht lockerläßt«, sagte sie,»seitdem ich gehört habe, daß du gestern abend hier warst. Bist du nur wegen mir nach England gekommen?«

«Du allein wärst es mir jedenfalls wert gewesen. Aber ursprünglich bin ich wegen Evelin gekommen. Sie ist aus dem Gefängnis entlassen worden und braucht Unterstützung.«

«Aha. Dann war sie's wohl nicht?«

«Nein. Soviel steht wohl fest. Dringend verdächtig ist Phillip

Bowen. Sein Alibi war falsch. Er wird im ganzen Land gesucht.«

«Phillip Bowen«, sagte Ricarda langsam. Sie wirkte eigenartig emotionslos, fast ein wenig wie in Trance.»Ja, er lungerte ständig um das Haus herum, nicht wahr? Habe ich erzählt, daß er in der Nacht da war, bevor es passierte? Als ich wegging zu Keith. Er stand vor dem Tor.«

«Mitten in der Nacht?«fragte Jessica überrascht.»Nein, das hast du nicht. Was tat er dort?«

Ricarda zuckte mit den Schultern.»Er sagte, er würde nachdenken.«

«Hast du das der Polizei gesagt?«

«Es ist mir eben erst wieder eingefallen.«

«Aber du solltest…«

Ricardas Gesicht war voller Ungeduld.»Es ist mir egal. Die ganze Sache ist mir egal. Ich lebe ein anderes Leben.«

«Mit Keith?«

«Mit Keith. Wir werden zusammenbleiben.«

«Ich verstehe, daß dir das im Moment als die Lösung all deiner Probleme erscheint. Aber du solltest bedenken, daß du sehr jung bist, daß du in einer Krisensituation steckst und daß du weder einen Schulabschluß noch auch nur den Ansatz einer Ausbildung hast. Du begibst dich in eine völlige Abhängigkeit von diesem jungen Mann, und…«

«Entschuldige«, unterbrach Ricarda,»aber ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust, mir irgendwelche Vorträge von dir anzuhören. Ich habe mein Leben, und du hast deines. Mein Vater war unser einziger Berührungspunkt. Er ist tot, und es gibt keinen Grund mehr, daß wir einander begegnen oder miteinander reden sollten.«

Jessica sah in das blasse, spitze Gesicht, in die dunklen Augen, die sie voller Kälte und Haß ansahen, und trotz allem war in ihr ein fast überwältigendes Gefühl von Zuneigung zu diesem trotzigen, ruppigen jungen Mädchen, das ein Teil von Alexander war und das ihr und sich das Leben so schwermachte, ohne vermutlich aus seinem Gefühlschaos heraus eine andere Wahl zu haben. Sie wäre gern auf Ricarda zugegangen und hätte sie in die Arme geschlossen, aber sie wußte, daß sie mit einer harten Zurückweisung zu rechnen hätte, und unterdrückte ihren Wunsch.

«Du mußt dich nicht gegen mich wehren«, sagte sie.»Ich will dich nicht von hier wegholen oder dir irgend etwas aufdrängen, das du nicht willst. Ich möchte nur, daß du weißt, du kannst immer zu mir kommen, wenn du Schwierigkeiten hast. Zu deiner Mutter sowieso. Und dann wollte ich dir nur einen Rat geben, und vielleicht solltest du über ihn nachdenken, auch wenn er von der verhaßten Stiefmutter stammt: Mach dich nicht abhängig von Keith. Setze ein Jahr mit der Schule und mit allem aus, lebe hier mit ihm, schau dir das Leben auf einer Schaffarm in Yorkshire an. Behalte dir die Möglichkeit vor, in einem oder zwei Jahren vielleicht doch noch einen Schulabschluß zu machen und einen Beruf zu erlernen. Danach heirate Keith, gründe eine Familie. Aber schaff dir erst eine eigenständige Position. Irgendwann wirst du erkennen, wie wichtig das ist.«

«Bist du fertig?«fragte Ricarda.

Jessica seufzte.»Ja.«

Sie machte eine hilflose Bewegung mit beiden Händen.»Ich denke, ich bin fertig. Das war alles, was ich dir sagen wollte.«

Ricarda erwiderte nichts. Jessica wartete noch einen Augenblick, aber es kam nichts mehr, und sie begriff, daß Ricarda nichts anderes wollte, als daß ihre Stiefmutter die Küche verließ und sich nicht länger in ihre Belange mischte.

«Leb wohl«, sagte sie, aber Ricarda antwortete nicht. Jessica drehte sich um und verließ die Küche. Sie eilte den düsteren

Gang entlang und atmete auf, als sie wieder draußen in der Sonne stand. Ricardas Kälte war so greifbar gewesen, daß sie plötzlich bis ins tiefste Innere fror. Sie bemühte sich, das Frösteln, das Gefühl von Beklemmung abzuschütteln, aber es mochte ihr nicht recht gelingen.

Wenn ich ein Stück laufe, wird es besser, dachte sie.

Keith und seine Mutter waren beide nicht zu sehen, und so verzichtete Jessica darauf, sich zu verabschieden. Sie rief in Elenas Büro an, erfuhr jedoch, daß sich Elena in einer Besprechung befand. Sie bat um Rückruf, verstaute ihr Handy dann wieder in der Handtasche. Sie blinzelte in die Sonne. Sie war müde und bedrückt, und sie dachte, daß Laufen wahrscheinlich wirklich die einzige Möglichkeit war, sich von dem Gefühl tiefster Niedergeschlagenheit zu befreien. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es kurz vor halb neun war. Mittags, so hatte sie für Evelin hinterlassen, würde sie zurück sein.

Ihr blieb reichlich Zeit.

Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und marschierte los.

9

Die steinerne Platte mochte sich nicht bewegen. Sosehr sie schob und zerrte, sie hatte sich um noch nicht einen Millimeter bewegt. Sie konnte doch nicht schwerer geworden sein in der Zeit, die seither verstrichen war? Oder war sie selbst schwächer?

Der Gestank war fürchterlich. Immer wieder drohte er ihr den Magen zu heben, mehr als einmal war sie dicht davor, sich zu übergeben. Die Wärme des Tages verschlimmerte alles. Wie hatte sie das damals ertragen?

Sie hielt einen Moment inne, richtete sich leise stöhnend auf, preßte die Hand ins schmerzende Kreuz. Ihr schwarzes Jeanshemd klebte am Körper und war völlig naßgeschwitzt. Einen Moment lang drohte Panik sie zu überwältigen, als sie daran dachte, daß es ihr vielleicht nicht gelingen würde. Daß sie aufgeben mußte. Daß sie es allein nicht schaffen würde.

Aber sie hatte es damals auch allein geschafft. Irgend etwas mußte sie anders gemacht haben.

Sie setzte sich ins Gras, atmete tief aus und ein, um sich zu beruhigen und Klarheit in ihre Gedanken zu bringen. Sie mußte überlegen. Ganz sicher gab es einen Weg.

Ein leichter, warmer Wind fächelte ein wenig Kühlung heran. Ein herrlicher, intensiver Blütenduft schwang darin mit.

Konnte es einen schöneren Tag als diesen geben?

Sie schloß die Augen.

10

Jessica merkte, daß sie ihre Kondition überschätzt hatte. Sie hätte den direkten Weg von der Farm zum Dorf einschlagen sollen, und selbst dann hätte die Wanderung sie erschöpft. Die Schwangerschaft machte sich bemerkbar, und hinzu kam, daß es inzwischen ein wirklich heißer Tag geworden war. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel, die feuchte Kühle des frühen Morgens hatte sich völlig aufgelöst.

Jessica war einen großen Bogen gelaufen und hatte den Ort aufgesucht, an dem sie Barney aus dem Wasser gefischt und Phillip Bowen zum erstenmal getroffen hatte. Zwischendurch hatte Elena zurückgerufen und tief erleichtert auf die Nachricht reagiert, daß sich Ricarda wohlbehalten auf Keith Mallorys Farm befand.

«Sie haben recht, ich werde vorläufig nichts unternehmen«, hatte sie gesagt.»Vielleicht kann ich irgendwann mit Ricarda telefonieren. Oder sie sogar besuchen. Ich bin so froh, daß es ihr gutgeht! Ich danke Ihnen, Jessica! Ich werde Ihnen das nie vergessen!«

Nun saß Jessica auf dem Hügel im Gras und blickte über das Tal zu ihren Füßen, sah den kleinen Wellen des eilig murmelnden Baches nach. Wie süß, wie sommerlich die Luft roch.

Ich liebe es, dachte sie fast erstaunt, ich liebe dieses Land. Diese Gegend. Die Wiesen, die Weite. Die Hochmoore in ihrer Kargheit, die blühenden Täler. Die Schafe. Die steinernen Mauern, die die Wiesen durchziehen. Die schmalen Straßen, an deren Rändern wilde Blumen wuchern. Die Dörfer aus grauem Stein. Trotz allem, was war, kann ich hier einen fast vollkommenen inneren Frieden finden.

Sie spürte etwas wie Neid, als sie an Ricarda dachte, die von nun an hier leben würde. Die mit dieser Natur verwachsen, ein Teil von ihr werden würde. Die sich durch die langen, kalten und oft schneereichen Winter kämpfen und den Frühling mit tiefer Sehnsucht begrüßen würde, die an Sommertagen wie diesem barfuß durch das leuchtend grüne Gras der Täler laufen und im Herbst den ersten rauhen Winden begegnen würde, die über die Hochebenen jagten. Wie unbeirrt sie ihren Weg gewählt hatte mit welch instinktiver Sicherheit sie gewußt hatte, was sie brauchte und wo sie ihre Heimat finden würde.

Ich wünschte, dachte Jessica, mein eigener Weg würde so klar vor mir liegen.

Sie sah auf die Uhr. Es war fast elf, ganz allmählich mußte sie aufbrechen. Plötzlich war eine eigenartige Unruhe in ihr, und als sie sie zu ergründen suchte, begriff sie, daß es der Gedanke, Stanbury House nicht noch einmal zu sehen, war, der sie quälte. Und daß sie hierher, an diese Stelle, gekommen war, weil sie eigentlich zu dem alten Haus gewollt, es sich aber nicht zugetraut hatte. Es wäre unmöglich für sie gewesen, direkt zum Dorf zu gehen.

Noch einmal schaute sie auf die Uhr, als ob sich innerhalb einer Minute etwas Entscheidendes an der Zeit geändert hätte. Sie mußte sich nicht lange aufhalten, und bis ein Uhr konnte sie trotzdem wieder im The Fox and The Lamb sein.

Und was sollte schon passieren? Wenn sie der Anblick des Hauses nervlich überforderte, konnte sie sofort umdrehen und weglaufen.

Sie straffte die Schultern und schlug die vertraute Richtung ein.

Etwa eine halbe Stunde später erreichte sie den Park von Stanbury House. Sie näherte sich dem Anwesen von der rückwärtigen Seite, durchquerte das kleine Wäldchen, das hier das Grundstück begrenzte, und sah sich dann, als die Bäume sich teilten, unvermittelt dem Haus gegenüber, das, in strahlendes Sonnenlicht getaucht, wie ein idyllisches Postkartenbild aus einer vergangenen Epoche wirkte. Die Terrasse, die morgens immer im Schatten lag, war bereits überflutet von Sonne. Es war ein Tag, an dem man sich einen Sonnenschirm und einen Liegestuhl aufgestellt und viele Stunden mit einem Buch verbracht hätte. Eine fast mediterrane Szenerie, wie sie sehr selten in Nordengland anzutreffen war, aber dann war sie von einem ganz besonderen Reiz.

Zögernd trat Jessica auf die Lichtung hinaus. Das Gras stand hoch, reichte ihr bis fast an die Knie. Jetzt, da sie genauer hinsah, erkannte sie, daß die vermeintliche Idylle bereits von den Anzeichen allerersten Verfalls getrübt wurde. Oder vielleicht eher von den Anzeichen erster Verwilderung. Aber zum Verfall wäre es dann nicht mehr weit. Sie hoffte, daß Leon rasch eine Entscheidung treffen würde, was Stanbury House betraf. Es durfte nicht einfach langsam zugrunde gehen, von Wildnis überwuchert und von den Naturgewalten Stück um Stück zerstört werden. Zerbrochene Fensterscheiben, bröckelnde Mauern, Gestrüpp, das in zerborstene Türen hineinwucherte. Sie konnte es fast vor sich sehen, und es stimmte sie unerwartet traurig.

Langsam durchquerte sie den Garten, näherte sich der Terrasse. Entlang der Balustrade standen die großen Terrakottatöpfe, die Patricia noch am letzten Tag ihres Lebens mit Fuchsien, Geranien und Margeriten bepflanzt hatte. Alle Blumen ließen traurig Köpfe und Blätter hängen, die Erde, in der sie wuchsen, sah staubtrocken aus. Es hatte wohl schon lange nicht mehr geregnet, und niemand kümmerte sich um sie. Einer plötzlichen Eingebung folgend, drehte sich Jessica um und ging in Richtung des kleinen Geräteschuppens, der sich auf der Westseite des Hauses befand. Dort gab es eine große Gießkanne, und sie wußte, daß sich am Kellereingang des

Hauses ein Wasserhahn befand. Sicher hatte niemand das Wasser abgestellt. Sie würde die armen Blumen ausgiebig gießen, und vielleicht würde es dann im Sommer wieder öfter regnen, und sie konnten bis zum Herbst überleben. Aus irgendeinem Grund war ihr dies auf einmal äußerst wichtig.

Als sie um die Ecke des Hauses bog, sah sie unweit des Geräteschuppens eine Gestalt im Gras sitzen, in der sie, nach der ersten Sekunde des Erschreckens und des Impulses, weglaufen zu wollen, Evelin erkannte. Sie runzelte die Stirn. Hatte Evelin, genau wie sie, das Bedürfnis gehabt, Stanbury House noch einmal zu sehen?

«Evelin?«rief sie halblaut.

Evelin wandte den Kopf. Sie schien nicht erschrocken, nicht einmal besonders überrascht.

«Ach, Jessica. Du mußtest wohl auch noch einmal Abschied nehmen?«

Jessica trat neben sie. Es sah idyllisch aus, wie Evelin dort inmitten der blühenden Gräser saß, beschattet von den Zweigen einiger alter Apfelbäume. Sie hielt einen Stapel Papiere in einer grünen Klarsichtfolie auf dem Schoß. Irgendeine vage Erinnerung löste der Anblick dieser Blätter in Jessicas Gehirn aus, aber sie kam nicht sofort darauf, worum es dabei ging.

«Bist du auch zu Fuß hier?«fragte sie.

Evelin schüttelte den Kopf.»Ich habe dein Leihauto genommen. Ist das schlimm? Der Schlüssel lag in deinem Zimmer auf dem Tisch. Eigentlich bin ich hineingegangen, um nach dir zu sehen, aber da du noch nicht zurück warst…«

«Das ist doch kein Problem. Natürlich konntest du das Auto nehmen. Ich bin sogar froh, denn jetzt kann ich mit dir ins Dorf zurückfahren.«

Jessica setzte sich ebenfalls ins Gras, streckte seufzend die Beine von sich.»Gott, ist das warm heute! Ich bin total kaputt.

Ich habe wieder einmal eine endlose Wanderung unternommen und meine Kondition ziemlich überschätzt.«

«Hast du Ricarda getroffen?«

«Die Mutter ihres Freundes war heute morgen bei mir und hat zugegeben, daß Ricarda seit gestern auf der Farm ist. Diesmal konnte sie sich vor mir nicht verstecken. Wir haben geredet, das heißt, in der Hauptsache habe ich geredet. Ihre eisige Distanz mir gegenüber will sie einfach nicht aufgeben. Aber ich bin jetzt viel ruhiger. Es geht ihr gut dort, wo sie ist. Sie hat einen Weg gefunden, auf dem sie die Schrecken vielleicht verarbeiten kann. Man sollte sie diesen Weg gehen lassen.«

«Ich freue mich für sie«, sagte Evelin.»Ich habe sie immer sehr gern gemocht.«

«Sie hat einen sehr sympathischen Mann gefunden. Das ist eine gute Voraussetzung für ein zufriedenes Leben.«

Evelin lächelte.»O ja. Das sollte man nicht unterschätzen.«

Jessica blickte hinauf in den Himmel. Er war von einem überirdischen Blau, und davor leuchteten in einem sehr hellen Grün die Blätter des Apfelbaums. Noch vor einem Monat war er voll schaumiger weißer Blüten gewesen.

Wie schön es ist, dachte Jessica, wie schön es ist, trotz allem, zu leben. Wie schön, daß wir am Leben geblieben sind.

«Wir werden es alle schaffen«, sagte sie,»du und ich, Ricarda und Leon… Wir vier Überlebenden, wir werden es schaffen. Wir werden nicht daran zerbrechen.«

«Glaubst du, es gibt für jeden von uns noch eine Chance?«fragte Evelin.

«Ich bin davon überzeugt. Es gibt immer noch eine Chance, wenn man nur bereit ist, sich nach ihr umzusehen. Wenn man einfach nicht klein beigibt.«

Sie sah Evelin an.»Weißt du, was du als nächstes tun willst?«

Evelin blickte ein wenig zaghaft drein.»Ich weiß nicht, ob es richtig ist Tim gegenüber, aber ich würde gern das Haus in München verkaufen. Ich habe mich darin nie wohl gefühlt. Ich möchte ein altes Haus, verwinkelt und unpraktisch, mit einem verwunschenen Garten. Und dann möchte ich wieder einen Hund, oder auch zwei Hunde.«

«Das finde ich eine wunderbare Idee«, sagte Jessica voller Wärme,»ein Hund ist jetzt genau das Richtige. Ich weiß, wovon ich spreche.«

Evelin schien erleichtert, daß ihr Plan, das Haus zu verkaufen, von Jessica offenbar nicht als Verrat empfunden wurde.»Ja«, sagte sie,»ich hätte mir damals nach dem Tod meines Hundes gleich wieder… aber Tim war dagegen, und… na ja«, sie zuckte mit den Schultern,»dann erfülle ich mir diesen Wunsch eben jetzt. Und weißt du, was? In dem Garten des Hauses, das ich kaufen werde, müssen unbedingt ein paar Apfelbäume stehen. So wie hier.«

«Ich werde dich ganz oft besuchen. Wenn ich darf.«

«Natürlich. Ich möchte nicht, daß unsere Freundschaft einfach zu Ende geht, Jessica. Es wäre schön, wenn wir uns weiterhin sehen könnten.«

«Ich möchte das auch, Evelin. Wir werden einander bestimmt nicht aus den Augen verlieren.«

Sie schwiegen beide eine Weile, gaben sich mit geschlossenen Augen der Wärme der Sonne und den Blütendüften des Gartens hin.

Jessica öffnete die Augen erst wieder, als eine dicke Biene um ihr Gesicht herumbrummte. Sie verjagte das Insekt und setzte sich aufrechter hin.

«Schreibst du einen Brief?«fragte sie mit einem Blick auf die Papiere, die in Evelins Schoß lagen.

Auch Evelin schlug die Augen auf.»Nein. Ich habe etwas gelesen.«

«Dann laß dich nicht stören. Ich…«

Aber Evelin schüttelte den Kopf.»Du störst mich kein bißchen. Ich wollte ohnehin mit dir über diese Aufzeichnungen sprechen.«

«Aufzeichnungen von dir?«

«Von Tim. Die Aufzeichnungen, die er am Morgen des… Tages damals gesucht hat.«

Sie erinnerte sich sofort und wußte nun, weshalb etwas in ihrem Gehirn auf den Anblick des Papierstapels in der hellgrünen Klarsichtfolie reagiert hatte. Sie hatte Tims aufgebrachte Stimme im Ohr:»Ein Stapel Computerausdrucke! Ich suche schon den ganzen Morgen danach!«

«Woher hast du sie? Tim hat sie wie verrückt gesucht an jenem Tag!«

«Ich hatte sie weggenommen und versteckt.«

Evelins Stimme klang gleichmütig.»Und jetzt habe ich sie mir wiedergeholt.«

11

«In der Sickergrube? Wie, um Himmels willen, bist du denn darauf gekommen?«

«Es fiel mir plötzlich ein in der Eile. Ich dachte, da schaut bestimmt niemand nach.«

«Nein, wirklich nicht. Da bestimmt nicht. Lieber Gott, Evelin, wie hast du denn die Steinplatte bewegen können?«

«Die war wahnsinnig schwer. Im Schuppen habe ich eine Eisenstange gefunden, damit konnte ich sie schließlich anheben und herumwuchten. Ich habe die Folie an der Innenseite der Platte mit Dutzenden von Klebestreifen festgemacht. Erstaunlicherweise haben sie gehalten. Aber ich wollte das alles nicht hier lassen, und deshalb bin ich heute noch einmal gekommen.«

«Und hast auf die gleiche Weise…«

«Zuerst habe ich es mit bloßen Händen versucht, aber die Platte war nicht zu bewegen. Dann fiel mir die Stange wieder ein. Und damit ging es.«

«Aber ich verstehe nicht…«

«Am Abend vor dem Unglück hatte ich diese Papiere gefunden. Ich wußte, daß Tim an seiner Promotion arbeitete und damit sehr beschäftigt war. An jenem Abend hat er in unserem Zimmer gesessen und einige Seiten ausgedruckt, aber plötzlich klopfte Leon an und wollte mit ihm sprechen. Vermutlich ging es um dieses Darlehen, das Tim ihm gewährt hatte. Tim war unheimlich scharf darauf, das Geld zurückzubekommen, und deshalb sprang er sofort auf und ging mit Leon in dessen Zimmer hinüber — ohne seine Unterlagen wegzuräumen. Ich hatte auf dem Bett gesessen und gelesen, und als die Sachen so herumlagen…«

Evelin zuckte bedauernd die Schultern.»Ich hätte das natürlich nicht tun dürfen, aber auf einmal packte mich die Neugier, ich stand auf, ging zum Schreibtisch und fing an zu lesen…«

«Und?«

«Es handelte sich um diese Charakterstudien, von denen er am ersten Abend der Ferien hier gesprochen hatte. Erinnerst du dich? Es waren sehr spezielle Studien. Sie hatten euch alle zum Inhalt.«

«Uns? Ich verstehe nicht…«

«Tim hatte immer eine sadistische Art, in der er über andere Menschen sprach, genauer: über sie herzog, das weißt du. Oft genug hat er uns alle ja damit unterhalten. Aber besonders seine Busenfreunde Alexander und Leon haben sicher immer gedacht, daß er sich nie im Leben auf diese Weise über sie oder über ihre Frauen auslassen würde. Daß er diese fragwürdige Leidenschaft an Fremden austobte, aber natürlich nicht an den Menschen, die ihm am nächsten standen.«

«Und doch hat er es getan?«

«Mit Inbrunst. Er ist erbarmungslos über euch alle hergezogen. Es muß ihm einen Heidenspaß bereitet haben. Im Grunde wart ihr prädestiniert als Opfer, denn er kannte all eure kleinen Schwächen und Fehler und Schwierigkeiten… und er hat darin gebadet. Ausgiebig.«

Jessica schluckte trocken. Es war nicht so, daß es sie wirklich überrascht hätte zu hören, daß Tim ein Lump war, denn etwas anderes hatte sie sowieso nie von ihm gedacht. Aber noch im nachhinein tat es ihr weh zu erfahren, daß Alexander von seinem Freund betrogen worden war, daß er eigentlich diesen Freund nie gehabt hatte.

Ein Lügengebilde, dachte sie, wieder und wieder entlarvt sich

das alles als Lügengebilde.

Sie deutete auf die weißen Bögen.»Und du hast alles gelesen?«

«Nein. Bei weitem nicht alles. Es dauerte an jenem Abend nicht lange, bis Tim zurückkam, und ich konnte mich gerade noch rechtzeitig auf mein Bett zurückziehen und meine Neugier vertuschen. Tim war schlechter Laune, schimpfte auf Leon. Der hatte ihm offenbar eine Ratenzahlung angeboten, bei der es Jahre dauern würde, bis Tim sein Geld zurückhätte. Tim fluchte herum, nannte sich einen Trottel, daß er je so idiotisch gewesen war, einem Versager wie Leon soviel Geld zu geben. Er stopfte seine Papiere in die Schreibtischschublade, knallte sie zu.

An diesem Abend konnte ich nichts mehr machen. Aber am nächsten Morgen, als Tim bereits nach unten gegangen war, nahm ich den ganzen Stapel wieder an mich. Ich wollte mich eigentlich irgendwohin zurückziehen und alles in Ruhe lesen, aber unglücklicherweise hatte Tim sich gerade vorgenommen, an seinen vernichtenden Psychogrammen weiterzuarbeiten. Du erinnerst dich, er zog wutschnaubend im Haus herum und suchte nach seinen Unterlagen. Ich konnte es nicht riskieren, von ihm entdeckt zu werden, und mußte rasch ein gutes Versteck für das ganze Zeug finden. Und da… na ja…«

«Da fiel dir die Sickergrube ein. Guter Gott, was für ein scheußliches Versteck!«

«Aber ein sicheres. Nicht einmal die Polizei hat die Papiere gefunden, und die haben ja hier überall das Unterste zuoberst gekehrt.«

«Warum«, fragte Jessica,»hast du Tims Aufzeichnungen nicht einfach in die Schublade zurückgelegt? Oder sonst irgendwohin in euer Zimmer? Ich meine, im wesentlichen wußtest du ja nun, worum es bei seinem Geschreibsel ging. Hat es dich so brennend interessiert, auch noch die letzten Details zu erfahren?«

«Nein. Mich hat es nicht weiter interessiert.«

«Aber…«

«Ich wollte es euch geben. Vor allem Leon und Alexander. Sie sollten es lesen.«

«Was hättest du davon gehabt?«

Evelin sah sie an. In ihre weichen Gesichtszüge, die bislang immer nur Schmerz, nie aber Wut verraten hatten, waren erste Linien der Verbitterung und Unversöhnlichkeit gegraben.

