Aus unerklärlichen Gründen hatte sich die Bezeichnung eingebürgert: Starlight-Casino. Der Raum befand sich unweit der Basis auf der Erdoberfläche, aber ein Teil war in eine tropische Lagune eingebaut worden. Hinter dicken Glaswänden sah man Schwärme der exotischen Fische und die unaufhörlich wachsenden Korallenbänke. Über dem gesamten Raum hingen die Klänge der Musik, die aus versteckten Lautsprechern drang. Modekomponist dieses Jahres war Thomas Peter; von ihm spielte man den Blues des stummen Astronauten.
Auf der Platte der Bar hätte man sehr gut Hundertmeterläufe veranstalten können. McLane, dessen Stimmung sich mit Hilfe von Alkohol wieder verbessert hatte, saß neben Hasso und fragte unmotiviert: »Du möchtest noch einen Cognac, Hasso?«
Hasso Sigbjörnson machte eine Bewegung, die Abwehr und Askese ausdrücken sollte.
»Nein, Cliff«, sagte er streng. »Nicht für mich. Ich muß gehen ... Wirklich, Cliff«, setzte er hinzu, als er das Grinsen im Gesicht seines Kommandanten sah. »Ich müßte nämlich seit zwei Stunden zu Hause sein.«
»Nichts wird dich aufhalten, Hasso!«
Das Mädchen, das hinter der Bar stand, näherte sich. Es hatte in der Siedlung der Raumfahrer einen Aufstand gegeben, als man die Barmädchen vor Jahren durch Robotanlagen hatte ersetzen wollen. Seitdem blieb alles beim alten.
McLane drehte sich um und beobachtete die tanzenden Paare.
»Ich sollte mich wirklich langsam auf den Weg machen. Was hast du mich vorhin gefragt, Cliff?« meinte Hasso irgendwie bedrückt.
»Ich dich gefragt?« fragte Cliff. »Nichts!«
»Ja! Du fragtest mich doch etwas - vor drei Sekunden.«
Cliff begann zu lachen.
»Richtig!« stellte er fest und winkte dem Mädchen hinter der Bar mit der Hand. »Ich habe dich gefragt, ob du noch einen Cognac willst.«
»Ja, bitte!« Sigbjörnson nickte ergeben.
Die Gläser kamen; hohe, schlanke Zylinder mit einem selbstleuchtenden Fuß. Die Beleuchtung bewirkte, daß der Alkohol wie ein kostbarer Stein wirkte.
»Aber dann muß ich gehen«, sagte Hasso. »Sonst wird Ingrid böse.«
»Vollkommen zu Recht«, warf McLane ein.
Sigbjörnson hatte ein Problem. McLane erkannte es klar, zumal Hassos blaue Augen unsicher wirkten. Der Commander drehte das Glas zwischen den Fingern und wartete.
»Sag mal, Cliff - möchtest du nicht noch auf einen Sprung mitkommen?«
McLane begann, schallend zu lachen. Einige Gäste drehten sich um.
»Ach du Schreck!« sagte er und begriff schlagartig, welcher Art das Problem Hassos war. »So sieht es also wieder einmal aus!«
»Ja, Cliff - ich habe es ihr fest versprochen.«
»Wie oft hast du es ihr eigentlich schon >fest versprochen^« fragte Cliff und lachte noch immer. »Glaubt sie dir eigentlich überhaupt noch etwas, Has-so?«
Hasso nickte und schien zu glauben, was er sagte.
»Es ist mein Ernst. Ich höre auf!«
Cliff trank einen tiefen Schluck aus dem Glas und stellte es vor sich auf die Bar zurück. Dann bohrten sich seine braunen Augen in das Gesicht des Ingenieurs.
»Ist das dein Ernst, Hasso?« fragte der Commander ruhig. »Oder war es dein Ernst?«
Hasso war weniger ein Mann der Worte als einer der Taten. Es gab keinen einzigen Millimeter seines Maschinenraumes und des Kampfstandes, den er nicht genau kannte; sollte er komplizierte Vorgänge seines Innenlebens darlegen, begann er zu improvisieren. Er strich zögernd über sein weißes Haar, das er in die Stirn gebürstet hatte.
»Du mußt mit ihr reden, McLane!« erklärte er kategorisch.
»Ich weiß«, erwiderte Cliff und nickte.
Hasso hakte seinen langen Zeigefinger in die Gürtelschließe Cliffs ein und zog den Commander zwanzig Zentimeter zu sich heran.
»Ohne dich traue ich mich nicht heim, Cliff.«
Das Grinsen, mit dem McLane seinen Ingenieur ansah, hatte nichts Ironisches an sich; es war der Ausdruck tiefer und verständnisvoller Kameradschaft zwischen Männern. Als McLane auf die Tanzfläche blickte, sah er eine schlanke blonde Frau. Sie bahnte sich einen Weg durch die Tanzenden. McLanes Zeigefinger deutete dicht neben Hassos Nase nach hinten, und Cliff sagte trocken: »Dein Problem scheint gelöst zu sein.«
Hasso drehte sich herum und versteifte sich, als er seine Frau erblickte.