«Gerechtigkeit«, sagte sie,»die habe ich mir erhofft. Ihr hättet nicht länger ignorieren können, was für ein Mensch Tim ist. Und dann hättet ihr mich anschauen müssen. Und vielleicht hätte mir endlich einer von euch geholfen.«

12

Evelin, Dokument VI von Timotheus Burkhard

Ich lernte Evelin im Frühjahr 1991 kennen. An einem sehr kalten Märztag, an dem es plötzlich noch einmal zu schneien begann, nachdem man schon geglaubt hatte, der Winter sei endgültig überstanden. Ich hielt eines meiner ersten Seminare: Methoden, das Selbstbewußtsein zu trainieren, anderen Menschen und den Anforderungen des Alltags positiv zu begegnen. Wie ich mir schon gedacht hatte, strömten mir die Teilnehmer nur so zu. Es ist erstaunlich zu sehen, wie viele Menschen ein Defizit im Bereich der Selbstbehauptung mit sich herumschleppen. Und wie unverdrossen sie bereit sind, viel Geld dafür auszugeben, um sich von diesem Problem zu befreien.

Evelin saß in der letzten Reihe und fiel mir dadurch auf, daß sie noch schüchterner, zurückhaltender und ängstlicher war als der Rest der Gruppe — und es war auch so schon, weiß Gott, eine Ansammlung übelster Graumäusigkeit. Ich bemerkte übrigens zu dieser Zeit, daß die Arbeit mit Versagern — und mit denen hat man es als Therapeut ja ständig zu tun — ungeheure Aggressionen in mir freisetzte. Ein einziges Mal habe ich mir deshalb überlegt, ob ich für mich den richtigen Beruf gewählt habe. Aber mir ist schnell klargeworden, daß ich mich nie davon würde losreißen können. Es gibt mir auch etwas, ihre hoffnungsvollen, verschreckten Gesichter zu sehen. Sie erwarten so viel von mir! Manche sind bereit, sich erstaunlich tief zu demütigen, damit ich ihnen helfe. Und sie öffnen sich ungeheuer weit, geben allerlei Details aus den intimsten Bereichen ihres Lebens von sich. Ich höre mir das an, und manchmal winde ich mich innerlich vor Ekel und Verachtung und — ja, Haß, und gleichzeitig weiß ich, daß es ein Lebenselixier ist, auf das ich nicht verzichten kann.

Ich sah Evelin sofort an, daß es ihr vor nichts so graute wie davor, aus der Menge heraustreten zu müssen, und deshalb rief ich sie sogleich für das erste Rollenspiel auf, das ich vorbereitet hatte. Sie wurde abwechselnd rot und blaß und bekam flackernde Augen. Sie sah mich flehend an, wie ein Tier in einer todbringenden Falle, und ich weiß noch, daß ich hoffte, niemand würde meine Erektion bemerken, die mich jäh befiel und sich natürlich — wie das eben so ist — völlig meiner Kontrolle entzog.

Als Evelin begriff, daß es keinen Ausweg gab, kam sie schließlich nach vorn, auf zitternden Beinen, wie man sehen konnte. Ich griff mir einen zweiten Teilnehmer, einen jungen Mann, der überdimensionale Henkelohren hatte, die der Grund für seine Kontaktschwäche sein mochten. Er wand sich ebenfalls vor Entsetzen, schien aber nicht so verzweifelt zu sein wie Evelin. Die beiden quälten sich durch die Aufgabe, die ich ihnen stellte, und ich beobachtete sie — das heißt, offen gestanden beobachtete ich eigentlich nur Evelin. Sie faszinierte mich ungemein.

Sie war damals, vor zwölf Jahren, eine recht attraktive Person. Zwanzig Jahre alt, blond, sehr schlank. Sie hatte hübsche Beine und hätte etwas aus sich machen können, wenn sie nicht immer mit diesem Bitte-friß-mich-nicht-Gesichtsausdruck herumgeschlichen wäre. Andererseits hätte sie mich dann zweifellos nicht so erregt. Auch nicht so wütend gemacht. Sie wäre mir wahrscheinlich überhaupt nicht aufgefallen. Selbstsichere Frauen haben mich nie interessiert, da ist eine im Grunde so langweilig wie die andere.

Evelin schwitzte ganz furchtbar während des Rollenspiels. Unter ihren Armen breiteten sich immer größere nasse Flecken auf dem Stoff ihres grauen Pullovers aus. Ihr Gesicht war puterrot und glänzte. Sie war den Tränen nahe.

Ich bekam plötzlich Angst, ich könnte zu weit gegangen sein.

Wenn sie nach dieser Erfahrung nun nie wieder in mein Seminar kam? Deshalb rief ich sie am Ende der zwei Stunden noch einmal zu mir. Während die anderen schon zur Tür hinausströmten, trat ich ganz dicht an Evelin heran und nahm ihre rechte Hand in meine beiden Hände. Sie schwitzte immer noch stark.

«Evelin, ich weiß, das war heute sehr schwierig für Sie«, sagte ich sanft und sah sie eindringlich an.»Aber Sie sind eindeutig die Teilnehmerin mit den größten Problemen, das habe ich sofort bemerkt. Deshalb kümmere ich mich verstärkt um Sie. Verstehen Sie das?«

Sie nickte und kämpfte mit den Tränen.

Ich bemühte mich, von dem Widerwillen gegen die glitschige, schlaffe Hand, die wie ein halbtoter Fisch zwischen meinen Fingern zuckte, nicht überwältigt zu werden.

«Sie sollten keinesfalls aufgeben. Ich denke, Sie befinden sich in einer sehr schwierigen Lebenssituation, und es ist sehr entscheidend für Sie, gerade jetzt die richtigen Weichen zu stellen.«

Sie konnte mir kaum in die Augen sehen. Natürlich hatte sie bereits beschlossen, nie wieder dieses schreckliche Seminar zu besuchen.

«Was hat Sie veranlaßt, hierherzukommen?«fragte ich sachlich.

«Mein… mein Therapeut«, antwortete sie mit Piepsstimme.»Er meinte, ich solle versuchen, mich mehr unter Menschen zu begeben. Ich habe ihm gesagt, daß das schwierig ist, weil mir andere Menschen Angst machen. Sie sind so selbstsicher und stark… und, na ja, wir haben dann gemeinsam überlegt, daß es vielleicht ein guter Anfang wäre, mich Menschen anzuschließen, die ähnliche Probleme haben wie ich. Dann fiel mir ein Prospekt über dieses Seminar in die Hände, und…«

«…und da beschlossen Sie, den Stier bei den Hörnern zu packen. Ein großer, ein mutiger Schritt. Wäre es nicht zu schade, wenn wir jetzt gleich wieder schwach würden?«

Ich drückte ihre Hand ein wenig. Ich lächelte sie an. Sie sehnte sich nach Wärme und Zuwendung, ja sie verzehrte sich geradezu danach. Ich hatte gewonnen, wenn sie zu der Überzeugung gelangte, von beidem etwas bei mir finden zu können.

Tatsächlich kam sie wieder. Ich ließ sie ein paar Stunden lang völlig in Ruhe, obwohl es mir ungeheuer schwerfiel, aber sie sollte sich sicher fühlen. Als ich deutlich merkte, daß sie sich entspannte, setzte ich sie, für sie völlig unerwartet, in einer sehr schwierigen Übung ein. Sie kam überhaupt nicht zurecht und empfand den Vorgang als wahnsinnig blamabel, wie sie mir später unter Tränen erzählte. Ich aber lobte sie, sagte ihr, daß ich sehr zufrieden mit ihr sei, und lächelte ihr gelegentlich während der Seminarstunden zu. Sie fing an, mein Lächeln zaghaft zu erwidern. Es war passiert, was ich beabsichtigt hatte: Sie brauchte mich, sie machte mich zum emotionalen Mittelpunkt ihres Lebens.

Wir heirateten im Juli 1992, also fast eineinhalb Jahre nach unserer ersten Begegnung. Leon und Alexander fungierten auf meine Bitte hin als Trauzeugen. Sonst war niemand anwesend. Evelin hatte keine Freunde, und sie hatte auch keine Familie mehr. Ihr Vater sei vor Jahren an einem Infarkt gestorben, hatte sie mir erzählt, und ihre Mutter habe mit diesem Schicksalsschlag nicht fertigwerden können und sei wegen ihrer schweren Depressionen in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik.

«Laß sie uns doch besuchen«, hatte ich kurz vor der Hochzeit vorgeschlagen,»und ihr von uns erzählen!«

Aber das wollte Evelin nicht, auf keinen Fall. Sie begann — natürlich — zu heulen, als ich drängte, und so ließ ich vorläufig von diesem Ansinnen ab.

Nach der Hochzeit begann ich mich immer öfter zu fragen weshalb ich geglaubt hatte, Evelin unbedingt heiraten zu müssen. Sie sah ganz niedlich aus, aber es gibt Frauen, die sind weit attraktiver als sie. Ihr Äußeres war nicht der Grund, ganz sicher nicht. Ich glaube, es war der Umstand, daß sie von mir abhängig war, der mich so reizte, ja der mich fast süchtig danach machte, meine Macht über sie immer wieder neu auszuprobieren. Sie war mir ausgeliefert, die Frage, ob ein Tag gut oder schlecht für sie verlief, wurde einzig von mir entschieden. Ich konnte ihr schon beim Frühstück mit Kälte und Schweigen begegnen, und schon verwandelte sie sich in einen winselnden Hund, der verzweifelt um ein wenig Zuwendung bettelt. Sie kroch geradezu auf dem Bauch hinter mir her, bemüht, alles richtig zu machen, ein Lächeln in meine Züge zu zaubern, ein gutes Wort von mir zu hören. Wenn es mir gefiel, gab ich ihr plötzlich und unerwartet, was sie wollte — und erlebte eine Frau, die vor Dankbarkeit und Erleichterung bereit gewesen wäre, meine Fußsohlen zu lecken, hätte ich es gefordert. Manchmal allerdings bereitete es mir auch einen besonderen Spaß, sie ein paar Tage schmoren zu lassen und zu beobachten, was diese Behandlung aus ihr machte. Sie wurde zum Wrack, innerhalb von vierundzwanzig Stunden, man konnte zuschauen, wie es mit jeder Minute schlimmer wurde. Von irgendeinem Zeitpunkt an konnte sie kein Salzfaß mehr in der Hand halten, weil sie so zitterte. Sie konnte nicht mehr ans Telefon gehen, weil ihre Stimme brach, wenn sie nur ihren Namen sagte. Schließlich schloß sie sich im Bad ein und kotzte sich fast die Seele aus dem Leib.

Und ich?

Ich wußte, daß es mich nicht mehr Aufwand als das Umlegen eines Lichtschalters kosten würde, ihre Qual zu beenden, und daß ich den Zeitpunkt allein bestimmen konnte. Das machte mich… wie soll ich es nennen? Ich war süchtig danach. Es war ein Spiel, ein Kick, es war absolut das Größte. Ich mußte es immer wieder haben.

Und deshalb, denke ich, habe ich diese Frau geheiratet. Sie gehört zu den Menschen, die schon als Opfer auf die Welt kommen. Und es dann auch lebenslang bleiben. In gewisser Weise, und das erschreckt mich manchmal, bin ich von ihr so abhängig wie sie von mir. Ich könnte es nicht ertragen, sie zu verlieren.

Was mich vom ersten Tag unserer Ehe an nervte und bis heute nervt, ist ihre Anhänglichkeit an Dr. Wilbert. Ihr Therapeut. Nach der Hochzeit sagte ich ihr, sie solle doch bei Wilbert aufhören, schließlich sei sie ja nun mit einem Psychologen verheiratet. Ich schenkte ihr einen Hund, einen bildschönen Schäferhund, damit sie jemanden hatte, für den sie sorgen, mit dem sie sich beschäftigen konnte, und ich hoffte, dies würde ihr die Abnabelung von Wilbert erleichtern. Sie schaffte es nicht. Es gab in den letzten Jahren immer wieder diesbezüglich Versuche von ihr, auf meinen massiven Druck hin, aber sie wurde stets rückfällig. Zeitweise suchte sie ihn, glaube ich, sogar heimlich auf. Ich konnte es nicht riskieren, ihr zu sagen, sie solle sich doch bei mir in Behandlung begeben, denn das wäre, nach allen therapeutischen Regeln, völlig abwegig gewesen. Sie hätte es Wilbert garantiert erzählt, und ich konnte es mir nicht leisten, innerhalb meiner Berufskollegen zum Außenseiter zu werden. Die meisten können mich ohnehin nicht leiden. Klar, ich habe unheimlich viel Erfolg. Ich verdiene klotzig. Meine Patientinnen hängen wie die Kletten an mir. So etwas gebiert Neid.

Es gab ein Problem, das unseren Alltag zunehmend belastete, und das war jener der Verachtung entspringende Haß, den ich auf schwache Menschen habe und mit dem ich auch meinen Patienten gegenüber ständig kämpfen muß. Sosehr diese Menschen jenen Kitzel in mir auslösen, der mein Leben lebenswert macht, so unvermeidlich lösen sie auch Wut und Abneigung, ja ich möchte fast sagen: Ekel, tiefsten Ekel, in mir aus. Es ist immer wieder das gleiche Phänomen, und es macht diesen Beruf, den ich so liebe, oft recht schwierig für mich. Manchmal kann ich es fast nicht aushalten, mit einer dieser Jammergestalten in einem Raum zu verharren, so heftig ist die fast physisch spürbare Abscheu. In der Regel werde ich aber die Person nach fünfzig Minuten los, und auch ein Seminar dauert nie länger als zwei Stunden. Zeit und Gelegenheit, mich zu regenerieren.

Aber Evelin, die jämmerlichste aller Jammergestalten, hatte ich nun immer um mich. Morgens und abends und an den Wochenenden, in den Nächten, in den Ferien. Sie war meine Frau! Sie ist meine Frau. Ich kann sie nicht nach fünfzig Minuten aus dem Raum schicken, die Fenster weit aufreißen, tief durchatmen und den Ekel und den Haß langsam in mir abklingen lassen.

Ekel und Haß. Ja. Das war es, was ich immer stärker für Evelin empfand in den ersten Jahren unserer Ehe. Es ist das, was ich heute für sie empfinde. Manchmal sind Ekel und Haß stärker als das Wohlgefühl, das mir ihre Abhängigkeit verschafft. In solchen Momenten quält mich das Gefühl, mit dieser Heirat ein schlechtes Geschäft gemacht zu haben. Wobei ich mir dann immer wieder sage, daß ich vielleicht eine anders strukturierte Person gar nicht hätte heiraten können. Ich brauche mir nichts vorzumachen: Letztlich ist es ein sexueller Reiz, den mir diese psychisch schwerstlabilen Frauen vermitteln. Und ganz sicher wäre ich nicht mit einer Frau zum Standesamt gegangen, die diesen Reiz nicht auf mich ausübt. Wenn also nicht Evelin, so wäre ich doch immer an einer Frau ihres Schlages hängengeblieben. Und hätte mich immer mit dem gleichen Dilemma konfrontiert gesehen.

Vielleicht bin ich das Problem. Nicht Evelin.

Obwohl sie schon ein spezieller Fall ist. Ein ganz spezieller. Wenn auch Dr. Wilbert ihr großer Vertrauter war und ist, so konnte es nicht ausbleiben, daß auch wir Gespräche miteinander führten, und als Psychologe bin ich versiert genug, die Dinge von den Menschen zu erfahren, die ich erfahren will. Evelin ist mir intellektuell im allgemeinen und rhetorisch im speziellen überhaupt nicht gewachsen. Letztlich kam sie nicht umhin, mir meine Fragen zu beantworten.

Evelins Vater war Schriftsteller. Einer, den niemand kennt, der aber entweder so von sich überzeugt war oder so von Leidenschaft erfüllt, daß er trotz des ausbleibenden Erfolgs nicht aufhören konnte, in seiner brotlosen Kunst zu verharren. Er hatte aus dem Familienbesitz ein Haus geerbt und eine nicht unbeträchtliche Summe Geld, so daß es ihm gelang, Frau und Tochter auch ohne eigenes Einkommen leidlich über Wasser zu halten. Das Haus war eine uralte, völlig verwohnte Villa mit knarrenden Fußböden, Fenstern, die nicht mehr richtig schlossen, defekten Wasserleitungen und einem Garten drumherum, der die Bezeichnung Urwald verdient hätte. Aus unerfindlichen Gründen hing Evelin mit Leib und Seele an dieser Bruchbude und trauerte ihr auch später noch nach: Sie wollte immer, daß wir ein Haus in dieser Art kaufen, ein Ansinnen, gegen das ich mich natürlich vehement und erfolgreich zur Wehr setzte.

Das Schlimme an Evelins Vater war nicht so sehr sein berufliches Scheitern an sich, sondern das, was die ununterbrochene Frustration aus ihm machte. Er begann zu trinken, und er wurde zunehmend gewalttätig. Nicht gegen Evelin, aber gegen seine Frau. Ich habe meine Schwiegermutter nie kennengelernt, aber nach allem, was ich von ihr gehört habe, muß sie ein unterwürfiges Mäuschen gewesen sein. Attraktiv, wenig selbstbewußt, ihrem unfähigen Mann zutiefst ergeben. Eine jener Frauen, die meinen, ihr Leben lang dankbar sein zu müssen, daß sie überhaupt einen Mann gefunden haben, selbst wenn sie von ihm schikaniert werden. Ganz sicher hat sie Evelins Frauenbild geprägt, und ihr Verständnis von einer Beziehung sowieso.

Evelins Vater muß Tobsuchtsanfälle von wirklich beängstigendem Ausmaß gehabt haben. Er warf mit allen Gegenständen um sich, die ihm in die Hände fielen, selbst Stühle und sogar Tische waren nicht vor ihm sicher. Er riß Vorhänge zu Boden, zertrümmerte die Glastüren von Schränken, riß Stromkabel samt Steckdosen aus den Wänden. Zeitweise muß es in der Villa ausgesehen haben, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Er war sturzbetrunken, klagte Gott und die Welt an, weil wieder irgendein Verleger eines seiner genialen Werke abgelehnt hatte. Seine maßlose Wut verlangte nach immer neuen Ventilen. Und da bot sich natürlich seine Ehefrau an.

Irgendwie kann ich ihn verstehen. Die Welt der deutschen

Verlage hatte sich gegen ihn verschworen, und da stand sie, naiv und dümmlich, und verstand nichts von seiner Tragik. Gebärdete sich unterwürfig und reizte ihn damit nur noch mehr. Lächelte ihn zaghaft an, im völlig falschen Moment, sagte mit Zitterstimme irgendwelche Dinge, die total daneben waren… Kein Wunder, daß er ihr irgendwann eine reinhaute. Und damit war der Damm gebrochen. Vermutlich gab es irgendwann auch kaum noch etwas im Haus, das er kaputtmachen konnte. Nur noch seine Frau.

Evelins Mutter.

Die Frau muß heute ein Meisterstück chirurgischer Kunstfertigkeit sein, denn es gibt wohl so gut wie nichts in ihrem und an ihrem Körper, was ihr Mann nicht zerschlagen hätte und was nicht von den Ärzten wieder zusammengeflickt worden wäre. Das Nasenbein zertrümmert, sämtliche Rippen, Finger, Handgelenke, Schlüsselbein gebrochen, die Zähne ausgeschlagen; sie war wegen eines Milzrisses im Krankenhaus, wegen mehrerer Gehirnerschütterungen, wegen eines geplatzten Trommelfells, und schließlich wäre sie noch fast verblutet, nachdem er ihr ein Messer in den Oberschenkel gerammt hatte. Ich vermute, daß sie von den Ärzten heftig gedrängt wurde, ihren Mann anzuzeigen, aber da er nie zur Rechenschaft gezogen wurde, deckte sie ihn wohl beharrlich. So sind diese Art Frauen. Ich habe genügend davon unter meinen Patientinnen. Die würden noch mit einem Bauchschuß auf allen vieren ins Krankenhaus robben und erklären, den hätten sie sich beim Reinigen einer Waffe versehentlich selbst zugefügt.

Es ist keineswegs so, daß mir Evelin dies alles einfach erzählte. Sie schwärmte nur von dem verwinkelten, romantischen Haus und dem herrlichen Garten und hielt an der Überzeugung fest, ihr Vater sei ein genialer, aber verkannter Schriftsteller gewesen.

«Er hatte nie Geld«, sagte sie einmal,»und ich glaube, darüber ist Mama depressiv geworden.«

Daß ich nicht lache! Die Alte ist keineswegs depressiv, wie ich heute weiß. Schließlich bin ich in der Branche nicht ohne Verbindungen, und ich habe Erkundigungen eingezogen. Meine Schwiegermutter sitzt im Irrenhaus, das ist die Wahrheit. Mein Schwiegervater hat ihr das Spatzenhirn aus dem Kopf geprügelt, und man mußte sie einsperren, weil sie sonst zu einer Gefahr für die Allgemeinheit geworden wäre. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist, brabbelt konfuses Zeug vor sich hin, und sowie sie die Gelegenheit hätte, würde sie alles anzünden, was ihr in den Weg kommt: Häuser, Autos, Bäume, Tiere. Sie faselt etwas von der reinigenden Kraft des Feuers. Zum Glück wird kein Arzt der Welt sie dort, wo sie jetzt ist, wieder rauslassen.

Vor ein paar Jahren — es muß gewesen sein, kurz bevor Evelin damals schwanger wurde — hatte der gute Dr. Wilbert seinen entscheidenden Durchbruch in Evelins Therapie. Evelin erinnerte sich plötzlich der Hölle, in der sie groß geworden war, beziehungsweise sie hörte auf, die Erinnerung zu verdrängen. Es war wohl so, daß sie immer wieder davon gesprochen hatte, ihre Kindheit im wesentlichen in der Küche ihres Elternhauses verbracht zu haben, und im wesentlichen hieß in diesem Fall: außerhalb der Schulzeit praktisch jede Minute. Heute ist sie ein Fettkloß, und eine solche Aussage entbehrt nicht einer gewissen Komik, aber wie ich sagte, ich lernte sie als ein ziemlich dünnes Ding kennen, und auf den paar Fotos, die es aus ihren Kinderjahren gibt, sieht sie fast unterernährt aus. Sie kann sich kaum mit Fressalien vollgestopft haben, es sei denn, sie wäre an Bulimie erkrankt gewesen, was ich zeitweise vermutet hatte und womit ich — offen gestanden — falsch lag.

Jedenfalls stellte sich nun also heraus, daß die Tatsache, daß man in jenem Haus durch die Küche in den Garten hatte gelangen können — früher wurden Häuser häufig so gebaut —, von entscheidender Bedeutung war. Irgendwie hatte Evelin wohl in ihren Therapiestunden immer wieder einen Zusammenhang hergestellt zwischen ihren Aufenthalten in der Küche und der romantischen, steinernen Treppe, die von dort in den Garten führte. Aber es brauchte Jahre, bis sie sich der Tatsache stellte, daß sie in der Treppe ihren einzigen Fluchtweg gesehen hatte, wenn ihr Vater die Kontrolle über sich verlor und ihre Mutter binnen weniger Minuten in ein zerschlagenes, wimmerndes, um Erbarmen flehendes Bündel Elend verwandelte. Evelin saß zitternd in der Küche, sprungbereit, die Tür im Auge.

So war es gewesen. Und nun wußte sie es. Und mußte sehen, wie sie damit fertig wurde.

Sie ging in dieser Zeit noch öfter zu Wilbert, so oft, daß ich ernsthaft überlegte, ihr diesen Umgang zu verbieten. Ich hätte sie dazu bringen können, mit Liebesentzug brachte man sie zu allem, aber es ging ihr beschissen, nachdem ihr Verdrängungsmechanismus nicht mehr funktionierte, und ich dachte, Wilbert soll ausbaden, was er angerichtet hat, warum soll ich mich mit einer ewig heulenden, durchgeknallten Depressiven herumschlagen? Geschehnisse aus ihrer Kindheit und Jugend brachen nun wie Sturzbäche aus ihr hervor, und manchmal wurde selbst mir ganz schwindlig dabei. Ich meine, ich hatte gewußt, daß da vieles früher passiert sein mußte bei ihr, umsonst ist eine junge Frau nicht derart schüchtern und verklemmt und bereit, eine ewige Opferrolle zu spielen; aber nun begann ich ein wenig Angst zu bekommen. Hoffentlich kriegte Wilbert, der alte Scharlatan, dieses kaputte Geschöpf halbwegs in den Griff. Ich hatte, weiß Gott, keine Lust, plötzlich eine Kopie ihrer Mutter an der Hacke zu haben!

Obwohl es ihr nicht gutging, durchlebte sie zweifellos im Aufarbeiten ihrer Kindheit eine gewisse Selbstbefreiung, und das mochte manche Verkrampfung in ihr lösen, jedenfalls wurde sie plötzlich schwanger, nachdem sie zuvor jahrelang vergeblich darauf gehofft hatte. Sie flippte schier aus vor Glück, und auch ich freute mich zunächst, als ich davon hörte. Ich hatte Kinder nicht direkt in mein Leben eingeplant, aber ich hatte auch nichts dagegen. Doch dann nahm Evelin eine Entwicklung, die mir zunehmend mißfiel: Mit jedem Monat, den das Baby in ihrem Bauch wuchs, entfernte sie sich von mir. Es war, als nehme das ungeborene Wesen immer mehr meinen Platz ein, den Platz der Bezugsperson, es wurde zu ihrem Mittelpunkt, zum Wärmespender, zum Objekt ihrer Zuneigung und Liebe und Hingabe. Sie sang dem kleinen Geschöpf Lieder vor und redete mit ihm und benahm sich überhaupt absolut schwachsinnig, aber was mich am meisten ärgerte, war die Tatsache, daß sie sich, was mich betraf, um überhaupt nichts mehr scherte. Sie war immer wie ein scheues, kleines Hündchen um mich herumgeschlichen und hatte versucht, meine Stimmung, meine Laune auszuloten und sich entsprechend zu verhalten, um keinen Unwillen zu erregen; ein sehr typisches Verhalten für Frauen, die in einem gewaltgeprägten Umfeld groß geworden sind. Nun auf einmal war ihr meine Befindlichkeit gar nicht mehr so wichtig, sie achtete kaum noch auf mich. Sie wachte mit dem Gedanken an das Baby auf und schlief damit ein. Ich erreichte sie nicht mehr. Sie hatte sich mir entzogen.

Ich kam damit ausgesprochen schlecht zurecht, war frustriert und auf gewisse Weise auch verunsichert und hatte den Eindruck, daß unsere Beziehung eine sehr negative Entwicklung nahm. Wer weiß, wie es zwischen uns ausgegangen wäre. Aber dann entschied das Schicksal. Im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft verlor Evelin das Kind.

Ich hatte sie wieder.

Allerdings wurde Evelin mit dem Verlust natürlich nicht fertig. Am Anfang hielt ich das für normal, aber nach einem Jahr war sie noch genauso verzweifelt wie in den ersten Tagen nach der Notoperation, bei der man ihr Leben gerettet hatte und das des Kindes hatte aufgeben müssen. Das Leben mit ihr wurde zunehmend schwieriger und unerfreulicher. Sie heulte noch mehr als früher, versenkte ihren Kummer in Freß- und Einkaufsorgien. Das heißt, sie hockte entweder vor dem Kühlschrank (die Küche hatte sie eingeholt, war wieder ihr bevorzugter Aufenthaltsort geworden) und schaufelte alles in sich hinein, was sie finden konnte, oder sie trieb sich in den besten Boutiquen der Stadt herum und kaufte sich mehr Klamotten, als ein Mensch jemals tragen konnte. Kurz gesagt: Sie wurde fett und teuer. Letzteres störte mich nicht so sehr,

ich verdiene sehr viel Geld, und ich empfinde es als durchaus schmeichelhaft, wenn meine Frau Kleider trägt, denen man ansieht, daß sie ein Vermögen gekostet haben. Was mich sehr viel mehr ärgerte und bis heute ärgert, ist der Verlust von ihrem letzten bißchen Attraktivität. Sie ist vollkommen aus dem Leim gegangen. Ganz gleich, welchen Fummel sie an sich hängt, er macht sie nicht schöner. Sie ist unterwürfig und ergeben und somit nach wie vor ein spannendes Objekt, aber ich bin eben auch ein Mann. Ich würde meine Frau gelegentlich auch einmal gern ansehen.

Ich fange an, mir Sorgen zu machen.

Wie ich bereits schrieb, begann sich Evelin mit dem Verlust des Babys zu verändern, was zunächst vor allem in Äußerlichkeiten sichtbar wurde: das wilde Einkaufen, das hemmungslose Fressen. Natürlich verstärkten sich auch ihre Depressionen, aber das ist nicht weiter verwunderlich. Aber seit gut einem halben Jahr ist da etwas anderes, etwas, das selbst ich, der ich tief vertraut bin mit jedem nur denkbaren Aspekt der menschlichen Psyche, kaum auszuloten vermag.

Ich würde es vielleicht so beschreiben: Etwas arbeitet in Evelin. Etwas in ihr ist angestoßen worden, ein Gedanke, eine Idee, eine Vorstellung, ein Bild. Dieses Etwas hat sich in Bewegung gesetzt und geht seinen Weg. Möglicherweise kann Evelin es nicht mehr steuern, zumindest kann sie es vermutlich nicht mehr anhalten.

Es ist spürbar. Ich sehe die Veränderung in ihren Augen. Ich höre sie in ihrer Stimme. Ja, fast kann ich sie riechen. Evelin riecht anders. Sie hat immer nach Angst gerochen, was mich ungemein stimuliert hat, aber nun mischt sich etwas Neues in ihren Geruch. Möglicherweise sind es erste Ansätze von Rebellion.

Rebellion und Evelin sind zwei Begriffe, die einander ausschließen, und da beginne ich vielleicht, mich so unwohl zu fühlen. Es gibt Tiere, die, wenn sie anhaltend gequält, ihrer natürlichen Lebensform entrissen und in depressives Erdulden gezwungen werden, ihren Selbstmord planen. Sie beschließen zu sterben, und sie setzen diesen Entschluß mit erstaunlicher Konsequenz um. Sie hören auf zu essen und zu trinken, legen sich in eine Ecke und warten auf den Tod. In all ihrer Unfreiheit, ihrer Entrechtung, ihrer Unterdrückung erobern sie sich damit ihr Recht auf Selbstbestimmung, ja ihre Würde zurück. Instinktiv begreifen sie, daß ihnen in all ihrer scheinbaren Ausweglosigkeit dieser eine Weg bleibt. Sie triumphieren über ihre Peiniger. Sie berauben sie jeglicher Macht über sie.

Ich glaube, etwas Ähnliches an Evelin zu sehen. Zweifellos verspricht sie sich vom Leben keine Verbesserung mehr, und es mag sein, daß ihre Gedanken eine Richtung einschlagen, die ihr Erlösung und mir eine besondere Qual bringen soll. Mit einem Suizid, so mag sie sich vorstellen, würde sie ihr größtes Problem — das Leben — lösen, und zugleich — und einen derart perfiden Gedanken traue ich ihr bei all ihrer Naivität durchaus zu — würde sie mir einen Schlag versetzen, von dem mich zu erholen ich viele Jahre brauchen würde: Sie entzöge mir die Kontrolle über sich. Sie wäre unerreichbar für mich. Ich müßte in dem Gefühl leben, ein Verlierer zu sein, keine Chance zu haben, die Situation wieder zu meinen Gunsten umkehren zu können. Am Ende hätte sie gewonnen.

Ich beobachte sie sehr genau. Ständig und in höchster innerer Alarmbereitschaft. Selbstverständlich höre ich nicht auf, ihr zu sagen oder zu bedeuten, wer sie ist und was sie ist. Ich glaube, in hundert Jahren könnte ich damit nicht aufhören. Vielleicht kitzelt mich im Moment auch das Gefühl, eine Situation bis zum Äußersten auszureizen. Ich gehe an die Grenze. Wann treibe ich es zu weit? Wann tut sie den Schritt, den ich fürchte und den herbeizuführen ich doch mithelfe?

Könnte es mir eine Befriedigung geben, derjenige zu sein, der den Auslöser betätigt? Wäre ein Selbstmord Evelins dann noch ein Selbstmord? Wäre er nicht in Wahrheit von mir gesteuert?

Ich kann Dinge sagen, die sie in den Wahnsinn treiben. Tue ich es, kann ich dann glauben, ich habe sie bis zuletzt gelenkt?

Wie schwer ist es, dies vorauszusehen. Wie unsagbar schwer.

13

Sie hatte in die Gedankenwelt eines Geisteskranken geblickt, und ihr war schwindlig geworden angesichts des Abgrunds, der sich vor ihr auftat.

Sie saß unter den Apfelbäumen im Gras, an diesem überirdisch schönen englischen Frühsommertag, ein paar Bienen brummten um sie herum, Schmetterlinge und gepunktete Junikäfer schaukelten durch die Luft, und die Idylle war von einer beinahe unwirklichen Vollkommenheit.

Sie aber hatte dem Grauen selbst in seine angsterregende Fratze geschaut.

Was Alexander und Leon, seine Freunde, anging, so hatte Tim Gift und Galle gespuckt, er hatte die Menschen, die er seit frühester Jugend kannte, lächerlich gemacht, erniedrigt, hatte in ihren Wunden gebohrt, hatte ihre Schwachstellen voller Genuß analysiert, war abwechselnd zynisch, roh, brutal oder auch nur einfach gemein gewesen. Von einer Warte abscheulicher Überheblichkeit aus hatte er mit einem häßlichen Grinsen, das zwischen allen Zeilen erkennbar durchblickte, das Material seziert, das er vor sich ausgebreitet hatte, und wenn ein einziges Gefühl für seine Freunde bei all dem übrigblieb, so war es Verachtung. Tiefste, in ihrer Kälte schockierende, grausame Verachtung.

«Ich weiß nicht, ob ich das lesen möchte«, hatte sie abgewehrt, als Evelin ihr die Papiere auf den Schoß schob und aufstand, aber Evelin hatte in einer für sie ungewöhnlichen Festigkeit, die keinen Widerspruch zu erlauben schien, darauf beharrt.

«Lies es. Lies wenigstens du es. Damit einer weiß, mit wem ihr es zu tun hattet.«

«Hast du es denn schon zu Ende gelesen?«

«Nein. Aber ich weiß genug. Wer die ersten Seiten kennt, kennt auch den Rest.«

«Wohin gehst du?«

«Ich will ein paar von meinen persönlichen Sachen im Haus zusammenpacken. Heute oder morgen werden wir dann nach Deutschland zurückfliegen, und ich komme sicher nie wieder hierher.«

«Du hast deinen Schlüssel noch? Die Polizei hat das Haus aber noch nicht freigegeben!«

Zu Jessicas Überraschung hatte die für gewöhnlich äußerst obrigkeitshörige Evelin nur mit den Schultern gezuckt.»Na und? Ich möchte die Dinge haben, die mir gehören. Die Polizei hat ohnehin einiges an mir gutzumachen.«

Sie war in Richtung des Hauses davongegangen, aufrechter als sonst, und Jessica hatte gedacht: Ihren Mann zu enttarnen gibt ihr Kraft. Die Gerechtigkeit, die sie zu finden hofft, macht sie stärker.

Tim war ein Psychopath gewesen, das war Jessica nun klargeworden. Das Unbehagen, das sie ihm gegenüber stets verspürt hatte, hatte sie nicht getäuscht. Er war krank gewesen, wirklich krank. In absurde Ideen und Vorstellungen verstrickt, von dem Wahn besessen, andere Menschen manipulieren und bestimmen zu müssen. Er hielt sich für einen begnadeten Psychologen — und war in Wahrheit ganz und gar beherrscht gewesen von seinen eigenen Neurosen, Begierden und Ängsten. Er hatte weder Freunde noch eine Lebenspartnerin gebraucht, sondern lediglich Opfer gesucht. Er hatte diese Opfer eng um sich scharen, sich ihrer ständig vergewissern müssen. Im nachhinein war Jessica fast überzeugt, daß die zwanghafte Nähe unter den Freunden in Wahrheit von Tim gesteuert worden war, wenn auch zu subtil, als daß es spürbar gewesen wäre. Leon und Alexander waren einfach ideal gewesen für ihn, ideales Futter für seine Bedürfnisse: Leon, der von seiner Frau untergebuttert wurde und es nicht schaffte, beruflich etwas auf die Beine zu stellen; und Alexander, der noch als Vierzigjähriger vor seinem Vater zitterte und dem die Frauen wegliefen.

Opferlämmer, genau wie Evelin. Menschen, die es nicht schafften, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Tim hatte sich geweidet an ihnen, war ihnen mit väterlichen Ratschlägen beigesprungen oder auch einmal mit einer echten Hilfeleistung, wie im Falle Leons, dem er ein ansehnliches Darlehen gewährt hatte, um ihn später genau damit immer wieder zu demütigen. Sie erinnerte sich, wie sie die beiden am ersten Abend der Osterferien durch den Park hatte kommen sehen. Leon, der heftig — wie sie heute wußte: verzweifelt — auf Tim einredete. Und Tim, der mit finsterer Miene lauschte, schweigend, dem anderen in seiner Not mit keinem versöhnlichen Wort, mit keiner Geste entgegenkommend. Welch eine tiefe Labsal mußte es für ihn gewesen sein. Dafür hatte er vermutlich sogar einen möglichen Verlust seines Geldes gern hingenommen.

Aber sich wirklich ausgelebt, das perfide Spiel auf die Spitze getrieben, hatte er bei Evelin. Eine junge Frau, gerade dem Martyrium einer von schrecklicher Gewalt beherrschten Jugend entflohen, begab sich in seine Hände, um nach allem, was ihr widerfahren war, ein neues Leben zu finden, geheilt zu werden von ihren Ängsten und Heimsuchungen, während er in ihr nur das perfekte Opfer sah, das Wesen, auf das er gewartet hatte, um seine eigenen Krankheiten ausleben, seine perversen Neigungen befriedigen zu können.

Es erschien ihr unfaßbar, wie ein Mann, der in seiner Frau — oder in irgendeinem anderen Menschen — Anzeichen einer ernsten Suizidgefahr zu erkennen glaubte, dies in allererster Linie als eine Gefahr für sich selbst werten konnte: als Gefahr, sein Opfer zu verlieren, das es möglicherweise wagen würde,sich seiner Tyrannei durch diesen letzten, verzweifelten Schritt zu entziehen. Tim hatte offenbar vor allem die Frage beschäftigt, ob es ihm gelingen könnte, diesen Schritt zu steuern. In seinem Wahn hätte ihm dies ein Triumphgefühl geben, eine Bestätigung, daß Evelin sein Geschöpf war und sich ihm bis zum Ende nicht hatte entziehen können.

Sie schauderte vor Ekel, schob die Papiere in die Hülle zurück. Den Teil, der mit Jessica, Dokument V überschrieben war, hatte sie nicht gelesen. Sie wollte nicht wissen, was Tim über sie gedacht hatte. Sie wollte sich nicht übergeben müssen.

Sie erhob sich. Sie hatte so lange völlig verkrampft im Gras gesessen, daß ihr die Knochen weh taten, und mit einem leisen Seufzen reckte und streckte sie sich.

Wieviel Zeit mochte vergangen sein? Sie sah auf die Uhr. Es war zehn vor eins, fast eine Stunde lang hatte sie gelesen. Von Evelin hatte sie nichts mehr gesehen oder gehört.

Das Haus, an dessen Westseite sie sich befand, erschien ihr plötzlich bedrohlich in seiner völligen Stille. Dunkel und düster erhob es sich vor dem blauen Himmel. Hinter den Fenstern war nichts zu erkennen, kein Schatten regte sich, kein Vorhang bauschte sich. Alles wirkte leer und verlassen. Als sei kein Mensch mehr in der Nähe.

Sie fragte sich, ob Evelin so lange packen konnte. Ein paar von meinen persönlichen Sachen, hatte sie gesagt. Warum war sie nicht längst wieder erschienen? Oder saß sie da drinnen irgendwo, starrte die Wände an, erinnerte sich der Dinge, die in diesem Haus geschehen waren, der Stimmen, die sie gehört, der Bilder, die sie gesehen hatte? Bewegte sie sich durch die Räume wie schlafwandelnd, benommen von all dem, was sich hier abgespielt hatte?

Auf einmal bekam sie Angst. Was, wenn Tim recht hatte? Wenn Evelin tatsächlich selbstmordgefährdet war? Wenn sie den Gedanken an ein Ende vielleicht schon lange mit sich herumtrug und nur wartete… ja, worauf?

Jessica starrte auf die Papiere, die sie noch in der Hand hielt, und plötzlich dachte sie, ob es das war. Ob Evelin nur darauf gewartet hatte. Auf eine Gelegenheit, an die versteckten Aufzeichnungen heranzukommen und sie weiterzugeben. Vielleicht hatte sie nicht gehen wollen, ohne die Wahrheit über ihren Peiniger ans Tageslicht zu bringen. Die dicke, durchgeknallte Evelin, die am Schluß hinging und sich aufhängte — wenigstens hatte sie vorher noch dafür gesorgt, daß der Mann entlarvt wurde, der sie dahin getrieben hatte.

Sie wollte um das Haus herumlaufen, wollte die Tür aufreißen, wollte die Treppe hinaufrennen, so schnell sie konnte, aber ihre Füße bewegten sich nicht vom Fleck. Sie stand wie angewurzelt, stand im Gras unter den Apfelbäumen, starrte die Hauswand an, gepeinigt von einem Bild, das sie vor sich sah: Evelin dort drinnen, Evelin, die nie vorgehabt hatte, ihre Sachen zu packen, die so aufrecht und entschlossen wie noch nie davongegangen war, die eine feste Stimme und einen klaren Blick gehabt hatte, die völlig verändert gewesen war.

O Gott, ich kann da nicht reingehen, dachte sie entsetzt, ich kann nicht schon wieder in dieses Haus gehen und jemanden finden, der tot ist, ich ertrage es nicht noch einmal, ich kann nicht den nächsten Alptraum erleben, ohne den letzten verkraftet zu haben…

Sie atmete tief durch, bemühte sich, ruhiger zu werden und Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Sie war dabei, die Nerven zu verlieren, und das war das Dümmste, was ihr im Moment geschehen konnte.

Ich weiß ja nicht, ob sie sich etwas angetan hat. Ich vermute es nur. Ich habe keine Ahnung.

Natürlich spielte ihre Phantasie ihr einen Streich. Was gab sie eigentlich auf das wirre Geschreibsel eines toten Psychopathen?

Aber sie ist depressiv. Das wußte ich von Anfang an. Ich habe mir immer Sorgen um sie gemacht. Ich habe nie verstanden, warum die anderen es nicht bemerkten.

Sie hob die Stimme und rief ein paarmal Evelins Namen. Nichts rührte sich, niemand antwortete. Leise raschelte der Wind in den Zweigen der Bäume.

Es war wie verhext, es gelang ihr einfach nicht, in das Haus zu gehen. Der Schweiß brach ihr aus, und ihre Knie schienen plötzlich aus Pudding. Sie kam nicht von der Stelle.

Wenn nur jemand da wäre. Irgend jemand, Leon vielleicht, oder sogar Ricarda. Jemand, der ihr Mut zusprechen und die scheußlichen Gedanken vertreiben würde.

Komm, mach dich nicht verrückt. Evelin steht da oben in ihrem Zimmer, sucht ihre Sachen zusammen, trödelt, blättert in Büchern, schaut alte Fotos an, vergißt die Zeit. Geh jetzt einfach rein und sag ihr, daß du zurück ins Dorf möchtest.

Aber es war niemand da. Niemand redete ihr gut zu. Sie war allein, genau wie an jenem Tag. Sie war schon wieder ganz allein.

Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die kalte, feuchte Stirn. Sie konnte hier stehenbleiben und warten, daß Evelin irgendwann herauskam, aber wenn die Freundin dabei war, sich im Haus etwas anzutun, würde sie für immer mit dem Wissen leben müssen, nichts zu ihrer Rettung getan zu haben. Konnte man damit leben?

Plötzlich fiel ihr etwas ein, und für Sekunden hielt sie den Atem an. Wie hatte sie bloß Dr. Wilbert vergessen können?

Der Morgen in seiner Praxis stand ihr mit einemmal ganz deutlich vor Augen. Seine Besorgnis um Evelin. Er hatte gebeten, es sofort zu erfahren, wenn sie aus der Haft entlassen würde.

«Ich möchte bereitstehen«, hatte er gesagt. Hatte auch er die

Möglichkeit eines Suizidversuchs gesehen und gefürchtet?

Sie hätte sich ohrfeigen können, daß sie vergessen hatte, ihn zu informieren. Wochenende hin oder her, sie hätte ihn anrufen müssen. Vielleicht hätte er sie sogar nach Stanbury begleitet. Und sie müsste nun hier nicht mutterseelenallein stehen und voller Grauen darüber nachdenken, welch schreckliche Szenerie sie drinnen im Haus möglicherweise erwartete.

Sie wühlte in ihrer Handtasche, zog das Handy heraus, suchte weiter. Wenn sie Pech hatte, lag die Karte zu Hause auf ihrem Schreibtisch. Wenn sie Glück hatte, befand sie sich irgendwo in der Tasche.

Sie fand sie in einem Seitenfach, ziemlich zerknickt und zerdrückt, zog sie heraus. Dr. Edmund Wilbert — der Mann, der Evelin wahrscheinlich besser kannte als ihr Ehemann. Vielleicht konnte er ihr wenigstens aus der Ferne sagen, was nun am besten zu tun war.

Zwei Minuten vor ein Uhr. Sie konnte ihn gerade noch erwischen, ehe er vermutlich in die Mittagspause ging.

Die Vorwahl von Deutschland. Die Vorwahl von München. Dann seine Telefonnummer. Das Klingelzeichen ertönte. Sie atmete tief. Er war nicht besetzt. Sie betete, er möge da sein.

«Wilbert«, sagte seine Stimme. Vor Erleichterung hätte sie fast geschluchzt. Sie gab einen Seufzer von sich, und ungeduldig wiederholte er:»Wilbert. Wer ist denn da?«

«Dr. Wilbert, hier ist Jessica Wahlberg. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern, ich…«

«Ja, selbstverständlich erinnere ich mich. Sie sind Evelins Freundin. Was ist geschehen?«

Er klang plötzlich angespannt. Vermutlich konnte er an ihrer Stimme hören, daß sie tief beunruhigt war.

«Ich weiß gar nicht, ob etwas geschehen ist, vielleicht bilde ich mir alles nur ein…«

Jessica kam sich plötzlich albern vor.»Ich bin in England«, fuhr sie fort,»ich bin hierher geflogen, um Evelin abzuholen.«

«Sie ist aus der Haft entlassen?«

«Ja, sie haben jetzt den richtigen Täter. Das heißt, sie fahnden noch nach ihm, aber es steht fest, daß er es war. Evelin wartet nur noch auf ihren Paß…«

«Frau Wahlberg…«

Sie meinte, erneut einen Anflug von Ungeduld zu vernehmen, und sagte hastig:»Ich weiß, wir hatten vereinbart, daß ich Ihnen Bescheid geben würde, wenn Evelin entlassen würde. Es ging nur alles so schnell und kam so unerwartet… ich habe einfach vergessen, Sie anzurufen. Aber nun brauche ich dringend Ihre Hilfe. Es ist… es gibt Aufzeichnungen von Tim, von Evelins verstorbenem Mann, und danach schätzt er sie als hochgradig selbstmordgefährdet ein. Offenbar hat er selbst gerade in der letzten Zeit vor seinem Tod mit gezielten Schikanen dies vorangetrieben. Er war ein ziemlich gestörter Typ, Dr. Wilbert, aber am Ende hat er recht mit seiner Einschätzung, zumal es ja eine Einschätzung ist, die Sie ebenfalls teilen, und…«sie holte tief Luft,»und ich stehe jetzt hier, und Evelin ist seit fast einer Stunde im Haus verschwunden, ich kann nichts von ihr hören oder sehen, und ich habe nicht die Kraft, jetzt ins Haus hineinzugehen und sie womöglich zu finden, ich weiß, ich sollte es einfach tun, aber…«

Sie ließ den Satz unbeendet, holte erneut tief Luft, weil sie schon wieder das Atmen vergessen hatte beim Reden. Sie war sicher, daß er nun zurückfragen würde:»Ja, und was soll ich jetzt für Sie tun? Von München aus?«

Statt dessen fragte er:»Wo genau sind Sie im Moment?«

«Stanbury House. Ich mußte einfach noch einmal hierher, und dann habe ich überraschend Evelin getroffen. Sie hatte diese Aufzeichnungen ihres Mannes hier versteckt und holte sie sich wieder. Sie hat sie mir ausgehändigt, damit ich sie lese, und ist dann ins Haus gegangen, um ein paar Sachen zu packen. Aber das ist eine halbe Ewigkeit her, und… Dr. Wilbert, sie hat ein Martyrium hinter sich. Er, ich meine Tim, er hat sie jahrelang systematisch gequält und gepeinigt, und es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn sie jetzt…«

Er unterbrach sie. Er klang jetzt noch angespannter als zu Beginn ihres Gesprächs.»Sie sind ganz allein dort mit ihr? Auf diesem einsamen Anwesen?«

«Ja. Und deshalb fühle ich mich auch so überfordert, weil…«

«Jessica, hören Sie, ich möchte, daß Sie jetzt, ohne lange zu fragen, tun, was ich Ihnen sage: Verschwinden Sie. Sehen Sie zu, daß Sie wegkommen, so schnell und so unauffällig Sie können. Beeilen Sie sich. Bitte.«

Sie schluckte trocken. In ihren Ohren begann es zu rauschen.

«Dr. Wilbert, Sie meinen doch nicht…«

«Sie ist gefährlich, Jessica, und hätte ich gewußt, daß man sie entlassen hat… verdammt, ich hätte Sie nie dorthin fliegen lassen. Sie müssen sich jetzt in Sicherheit bringen, verstehen Sie mich?«

«Ja«, flüsterte sie. Ihre Stimme hatte auf einmal keine Kraft mehr.»Dr. Wilbert…«

«Ich vermute, daß sie es getan hat. Ich weiß nicht, weshalb man sie hat gehen lassen, aber ich bin fast sicher, daß sie für die Verbrechen verantwortlich ist. Ich kenne sie seit fünfzehn Jahren. Ich habe völlig versagt, indem ich sie nicht rechtzeitig aus dem Verkehr habe ziehen lassen — und indem ich Sie nicht eindringlich gewarnt habe. Aber noch ist es nicht zu spät. Ich bitte Sie«, er schien nun fast verzweifelt,»retten Sie sich! Versuchen Sie alles, um von dort wegzukommen. Seien Sie vorsichtig, und beeilen Sie sich. Bitte!«

14

Irgendwo im Haus schlug eine Uhr einmal, und sie erschrak. Ein Uhr bereits, und sie stand immer noch herum, hatte nicht einen einzigen Handgriff getan. Wie schnell die Zeit doch manchmal verging. Es hätten Minuten sein können, seitdem sie das Haus betreten hatte. Statt dessen trödelte sie seit über einer Stunde.

Sicher machte sich Jessica langsam Gedanken.

Sie strich sich mit der Hand über das Gesicht, bemüht, die zermürbenden Grübeleien zu verjagen, die sie ständig quälten, und das besonders, seit sie an diesen Ort zurückgekehrt war. Vielleicht hätte sie nicht herkommen sollen, aber es war ihr wichtig gewesen, Tims Aufzeichnungen an sich zu bringen, und schließlich machte es dann auch Sinn, daß sie ein paar von ihren persönlichen Dingen gleich mitnahm. Sie hatte keine Lust, Stanbury je wiederzusehen. Es war ein wesentlicher Teil jenes alten Lebens, das sie nun endgültig hinter sich lassen wollte.

Sie stand in ihrem und Tims Schlafzimmer, inmitten der vertrauten Einrichtung: das große Himmelbett, die vielen Kerzen auf dem alten Waschtisch, die Brokatvorhänge am Fenster, die den Raum immer etwas düster erscheinen ließen. Eigentlich hatte sie die Vorhänge nie gemocht. Weshalb hatte sie sie eigentlich gekauft?

Es war natürlich Tim gewesen, der sie hatte haben wollen. Er hatte den Stoff in einem exklusiven Geschäft in Leeds entdeckt und dann sie, Evelin, mit einem Zettel, auf dem die entsprechenden Maße notiert standen, dorthin geschickt, damit sie sie anfertigen ließ. Er mußte ein Vermögen bezahlen, aber das war ihm der Umstand wert, vor den Freunden protzen zu können und einmal mehr zu zeigen, daß er von ihnen allen das meiste Geld verdiente. Evelin hatte die luftigen, zartgelben Vorhänge, die Patricia für ihr Schlafzimmer ausgesucht hatte, viel schöner gefunden, aber sie hatte nichts gesagt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie längst akzeptiert, daß in ihrer Ehe nur das passierte, was Tim wollte. Und ihr einziges Sinnen und Trachten hatte darin bestanden, sich Tims Zuneigung zu bewahren — oder zumindest sein Wohl wollen.

Die Kerzen, die in kleinen silbernen Haltern auf dem Waschtisch standen, hatten schon lange nicht mehr gebrannt, seit vielen Jahren nicht mehr. Sie hatte sie nie ausgetauscht, es waren immer noch die ersten, die sie dort plaziert hatte. Im ersten Sommer nach ihrer Heirat, ihrem ersten Aufenthalt in Stanbury House. Sie hatte versucht, Romantik in ihre Ehe zu zaubern, aber sie hatte rasch erkannt, daß sie damit nur eine neue Gefahrenquelle eröffnete. Wenn Tim irgendeine Laus über die Leber gelaufen war, konnten ihn brennende Kerzen in einen Wutanfall treiben. Möglicherweise demonstrierte sie in seinen Augen damit schon wieder zuviel Eigenständigkeit. Sie durfte nichts tun, was von der absolut gängigen Alltagsroutine auch nur im mindesten abwich. Was ihn betraf, so kam dies einer Rebellion gleich.

Sie durfte sich nicht schon wieder in Gedanken verlieren. Jessica wartete. Sie würden zusammen im Dorf zu mittag essen, dann würde sie mit ihrem Anwalt telefonieren. Vielleicht hatte sich etwas in der Angelegenheit mit ihrem Paß getan. Wie schön wäre es, endlich den Rückflug buchen zu können.

Sie öffnete entschlossen den Kleiderschrank, ignorierte geflissentlich Tims Sachen, die darin hingen oder in den Schubfächern ordentlich gestapelt lagen. Die gingen sie nichts mehr an, sie würde sich keineswegs mit ihrem Rücktransport belasten. Was immer Leon mit dem Haus vorhatte, er konnte sie dann beim allgemeinen Entrümpeln gleich ebenfalls entsorgen.

Unten im Schrank lag ihr Koffer, sie zog ihn hervor, legte ihn aufgeklappt auf das Bett. Sie kümmerte sich nicht darum, Ordnung zu halten, warf einfach alles hinein, Wäsche, Strümpfe, Pullover, ein paar Nachthemden. Auch ihre sackartigen Hausgewänder, mit denen sie immer gehofft hatte, ihre Pfunde kaschieren zu können und in denen sie in Wahrheit nur noch plumper und unförmiger ausgesehen hatte, als sie es ohnehin tat.

«Du siehst aus wie ein fetter Trampel«, hatte Tim gesagt,»und in den Dingern siehst du aus wie ein fetter Trampel, der sich eine alte Gardine umgehängt hat.«

Vielleicht gar kein schlechter Vergleich. Tim mochte brutal gewesen sein, aber womöglich hatte er häufig einfach recht gehabt mit dem, was er sagte.

Schon wieder Tim. Sie hielt in ihren Bewegungen inne, preßte leise stöhnend beide Hände gegen die Stirn. Sie hatte nicht mehr über ihn nachdenken wollen, aber unversehens schlich er sich immer wieder heran. Zwölf gemeinsame Jahre ließen sich offenbar nicht so leicht verdrängen. Unendlich viele Stunden, Minuten, Sekunden. Unendlich viele Szenen, Situationen, die sich tief in die Erinnerung eingegraben hatten. Fraglich war, ob man sie je loswurde.

Tim, wie er die Stirn runzelte. Tim, wie er grinste. Tim, wie er lachte. Tim, wie er über die Wiese ging. Tim, wie er eine Kaffeetasse zum Mund führte. Tim, wie er schmale Augen bekam, wenn er sich ein Opfer auserkor. Tim, wie er sie ansah, wenn er mit ihr schlafen wollte. Tim, wie er sich im Bett über sie neigte. Tim, der ihre Hand hielt, als sie über die Flure des Krankenhauses geschoben wurde, und…

Sie stieß einen erstickten Schrei aus. Genau davor hatte sie Angst gehabt. Davor, daß die Bilder jener Nacht sie wieder einholen würden. Vielleicht hätte sie andernfalls sogar über Tim nachdenken, ihrer beider Beziehung aufarbeiten, bewältigen und akzeptieren können, aber immer lag das Entsetzen auf der Lauer, mit dem sie auf jede Konfrontation mit jener Nacht reagierte. Die Ströme von Blut, die ihr die Beine hinabliefen. Die Panik, mit der sie erkannte, daß dies etwas Schreckliches bedeuten mußte. Die Fahrt zum Krankenhaus, sie leise stöhnend, Tim über jede rote Ampel fluchend. Die Notaufnahme, man ließ sie ein Formular ausfüllen, und während sie dort am Tresen stand und ihr der Name ihrer Krankenversicherung nicht mehr einfiel, bildete sich eine Pfütze von Blut zwischen ihren Füßen. Tim suchte noch nach einem Parkplatz für das Auto, und sie fühlte sich hilflos und allein und hatte den sicheren Eindruck, jede andere Frau würde genau wissen, wie man sich nachts in der Notaufnahme eines Krankenhauses verhielt, wenn man gerade sein Baby verlor, aber sie machte irgendwie wieder alles falsch, verschmutzte den Fußboden und konnte niemandem klarmachen, wie dramatisch ihr Zustand war und daß sie dringend Hilfe brauchte. Tim kam angejapst und war völlig perplex, sie am Tresen stehen zu sehen, und sie brach in Tränen aus und sagte:»Ich weiß nicht, wo ich versichert bin.«

Die Krankenschwester auf der anderen Seite tippte ungerührt irgendwelche Zahlen in ihren Computer.

Tim hatte all den Phlegmatikern natürlich Dampf gemacht, jede Menge Wirbel veranstaltet, der Schwester befohlen, so schnell sie konnte einen Arzt zu holen und ein Bett frei zu machen, so daß sich Evelin endlich hinlegen konnte. Dann hatte es plötzlich gewimmelt von Schwestern, und es waren sogar mehrere Ärzte dagewesen und der Anästhesist, der wissen wollte, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte, woran sie sich aber auch wieder nicht erinnern konnte.

«Ich muß Sie operieren«, sagte ein Arzt, der ein blasses, sympathisches Gesicht hatte und recht müde aussah, und sie hatte leise gefragt:»Was ist mit meinem Baby?«

Er hatte nicht darauf geantwortet, aber sie konnte in seinen Augen lesen, daß es nicht die mindeste Hoffnung für ihr Kind gab.

Sie vernahm ein leises Wimmern und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß es von ihr selbst stammte. So viele Jahre waren vergangen seither, und der Schmerz hatte sich um nichts, um gar nichts gemildert. Sie erinnerte sich, daß Tim dagewesen war, als sie aus der Narkose aufwachte.

«Ich muß auf die Toilette«, waren ihre ersten Worte gewesen, und Tim hatte gesagt:»Nein, Schatz, das bildest du dir ein. Sie haben dir einen Blasenkatheter gelegt. Der drückt wahrscheinlich.«

Sie hatte fast geweint, weil er ihr nicht glauben wollte.»Bitte. Ich muß so dringend. Bitte, bitte tu etwas.«

Er hatte eine Schwester geholt, und Evelin hatte sie angefleht, den Katheter zu entfernen, doch sie hatte sich zuerst geweigert, dann aber nachgegeben, als sie begriff, daß Evelin dicht davor stand, hysterisch zu werden. Es war absurd, sie hatte ihr Baby verloren, ihr Leben lag in Trümmern, die Zukunft war nur mehr ein schwarzes Loch ohne Hoffnung, und sie drehte durch wegen eines Blasenkatheters und brachte die halbe Wachstation durcheinander. Als nächstes bestand sie darauf, zur Toilette zu gehen, ein Vorhaben, dem die Schwester nach einiger Diskussion entnervt und zermürbt zustimmte.

«Aber Sie schließen keinesfalls hinter sich ab«, hatte sie verlangt.»Am besten, Ihr Mann geht mit hinein.«

Also war sie mit ihrem Bauchschnitt durch das Zimmer gehumpelt, vorbei an den Betten anderer frisch operierter Frauen, die alle taten, was man von ihnen erwartete und friedlich schliefen, den fahrbaren Ständer mit dem Tropf daran hinter sich herziehend, Tim an ihrer Seite, der sie fürsorglich stützte. Sie hätte nie gedacht, daß sie es ertragen könnte, ihn neben sich zu haben, während sie zu pinkeln versuchte, aber plötzlich machte es ihr gar nichts aus, im Gegenteil, er war besorgt, bemüht, fast zärtlich, und später dachte sie manchmal, daß diese Momente auf der Wachstation letztlich zu den besten ihrer Ehe gezählt hatten.

Natürlich war ihre Blase leer gewesen, sie hatte gar nicht pinkeln können, und darüber hatte sie erneut zu weinen begonnen, während Tim sie ohne Vorwürfe zum Bett zurückgeleitete und ihr vorsichtig half, sich wieder hinzulegen.

«Was ist mit dem Baby?«fragte sie.

Er hatte ihr die wirren Haare aus der Stirn gestrichen.»Sie konnten es nicht retten. Es lebt leider nicht mehr.«

Nachdem er gegangen war, hatte sie keine Sekunde Schlaf mehr gefunden. Sie lag wach und starrte in die von einem Notlicht schwach erhellte Dunkelheit, lauschte den gleichmäßigen Atemzügen der anderen. Regelmäßig erschien die Schwester, um den Blutdruck zu messen, tief erstaunt, Evelin jedesmal hellwach vorzufinden.

«Sie müßten eigentlich von der Narkose noch ziemlich schläfrig sein. Versuchen Sie doch, sich ein bißchen zu entspannen.«

Was ihr natürlich nicht gelang. Wie sollte sie das machen schlafen, wenn sie nicht wußte, wie das Leben weitergehen sollte?

Das Ende war so jäh und grausam gekommen, daß sie eine Weile gebraucht hatte, den Verlust zu begreifen. Sie entsann sich, daß der Schmerz schlimmer geworden war, je mehr Zeit verging, weit schlimmer, als er in jener Nacht gewesen war. Er hatte sich immer neu entzündet an dem quälend gleichförmigen Alltag, an den endlosen Stunden, die ein Tag brauchte, um zum Abend zu werden, an den unwichtigen, nutzlosen Tätigkeiten, in die sie flüchtete, um zu vergessen, und die doch keine Sekunde des Vergessens brachten. Er entzündete sich an jedem Kinderwagen, den sie in den Straßen sah — und aufgrund irgendeiner bösartigen Fügung schien es plötzlich von Kinderwagen geradezu zu wimmeln —, und an jeder Frau, die mit dickem Babybauch an ihr vorbeiwatschelte. An jedem Gespräch, das Menschen in ihrer Umgebung über ihre Kinder führten, und an jeder Einladung zu einer Taufe, die ins Haus flatterte.

Und natürlich hatte Tims Fürsorge kaum zwei Tage angehalten, und ihrer beider Beziehung war unmittelbar nach der Tragödie wieder in das Fahrwasser von Quälerei und Verzweiflung geraten.

Nicht nachdenken! Hör jetzt damit auf!

Sie schloß energisch die Schranktür, obwohl noch eine ganze Reihe ihrer Schlabberkleider nicht eingepackt waren. Vielleicht sollte sie sich endgültig von ihnen verabschieden, schließlich hatte sie beschlossen, nun endlich zu der schlanken, attraktiven Mittdreißigerin zu werden, die von den Frauenzeitschriften immer als Ideal propagiert wurde. Allerdings gründete sich deren faszinierende Ausstrahlung nicht allein auf ihr gutes Aussehen, sondern natürlich auch auf die Tatsache, daß sie entweder mit Schwung und Kraft eine Familie versorgte oder Karriere in irgendeinem tollen Beruf machte, oder beides gleichzeitig tat. Bei ihr, Evelin, hingegen haperte es auf der ganzen Linie: Sie hatte weder eine Familie noch einen richtigen Beruf. Sie hatte nicht einmal mehr eine Beziehung.

Wenigstens hatte sie Geld. In den Kreisen mancher Frauen zählte es durchaus auch als Karriere, reich geschieden oder zur reichen Witwe zu werden. So gesehen war ihr Leben bislang nicht völlig erfolglos verlaufen.

Sie blickte aus dem Fenster und sah Jessica, die die Auffahrt hinunterging.

Das war vollkommen gegen die Absprache, und es erstaunte sie. Sie hatten zusammen mit dem Auto zurückfahren wollen. Und selbst wenn Jessica trotz ihrer Leidenschaft, Wege möglichst zu Fuß zurückzulegen, plötzlich umdisponiert hatte, paßte es nicht zu ihr, sich ohne ein Wort einfach auf und davon zu machen.

Evelin drehte sich um und rannte aus ihrem Zimmer. Sie hatte wirklich ganz schön abgenommen in der Zeit, die sie im Gefängnis gesessen hatte. Sie merkte es daran, wie behende und schnell sie die Treppe hinuntergelangte. Durch die Halle hindurch, hinaus ins Freie. Hitze und Blütenduft und Helligkeit empfingen sie. Eine dicke, pelzige Hummel brummte dicht an ihrem Kopf vorüber.

Sie würde Jessica einholen.

Vom Fenster aus hatte sie gesehen, daß sich die Freundin bei weitem nicht so leichtfüßig bewegte wie sonst. Irgendwie schwerfällig, müde, angestrengt.

Eine Erinnerung keimte in ihr. Der Abend vor der Tragödie. Die Sitzecke vor dem Kamin im Wohnzimmer. Alexander. Er hatte davon gesprochen, daß…

Wie hatte sie das nur verdrängen können?

Sie jammerte leise, weil der Schmerz kaum erträglich war.

Jessica hatte die leise Hoffnung gehegt, Evelin könne den Schlüssel im Auto stecken gelassen haben. Sie war um das Haus herumgegangen und hatte ihr kleines englisches Leihauto vor dem Eingangsportal stehen sehen. Ein kurzer Blick die Hauswand hinauf, aber auch hier vorn schien sich nichts zu regen hinter den Fenstern.

Das Auto war nicht abgeschlossen, wie sie gleich darauf feststellte. Aber leider fehlte der Schlüssel. Evelin hatte ihn abgezogen.

In Windeseile — dazwischen immer wieder scharf zur Haustür blickend — durchstöberte sie Handschuhfach, Seitenfächer und die Ablage zwischen den Vordersitzen. Nichts, natürlich. Es bestand die Möglichkeit, daß Evelin den Schlüssel in der Halle auf einem der kleinen Tischchen abgelegt oder sogar ordentlich an das Schlüsselbrett in der Küche gehängt hatte und dann nach oben gegangen war. Kurz erwog Jessica, hineinzuhuschen und nachzusehen. Verwarf diesen Gedanken dann jedoch als äußerst riskant und allzu vage im Ausgang: Evelin hatte nach ihrer Ankunft in Stanbury House ja zunächst Tims Unterlagen aus der Sickergrube geholt. Und dazu den Schlüssel vermutlich in ihre Hosentasche geschoben, wo er mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit noch immer steckte.

Tims Unterlagen.

Sie hielt die grüne Folie noch immer in der Hand und entschied, daß sie die Scheußlichkeiten, die Tim mit solcher Wonne ausgebreitet hatte, nicht mehr brauchte und daß sie sich mit nichts auf dem Fußmarsch zum Dorf belasten sollte. Sie legte die Mappe einfach auf den Beifahrersitz und schloß die Autotür. Jetzt erst wurde ihr bewußt, daß sie sich seit dem Gespräch mit Dr. Wilbert wie in einer Art Trance bewegte, daß aber ihr Herz schneller schlug und ihre Handflächen naß von Schweiß waren. Sie hatte Todesangst, aber es gelang ihr, jeden Anflug von Hysterie im Keim zu ersticken und ihren Verstand eingeschaltet zu lassen. Sie durfte jetzt nichts Unüberlegtes tun.

Natürlich wäre sie am liebsten losgerannt, aber sie wußte aus Erfahrung, daß allzu hastige Bewegungen manchmal eine Aufmerksamkeit auf sich zogen, die andernfalls nicht geweckt worden wäre. Zudem spürte sie an diesem Tag ihre Schwangerschaft so drückend wie nie zuvor. Es mochte an der Hitze liegen oder an der Aufregung oder an beidem. Der Weg ins Dorf war weit. Sie mußte ihre Kräfte einteilen.

Mit gelassenen Schritten überquerte sie den gepflasterten Hof vor dem Haus und schlug den Weg ein, der zum Parktor führte. Wenn sie erst außer Sichtweite des Hauses wäre, könnte sie etwas schneller laufen. Wenn nur ihre Beine nicht so geschwollen wären, wenn nicht jede Bewegung begänne, sie in Atemlosigkeit zu stürzen. Wenn es nicht so heiß wäre! Wenn, wenn, wenn… Sie blieb kurz stehen, strich sich die feuchten Haare aus der Stirn. Wenn sie nur einfach nicht in diesen Alptraum geraten wäre.

Sie ging weiter, doch als sie hinter sich Schritte hörte, die rasch näher kamen, wußte sie, daß sie verloren hatte.

15

«Aber du hättest doch etwas sagen können«, meinte Evelin.»Wir wollten doch zusammen ins Dorf fahren. Warum läufst du einfach weg?«

«Ach, du weißt doch, wie ich bin«, erwiderte Jessica leichthin.

«Mich hat mal wieder die Lust zu laufen gepackt. Und ich dachte, wenn ich dir etwas sage, fühlst du dich gedrängelt. Also bin ich losgezogen.«

Sie gingen langsam zum Haus zurück. Die Sonne wurde nun am Mittag noch heißer. Jessica strich sich erneut über die Stirn. Sie war naß am ganzen Körper.

Evelin betrachtete sie von der Seite.»Du siehst gar nicht gut aus«, stellte sie fest,»fühlst du dich nicht wohl?«

«Es ist sehr warm, findest du nicht? Fast wie im Juli oder August.«

«Mir macht das nicht soviel aus«, sagte Evelin.

«Ich bin heute schon soviel gelaufen«, sagte Jessica,»wahrscheinlich liegt es daran.«

«Ein Grund mehr, daß du unbedingt mit mir ins Dorf fahren solltest!«

Evelin klang aufrichtig besorgt. Jessica fragte sich, ob sie tatsächlich neben einer gefährlichen Geisteskranken herlief. Natürlich konnte Wilbert sich irren. Beweise für seine Theorie hatte er mit Sicherheit nicht.»Paß auf, du wartest hier. Ich gehe nur rasch hoch und hole meine Tasche, ja?«

«Alles klar«, antwortete Jessica. Sie war neben dem Trog stehengeblieben, vor dem damals Patricia gekniet hatte und…

Ihr wurde übel, rasch verdrängte sie die Erinnerung.

Evelin wollte zum Haus, hielt aber noch einmal inne.

«Die Aufzeichnungen«, sagte sie zögernd,»hast du sie gelesen?«

Jessica nickte.»Ja. Und ich muß sagen, daß Tim uns alle mit dem Gerede von seiner großartigen Promotion gewaltig an der Nase herumgeführt hat. Das sind einfach nur ein paar Charakterstudien, die ein völlig verrückter Narziß über andere Menschen anstellt, um sich vor allen Dingen selbst dabei zu bespiegeln. Ich würde das alles als eine Art Selbstbefriedigung bezeichnen, nichts weiter.«

Evelin wartete, aber da Jessica nichts mehr hinzufügte, nickte sie ebenfalls, sehr langsam und nachdenklich, und ging dann davon. Sie ließ die Tür offenstehen, als sie in der Dunkelheit der Halle verschwand.

Jessica preßte ihre feuchten Handflächen aneinander. Einen zweiten Versuch, sich wegzustehlen, wollte sie nicht wagen. Evelin konnte in einer Minute wieder unten sein. Sie hatte harmlos gewirkt, freundschaftlich. Vielleicht war alles in Ordnung. Sie würden in das Auto steigen, und knapp zehn Minuten später wären sie im Dorf.

Der Alptraum hätte ein Ende.

Sie ging ein paar Schritte auf und ab, ignorierte nach wie vor beharrlich den Holztrog, versuchte, sich zu beruhigen, sich einzureden, daß es keinerlei Gefahr gab. Aber alle Härchen an ihren Armen hatten sich aufgestellt, und sie fror plötzlich im Nacken, trotz der Sonne. Sie hatte Dr. Wilberts beschwörende Stimme im Ohr.

Verschwinden Sie, so schnell Sie können!

Erschöpft sank sie auf die Bank, die an der Grenze zwischen dem gepflasterten Hof und dem Garten stand und von der man einen schönen Blick zum Wald und zu den sich dahinter erhebenden Hügeln hatte. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. Wenn es erst strampelte da drin! Wie großartig mußte es sein, die erste Bewegung zu fühlen.

Sie beugte sich hinunter, massierte ihre geschwollenen Fußknöchel. Ihr Blick fiel auf das Gras zu ihren Füßen. Sie stutzte, kniff die Augen zusammen.

Eine Kette lag dort. Eine Graskette. Aus frischen Grashalmen, vor nicht allzu langer Zeit aus der Erde gerissen. Keinesfalls vier Wochen zuvor.

Sie kannte nur einen, der geradezu stereotyp diese Ketten flocht. Wo er saß und stand — und wo Gras wuchs.

Sie fuhr hoch, blickte sich hastig um. Nichts regte oder bewegte sich.

Er war hier gewesen. Vor ein paar Stunden, höchstens.

Vielleicht war er immer noch hier.

Vielleicht war er der Feind. Vielleicht konnte sie dies zumindest Evelin einreden. Wenn Evelin sich sicher fühlte, war sie weniger gefährlich.

Vielleicht.

Mit kurzen Unterbrechungen kauerte er jetzt seit zwei Stunden in diesem düsteren Loch von Kellereingang, und allmählich verfluchte er sich, daß er so dumm gewesen war, sich nicht gleich offen zu zeigen. Wenn er jetzt plötzlich hervortrat, mußte es den Eindruck vermitteln, er sei eine Art Sittenstrolch, der sich plötzlich aus den Büschen schlug — was seine Lage nur verschlimmern konnte. Hatte er jedenfalls die ganze Zeit gedacht. Man erwischte ihn schon wieder dabei, wie er um Stanbury House herumlungerte. Andererseits konnte sich seine Lage womöglich gar nicht verschlimmern. Sie war ohnehin ziemlich aussichtslos.

Er hatte auf der Veranda gestanden und über den Park geblickt, als er das Auto hatte kommen hören. Die Zeit schien ihm zu knapp, über die offene Fläche des Rasens zu laufen und sich im gegenüberliegenden Wald zu verstecken, und so hatte er einen Satz über die Balustrade gemacht und war die Kellertreppe hinuntergelaufen, an deren Ende eine — natürlich verschlossene — Stahltür ins Haus führte. Es war feucht und kühl hier unten, Moos wuchs in den Mauerritzen, und es herrschte ein modriger Geruch. Mit angehaltenem Atem hatte er eine Weile gewartet, dann war er ein paar Stufen hinaufgestiegen und hatte vorsichtig in den Park gespäht. Er hatte Evelin gesehen, die hinüber in Richtung des Geräteschuppens ging und zwischen Apfelbäumen und Brombeerhecken verschwand. Es wäre für ihn der Moment gewesen, abzuhauen, aber die Neugier hatte ihn getrieben, herauszufinden, was sie dort tat, und so war er ihr gefolgt und hatte sie ächzend und stöhnend mit der Abdeckung der Sickergrube kämpfen sehen. Mit der Faszination, mit der man sich über die Aktivitäten eines seltenen Tiers klarzuwerden versucht, hatte er ihre Bemühungen beobachtet und sich nicht im mindesten vorstellen können, was sie ausgerechnet an diesem Ort suchte. Daß sie die Sickergrube als Versteck benutzt hatte, wurde ihm jedoch schlagartig klar, als er sah, wie sie die grüne Folie voller Papiere von der Innenseite der Platte löste, wo sie offenbar festgeklebt gewesen war.

Was, in Teufels Namen, dachte er, sind das für… Dokumente?

Sie setzte sich ins Gras, las und blätterte, und er schaute auf ihren breiten Rücken, der so wirkte, als sei er zarter angelegt gewesen und nur wegen der Fettrollen unter den Armen und um die Mitte jetzt so stämmig. Irgendwann hatte er sich von ihrem Anblick und all den Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, förmlich losgerissen, hatte lautlos den Rückzug angetreten, in der Absicht, um das Haus herumzulaufen und den Weg zum Dorf einzuschlagen, und hatte plötzlich bemerkt,daß sich jemand durch den Wald der Rückseite des Hauses näherte. Rasch war er wieder in sein Kellerversteck verschwunden, hatte jedoch hervorgespäht und Jessica erkannt, die über den Rasen herankam. Es hatte ihn tief erstaunt, sie hier zu sehen, und es hatte ihn erschreckt, sie so bleich und abgekämpft zu erleben.

Als er das nächste Mal nachsah, hatte sie unter den Apfelbäumen gesessen und völlig vertieft in den ominösen Papieren gelesen, und Evelin war verschwunden gewesen. Er hatte jedoch nicht gehört, daß der Motor des Autos angelassen worden wäre, und so vermutete er, daß sich Evelin noch irgendwo in der Nähe aufhielt. Ins Haus würde sie kaum gehen — es war noch polizeilich versiegelt, und Evelin war nicht der Typ, der ein vor die Tür gespanntes Markierungsband der Polizei einfach durchbrach —, und es schien ihm recht wahrscheinlich, daß sie vor dem Haus saß und auf Jessica wartete. Was bedeutete, daß er schlechte Karten hatte. Die große freie Wiesenfläche hinüber zum Wald konnte er nur überqueren in der Hoffnung, daß Jessica sich nicht plötzlich umdrehte oder Evelin um das Haus herumkam.

Wovor habe ich Angst? fragte er sich. Ich gehe ja doch zu den Bullen. Es kommt für mich nicht mehr darauf an, ob ich entdeckt werde oder nicht.

Aber er begriff, daß es darum auch gar nicht ging. Nicht darum, noch länger der Fahndung entkommen zu wollen. Es ging ihm darum, von selbst, allein, aus freien Stücken zur Polizei zu gehen. Nicht deshalb, weil Evelin oder Jessica völlig aufgelöst den ermittelnden Beamten anriefen. Denn was hätte er tun sollen? Mit den beiden hier warten, bis der Streifenwagen eintraf? Um dann doch gewissermaßen gestellt worden zu sein, selbst wenn er sich dem nicht zu entziehen versucht hätte? Oder weglaufen? Dann ginge das Drama von neuem los.

Scheiße! Er fluchte lautlos in sich hinein. Warum hatten die beiden Weiber gerade jetzt hier aufkreuzen müssen? Und was, verdammt noch mal, lasen sie da beide, was fesselte sie derart, daß sie die Zeit vergaßen?

Er hatte kurz überlegt, Jessica anzusprechen. Sie neigte nicht zur Hysterie. Vielleicht würde er mit ihr reden können. Aber irgend etwas hielt ihn zurück, eine eigentümliche Scheu vielleicht, die er gerade ihr gegenüber empfand. Jessica war eine Frau, die ihn beeindruckt hatte, die ihm imponierte. Ihre sachliche Art, ihre Klarheit, ihr wacher Verstand. Ihre Fähigkeit, hinter den schönen Schein zu blicken, sich Tatsachen zu stellen. Während der wenigen Treffen mit ihr — die ihm jedoch äußerst intensiv erschienen waren — hatte er begriffen, daß sie nicht glücklich war, daß sie sich eine andere Art von Leben mit ihrem Mann vorgestellt hatte, daß sie jedoch nicht bereit war, ihre Lebensumstände vor sich selbst zu beschönigen. Selbst dann nicht, wenn am Ende die Erkenntnis stehen würde, daß ihre Ehe gescheitert war.

Er mochte sie. Er hatte manchmal überlegt, daß es schön gewesen wäre, sie anders kennenzulernen. Nicht so, als Frau eines anderen, im Haus seines Vaters lebend, in dem Haus, das er hatte haben, um das er hatte kämpfen wollen. Die Situation hatte kaum das Entstehen einer persönlichen Beziehung zwischen ihnen beiden zugelassen. Er stellte sich einen Frühlingsabend in London vor, einen jener Abende, in denen Blütenduft und der Geruch nach feuchter Erde selbst in einer Großstadt die Vorherrschaft übernehmen: Sie beide in einer Kneipe, draußen ein lichtblauer Abendhimmel, drinnen eine sehnsüchtige Musik und ein gelangweilter Barkeeper, und jeder Mensch, der durch die Tür kam, brachte einen Hauch dieses einzigartigen Geruchs von draußen mit. Sie tranken Weißwein und spürten, daß etwas begann, das, wie es auch ausgehen mochte, für immer eine wesentliche Erinnerung in ihrem Leben sein würde.

Aber so hatte es nicht sein sollen, und sosehr es ihn drängte, ihr seine Gedanken mitzuteilen, rief er sich doch zur Ordnung und sagte sich, daß dies nur alles komplizieren würde. Die Londoner Kneipe an einem blütenschweren Frühlingsabend gab es nicht. Sie waren in Yorkshire. Auf die eine oder andere Art war jeder von ihnen Teil eines furchtbaren Verbrechens, Teil einer Tragödie, die nur Mißtrauen und Angst hervorgebracht hatte. Es würde kein unbefangenes ZusammenWeitergehen geben. Keine Kneipe, keinen Weißwein, kein Versinken in den Augen des anderen, kein Versprechen von Zukunft. Die Wirklichkeit sah alles andere als romantisch aus: Er wurde im ganzen Land polizeilich gesucht und versteckte sich in einem feuchten, dunklen Kellereingang, und sie kauerte im Gras und las irgend etwas, das in einem Zusammenhang mit ihrem toten Mann stehen mochte und das sie — soviel hatte er jedenfalls ihrer Körpersprache zu entnehmen gemeint — sehr in seinen Bann zog und zugleich beunruhigte. Und irgendwo mußte auch noch Evelin sein, diese dicke, traurige Frau, die unter Garantie hysterisch würde, wenn sie ihn erblickte.

Er hatte irgendwann bemerkt, daß Jessica ihren Platz verlassen hatte und verschwunden war, aber er war sicher, daß er noch immer nicht den Motor des Autos gehört hatte. Er fluchte erneut.

Was taten die beiden hier so lange?

Vorsichtig stieg er die Treppe hinauf und spähte in den Garten. Still und leer lag er unter der heißen Sonne. Wenn es ihm gelänge, ungesehen den Wald zu erreichen, konnte er einen Bogen um das Haus herum schlagen und…

Seine Gedanken endeten jäh.

Er sah Jessica.

Sie saß in der Sonne, auf der etwas baufälligen, hölzernen Bank, auf der er selbst etwa zwei Stunden vorher noch gesessen und gegrübelt hatte, und… ja, sie starrte angestrengt und völlig fasziniert auf den Boden zu ihren Füßen. Und was immer sie dort sehen mochte, es lenkte sie für den Augenblick völlig von allem ab, was um sie herum geschah. Aber die Frage war, ob dies ausreichen würde, um ihn bis über die Wiese kommen zu lassen, und gerade, als er sich dies fragte, schaute sie auf.

Er wich blitzschnell zurück. Er war fast sicher, daß sie ihn nicht bemerkt hatte.

16

Als Jessica die Schritte hinter sich hörte, sagte sie, ohne sich umzudrehen:»Evelin, wir sollten sehen, daß wir von hier wegkommen. Ich glaube«, sie senkte ihre Stimme,»daß sich Phillip Bowen in der Nähe aufhält.«

«Phillip Bowen?«fragte Evelin zurück. Ihre Worte kamen ein wenig schleppend.

Jessica beugte sich nach vorn, nahm eine der Grasketten in ihre Hände. Sie stand auf, wandte sich zu Evelin um.

Der warme Wind fächelte um ihr Gesicht, wirbelte sanft in ihren Haaren. Er drückte ihr weites, weißes T-Shirt gegen ihren Bauch.

Jessica sah, wohin Evelins Blick fiel. Für einen Moment zeichnete sich der ganz leicht gewölbte Leib deutlich ab. Evelin blickte wieder auf. Und in diesem Moment erkannte Jessica den Wahnsinn in ihren Augen, und sie wußte, daß Dr. Wilbert recht gehabt hatte und daß Evelin die Person war, die das Schweigen von Stanbury auf so grausige Art beendet hatte.

Im Bruchteil einer Sekunde traf sie die Entscheidung, den Versuch fortzuführen, in der Gestalt Phillip Bowens einen gemeinsamen Gegner herzustellen, denn dies würde sie und Evelin zu Verbündeten machen und vielleicht ihre einzige Chance sein.

«Diese Grasketten«, sagte sie,»die fabriziert er, wo er geht und steht. Er muß hier gewesen sein.«

Evelin sah mit glasigem Blick auf die Gräser in Jessicas Hand.»Er war immerzu hier.«

«Ja, aber das ist Wochen her. Das Gras müßte welk und tot sein. Diese Ketten sind frisch. Wenige Stunden alt.«

Sie warf die Kette auf die Erde.

«Komm«, sagte sie beschwörend,»wir müssen sehen, daß wir wegkommen. Phillip ist gefährlich. Hast du alles gepackt? Hast du den Autoschlüssel? Soll ich fahren?«

Evelin rührte sich nicht von der Stelle.

«Evelin«, drängte Jessica,»bitte, wir sollten wirklich…«

«Kannst du das Baby schon fühlen?«fragte Evelin. Ihre Stimme klang vollkommen emotionslos.»Bewegt es sich schon?«

«Darüber sprechen wir, wenn wir im Dorf sind«, antwortete Jessica so leichthin wie möglich,»aber jetzt müssen wir weg, ehe Phillip Bowen plötzlich aufkreuzt. Bitte, Evelin, er kann wirklich noch ganz in der Nähe sein, und er ist zu allem fähig!«

«Ich habe mein Baby gespürt«, sagte Evelin.»Es hat gestrampelt. Es war lebendig.«

Jessica merkte, daß sie sie nicht mehr erreichte. Evelin war in einen Zustand abgeglitten, in dem es ihr völlig gleichgültig war, ob Jessica sie als Täterin entlarvte oder nicht. Alles war ihr gleichgültig.

Nur nicht die Erinnerung an ihr Baby.

«Vielleicht lag es ja an Tim, daß du später kein Baby mehr bekommen hast«, sagte Jessica,»aber es wird einen anderen Mann in deinem Leben geben, und mit ihm wirst du Kinder haben, und…«

«Ich werde keine Kinder mehr haben«, sagte Evelin. Niemand hätte in ihrem Gesicht, in ihren Augen irgendeine Regung entdecken können.»Damals ist etwas kaputtgegangen. Für immer.«

«Was soll denn kaputtgegangen sein? Du hattest eine Fehlgeburt. Das ist schrecklich, aber viele Frauen erleben so etwas, und später werden sie trotzdem glückliche Mütter!«

In Evelins Blick trat eine Veränderung. Jessica hätte nicht sagen können, worin sie bestand. Vielleicht eine Spur von Leben. Eine Spur von Zorn.

«Viele Frauen erleben das?«

Sie trat einen Schritt näher an Jessica heran. Sie roch scharf nach Schweiß.»Viele Frauen erleben das? Bist du sicher? Bist du sicher, daß es viele Frauen erleben, daß ihnen ihre Männer im sechsten Monat so heftig in den Bauch schlagen, daß sie fast verbluten und ihr Kind verlieren?«

Sie war sehr laut geworden, und fast unheimlich wirkte danach die Stille, die von keinem anderen Geräusch unterbrochen wurde als dem Atmen der beiden Frauen.

«Es gab keinen Grund«, sagte Evelin. Sie sprach ganz monoton. Man hätte meinen können, nichts von dem, was sie sagte, berührte sie. Sie stand unbeweglich an derselben Stelle.»Es war nichts vorgefallen. Er kam nach Hause, es war ein früher Freitagabend, er war den ganzen Tag bei einem Seminar gewesen. Ich hatte ihn gar nicht gehört. Ich war im Kinderzimmer, sortierte Strampelanzüge in den Schrank. Es ging mir gut. Meine Schwangerschaft verlief problemlos, und ich freute mich unendlich auf mein Baby. Tim und ich und das Kleine würden eine richtige Familie sein. Und das Baby würde ganz zu mir gehören. Zum erstenmal in meinem Leben würde es einen Menschen geben, den ich als einen Teil von mir würde empfinden können.«

«Ich kann das gut verstehen«, sagte Jessica behutsam. Sie fragte sich, wie gefährlich ihr Evelin werden konnte. Ihre anderen Opfer hatte sie von hinten angegriffen, hatte sie überrascht und daher ohne Probleme ausschalten können. Ein rascher Schnitt durch die Kehle…

Wie hatte Evelin das tun können?

Es war unfaßbar. Und doch, da sie nun in ihr Gesicht sah und in ihre Augen, hatte Jessica keinen Zweifel mehr an ihrer Schuld. Evelin war geisteskrank, auch wenn das über lange Strecken niemandem auffallen mochte, weil sich ihr Zustand zumeist als schwere Depression tarnte. Vielleicht war sie normal gewesen bis zu dem Tag, an dem sie ihr Baby verloren hatte, aber Jessica bezweifelte es. Nach allem, was sie über ihre Kindheit wußte, vermutete sie, daß in Evelin bereits zu einem viel früheren Zeitpunkt etwas zerbrochen war.

Evelins Arme hingen schlaff rechts und links vom Körper herunter, ihre Hände verschwanden in den Falten des riesigen, viel zu weiten schwarzen Jeanshemds, das sie trug. Jessica vermochte nicht zu erkennen, ob sie ein Messer bei sich hatte. Wenn ja, dann war sie ihr unterlegen. Dann hatte sie kaum eine Chance.

«Er kam die Treppe herauf und stand plötzlich in der Tür«, fuhr Evelin fort,»und ich blickte zu ihm hin und sagte irgend etwas. ›Hallo‹ oder ›guten Abend‹, und er antwortete, das sei ja ein sehr idyllisches Bild, die werdende Mama in ihrem verkitschten Kinderzimmer. Als er verkitscht sagte, war mir klar, daß er mich nun wieder erniedrigen würde. Er würde kein gutes Haar mehr an mir lassen, er würde nicht ruhen, bis ich weinte oder mich übergab. Für gewöhnlich ließ ich es über mich ergehen, weil ich wußte, daß er es brauchte und daß ich ihm ohnehin nicht entkommen konnte. Seine Attacken waren längst Teil meines Lebens geworden. Es war wie bei meinem Vater. Man konnte nur warten, bis es vorüber war, und dann die Knochen oder die seelischen Trümmer wieder zusammensetzen.

Aber an jenem Abend… da war etwas anders. Seitdem ich das Baby erwartete, ging eine Veränderung in mir vor. Ich kann nicht genau sagen, woran es lag. Vielleicht an dem Bewußtsein, daß da Leben in mir wuchs, daß ein unglaubliches Wunder geschah, daß ich es war, die dieses Wunder Wirklichkeit werden ließ. Ich fühlte mich stark. Und mit jedem Tag, der verging, schwand meine Bereitschaft, mich wieder und wieder von ihm demütigen zu lassen.

Ich sagte, ich würde mich um das Abendessen kümmern, und wollte an ihm vorbei zum Zimmer hinaus, aber er verstellte mir den Weg.

›Ich rede mit dir‹, sagte er, und ich erwiderte: ›Du hast nur eine Feststellung getroffen. Ich habe das nicht als Gespräch empfunden.‹

Ich wollte mich an ihm vorbeischieben, da packte er mich plötzlich an den Haaren und riß meinen Kopf nach hinten, daß ich dachte, er bricht mir das Genick. Ich schrie auf, weil er mir so weh tat. Er war außer sich vor Wut. ›So redest du nicht mit mir!‹ schrie er. ›So wirst du nie wieder mit mir reden!‹

Und dann schlug er mir die Faust in den Unterleib. Zweimal, dreimal. Ich fiel zu Boden, krümmte mich zusammen, versuchte, das Baby zu schützen. Er stand über mir und trat mich jetzt mit seinen Schuhen, wieder und wieder. Ich brüllte vor Schmerzen und vor Angst, und er schrie: ›Dir und deinem Balg werd ich's zeigen! Ihr habt mich nicht umsonst beleidigt!‹

Als er endlich von mir abließ, war ich fast bewußtlos vor Schmerzen, aber ich schleppte mich auf allen vieren ins Bad. Dort stellte ich fest, daß ich zu bluten begonnen hatte, und mit jeder Minute wurde es heftiger. Als ich langsam auf die Füße kam, lief mir das Blut die Beine hinunter und tropfte auf den Fußboden. Tim tauchte in der Badezimmertür auf. Er war jetzt sehr ruhig. ›Wir müssen ins Krankenhaus‹, sagte er, ›ich glaube, daß du gerade eine Fehlgeburt hast.‹

Ich ließ mich von ihm zum Auto führen, er stützte mich, war fürsorglich und besorgt.

›Es hätte mich auch gewundert‹, sagte er, ›wenn ausgerechnet du eine Schwangerschaft bis zum Ende durchhalten könntest!‹

Im Krankenhaus sagte er, ich sei die Treppe hinuntergestürzt und mit dem Bauch auf einen Pfeiler aufgeschlagen. Sie operierten, kratzten heraus, was von dem Baby übrig war. Zwei Tage nach der Operation kam ein Arzt zu mir und wollte wissen, ob die Geschichte mit dem Treppensturz stimme. Ich hatte riesige Hämatome am Bauch, und er meinte, ihm sehe das nicht nach einem Sturz aus. Aber ich sagte, das sei schon richtig, es sei so gewesen, wie mein Mann es geschildert habe. Er hakte noch eine Weile nach, aber ich blieb bei dieser Version. Warum?«

Evelin zuckte die Schultern.»Es machte anders keinen Sinn mehr. Alles war tot in mir. Was mir blieb, war Tim. Ohne ihn würde ich nicht leben können.«

«O Gott, Evelin«, sagte Jessica leise.»Evelin, es tut mir entsetzlich leid. Du hast so Schreckliches durchgemacht. Tim hat diesen Sachverhalt mit keinem Wort in seinem Dokument erwähnt.«

«Er wurde auch zwischen uns nie zur Sprache gebracht. Ich war die Treppe hinuntergefallen, ungeschickt und trampelig, wie ich nun einmal bin.«

«Aber wieso hast du dich niemandem anvertraut? Ich meine, vielleicht war es ein Problem, mit diesem dir fremden Arzt darüber zu sprechen. Aber deine Freunde! Patricia, Leon, Alexander. Damals gehörte auch Elena noch dazu! Warum hast du mit keinem von ihnen gesprochen?«

Evelins leerer Blick füllte sich mit einer Art Staunen.

«Aber sie wußten es doch«, sagte sie.

Jessica vergaß für einen Moment ihre Angst, so perplex und fassungslos war sie.»Du hast es ihnen gesagt? Und sie haben nichts unternommen?«

«Ich mußte es ihnen nicht sagen. In den Tagen nach der Operation besuchten sie mich der Reihe nach im Krankenhaus, und bei jedem einzelnen von ihnen konnte ich sehen und fühlen, daß er Bescheid wußte. Sie faselten von einem tragischen Unglück und konnten mir dabei nicht in die Augen schauen. Sie waren so verlegen… mein Gott, nie habe ich eine Ansammlung derartig verlegener und schuldbewußter Menschen erlebt! Alexander wand sich wie ein Wurm, zerrissen zwischen seinem Gefühl für Moral und seiner Feigheit, und wie üblich siegte die Feigheit. Patricia redete ohne Unterbrechung, sie schnatterte das Problem einfach weg, und sie redete wahrhaftig nichts als Scheiße! Leon brachte mir den größten Blumenstrauß, den ich je gesehen hatte, und sagte, ich würde aber wirklich schon wieder gut aussehen, dabei hatte er mich kaum eines Blickes gewürdigt. Dann begann er mit der Krankenschwester zu flirten, als sie hereinkam, und meinte anschließend augenzwinkernd, er werde besser nicht mehr kommen, das sei ja gefährlich hier mit so vielen hübschen Mädchen. Elena erschien überhaupt nicht. Ihre Ehe mit Alexander steckte bereits in der Krise, und wahrscheinlich wollte sie nicht alles schlimmer machen, indem sie sich in mein Unglück einmischte. Und Patricias Kinder malten mir, auf Anweisung ihrer Mutter vermutlich, Bilder mit Buntstiften. Blumen und Vögel und blauer Himmel, und darunter stand irgendein Zeug wie: Werde bald wieder gesund, liebe Tante Evelin! Ich hätte kotzen mögen. Es war wie immer, und wie immer hieß es: Es war nichts passiert. Evelin hatte einfach wieder einmal Pech gehabt. Ich stolperte ja ohnehin ständig und fiel über meine eigenen Füße. Diesmal hatte meine Ungeschicklichkeit eben eine dramatische Dimension angenommen. Man verdrängte es und ging zur Tagesordnung über.«

«Evelin, mir tut das alles sehr leid«, sagte Jessica,»und ich schwöre dir, daß ich nichts davon gewußt habe. Ich wußte nichts von deinem Martyrium.«

Evelin sah sie höhnisch an.»Und wie hast du dir das dann erklärt? Meine ständigen Verletzungen? Erinnerst du dich an die letzten Tage hier? Wie ich herumgehumpelt bin und vor Schmerzen im Fuß fast nicht auftreten konnte? Was dachtest du da?«

Jessica hob hilflos die Schultern.»Ich dachte, es stimmt, was du gesagt hattest. Eine Überanstrengung beim Joggen.«

«Ja, weil die fette Evelin eben untauglich ist für jede Art von Sport, nicht wahr? Du dachtest, was muß dieses Nilpferd denn auch unbedingt joggen! Stimmt's? Hast du das gedacht?«

«Nein. Ich habe nie abfällig von dir gedacht. Ich habe gemerkt, daß du depressiv bist, und vielleicht hätte ich viel mehr insistieren müssen, dich drängen, dich zwingen, daß du dich mir anvertraust. Ich weiß nicht, warum ich es nicht getan habe. Ich begann ja erst langsam zu merken, daß in dieser Clique etwas nicht stimmte, und das schuf Probleme zwischen mir und Alexander, und wahrscheinlich war ich mit diesen Problemen einfach zu sehr beschäftigt. Aber«, sie sah Evelin an, schüttelte, noch immer voller Verwunderung, langsam den Kopf,»du kannst dich nicht von aller Mitschuld freisprechen, Evelin. Du hast auch nichts gesagt. Du warst wie sie. Du hast genauso geschwiegen.«

Evelins Blick glitt wieder ins Leere, wich Jessicas Vorwurf aus.

Nicht, dachte Jessica entsetzt, tauch nicht wieder weg!

Ein Instinkt sagte ihr, daß Evelin zu lenken war, wenn sie in der Realität weilte, wenn sie ihr Gegenüber bewußt wahrnahm. Und daß sie gefährlich wurde, wenn sich diese völlige Leere über ihren Zügen ausbreitete.

«Du hast alles getan, Tim zu schützen«, sagte sie hastig und eindringlich,»und auch wenn die anderen alle Bescheid wußten, so war ihnen vielleicht nicht klar, daß du Hilfe haben wolltest! Du hast jede Lüge mitgetragen. Unfall beim Joggen, Mißgeschick beim Tennis, gegen einen Schrank gerannt, Treppe hinuntergestürzt. Du hast dich an heißen Tagen in dicke Rollkragenpullover gesteckt, weil vermutlich blaue Flecken an deinem Hals waren, die keiner sehen sollte. Du hast doch mitgespielt, Evelin! Tim konnte das alles nur tun, weil er in dir seine beste Verbündete hatte. Du hast es ihm so leichtgemacht. Und seinen Freunden so schwer. Du hast nicht geschrien. Du hast dich nicht gewehrt!«

Evelins Blick blieb ohne Ausdruck, ihre Stimme hatte die alte Monotonie wieder angenommen.

«Doch«, sagte sie,»ich habe mich gewehrt. Gegen euch alle. Am Ende habe ich mich gewehrt.«

Sie hob langsam die rechte Hand. Zu ihrem Entsetzen erkannte Jessica eines der Anglermesser, die in der Küche über dem Spültisch hingen. Schmal, gebogen, scharf wie eine Rasierklinge. Der Zwilling jenes Messers, mit dem fünf Wochen zuvor sämtliche Hausbewohner abgeschlachtet worden waren. Von einer Frau, die durch jahrelange Demütigungen den Verstand verloren hatte — und die Kontrolle über sich selbst. Von einer Frau, in deren Zügen Jessica nichts mehr von der Evelin wiederfand, die sie gekannt hatte.

Halte sie am Reden, sagte ihr eine innere Stimme, hole sie aus der Leere zurück. Das ist deine einzige Chance.

«Was war passiert, Evelin?«fragte sie.»An jenem Tag, was war da passiert?«

Evelin lachte. Es klang hohl und unecht.»Was war denn am Vorabend passiert?«fragte sie zurück.»Das solltest du besser fragen. Hast du da nicht freudestrahlend und triumphierend verkündet, daß du ein Baby erwartest?«

«Nein«, korrigierte Jessica,»ich habe gar nichts verkündet. Das war Alexander. Und er war weder freudestrahlend noch triumphierend. Es war eine peinliche und furchtbare Situation, nachdem Patricia ihren unsäglichen Auftritt mit Ricardas Tagebuch gehabt hatte, und Alexander versuchte etwas zu retten, indem er mit der Nachricht von dem Baby herausplatzte.«

Evelin schien ihr nicht zugehört zu haben.

«Ich ging ins Bett, verzweifelt, in Tränen aufgelöst. In meiner nächsten Nähe eine Frau, die ein Baby erwartete. Ich würde mich nicht entziehen können, ich würde ihre Schwangerschaft miterleben und ihr tiefes Glück, wenn das Baby erst da wäre. Ich, die ich seit Jahren die Straßenseite wechsle, wenn mir eine Frau mit Kinderwagen entgegenkommt. Die ich in Hauseingänge flüchte, wenn ich eine Schwangere sehe, weil ich meinen Schmerz nicht ertragen kann. Weißt du, wie es sich anfühlt, ein Baby zu verlieren? Es ist, als ob ein Teil deines Herzens abgeschnitten wird, und wenn du kein anderes Kind bekommst, erhältst du diesen Teil deines Herzens nie zurück. Es bleibt eine große, blutende Wunde. Es bleibt eine andauernde furchtbare Traurigkeit, von der du genau spürst, daß sie dich nie verlassen wird, auch nach Jahrzehnten nicht. Und du siehst sie plötzlich überall, diese fetten, stolzgeschwellten Weiber, die ihre schwangeren Bäuche durch die Straßen schieben, die dich verhöhnen mit ihrer ganzen demonstrativen Gebärfähigkeit. Weil sie das erfüllen, wozu sie als Frauen auf der Welt sind. Sie gebären. Sie werden ihrer Aufgabe gerecht. Die Erhaltung der Art. Ihr Job. Ihr blöder, beschissener Job. Aber wenigstens erledigen sie ihn zur Zufriedenheit.«

«Evelin«, sagte Jessica beschwörend,»das ist doch nicht das einzige, wozu du als Frau auf der Welt bist! Um Gottes willen, reduziere doch dich und andere Frauen nicht darauf. In welche dunkle Zeit tauchst du da zurück? In eine Zeit, in der Mütter ihren Töchtern beibrachten, ihr einziger Lebenssinn sei es, ihren künftigen Gatten sexuell zufriedenzustellen und ihm einen Erben zu gebären? Du wirfst ja alles weg, was Frauen seither für sich völlig zu recht erkämpft haben!«

Wieder kehrte für einen Moment das Leben in Evelins Augen zurück.

«Wozu ist eine wie ich denn gut?«fragte sie heftig und voller Verbitterung.»Wozu denn?«

Es erschien Jessica schwierig, einer Massenmörderin darauf Antwort zu geben, und doch war sie überzeugt, daß es richtig war, was sie sagte.

«Du bist Evelin. Und zunächst einfach wertvoll, weil du du bist. Und darüber hinaus stecken tausend Möglichkeiten in dir, mit denen du dein Leben für dich und andere zutiefst sinnvoll gestalten kannst. Nur daß du seit sechs Jahren diese Möglichkeiten überhaupt nicht mehr sehen kannst, weil du nur um den Gedanken an ein Baby kreist. Zu dir kann ja sonst nichts durchdringen. Aber das heißt nicht, daß es nicht da ist.«

Evelin verzog das Gesicht.»Dummes Gerede«, sagte sie,»die gleiche Leier, die ich von meinem Therapeuten kenne. Glücklicher Vater übrigens von drei Kindern. So wie du demnächst eine glückliche Mutter sein wirst. Wie leicht ist es für euch, den armen Schweinen in eurer Mitte zu erklären, daß sie ihr Schicksal positiv annehmen müssen. Wieso seid ihr so sicher, daß ihr es umgekehrt so einfach könntet?«

«Wir sind ja gar nicht sicher«, sagte Jessica, und dann sah sie, wie sich wieder die Schleier über Evelins Augen senkten und wie die einstige Freundin ihr erneut entglitt.

Verdammt, dachte sie.

«Schließlich kam Tim in unser Zimmer«, fuhr Evelin in ihrer Schilderung jener Stunden im April fort.»Ich war wach, versuchte ein Buch zu lesen, um mich ein wenig abzulenken. Tim setzte sich an den Schreibtisch, arbeitete an seiner Promotion, wie er es ja immer nannte. Dann kam Leon, Tim verschwand, ich las in den Papieren. Ich habe es dir ja erzählt. Dann erschien Tim wieder, er hatte einen Ausdruck im Gesicht, den ich nur zu gut kannte. Er war wieder einmal in einer sadistischen Stimmung. Er würde nicht eher ruhen, bis er mich fertiggemacht hatte, das wußte ich. Er ging auf und ab, zog sich aus, schleuderte die Sachen in die Ecken, ging ins Bad, putzte sich die Zähne, spritzte mit Wasser herum, knallte den Zahnputzbecher auf die Ablage. Er benahm sich aggressiv und unbeherrscht, und ich wußte, daß mich Schlimmes erwartete. Schließlich kam er wieder ins Schlafzimmer zurück, warf sich in einen Sessel, sah mich kalt an und meinte: ›Alexander hat es gut. Er wird wieder Vater. Irgendwie hat er einen guten Griff bei seinen Frauen. Soll ich dir etwas sagen? Es ist eine zunehmend unerträglichere Vorstellung für mich, daß ich nie Kinder haben werde, nur weil du nicht in der Lage bist, sie zur Welt zu bringen.‹

Ich war völlig entsetzt, denn so weit war er noch nie gegangen. Er hatte mir immer wieder gesagt, wie unzulänglich ich bin, wie wertlos, wieviel häßlicher und unweiblicher als andere Frauen, aber das Thema Baby war ein Tabu gewesen, es kam zwischen uns nie zur Sprache, und er hatte es auch noch nie gegen mich verwendet.

Ich dachte, ich könnte nicht mehr atmen, mir war die Luft wie abgeschnürt, ich konnte nichts sagen, nichts erwidern, es war, als müßte ich auf der Stelle sterben. Tim schleuderte seine Sandalen von den Füßen und sagte, ohne mich anzusehen: ›Vielleicht nehme ich mir dafür eine andere. Irgendeine Frau, die es schafft, mir ein Kind zu schenken. Gibt ja genug, die damit klarkommen. Es könnte bei uns aufwachsen.‹ Er sagte das in dem gleichen Ton, in dem ein anderer Mensch ankündigen würde, er gehe jetzt etwas einkaufen oder werde den Garten gießen. Ganz normal, ganz gleichmütig. Als sei ihm nicht klar, was seine Worte in mir auslösen mußten.«

«Aber natürlich war ihm das klar«, warf Jessica ein,»denn das war ja der einzige Zweck der Übung. Dich fertigzumachen. Ihm ging es doch nicht um ein Kind, und ich bezweifle stark, daß ein solcher Narziß wie er, eine solch kranke Persönlichkeit jemals ein Kind ertragen hätte. Evelin, das konntest du doch nicht ernst nehmen. Wäre es nicht ein Baby gewesen, hätte er etwas anderes ausgesucht. Ihm wäre immer etwas eingefallen. Er schreibt es ja in seinen unsäglichen Aufzeichnungen. Nur um dich zu quälen, hat er dich schließlich geheiratet.«

«Ich schlief die ganze Nacht nicht«, fuhr Evelin fort,»ich hatte Herzrasen, und einmal mußte ich ins Bad und mich übergeben. Tim lag neben mir und schnarchte friedlich. Am nächsten Morgen war ich wie… wie im Fieber, fröstelnd vor Kälte und dabei innerlich glühend. Und entschlossen, diese Aufzeichnungen an mich zu bringen, die euch die Augen öffnen würden. Ich versteckte sie in der Sickergrube und hoffte, daß Tim nicht ausrasten würde. Aber natürlich wurde er mit jeder Minute des Vormittags wütender, und bald war mir klar, daß ich bitter bezahlen würde, selbst wenn er wohl in seinen finstersten Träumen nicht vermutet hätte, daß ich die Papiere an mich gebracht hatte. Ich zog mich ein Stück weit in das Wäldchen zurück. Ich hatte das Haus im Auge, so daß ich sehen konnte, wenn er sich mir näherte, aber er konnte mich nicht sehen, und das würde mir die Möglichkeit geben, wegzulaufen.«

Jessica schwieg. Sie beobachtete Evelin genau, bereit, sofort einzuhaken, wenn sich die geringste Regung auf ihrem Gesicht zeigen würde.

«Und dann kam Phillip Bowen«, sagte Evelin. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, aber es war ein irres, grausiges Lächeln.»Und er hat mir den Weg gewiesen.«

«Er hat dir den Weg gewiesen?«fragte Jessica, während sie verzweifelt überlegte, was sie tun konnte, um sich in Sicherheit zu bringen. Evelin war dabei, völlig durchzudrehen, das konnte sie sehen, und vermutlich würde sie sie nicht mehr erreichen. Von welchem Punkt an würde Evelin auch in Jessica eine Feindin sehen, die sich von Anfang an mit den anderen Feinden gegen sie verbündet hatte?

Sie standen knapp zwei Meter voneinander entfernt, zwischen sich die Bank, die Jessica natürlich keinen Schutz bieten würde. Weglaufen konnte Jessica nur in Richtung Wald,also dorthin, wo sich auf unendlich viele Meilen hin kein Haus, kein Dorf, kein Gehöft mehr befand. Aber selbst wenn es ihr gelingen würde, an Evelin vorbeizukommen und in Richtung Stanbury zu laufen, blieb die Frage, wie lange sie durchhalten konnte. Und ob sie wirklich schneller wäre als Evelin. Sie war schwanger und erschöpft. Evelin war nicht schwanger und ausgeruht. Dafür noch immer recht füllig. Unsportlich. Untrainiert. Aber von einem Wahnsinn getrieben, der ihr ungeahnte Kräfte verleihen mochte. Das galt auch für einen möglichen Zweikampf, zu dem es kommen konnte. Und sie hatte ein Messer.

Lieber Gott, dachte sie, während ihr vor Angst die Tränen in die Augen schossen, die sie kaum zurückzuhalten vermochte, lieber Gott, hilf mir doch! Hilf mir und meinem Baby. Laß sie mich doch irgendwie erreichen! Wenn sie klar wird, kann ich mit ihr reden! Aber was soll ich sagen? Was soll ich sagen, um sie wachzurütteln?

Sie wich kaum merklich ein wenig zurück. Evelin blieb, wo sie war. Das kranke Lächeln war auf ihrem Gesicht wie festgefroren. Sie war jetzt wie in Trance.

«Tim war auf der Suche nach seinen Aufzeichnungen«, sagte sie,»und er war außer sich vor Wut. Er kam über die Wiese und rief nach mir. Ich weiß noch, daß ich Angst bekam, fürchterliche Angst. Der Schweiß brach mir aus, und ich fing an zu zittern. Ich glaube, daß Phillip das merkte. Er legte plötzlich die Hand auf meinen Arm, sah mich an, auf eine ganz merkwürdige Weise, es hatte etwas mit Mitgefühl zu tun und mit Verstehen, jedenfalls war es mehr, als mir irgendeiner von euch in all den vielen Jahren entgegengebracht hat. Und dann sagte er: ›Sie müssen sich diesen Ton nicht gefallen lassen. Niemand sollte so mit Ihnen reden dürfen, auch nicht und erst recht nicht Ihr Mann.‹ Es waren ganz schlichte Worte, viel einfacher und klarer als alles, was Dr. Wilbert je zu mir gesagt hat, aber es war, als knipse jemand einen Schalter an, und es wurde hell, und ich erkannte, was zu tun war. Ich würde es mir nicht länger gefallen lassen. Tim würde nie wieder auf diese Art mit mir reden. Nie wieder.«

«Du hast ihn getötet«, sagte Jessica und wich erneut um einen Zentimeter zurück.

Evelin nickte. In ihr Lächeln mischten sich Stolz und ein Anflug von Selbstgefälligkeit.»Ich ging zu ihm hin und fragte, was los sei, und er sagte, ich solle ihm jetzt gefälligst helfen, seine Unterlagen zu suchen, und nicht fett und faul in der Sonne sitzen. Ich folgte ihm ins Haus. In der Halle blieb er stehen und überlegte, und dann meinte er, er habe noch nicht in der Küche gesucht. Ich sagte: ›Wieso solltest du denn deine Unterlagen in der Küche verstaut haben?‹ Er schnauzte mich an: ›Und wenn wir die ganze Küche auseinandernehmen, wenn wir das ganze verdammte Haus auseinandernehmen, wir suchen jetzt, bis wir die Sachen gefunden haben.‹

Wir gingen in die Küche, und er riß alle Schubladen und Schränke auf und stöberte darin herum, und ich suchte mit, obwohl ich ja wußte, daß die Papiere dort nicht sein konnten. Und dann fiel mein Blick auf die Anglermesser über der Spüle, und fast gleichzeitig sah ich, daß Tim auf den Knien lag und in einem der Unterschränke wühlte. Ich nahm das Messer vom Haken, trat dicht an ihn heran und beugte mich über ihn. Ohne hochzuschauen, sagte er: ›Verdammt, geh mir aus dem Licht!‹ Aber anstatt ihm aus dem Licht zu gehen, beugte ich mich noch tiefer und schnitt ihm die Kehle durch. Er gab keinen Laut von sich, plumpste auf den Bauch und blieb liegen.

«Und dann bist du weitergegangen und hast jeden getötet, der deinen Weg kreuzte«, sagte Jessica.

Evelin sah plötzlich angestrengt aus.»Ich erinnere mich so schlecht. Es liegt ein Schleier über allem, was war. Ja, ich sehe Patricia. Sie kniet an dem Blumentrog im Hof, nicht wahr? Ich töte sie und laufe weiter. In den Park. Ich sehe jemanden auf einer Bank sitzen. Einen Mann. Ich sehe ihn nur von hinten. Er hört mich nicht kommen. Er ist versunken in seine Gedanken. Ich glaube, ich könnte schreien, aber er würde mich nicht hören.«

«Alexander«, flüsterte Jessica. Ihre Ohren begannen zu rauschen, ihr Mund fühlte sich strohtrocken an.»Bitte, nicht weiter…«

Es war fraglich, ob Evelin sie überhaupt gehört hatte.

«Ich töte ihn. Es geht so einfach. Sie sind alle so leicht zu töten. Es kostet mich nichts, keinerlei Anstrengung. Sie wehren sich nicht. Sie sterben einfach. Und ich begreife nicht, weshalb ich so lange damit gewartet habe. So viele Jahre. So viele Jahre leiden unter ihnen. Dabei ist es so einfach, sie zu töten.«

Sie schüttelte den Kopf, tief verwundert.»So einfach«, wiederholte sie.

«Warum Diane?«fragte Jessica tonlos.»Warum Sophie? Warum zwei kleine Kinder?«

Evelin bekam wieder den angestrengten Gesichtsausdruck.

«Sie haben über mich gelacht. Immer wieder. Sie haben geflüstert, wenn ich in ihre Nähe kam. Ich habe gesehen, wie sie mich verachteten. Ich war der letzte Dreck in ihren Augen. Es ist in Ordnung, daß sie bezahlt haben. Daß sie tot sind.«

Sie starrte Jessica an.

Gleich, dachte Jessica, fällt ihr auf, daß ich auch zu ihnen gehört habe.

«Evelin, hör zu«, sagte sie,»dir muß doch klar sein, daß du Phillip völlig falsch verstanden hast an jenem Tag. Er hat nie im Leben gemeint, du sollst hingehen und deinen Mann und seine Freunde töten. Er hat gemeint, geh hin zu Tim, schrei ihn an, verbitte dir diesen Ton, nimm dir einen Anwalt, reiche die Scheidung ein, zeige ihn an wegen Körperverletzung, fordere Schmerzensgeld und Unterhalt in astronomischen Höhen. Geh hin zu deinen und seinen Freunden, die du nicht mehr Freunde nennen mußt, wenn du nicht willst, und klage sie an, erzähle ihnen, was passiert ist, und mache ihnen klar, wie jämmerlich sie versagt haben. Aber verbaue dir doch nicht dein eigenes Leben, indem du wehrlose Menschen abschlachtest, die sich dir gegenüber falsch verhalten haben, die du aber auch nie konfrontiert hast mit der Hölle, in der du gelebt hast. Sie sind gestorben, ohne daß sie sich verantworten mußten für ihre Feigheit, ihr Wegschauen, ihr Schweigen. Gibt dir das wirklich ein gutes Gefühl?«

«Die haben sich verantwortet«, entgegnete Evelin mit Schärfe in der Stimme,»die haben für mein verpfuschtes Leben mit ihrem Leben bezahlt. Das ist Gerechtigkeit.«

«Dein Leben ist doch nicht verpfuscht. Du bist jung. Es gibt tausend Männer auf der Welt, die dich glücklich machen können. Warum hast du nicht Tim einfach einen Fußtritt gegeben und bist gegangen?«

«Es hätte nicht ausgereicht«, sagte Evelin, und nach einer Sekunde des Schweigens setzte sie aggressiv hinzu:»Und hör auf, mir zu sagen, was ich hätte tun sollen! Du bist kein bißchen besser als sie. Du hast mich verhöhnt und verspottet. Du hast dich geweigert, mir zu helfen. Du hast mich genauso im Stich gelassen wie all die anderen. Du spielst dich auf als Freundin und Beraterin, aber in Wahrheit war ich dir immer scheißegal.«

«Ich bin sofort hierhergekommen, als du mich angerufen hast. Ich stehe jetzt hier mit dir und lasse mich anklagen, während zu Hause möglicherweise Patienten vor meiner Praxis, deren Wiedereröffnung ich überall angekündigt habe, stehen und wahrscheinlich so wütend sind, daß ich sie nie wiedersehe. Würde ich das tun für eine Frau, die mir scheißegal ist?«

Aber Evelin ging auf diese Erklärung mit keinem Wort ein,und Jessica begriff, daß es kaum einen Sinn machte, mit ihr zu reden.

«Du denkst doch nur an dein Baby, an dein dreckiges Baby«, sagte Evelin voller Haß.»Und du denkst, du bist der bessere Mensch, nur weil in deinem Bauch irgendein blöder Balg wächst, während mein Bauch tot ist für immer!«

«Das ist Unsinn«, erwiderte Jessica, und in diesem Moment trat wieder der Ausdruck tiefsten Wahnsinns in Evelins Augen, und sie machte zwei schnelle Schritte auf Jessica zu, das Messer fest in der Hand.

«Du bist die nächste«, stieß sie leise hervor,»du und dein verdammter Balg, ihr seid die nächsten!«

Geistesgegenwärtig machte Jessica einen Sprung zur Seite und ließ Evelin ins Leere laufen. Sie stand jetzt neben der Bank und hatte die Wahl, in welche Richtung sie laufen wollte. Im Bruchteil einer Sekunde entschied sie, weder in Richtung Dorf zu fliehen noch in den Wald; gegenüber der vor Haß wahnsinnigen Evelin hätte sie in beiden Fällen keine Chance gehabt. Statt dessen rannte sie zum Haus hinüber, dessen Tür noch offenstand. Sie stürzte in die Halle, schlug die schwere Holztür hinter sich zu. Es steckte kein Schlüssel, und es blieb keine Zeit, nach ihm zu suchen. Jeden Moment würde Evelin hereingestürmt kommen. Jessica drehte sich um, jagte durch die Halle und, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf.

17

Sie überlegte, wo sich ihre Handtasche befand, und ihr fiel ein, daß sie sie auf der Bank abgestellt hatte. Ihr Handy befand sich darin, so daß sie keine Möglichkeit hatte, Hilfe herbeizutelefonieren. Zwar befand sie sich zunächst in Sicherheit: Sie hatte sich in das Schlafzimmer geflüchtet, das sie mit Alexander geteilt hatte, hatte die Tür zugeknallt und den Schlüssel umgedreht. Sie war auf das Bett gesunken und hatte erstaunt auf ihre Hände geblickt, die unkontrolliert zitterten. Es dauerte zehn Minuten, bis sich ihre Atmung beruhigt hatte und ihr Herz einigermaßen normal schlug.

Sie schaute sich in dem Zimmer um.

Bis auf den modrigen Geruch, der bewies, daß lange kein Fenster mehr geöffnet worden war, und die Staubschicht, die über allen Gegenständen lag, vermittelte der Raum den Eindruck, als seien seine Bewohner nie abgereist — oder, wie Jessica im stillen hinzufügte, ermordet worden. Das Bett war ordentlich gemacht, aber auf Alexanders Seite schaute ein Stück seines blauen Schlafanzugs heraus. Ein Pullover von ihm lag über der Sessellehne, eine Krawatte hing über der Ecke des Spiegels. Jessica hatte damals, ehe sie ins The Fox and The Lamb übersiedelte, ein paar Dinge mitgenommen, aber sie hatte es später entgegen ihrer ursprünglichen Absicht nicht fertiggebracht, hierherzukommen und den Rest einzupacken, ehe sie nach Deutschland zurückflog. Sie entdeckte ein Paar Ohrringe von sich auf der Kommode und ihr Duschhandtuch, das sie über einen Stuhl gehängt hatte. Am Fenster standen, völlig vertrocknet und braun geworden, die Narzissen, die sie gepflückt hatte. Das Wasser war längst in der Vase verdunstet.

Sie stand auf, ging ins Bad, in dem noch Alexanders Zahnbürste und sein Rasierzeug lagen, drehte das Wasser auf und spritzte sich einige Tropfen ins Gesicht. Im Spiegel sah sie, daß sie grau war bis in die Lippen und daß sich Schweißflecken unter ihren Armen abzeichneten.

Ich sehe vollkommen fertig aus, dachte sie.

Sie verließ das Bad wieder, trat ans Fenster, blickte hinaus. Nichts war zu sehen, still und einsam lag der Hof in der Sonne, schlängelte sich der Weg zwischen den hohen Wiesen in Richtung Stanbury.

Wenn doch jemand käme, flehte sie inbrünstig, wenn doch irgend jemand käme!

Aber welchen Grund sollte es geben, daß jemand hier herauskam? Vielleicht einmal der eine oder andere Tourist, der das Haus des Grauens, wie manche englische Zeitung Stanbury House genannt hatte, ansehen wollte, aber die Wahrscheinlichkeit, daß dies innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden passieren würde, war mehr als gering. Tatsache war, sie saß hier fest, und zwar auf unabsehbare Zeit. Unten in der Halle stand das Telefon. Wen könnte sie anrufen? Wie lautete noch die Nummer der englischen Polizei? An jenem schrecklichen 24. April hatte sie sie sofort parat gehabt, aber in diesem Moment wollte sie ihr nicht einfallen.

Die einzige Nummer aus der Gegend, die sie im Kopf hatte, war die der Putzfrau, Mrs. Collins. Sie könnte sie anrufen und sie bitten, die Polizei nach Stanbury House zu schicken.

Aber welches Risiko ging sie ein, wenn sie jetzt nach unten lief?

Sie trat an die Tür, lauschte hinaus. Alles war totenstill. Das Haus war alt, überall gab es knarrende Fußbodendielen. Evelin konnte sich nicht lautlos in den Räumen bewegen, wahrscheinlich konnte sie nicht einmal die Treppe heraufschleichen, ohne eine Menge Geräusche zu machen.

Aber vorhin, als ich auf dem Bett saß und zitterte, dachte Jessica, da habe ich auf gar nichts geachtet. Da hätten Elefanten durchs Haus gehen können, und ich hätte es wahrscheinlich nicht gemerkt. Sie kann heraufgekommen sein und jetzt neben meiner Tür stehen und auf mich warten.

Der Gedanke jagte ihr Schauer über den Körper, unwillkürlich trat sie von der Tür zurück. Sie sagte sich, daß sie jetzt auf keinen Fall die Nerven verlieren durfte und daß es zwei Hoffnungsschimmer gab: Der eine bestand darin, daß Evelins Irrsinn so schnell zusammenbrechen würde, wie er aufgeflammt war, denn auch damals hatte sie sich nach ihrer Tat in ein hilfloses Bündel Elend verwandelt, das keiner Fliege mehr hätte etwas zuleide tun können. Zwar hatte sie diesmal ihr Vorhaben nicht verwirklichen können, aber es mochte trotzdem geschehen, daß sie zur Besinnung kam, das Messer fallen ließ und überhaupt keine Erinnerung mehr daran hatte, was geschehen war.

Ihr zweiter Hoffnungsschimmer hieß Phillip Bowen. Er war vor nicht allzu langer Zeit hier gewesen, und es bestand eine vage Chance, daß er sich noch immer in der Gegend aufhielt. Vielleicht sah er das Auto vor dem Haus, vielleicht die Handtasche auf der Bank. Er würde erkennen, daß Menschen hier waren. Die Frage war, ob er versuchen würde, mit diesen Menschen Kontakt aufzunehmen. Er wurde landesweit gesucht und hatte keine Ahnung, daß sich der wahre Täter gegenüber Jessica enttarnt hatte. Er mochte Angst haben, in Erscheinung zu treten.

Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, war aber eine weite Strecke gelaufen und hatte sich zudem nervlich völlig verausgabt. Jetzt merkte sie, daß sie ganz schwach war vor Hunger. Zum Glück hatte sie genug zum Trinken. Sie ging ins Bad, füllte den Zahnputzbecher zweimal hintereinander mit Wasser, trank in großen, gierigen Zügen. Der Hunger jedoch und das damit verbundene Schwächegefühle quälten sie unvermindert.

Ich habe jetzt wirklich größere Sorgen als die, etwas zu essen zu bekommen, sagte sie streng zu sich selbst, aber trotzdem meinte sie, in Tränen ausbrechen zu müssen, weil sie so wacklig auf den Beinen war. Und natürlich auch, weil sie in der Falle saß und keine Ahnung hatte, was sie tun könnte. Sie zog Alexanders Schlafanzug unter der Bettdecke hervor und preßte ihn an ihr Gesicht. Er roch schwach nach ihrem toten Mann, und nun fing sie tatsächlich an zu weinen, erst ganz schwach nur, dann immer stärker, sie schluchzte, daß es sie am ganzen Körper schüttelte. Sie lag auf dem Bett und weinte um Alexander, um ihre Liebe, um ihre Enttäuschungen, um die Unmöglichkeit, noch einmal miteinander zu sprechen, Fragen zu stellen, Antworten zu erhalten. Sie weinte und weinte, und erst nachdem eine Stunde vergangen war, verebbten die Tränen. Sie richtete sich langsam auf und dachte, daß dies endlich das Weinen gewesen war, auf das sie nach Alexanders Tod so lange vergeblich gewartet hatte.

Es war Viertel nach drei. Seit sie mit Dr. Wilbert telefoniert hatte, waren mehr als zwei Stunden vergangen. Wahrscheinlich wartete der Arzt voller Nervosität auf ihren Anruf, vielleicht versuchte er sogar selbst, sie zu erreichen. Ihre Handynummer hatte sie ihm damals gegeben. Ob er die englische Polizei informieren würde, wenn sich Jessica auf die Dauer nicht meldete?

Sie ging erneut ins Bad, wusch ihr verweintes Gesicht, näherte sich dann wieder ihrer Zimmertür und lauschte ins Treppenhaus. Es herrschte immer noch vollkommene Stille. Wenn Evelin in den gleichen Zustand verfallen war wie damals nach den Morden, dann würde sie sich vermutlich ohne fremde Hilfe überhaupt nicht mehr bewegen können. Und wenn Wilbert nicht auf die Idee kam, die Polizei anzurufen, konnte die Situation sich ewig hinziehen.

Das Weinen hatte Jessica erleichtert, sie fühlte sich ein wenig gestärkt und zuversichtlicher. So langsam und leise sie nur konnte, drehte sie den Schlüssel um, öffnete millimeterweise die Tür, spähte hinaus in das dämmrige Treppenhaus. Es war still und leer, und auch hier herrschte der dumpfe, leblose Geruch, den Räume annehmen, in denen sich lange Zeit kein Mensch aufgehalten hat.

Jessica sah sich sorgfältig nach allen Seiten um und huschte dann die Treppe hinunter. Natürlich knarrten immer wieder Stufen, dann verharrte sie jedesmal, hielt den Atem an und schaute sich erneut um, aber um sie herum blieb es ruhig. Sie sah das Telefon auf dem kleinen Tischchen neben der Küchentür. Kurz überlegte sie, was gefährlicher war: Wenn sie vom Haus aus telefonierte und eine möglicherweise irgendwo in den Zimmern versteckte Person mit ihrer Stimme auf sich aufmerksam machte, oder wenn sie hinauslief und versuchte, an ihre Handtasche und das Handy zu kommen. Dabei konnte man sie leichter beobachten. Sie beschloß, den Apparat in der Halle zu benutzen.

Auch auf dem Telefon lag eine Staubschicht, aber zum Glück war es nicht abgemeldet worden; als sie den Hörer aufnahm, erklang das Freizeichen. Aus dem Gedächtnis tippte sie Mrs. Collins' Nummer ein.

Bitte sei da, betete sie stumm, bitte sei zu Hause!

Wenigstens war Mrs. Collins' Leitung nicht besetzt. Jessica hielt den Telefonhörer so fest umklammert, daß ihre Hände zu schmerzen begannen.

Warum geht sie nicht hin? Vielleicht liegt sie im Garten und braucht länger. Verdammt, geh doch hin!

«Leg den Hörer auf«, sagte Evelin. Sie stand wie aus dem Boden gewachsen in der Küchentür, das Messer noch immer in der Hand. Um den Mund herum war sie mit irgendeinem undefinierbaren Zeug verschmiert, das säuerlich roch. Offenbar hatte sie ihrer Lieblingsbeschäftigung gefrönt und sich wahllos mit Lebensmitteln aus dem Kühlschrank vollgestopft.

Ungeachtet der Tatsache, daß die Sachen dort seit Wochen standen, weit über das Verfallsdatum hinaus und völlig vergammelt. Jessica mußte einen jähen Anflug von Brechreiz unterdrücken.

«Evelin«, sagte sie mühsam,»ich denke, jemand sollte kommen und uns abholen.«

«Leg sofort den Hörer auf«, wiederholte Evelin scharf. Jessica kam ihrer Aufforderung nach. Es läutete noch immer bei Mrs. Collins. Sie war wohl nicht daheim.

«Jetzt knie nieder«, befahl Evelin. Sie sah grotesk aus mit ihrem verschmierten Gesicht, dem Jeanshemd, über dessen Brust Milch gekleckert war, und dem Anglermesser in der Hand. Wie die Hauptdarstellerin eines Horrorfilms in einer irren Szene.

Jessica wollte zur Tür, aber Evelin sprang ihr mit einer erstaunlich behenden Bewegung in den Weg.

«Diesmal bezahlst du«, sagte sie.

Jessica kehrte um und rannte in den hinteren Teil der Halle, stieß die Kellertür auf. Sie wollte jetzt um jeden Preis aus dem Haus, und sie wußte, daß es im Keller einen Ausgang gab. Zu spät fiel ihr ein, daß sie es auch über die Terrasse hätte versuchen können. Sie zog die Tür hinter sich zu, tastete nach dem Lichtschalter. Die nackte Glühbirne an der weiß gekalkten Decke flammte auf. Jessica hörte, daß hinter ihr die Tür verriegelt wurde. Evelin schien nicht vorzuhaben, ihr zu folgen.

Sie will mich entweder hier unten aushungern, dachte Jessica, oder am Ausgang warten. Wenn ihr im Moment überhaupt klar ist, daß es einen Ausgang gibt.

Sie blieb stehen und überlegte. Ihre Lage hatte sich deutlich verschlechtert. Sie saß abermals fest, aber diesmal konnte ihre Gegnerin jederzeit zu ihr gelangen. Sie konnte hier unten nicht lange aushalten, weil sie um keinen Preis einschlafen durfte,und wie sollte sie das über Tage hinweg schaffen? Ihr blieb nur noch, alles auf eine Karte zu setzen und zu versuchen, in den Garten zu gelangen. Vielleicht ging Evelin davon aus, daß sie festsaß. Vielleicht war sie in die Küche zurückgekehrt und fuhr fort, alles aufzuessen, was sie dort fand.

Jessica lief die steinerne Treppe hinunter. Wenigstens konnte sie sich frei bewegen, Evelin vermochte von draußen ganz sicher keinen ihrer Schritte zu hören. Sie schob sich zwischen dem jahrzehntealten Gerümpel hindurch, das sich in dem völlig chaotischen Keller angesammelt hatte. Sie fand einen alten Hockeyschläger und nahm ihn an sich, vielleicht konnte er ihr als Waffe dienen. Spinnweben streiften ihr Gesicht, sie mußte husten, weil sie soviel Staub aufwirbelte. Einmal stolperte sie über eine leere Weinkiste, hielt sich an einem ausgedienten Kleiderständer fest und riß ihn dabei zu Boden. Es krachte laut.

«Scheiße«, fluchte sie. Wenn Evelin mitbekam, daß sie sich in dem Keller bewegte, fiel ihr am Ende die Tür nach draußen ein.

Sie wartete eine ganze Weile, um kein weiteres verdächtiges Geräusch zu verursachen, dann erst schob sie sich wieder langsam vorwärts. Der Keller war groß und verwinkelt. Jessica war selten hier unten gewesen. Das einzige, was die Freunde regelmäßig von hier unten geholt hatten, war der Wein gewesen, und meist hatte den einer der Männer ausgesucht und hochgebracht. So kannte sie sich kaum aus und verlor Zeit damit, in jeden Raum und Gang spähen zu müssen, um die ersehnte Tür zu finden.

Sie entdeckte sie in einem Raum, der wohl als Waschküche gedient hatte, ehe Waschmaschine und Trockner in der Küche etabliert worden waren. Fußboden und Wände waren gefliest, es gab einen Wasseranschluß, und von der einen Wand zur anderen spannte sich eine Wäscheleine, an der eine einsame, vergessene Wäscheklammer schaukelte.

Vor allem aber war da die Stahltür, und jetzt zögerte Jessica nicht mehr. Jede Sekunde des Zauderns gebar neue Angst in ihr. Sie packte den Hockeyschläger fester, ging zur Tür, kämpfte ein paar Momente mit dem ziemlich verrosteten Riegel, konnte ihn aber schließlich zur Seite schieben. Sie stieß die Tür auf, fand sich im moosgrünen Dämmerlicht des Treppenaufgangs wieder und stieg entschlossen die glitschigen Stufen hinauf. Sie hob das Gesicht und gewahrte eine große Gestalt, die am Ende der Treppe auftauchte, und sie fing an zu schreien.

«Nein! Nein! Nein!«

Sie hob den Hockeyschläger, bereit, ihrer Feindin die Schulter, den Arm oder das Bein mit der gewaltigen Wucht eines in Todesangst geführten Schlags zu brechen, aber ihr Gegenüber griff blitzschnell nach der Waffe, hielt sie in eisernem Griff fest.

«Jessica, nicht! Ich bin es, Phillip.«

Sie blinzelte. Ihr war schwindlig geworden, und vor ihren Augen verschwammen alle Konturen.

«Phillip!«

Sie konnte ihre eigene Stimme wie aus weiter Ferne hören, so als spreche jemand ganz anderer, der sich hinter ihr oder über ihr befand.»Phillip, o Gott, passen Sie auf, sie ist hier irgendwo. Evelin ist hier irgendwo.«

Sie nahm die letzten zwei Stufen, ließ sich in Phillips Arme ziehen, aber ehe sie der Versuchung nachgeben konnte, ihren Kopf an seine Schulter zu legen und endlich die entsetzliche Anspannung der letzten Stunden von sich abgleiten zu lassen, richtete sie sich wieder auf und entzog sich seiner tröstenden Geste.

«Phillip, sie hat es getan«, sagte sie hastig.»Evelin hat es getan! Sie ist vollkommen durchgedreht. Sie hat ein Messer und wollte auch mich töten. Sie muß hier irgendwo sein,und…«

«Psst«, machte Phillip,»alles in Ordnung. Ganz ruhig. Evelin sitzt neben der Veranda im Gras. Das Messer habe ich.«

Er öffnete seine rechte Hand. Jessica erkannte das Anglermesser.

«Aber…?«fragte sie verwirrt.

«Ich sah sie zum Kellereingang schleichen«, sagte Phillip,»mit diesem scheußlichen Messer in der Hand, und da ich wußte, daß Sie auch hier irgendwo sein mußten, hatte ich das Gefühl, Sie könnten in ziemlicher Bedrängnis stecken.«

Sie sah an ihm vorbei in den Garten. Evelin saß im Schneidersitz mitten im Gras, wie eine dicke, schwarze Raupe. Ihr Gesicht war noch immer verschmiert wie bei einem Kleinkind. Sie starrte vor sich hin, wiegte sich ein wenig, achtete nicht auf die beiden Menschen, die in ihrer Nähe standen. Sie befand sich in einem völlig entrückten Zustand, genau wie damals, als das Verbrechen geschehen war.

Jessica ging auf sie zu, kniete vor ihr nieder. Die dicke Frau hatte Alexander und die meisten seiner Freunde getötet, und sie hatte ihr Stunden der Todesangst bereitet. Und doch konnte sie in diesem Moment nichts anderes für sie empfinden als überwältigendes Mitleid. Sie nahm ihre Hand, die schlaff und feucht in ihrem Schoß lag.

«Evelin«, sagte sie leise.

Evelin rührte sich nicht, hob auch nicht den Blick. Ausdruckslos starrte sie weiter auf das Gras, ohne wahrscheinlich irgend etwas wahrzunehmen. Ein Spuckefaden lief von ihrem rechten Mundwinkel über ihr Kinn. Sie stank entsetzlich nach einer Mischung aus Schweiß und widerlichen Essensresten.

Jessica zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte Evelin vorsichtig das Gesicht ab. Sie hielt dabei immer

noch ihre Hand, erfüllt von dem Wunsch, dieser gequälten, geschundenen Frau ein wenig Wärme und Mitgefühl zu vermitteln — und dabei wußte sie doch, daß sie sie nicht erreichte.

Phillip trat zu den beiden Frauen.

«Ich kam von hinten«, sagte er,»und es war nicht schwer, sie zu überwältigen und ihr das Messer abzunehmen. Innerhalb von Sekunden fiel sie völlig in sich zusammen. Sie setzte sich in die Wiese und war nicht mehr ansprechbar.«

«Waren Sie die ganze Zeit hier?«fragte Jessica.

Er schüttelte den Kopf.»Ich kam hierher, um Abschied zu nehmen. Von Stanbury House und von meinem Vater. Dann wollte ich mich der Polizei stellen. Ich wußte ja, daß ich unschuldig war, und ich wollte nicht länger weglaufen. Aber da tauchten zuerst Evelin auf und dann Sie auf, und ich hatte keine Gelegenheit, ungesehen davonzukommen. Es lag mir daran, von allein zur Polizei zu gehen, nicht von Ihnen beiden entdeckt und festgesetzt zu werden. Ich versteckte mich in dem Kellereingang da unten. Später sah ich Sie dann auf der Bank sitzen.«

«Ich hatte Ihre Grasketten entdeckt. Ich wußte, daß Sie dagewesen sein mußten.«

«Grasketten!«

Er grinste.»Glauben Sie mir, ich merke es gar nicht mehr, wenn ich die Dinger fabriziere. Welch eindeutige Spur!«

«Wenn man Sie kennt«, sagte Jessica.

«Ich war dicht davor, Sie anzusprechen. Aber da erschien plötzlich Evelin. Ich zog mich wieder in den Keller zurück. Als ich später erneut vorsichtig nach oben spähte, waren Sie beide verschwunden. Nur noch Ihre Tasche stand dort, außerdem war das Auto nicht gestartet worden. Ich wußte also, daß Sie noch irgendwo sein mußten. Ich beschloß, daß es mir nun egal wäre,wenn Sie mich entdeckten, durchquerte den Garten, schlug mich durch den Wald seitlich am Haus vorbei und machte mich auf den Weg nach Stanbury. Von dort wollte ich mich mit der Polizei in Verbindung setzen. Aber kurz bevor ich das Dorf erreichte…«, er zuckte mit den Schultern,»kurz bevor ich das Dorf erreichte, kehrte ich um. Weshalb? Ich hatte die ganze Zeit ein dummes Gefühl. Ich kann es nicht erklären. Eine Intuition vielleicht, eine Ahnung… Ich hatte Evelin an jenem Tag, bevor das Verbrechen geschah, ja noch im Park gesprochen, ich hatte das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung begriffen und… ja, ich hatte da noch etwas gespürt, was ich zunächst nicht benennen konnte, aber was mir plötzlich ganz klarwurde: Ich hatte gespürt, daß Evelin krank ist und daß diese Krankheit über eine bloße Depression hinausgeht. Jetzt würde ich sagen: Ich habe ihren Wahnsinn gespürt. Auf einmal war mir zutiefst unwohl bei dem Gedanken, Sie hier allein mit ihr in diesem einsamen Haus zu wissen. Ich lief den ganzen Weg zurück, und ich glaube, ich kam keine Minute zu früh. Ich sah Evelin mit dem Messer in der Hand zum Kellereingang schleichen. Sie wollte Sie dort wohl abpassen.«

Jessica merkte, wie eine Woge kleiner Kälteschauer über sie hinwegflutete. Wäre Phillip nicht gewesen, hätte Evelin direkt hinter der Tür auf sie gewartet. Gestört, wie sie war, hatte sie doch die Schritte ihrer vermeintlichen Freundin vorhersehen können.

«Ich wäre jetzt vielleicht schon tot«, murmelte sie.

Evelin gab leise, unverständliche Laute von sich. Es hörte sich an wie ein Singsang. Vielleicht ein Kinderlied, dachte Jessica. Vielleicht singt sie ihrem Baby, das auf so brutale Art sterben mußte, ein Lied vor.

Sie ließ Evelins Hand los, die sofort kraftlos in ihren Schoß zurückfiel. Sie stand auf.

«Können Sie bei ihr bleiben?«fragte sie.»Ich muß

telefonieren. Ich werde Norman anrufen, und dann muß ich auch bei Evelins Psychotherapeuten Entwarnung geben.«

«Gehen Sie nur«, sagte Phillip.»Ich bleibe bei ihr.«

Mit langsamen Schritten ging sie zum Haus zurück. Ihr Hunger war verflogen, aber sie sehnte sich nach einer Dusche. Sehnte sich nach ihrem Zuhause, nach Barney, nach ihrer Praxis. Nach der Normalität. Die Frage war, ob sie sie jemals wiederfinden konnte.

Sie nahm ihre Handtasche mit. Kramte ihr Handy hervor. Es zeigte eine ganze Reihe eingegangener Anrufe an. Wahrscheinlich Dr. Wilbert. Sie lächelte ein wenig bitter. Wilbert fühlte sich bestimmt nicht wohl in seiner Haut, aber sie beschloß, ihn erst nach ihrem Gespräch mit Superintendent Norman von seiner Besorgnis zu erlösen. Wilbert hatte es mit seiner Schweigepflicht ihrer Ansicht nach eindeutig übertrieben. Vermutlich hatte er ein Verbrechen dieses Ausmaßes nicht vorhersehen können, aber offenbar hatte er es aufgrund der Einblicke in die Psyche seiner Patientin später durchaus für möglich gehalten, daß sie als Täterin in Frage kam. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte er sich offenbaren müssen. Die Tatsache, daß er Evelin in Untersuchungshaft wußte, konnte ihn nicht freisprechen: Die Gefahr, daß man sie aus Mangel an Beweisen freilassen würde, war von Anfang an gegeben gewesen, und ein Mann wie Wilbert hätte dies einkalkulieren müssen.

Sie fand die Karte mit Normans Nummer und trat in die dämmrige Eingangshalle, die sehr kühl wirkte nach der Hitze draußen. Als sie an der Küche vorbeikam, blieb sie stehen und blickte hinein.

Der Kühlschrank stand weit offen, aber auch geschlossen hatte er seit Wochen seine Funktion nicht mehr erfüllt: Jemand hatte ihn abgeschaltet, vielleicht Leon, ehe sie ins Hotel gingen, oder einer von Normans Beamten. Auf der Ablage darüber, wie auch auf dem Tisch, standen wild durcheinander die Lebensmittel, die nach dem abrupten Ende der Osterferien übriggeblieben, aber längst nicht mehr genießbar waren: geöffnete Milchtüten, Joghurtgläser, Gewürzgurken, eine Schüssel mit gekochten Nudeln, die vom bläulichen Flaum des Schimmels überzogen waren; dennoch steckte ein Löffel darin, und Evelin war offenbar dabei gewesen, sie zu verspeisen. Das gleiche mit einem Rest Schokoladenpudding, der zu krabbeln schien, er bestand fast nur noch aus Maden, die sich in ihm und auf ihm gebildet hatten. Evelin hatte auch davon gegessen. Aus der Trinkschokolade, nach der Diane und Sophie verrückt gewesen waren, wuchsen Pilze, ebenso aus den verschiedenen Marmeladengläsern. Daneben ein schimmliger, knochenharter Brotkanten, den Evelin in die saure, klumpige Milch getaucht hatte, um ihn aufzulösen. Jessica betrachtete das grausige Stilleben mit Ekel, aber auch mit einem Gefühl tiefster Traurigkeit: Das ganze Elend, die Leere, die Trostlosigkeit Evelins wurde in dem Bild dieser Küche noch einmal deutlich. Sie konnte sie vor sich sehen, wie sie hier saß und in sich hineinschaufelte, was sie greifen konnte, ohne zu merken, daß sie Schimmel und Maden und Pilze verschluckte, getrieben von nichts anderem als dem Bedürfnis, das Vakuum in sich zu füllen, um zu ertragen, was ihr geschehen war. Und neben der Traurigkeit war da auch noch einmal das Erkennen der Schuld. Einer Schuld, die sie alle traf, die sie hier so viele Wochen, über so viele Jahre verteilt, mit Evelin gelebt hatten. Ohne hinzusehen, ohne irgendeine Initiative zu ergreifen.

Auch ich, dachte Jessica, auch ich habe versagt. Ich habe mir vielleicht mehr Gedanken um sie gemacht als die anderen, aber davon hatte sie nichts. Ich bin nicht aktiv geworden. Dabei stand die Wahrheit so deutlich vor mir, wäre ich nur mutig genug gewesen, ihr ins Gesicht zu sehen.

Sie trat ans Telefon und zögerte einen Moment: Verriet sie

Evelin ein zweites Mal, wenn sie nun Superintendent Norman anrief? Aber letztlich blieb ihr nichts anderes übrig, Phillip mußte von jeglichem Verdacht befreit werden, und Evelin brauchte Hilfe, die sie nur in einer geschlossenen Klinik finden konnte. Man würde sie kaum ins Gefängnis schicken. Wie ihre Mutter würde sie in der Psychiatrie landen, ein Opfer von Gewalt und Gleichgültigkeit.

Sie nahm den Hörer ab und wählte die Nummer von Superintendent Norman.

18

Das Telefon klingelte, als Leon gerade die Tür zu seiner Wohnung aufschloß. Es war früh am Morgen, und er fragte sich, wer wohl um diese Zeit bei ihm anrief. Er hatte, um sich fit zu halten, nicht den Aufzug benutzt, sondern war die Treppen hinaufgelaufen, in zügigem Tempo, und so war er völlig außer Atem, als er sich meldete.

«Ja, Roth hier.«

Gleich darauf zeigte sich Überraschung auf seinem Gesicht.»Jessica! Wie schön, daß du mich anrufst! Was? Die letzten Tage? Ich war nicht zu Hause, bin eben erst wiedergekommen.«

Er lauschte, und sein freudiges Staunen wandelte sich in immer größere Ungläubigkeit.»Was? Evelin? Das kann doch nicht wahr sein?! Ist das denn sicher? Ich meine, dieser Bowen…«

Er angelte sich einen Stuhl und setzte sich, weil ihn die Nachricht fast von den Füßen riß.»Ja, ja, dann muß es wohl so sein. Aber wer hätte das gedacht? Unsere gutmütige, nette Evelin mit den traurigen Augen… Wie? Also bitte, Jessica, nun versuche hier nicht Schuld umzuverteilen! Ich meine, was hätten wir denn tun sollen? Sind wir verantwortlich für das Leben anderer?«

Er ereiferte sich langsam, es war unglaublich, daß er sich nun auch noch Vorwürfe machen lassen sollte. Seine Frau war ermordet worden, und seine beiden Töchter. Er war Opfer, nicht Täter.

«Hör mal, Jessica, das war verdammt noch mal die Sache von Tim und Evelin. Dann hätte sie eben zur Polizei gehen müssen.

Was sollen wir denn tun, wenn sie ständig mit Ausreden kommt, was ihre Verletzungen betrifft… Ja, natürlich haben wir es gewußt, aber sie wollte doch keine Hilfe haben! Wie soll man jemandem helfen, der Hilfe ablehnt? Also, Jessica, wirklich, du bist noch nicht so lange bei uns gewesen, du hast manches nicht mitbekommen. Sie hat eisern zu Tim gestanden… Krank? Also, daß sie krank war, habe ich nicht gewußt. Ich habe auch, ehrlich gesagt, nicht von morgens bis abends über Evelin nachgedacht. Wenn sie Hilfe gewollt hätte, hätte sie kommen können und mit uns reden. Hat sie aber nicht. So. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

Er lauschte wieder eine Weile, dann meinte er beschwichtigend:»Wir sollten einander jetzt nicht die Augen auskratzen, Jessica. Ich bin erleichtert, daß der Täter gefaßt ist. Wie lange bleibst du in England?… Ach so. Morgen schon. Dann melde dich doch mal, okay? Bis dann!«

Er legte den Hörer auf, erhob sich und ging ein paarmal im Raum auf und ab. Also wirklich, Jessica mußte ein bißchen vorsichtiger sein mit ihren Anschuldigungen. Was hätte er tun sollen für Evelin? Hatte er nicht genug eigene Probleme gehabt? Mit seinen Schulden, seinen Herzbeklemmungen, seiner Farce von einer Ehe! Wer hatte sich überhaupt darum je gekümmert? Letztlich hatte auch er sehen müssen, wie er mit den Dingen allein fertig wurde. So, wie das jeder tun mußte im Leben.

Er trat hinter seine Küchentheke, füllte Wasser in die Kaffeemaschine, nahm die Kaffeedose aus dem Schrank. Er hatte bei Nadja gefrühstückt, aber nun hatte er das Gefühl, noch etwas zu sich nehmen zu müssen, das seine Lebensgeister weckte. Jessicas Anruf hatte ihm völlig die Laune verdorben. Es war schön gewesen mit Nadja, das ganze Wochenende und den Montag hatte er mit ihr verbracht. Als er sie angerufen hatte, hatte sie entsetzt abgewehrt:»Nein, Leon, versuch es gar nicht erst! Ich arbeite nicht mehr in deiner Kanzlei! Ich muß endlich sehen, daß ich zu Geld komme!«

Aber er hatte gesagt:»Die Kanzlei gibt es nicht mehr. Ab dem Sommer hab ich einen neuen Job. Nein, ich will dich einfach nur so sehen!«

Da hatte sie eingewilligt, daß er zu ihr kam, und einen ganzen Abend lang hatte er ihr viel über sich erzählt. Sie hatte in der Zeitung von dem Verbrechen gelesen, aber da keine Namen genannt worden waren, hatte sie es nicht mit Leon in Zusammenhang gebracht. Nun war es ihr natürlich wie Schuppen von den Augen gefallen.

«Stanbury! Eine Gruppe von Deutschen! Gott, das hätte mir wirklich dämmern müssen!«

Sie war verständnisvoll und interessiert und mitfühlend gewesen, und später waren sie zusammen ins Bett gegangen, und es war so schön und beglückend gewesen wie damals, als sie ihre Affäre gehabt hatten. Er konnte sich mit Nadja etwas für die Zukunft vorstellen, und er hatte den Eindruck gewonnen, daß sie das umgekehrt auch konnte. Das Leben gewann eine neue Perspektive. Eine neue Wohnung, eine neue Arbeit, eine Frau, die ihn wirklich zu mögen schien. Das alles versprach eine lebenswerte Zukunft. Und da kam Jessica, attackierte ihn, weil er angeblich Evelin im Stich gelassen hatte, und verdarb ihm um ein Haar den sonnigen Morgen.

Er löffelte das Kaffeepulver in den Filter. Nur weil er überlebt hatte, sollte er sich in Selbstvorwürfen zerfleischen! Die anderen hatten sich schließlich auch vor unangenehmen Wahrheiten gedrückt, nur daß die niemand mehr zur Rechenschaft ziehen konnte.

Aber daß Evelin hergehen und fünf Menschen ins Jenseits befördern konnte… Das wollte immer noch nicht in seinen Kopf. Guter Gott, da hatten sie ja alle direkt neben einer wandelnden Zeitbombe gelebt. Depressiv, ja. Aber krank im Kopf, komplett wahnsinnig? Wer hätte das gedacht?

Auf einmal war ihm klar, daß ihm der Kaffee nicht reichen würde. Auf diesen Schreck hin mußte es schon ein Schnaps sein.

Er schenkte sich ein Glas ein, aber ehe er es an die Lippen setzen konnte, wurde er plötzlich von einem Gefühl solch hilfloser Wut gepackt, daß er nicht anders konnte: Er hob den Arm und schmetterte das Glas quer durch das Zimmer an die gegenüberliegende Wand, an der es zerschellte. Er sah zu, wie der Schnaps an der Tapete herunterlief. Ein schöner Mist! Einen richtigen Floh hatte ihm Jessica da ins Ohr gesetzt. Schuld! Er würde keinerlei Schuld anerkennen, niemals! Schuldgefühle machten krank, und sie brachten niemandem etwas. Über zwanzig Jahre lang hatte er es geschafft, seine Schuld an Marcs Tod nicht Gewalt über sich gewinnen lassen. Und er würde den Teufel tun, sich jetzt irgend etwas wegen Evelin einreden zu lassen. Eher würde er sich gar nicht mehr mit Jessica treffen! Idiot, der er war, forderte sie noch auf, sich nach ihrer Rückkehr aus England bei ihm zu melden! War doch klar, daß sie sich jetzt in das Thema Wie-haben-wir-doch-alle-bei-Evelin-versagt verbeißen würde. Aber nicht mit ihm! Da mußte sie sich einen anderen suchen. Wenn sie damit kam, würde er ihr sofort erklären, daß er darüber kein Gespräch wünschte. Und wenn sie dies nicht respektierte, konnte sie ihm für die Zukunft gestohlen bleiben.

Mehr war dazu nicht zu sagen. Weiter mußte er darüber nicht nachdenken.

Er schenkte sich einen zweiten Schnaps ein und kippte ihn in einem Zug. Und noch einen. Und einen vierten.

Unter dem Alkohol verlor das Leben seine Schärfe, und alles, was geschehen war, erhielt verschwommene Konturen.

Er freute sich auf die Zukunft. Er war frei. Er war jung.

Und alles war gut.

«Also, wenn ich auf eines gewettet hätte, dann darauf, daß Bowen diese armen Urlauber massakriert hat«, sagte Lucy mißvergnügt.

Sie saß in Geraldines Wohnzimmer auf dem Sofa, den Daily Mirror vor sich, und hatte gerade zum wiederholten Male den Bericht über die Yorkshire-Morde studiert, in dem der Fall für abgeschlossen erklärt und der tagelang landesweit gesuchte Phillip Bowen rehabilitiert wurde.

«Es scheint ja tatsächlich eine von denen gewesen zu sein. Hätte ich nie gedacht.«

«Ich habe nie geglaubt, daß Phillip etwas so Schreckliches tun könnte«, behauptete Geraldine, obwohl sie von genügend Zweifeln gequält worden war.»Er war vielleicht nicht immer besonders nett zu mir, aber er ist kein Killer. So sehr konnte ich mich in ihm nicht täuschen.«

Sie hockte im Schneidersitz auf dem Boden. Mit ihrer an diesem Morgen noch ziemlich verstrubbelten Kurzhaarfrisur sah sie aus wie ein junges Mädchen.

Wenn sie nur endlich wieder arbeiten würde, dachte Lucy, sie wäre ganz schön gefragt.

«Wenn ich dir eines raten darf, Geraldine«, sagte sie,»dann versuche jetzt nicht, wieder etwas mit Bowen anzufangen. Die Sache ist gelaufen. Ihr paßt nicht zusammen. Bitte kümmere dich wieder um deine Arbeit und verplempere nicht deine Zeit damit, hinter einem Mann herzulaufen, der dich nicht will.«

«Nein, nein«, sagte Geraldine, aber das klang für Lucys Ohren ein wenig zu hastig. Sie seufzte. Jede Wette, daß Geraldine insgeheim schon wieder über eine Möglichkeit nachsann, Bowen zu treffen und sich mit ihm auszusprechen.

«Ich hätte nächste Woche einen Job für dich in Mailand«, sagte sie.

Geraldine blickte gelangweilt zum Fenster hinaus.

«Wenigstens muß ich jetzt nicht mehr alle Türen verschlossen halten. Ich kann mich wieder frei bewegen. Ich muß keine Angst mehr haben.«

«Da wäre ich nicht so sicher. Gut, er hat niemanden ermordet, aber einen Schatten hat er, da kannst du sagen, was du willst. Und er wird dir garantiert nie verzeihen, daß du die Materialsammlung über seinen angeblichen Vater verfeuert hast. Wer weiß, wozu er noch fähig ist.«

«Ach, Lucy! Du hast noch nie ein gutes Haar an ihm gelassen.«

«Glaub doch nicht, daß dein Leben mit ihm plötzlich besser wird. Er bleibt der Mann, der er ist. Er wird hinter diesem Stanbury her sein und seine Zeit bei Anwälten und Gerichten verbringen. Er wird dabei völlig pleite gehen und dich nur brauchen, um dich hin und wieder anzupumpen. Geraldine, es wird alles beim alten bleiben.«

Aber Geraldine schien bereits wieder in eigene Gedanken versunken, und Lucy spürte, daß sie sie schon nicht mehr erreichte.

Sie seufzte. Es blieb tatsächlich alles beim alten.

Als Jessica aus dem The Fox and The Lamb hinaus auf die Straße trat, stand plötzlich Ricarda vor ihr, so unvermittelt, daß Jessica zusammenzuckte. Der Morgen war so herrlich wie am Tag zuvor, voller Sonne und Wärme und schmeichelndem Wind. Auf dem Pflaster vor dem Hotel wälzte sich behaglich eine Katze, streckte alle vier Pfoten in die Luft und ließ sich die Sonnenstrahlen auf den weißen Bauch scheinen.

«Ricarda!«rief Jessica überrascht.

Ricarda wirkte ein wenig unbehaglich und verlegen.»Ich wollte gerade zu dir«, sagte sie.

«Hast du Lust, ein bißchen mit mir zu laufen?«fragte Jessica.

«Da drin ist es ziemlich düster und stickig.«

Ricarda nickte, und sie gingen nebeneinander die Dorfstraße entlang, schweigend zunächst, weil die Fremdheit noch immer zwischen ihnen stand.

So sind wir noch nie nebeneinanderher gelaufen, dachte Jessica, zeitweise schien es ausgeschlossen, daß wir je so weit kommen könnten.

«Ich hab's schon gehört«, unterbrach Ricarda schließlich das Schweigen.

Sie kamen gerade an dem Gemischtwarenladen von Mrs. Collins' Schwester vorbei, und Jessica konnte sehen, daß der kleine Raum voller Menschen war. Sicher wurde die neueste Entwicklung im Fall der Morde von Stanbury House diskutiert, und niemand wollte sich auch nur den kleinsten Informationsfetzen entgehen lassen.

«In der ganzen Gegend wird wohl über nichts anderes gesprochen«, meinte Jessica.

Ricarda nickte.»Schon gestern abend kamen Farmer aus der ganzen Gegend — oder besser: ihre Frauen — zu uns, weil sich offenbar schnell verbreitet hat, daß ich jetzt bei Keith wohne. Jede meinte, von mir noch etwas erfahren zu können. Dabei weiß ich ja auch nicht viel.«

«Du kennst Evelin seit vielen Jahren. Und das macht dich zu einer unschätzbaren Informationsquelle.«

«Sie haben mich angewidert«, sagte Ricarda.»Sie waren so… lüstern. So ganz ohne Sinn für das Schicksal, das hinter all dem steht. Sie wollten einfach nur irgend etwas erfahren, das sie dann ausschmücken und ihrerseits weitererzählen können.«

«Solche Menschen findest du überall. Eine solche Tragödie wie die von Evelin ist für sie nur ein willkommenes Ereignis, das die Langeweile und Gleichförmigkeit ihres Alltags

unterbricht. Und du wirst hier sicher noch für einige Zeit im Mittelpunkt des Interesses stehen. Du kannst nur versuchen, das alles an dir abperlen zu lassen.«

Ricarda nickte. Wieder sagte sie eine Weile nichts, dann fragte sie leise:»Hättest du geglaubt, daß es Evelin war?«

Jessica schüttelte den Kopf.»Nein. Nie im Leben. Obwohl im nachhinein alles zusammenpaßt und eine eigene Logik hat. Hättest du es gedacht?«

Ricarda überlegte kurz, so als wisse sie nicht recht, wie sie formulieren sollte, was ihr durch den Kopf ging. Schließlich sagte sie:»Als ich es erfuhr, wunderte ich mich, warum es mich nicht wirklich überraschte. Verstehst du, was ich meine? Ich war nicht richtig erstaunt, und das machte mich ganz unsicher. Aber dann begriff ich, daß ich die ganze Zeit… irgendwo tief in mir… ahnte, daß sie es war. Daß ich nur nicht daran rühren wollte, weil ich glaubte, ich darf das nicht denken. Ich darf so nicht über Evelin denken. Ich habe sie immer gemocht. Sie war… menschlicher und aufrichtiger als die anderen. Ich wünschte, nicht sie hätte es getan.«

«Dir wäre es wahrscheinlich am liebsten, wenn ich es gewesen wäre«, sagte Jessica, und gleich darauf hätte sie diese Bemerkung am liebsten zurückgenommen, weil Ricarda sie als Provokation empfinden konnte.

Aber Ricarda sah sie nur erstaunt von der Seite an.»Nein. Ich habe gewußt, daß du es nicht gewesen sein konntest.«

«Ja? Warum?«

«Also, du warst ja wirklich die Normalste von allen. Du bist durch und durch gesund.«

«Wahrscheinlich haben wir uns alle ein Stück weit an Phillip Bowen festgeklammert«, sagte Jessica.»Er kam von draußen. Wenn er es gewesen wäre, hätte uns das am wenigsten erschüttert.«

Da machst du dir jetzt aber etwas vor, sagte eine innere Stimme, und Jessica war froh, daß Ricarda geradeaus blickte und ihr nicht in die Augen sah.

«Ich wußte, daß es Phillip nicht war«, sagte Ricarda,»und frag mich nicht, warum. Wahrscheinlich, weil ich spürte, daß es Evelin war. Deshalb habe ich dem Polizisten auch nicht erzählt, daß ich ihn in der Nacht vor der Tat am Tor zu Stanbury House getroffen hatte. Das hätte ihn noch verdächtiger gemacht, oder?«

«Du sagtest doch, du hättest vergessen, die Geschichte bei der Polizei zu erwähnen.«

«Das habe ich gesagt. Aber es stimmte nicht. Ich dachte die ganze Zeit daran. Aber… irgend etwas riet mir, diese Angelegenheit für mich zu behalten. Sie hätte Phillip in Schwierigkeiten gebracht, aber sie war unerheblich. Deshalb… ach, ich mochte ihn auch irgendwie ganz gern. Vielleicht einfach nur, weil Patricia ihn haßte.«

Jessica blieb stehen und sah Ricarda an.

«Du wußtest ziemlich viel, nicht? Über Evelin und alles, was zwischen ihr und ihrem Mann und zwischen ihr und den anderen so ablief?«

Auch Ricarda blieb stehen.»Ja. Ich bekam ziemlich viel mit, und ich konnte nicht begreifen, weshalb man sie so im Stich ließ. Und auch jetzt ist es so…«, sie strich sich mit einer hilflosen Bewegung über die Haare,»…ich meine, es ist so furchtbar, sie hat meinen Vater getötet, und ich habe meinen Vater so sehr geliebt, aber… ich kann sie irgendwie verstehen. Ist das nicht entsetzlich? Nach allem, was war, kann ich… nicht gutheißen, aber nachvollziehen, weshalb sie das getan hat. Und ich kann sie nicht hassen. Wenn ich an sie denke, empfinde ich keine Wut. Ich empfinde… Traurigkeit. Und ganz viel Leere.«

«Das ist das gleiche, was auch ich empfinde«, sagte Jessica,

und vorsichtig fügte sie hinzu:»Und auch ich habe Alexander sehr geliebt.«

Es schien für Ricarda problematisch, auf diese Aussage einzugehen, denn sie schaute zur Seite, unruhig, berührt, unfähig, etwas dazu zu sagen.

Nach einer Weile meinte sie:»Also, weshalb ich eigentlich gekommen bin… Vielleicht könntest du meiner Mutter sagen, sie soll sich keine Sorgen um mich machen. Keith und ich werden zusammenbleiben. Und ich… ich hab mir überlegt, ich will dann sehen, daß ich in Bradford zur Schule gehen kann. Ich möchte einen Abschluß machen. Keith findet auch, daß das richtig ist. Später will ich dann heiraten und Kinder bekommen. Das beruhigt meine Mutter sicher.«

Jessica lächelte.»Bestimmt. Und mich auch. Du bist sehr, sehr reif für dein Alter, Ricarda. Alexander wäre stolz auf dich.«

Ricarda mußte schlucken und brauchte eine ganze Weile, bis sie sich so weit wieder gefangen hatte, daß sie sprechen konnte.

«Wenn… also, wenn du mal wieder in der Gegend bist, irgendwann, ich meine… du kannst mich dann schon besuchen, wenn du willst.«

«Das würde ich furchtbar gern tun. Ganz sicher. Und rufst du mich mal zwischendurch an? Einfach so, damit ich weiß, wie es dir geht?«

«Okay, das ist kein Problem«, sagte Ricarda, und als habe sie Angst, eine allzu sentimentale Stimmung könne aufkommen, fragte sie schnell:»Was wird jetzt eigentlich mit Evelin?«

«Ich muß mit Leon sprechen. Er ist Anwalt, er kann mir vielleicht helfen, sie nach Deutschland überstellen zu lassen. Dort kommt sie sicher in eine geschlossene psychiatrische Klinik. Aber vielleicht kann man sie da besuchen. Ich bin fest entschlossen, sie nicht aus den Augen zu verlieren.«

«Alles klar, das ist gut«, sagte Ricarda. Sie waren ganz am Ende der Dorfstraße angelangt.»Ich muß jetzt nach Hause. Mach's gut, Jessica. Grüß meine Mutter, ja?«

Sie wartete keine Antwort ab, sondern drehte sich um und ging in die andere Richtung davon, sehr aufrecht, ein bißchen steif, ein junges Mädchen mit einer klaren Vorstellung von seiner Zukunft.

«Mach's gut, Ricarda«, sagte Jessica leise.

Sie war zwei Stunden gelaufen, aber diesmal hatte sie völlig andere Wege gewählt als die, die ihr aus den Ferien in Stanbury House bislang vertraut gewesen waren. Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis mehr verspürt, noch einmal in die Nähe des Hauses zu geraten, auch nicht an irgendeinen der anderen ihr bekannten Orte. Sie bezweifelte, daß sie überhaupt jemals wieder dorthin würde gehen wollen.

Als sie ein wenig müde, aber von Luft und Sonne durchdrungen, ins Dorf zurückkehrte, ging es auf Mittag zu. Ihren Rückflug nach Deutschland hatte sie für den Abend gebucht, sie hatte also noch etwas Zeit. Sie würde etwas essen und danach Superintendent Norman anrufen. Evelin war am Vortag in Haft genommen worden. Sie wollte ihn fragen, wie es ihr ging, und vielleicht konnte sie mit ihm auch schon ein paar Dinge wegen Evelins Überführung an die deutsche Justiz besprechen.

Der Gemischtwarenladen von Mrs. Collins' Schwester war immer noch voller Menschen, die wahrscheinlich nur ein einziges Thema kannten. Vielleicht hatten sich auch Journalisten inzwischen dazu gesellt. Schon am gestrigen Abend waren sie wie die Heuschrecken in Stanbury eingefallen, aber die Polizei hatte Jessica und Phillip vollkommen abgeschirmt. Heute morgen war niemand dagewesen, aber jetzt sah Jessica schon von weitem, daß zwei unbekannte Fahrzeuge gegenüber dem The Fox and The Lamb parkten und zwei Männer und eine Frau vor dem Hotel herumlungerten. Ihr Instinkt sagte ihr sofort, daß es sich um Journalisten handeln mußte, und sie verlangsamte ihren Schritt. Sie wollte nicht mit Fremden über Evelin sprechen. Sie wollte nichts zu dem komplizierten Thema ihrer Freundschaft sagen, was sie dann am nächsten Tag verkürzt und reißerisch aufbereitet als Schlagzeile in einer Zeitung wiederfinden würde. Verflixt, heute war keine Polizei da, um sie zu schützen. Sie überlegte, ob es ihr gelingen konnte, ungesehen ihren Leihwagen zu erreichen. Den Schlüssel hatte sie in ihrer Hosentasche. Das Auto selbst parkte gleich neben dem Hotel, jedoch nicht auf der Hauptstraße, sondern um die Ecke in einer kleinen Gasse. Ein Beamter hatte es am Vorabend noch von Stanbury House geholt und ihr gebracht. Sie war sehr dankbar gewesen, man hatte ihr damit erspart, doch noch einmal den Ort des Schreckens aufsuchen zu müssen.

«Ich habe mich zum Hintereingang hinausgeschlichen«, sagte eine Stimme neben ihr,»und ich vermute, Sie haben auch keine besondere Lust, mit denen da zu reden.«

Sie zuckte zusammen. Phillip Bowen stand so unvermittelt vor ihr wie am frühen Morgen Ricarda.

«Entschuldigung«, sagte er,»ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich kam hier gerade zwischen den Häusern hindurch, nachdem ich das The Fox and The Lamb weiträumig umrundet hatte, um von niemandem gefragt zu werden, wie ich mich als ehemaliger Hauptverdächtiger nun im Stadium der Rehabilitation fühle. Und da sah ich plötzlich Sie stehen.«

Sie lächelte.»Heute stehe ich dauernd plötzlich vor Menschen, die ich zuvor nicht bemerke. Wahrscheinlich laufe ich ganz schön in Gedanken versunken durch die Gegend.«

«Wen würde das wundern? Sie müssen eine ganze Menge verarbeiten.«

«Die Zeit wird es bringen«, sagte Jessica, hoffend, er werde jetzt nicht wie Leon vom Einbruch des Bösen in ihr Leben und vom ewigen Gezeichnetsein sprechen. Sie brauchte Zuspruch. Sie brauchte Menschen, die ihr sagten, daß sie nach vorn sehen und nicht zurückblicken sollte.

Phillip begriff wohl, daß sie wenigstens für den Moment das Thema nicht vertiefen wollte, und sagte:»Ich hatte gehofft, mit Ihnen frühstücken zu können. Aber da waren Sie wohl schon weg.«

«Ich bin ein gnadenloser Frühaufsteher. Ich werde in der allerersten Dämmerung wach, und dann laufe ich durch die Gegend. Und wenn ich nicht gerade arbeite, laufe ich eigentlich den ganzen Tag. Ganz schön verrückt, oder? Seitdem ich, von den Ereignissen in meinem Leben veranlaßt, verstärkt über verschiedene Formen des Wahnsinns nachdenke, frage ich mich, ob ein Mensch, der so zwanghaft läuft wie ich, auch irgendwie krank ist.«

Er zuckte mit den Schultern.»Was heißt schon krank? Es ist Ihre Art, mit dem Leben klarzukommen. Wir haben jeder unseren Mechanismus. Aber mit Ihrem tun Sie wenigstens niemandem weh.«

Sie nickte.»So gesehen haben Sie recht.«

Sie wollte ihm etwas sagen, aber sie wußte nicht recht, wie sie es formulieren sollte, und so schwieg sie einen Moment lang unschlüssig. Auch Phillip sprach nicht, er stand einfach vor ihr, schob beide Hände in die Taschen seiner Jeans. Er hatte ein weißes, völlig zerknittertes T-Shirt an. Sie rief sich ins Gedächtnis, daß er noch immer nur die Kleidungsstücke bei sich hatte, die er seit seiner Flucht in einer Tasche mit sich herumschleppte.

«Phillip, ich glaube, ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt«, sagte sie schließlich.»Sie haben mir das Leben gerettet gestern. Wären Sie nicht erschienen, hätte mich Evelin in ihrem Wahn getötet. Ich würde jetzt nicht hier auf dieser Dorf Straße mitten in der Sonne stehen. Und darüber hinaus«, sie strich sich mit einer verlegenen Geste über den Bauch,»haben Sie auch mein Kind gerettet. Zwei Menschenleben an einem einzigen Tag.«

«Oh, ich weiß nicht«, erwiderte er betont lässig,»so, wie Sie den Baseballschläger schwangen, bin ich keineswegs sicher, ob Sie meine Hilfe überhaupt gebraucht haben. Sie kamen ganz schön kampfbereit die Kellertreppe herauf. Sie hätten Evelin mit aller Kraft dieses Ding auf den Kopf gehauen, daher ist vermutlich sie es, die mir ihr Leben verdankt!«

Sie ging nicht auf seinen Ton ein.»Ich danke Ihnen, Phillip«, sagte sie leise,»ich werde Ihnen das nie vergessen.«

Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu:»Ich werde Sie nie vergessen.«

Sie sahen einander an, und ohne daß sie sich darüber hätten austauschen müssen, wußten sie beide voneinander, daß sie fühlten und sahen, was zwischen ihnen hätte sein können, was seit ihrer ersten Begegnung an einem warmen Apriltag am Ufer eines kleinen Flusses zwischen ihnen gewesen war. Eine Palette unendlicher Möglichkeiten, Gedanken, Gefühle, Träume. Unter anderen Umständen… Aber wie die Dinge lagen, waren ihrer beider Leben zu verschieden, liefen in allzu weit voneinander entfernt liegende Richtungen. Der Schnittpunkt, an dem sich ihrer beider Schicksalslinien gekreuzt hatten, war zu klein, die Ereignisse rundherum hatten ihn nicht größer werden lassen. Was ihnen bleiben würde, war die Erinnerung aneinander und vielleicht der eine oder andere Gedanke an Verheißungen, die sie gestreift, aber sich nicht hatten greifen lassen.

Jessica riß sich als erste aus ihren Empfindungen. Wie üblich ging sie weiter, verhinderte, daß etwas Gewalt über sie bekam, was am Ende doch zu nichts führen konnte.

«Sie sagten gestern, Sie waren bei Stanbury House, um Abschied zu nehmen«, sagte sie dann,»von dem Haus und von Ihrem Vater. Heißt das, Sie werden nicht länger versuchen, Ihren Anspruch auf die Hälfte des Anwesens geltend zu machen?«

«Es heißt, daß ich die ganze Geschichte hinter mir lasse«, sagte Phillip.»Es heißt, daß ich mich damit abfinde, nicht zu wissen, wer mein Vater war. Ich habe einundvierzig Jahre ohne Vater gelebt. Ich werde es auch weitere einundvierzig Jahre aushalten.«

Sie sah ihn an, fast ein wenig beunruhigt.»Weshalb so plötzlich? Sie waren so… so…«

«…so besessen«, vollendete Phillip ihren Satz.»Sagen Sie es ruhig. Besessen. Fanatisch. Vollkommen in diese Sache verbohrt. Aber dann habe ich nachgedacht, vielleicht zum erstenmal, seitdem ich hinter Stanbury House herjagte. Damit meine ich, zum erstenmal habe ich den Gedanken zugelassen, daß Kevin McGowan vielleicht nicht mein Vater ist. Vielleicht ist er ein Fernsehschwarm meiner Mutter, den sie später in ihren Morphiumphantasien zu ihrem Liebhaber erkoren hat. Vielleicht ist er aber auch tatsächlich mein Erzeuger, vielleicht hat es die Affäre wirklich gegeben. Aber Erzeuger ist nicht gleich Vater. Ein Vater übernimmt Verantwortung, er macht sich nicht aus dem Staub mit dem Gedanken: zum Teufel, was aus dieser Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle wird, die da auf den Weg gebracht wurde. In diesem Sinn wäre er also so oder so nicht mein Vater gewesen. Verstehen Sie?«

«Ja. Ja, natürlich.«

«Und«, fuhr Phillip fort,»als ich so nachdachte, begriff ich, daß er auch nicht dadurch zu meinem Vater würde, daß ich in seinem Haus sitze, die Wände anstarre und imaginäre Gespräche mit einem Toten führe, der mir auf nicht eine einzige meiner Fragen eine Antwort geben kann. Ich würde wieder nur ins Leere laufen. Er hat sich mir immer entzogen, zum Schluß absolut und endgültig durch sein Sterben. So ist es. Und das muß ich akzeptieren. Damit muß ich leben.«

«Können Sie damit leben?«

«Damit, keinen Vater zu haben?«

Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern fuhr sogleich fort:»Als ich gestern früh durch das Wäldchen hinter Stanbury House schlich, fragte ich mich etwas anderes. Ich fragte mich: Kann ich damit leben, diesen Vater zu haben? Wohin hatte mich die Offenbarung meiner Mutter gebracht? Ich war auf der Flucht. Ich wurde im ganzen Land als Hauptverdächtiger in einem besonders scheußlichen Mordfall gesucht. Ich hatte Hunger und Durst und Angst. Ich hatte Geraldine, meiner Freundin, Gewalt angetan, was mir unendlich leid tut. Und ich hatte endlose Stunden damit zugebracht, Zeitungsartikel über einen toten Fernsehjournalisten zu sammeln und in idiotischen Aktenordnern abzuheften. Ich meine, ich habe das nicht hin und wieder nebenher getan. Es war mein Leben. Ich habe kaum noch gearbeitet. Ich habe überhaupt kein Geld mehr verdient. Ich habe mich von der armen Geraldine aushalten lassen und habe wie ein Maulwurf in dunklen Archiven gesessen, von morgens bis abends, und habe diesen ganzen verdammten Käse über Kevin McGowan zusammengeklaubt und fotokopiert und nach Hause geschleppt und in diese Ordner gesteckt. Verdammt, und draußen lief das Leben vorbei! Und als Geraldine diese Ordner verbrannte, bin ich völlig ausgeflippt. Ich hätte sie am liebsten getötet.«

Er war laut geworden, und die Journalisten vor dem The Fox and The Lamb schauten zu ihnen her. Leise sagte er:»Vielleicht habe ich da bereits begonnen, zu begreifen, daß ich umkehren muß. Daß mich dieser Weg ins Verderben führt, und sonst nirgendwohin.«

Jessica schwieg. Er hatte mit jedem Wort recht, das er sagte,

aber noch vor kurzem wäre er auf jeden Menschen mit den Fäusten losgegangen, der ihm das gleiche gesagt hätte. An den Punkt, an dem er jetzt war, hatte er nur von ganz allein gelangen können.

«Vielleicht«, sagte Phillip,»war es auch einfach nur zu schön, ein Stück der Verantwortung für mein Leben an Kevin McGowan abzugeben. Aber das funktioniert nicht. Wenn wir versuchen, Verantwortung loszuwerden, machen wir uns letztlich immer nur etwas vor. Irgendwann stehen wir dann da und kapieren, daß sie uns nie verlassen hat. Sie klebt an uns. Es gibt vielleicht nichts, was so verdammt hartnäckig klebt.«

«Was werden Sie jetzt tun?«fragte Jessica.

«Ich kehre nach London zurück. Jede Wette, daß mich Geraldine in meiner Wohnung erwartet und über unsere Zukunft sprechen will. Ich habe ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, und das wird uns beide noch für eine Weile zusammenhalten. Im übrigen werde ich versuchen zu arbeiten. Ich weiß noch nicht, als was. Vielleicht bin ich für einen richtigen Beruf nicht geschaffen. Vielleicht bleibt's für immer bei Gelegenheitsjobs. Man wird sehen.«

Er streckte den Arm aus, berührte in einer flüchtigen, zärtlichen Geste Jessicas Wange.»Und Sie? Was tun Sie?«

«Ich kehre nach Deutschland zurück. Ich suche für mich und Barney ein neues Zuhause. Ich arbeite in meiner Praxis. Ich versuche, Evelin nach Deutschland überstellen zu lassen. Im Oktober bekomme ich mein Baby.«

Sie zuckte mit den Schultern.»Ja. Das sind so die nächsten Dinge.«

Phillip lächelte.»Wir sollten vielleicht an die allernächsten Dinge denken. Ich habe ziemlichen Hunger, Sie auch? Ich habe gesehen, Ihr Wagen steht in der Seitenstraße neben dem Hotel. Was meinen Sie, schaffen wir es, trotz unseres Prominentenstatus an diesen Paparazzi vorbei dorthin zu gelangen?«

«Klar«, sagte Jessica.

«Ich könnte Ihnen ein hübsches Pub zeigen. In einem Dorf, das ich entdeckt habe. Wir könnten zusammen essen. Und ein bißchen reden. Einfach nur so. Völlig unverbindlich.«

Jessica erwiderte sein Lächeln. Der Schrecken und die Traurigkeit über das Geschehene waren noch lebendig, aber in einem hatte Phillip recht: Es war immer wichtig, an die allernächsten Dinge zu denken.

«Essen und reden«, sagte sie,»das wäre jetzt genau das Richtige.«

Ohne zu zögern, nahm er ihre Hand, und sie machten sich auf den Weg.

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