»Aus!« sagte er in tiefer Niedergeschlagenheit. »Jetzt ist es passiert.«
McLane winkte dem Mädchen und sagte kurz, aber höflich: »Zahlen!«
Hasso rutschte auf seinem Barhocker herum und drehte sein Gesicht zu Cliff hin. Es war für jeden zu sehen, daß er ein starkes Gewitter mit zahlreichen Blitzen erwartete.
»Bei den Raumgespenstern, Cliff! Du willst mich doch jetzt nicht im Stich lassen!«
Beruhigend erwiderte Cliff: »Nein, nur zahlen. Es macht einen besseren Eindruck, wenn wir schon gezahlt haben.«
Er zahlte, rutschte aus seinem Barstuhl und blieb ruhig daneben stehen. Vor Sigbjörnsons Frau verbeugte er sich kurz und liebenswürdig.
»Guten Abend, Ingrid«, sagte er verbindlich. »Nett, Sie wieder einmal zu sehen.«
Frau Sigbjörnson, eine gutaussehende Blondine, warf McLane einen prüfenden Blick zu und sagte: »Hallo, Major McLane!« Sie wandte sich an ihren Mann. Mit der Geduld einer geprüften Raumfahrerfrau fragte sie: »Finden eigentlich alle Mannschaftsbesprechungen hier statt, Hasso?«
»Manche, Ingrid«, versicherte Sigbjörnson. »Das schwankt ...« McLane nickte eifrig.
»Den Eindruck habe ich auch«, sagte sie leise. »Es besteht die Gefahr, daß du ebenfalls schwankst.«
»Wie gesagt«, antwortete Hasso und stand ebenfalls auf. »Wir waren gerade im Aufbruch. Ich schlug eben Cliff vor, er möge noch auf ein Bier mitkommen.«
Die Musik hörte auf. Die tanzenden Paare zerstreuten sich. Einige kamen an die Bar, andere zogen sich zu den Sitzgruppen zurück, andere wieder gingen in den Eßraum.
Nicht gerade höflich sagte Ingrid Sigbjörnson: »So?«
»Du scheinst nicht gerade hellauf begeistert darüber zu sein, daß unser berühmter Commander unser bescheidenes Haus besucht.«
Wider Willen mußte Ingrid lächeln.
»Aber - Hasso! Immer, wenn du deinen Chef bei uns anschleppst, weiß ich sehr genau, was los ist!«
Sigbjörnson war bereit, hoffnungslos zu kapitulieren.
»Ja«, murmelte er verdrossen, »Ingrid, weißt du -McLane meinte eigentlich ... «
McLane machte eine unsichere Geste und deutete zuerst auf sich, dann auf Hasso. Ingrid blickte ihn rätselhaft an.
»Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll, gnädige Frau«, sagte McLane. Aber er wurde unterbrochen.
»Sie brauchen mir nichts zu erklären, Major: Hasso fliegt wieder mit, nicht wahr?«
Hasso sah seine Chance und redete aufgeregt weiter.
»Ja, es stimmt, Ingrid. Ich dachte, es sei besser, wenn ich dieses Mal noch dabei bin, dieses eine Mal noch.«
»Gerade jetzt, Ingrid«, warf McLane ein, »wo wir höheren Orts so ungeheuer beliebt sind.«
»Ich habe davon gehört«, sagte Frau Sigbjörnson kühl.
»Sogar eine Aufpasserin vom GSD haben sie zu uns abkommandiert«, rief Hasso vorwurfsvoll und breitete die Hände aus.
»Sie sehen also, gnädige Frau«, sagte McLane, noch ehe Ingrid antworten konnte, »daß es der denkbar schlechteste Zeitpunkt wäre, einen Nachfolger für Hasso anzulernen. Ganz abgesehen davon, daß keiner Hassos Leistungen auch nur im entferntesten erreichen könnte.«
Trotz ihrer Enttäuschung mußte Ingrid lächeln. Sie lehnte sich an die Bar und blickte die zwei Männer an, die nicht gerade gute Figuren machten.
»Ich bin sehr gespannt«, erklärte sie, »auf den Zeitpunkt, an dem euch einmal die guten Ausreden ausbleiben.«
»Cliff!« sagte Hasso fast jubelnd und schlug ihm auf die Schulter. »Sie hat gelacht!«
Etwas niedergeschlagen stellte McLane fest: »Sagen wir einmal - sie hat gelächelt!«
Ingrid setzte sich in den Stuhl Hassos und sagte, indem sie graziös an den Fingern abzuzählen begann: »Die Kinder schlafen, die Robots sind abgeschaltet. Deine Uniform ist gereinigt und die Miete ist bezahlt ... Ich glaube, ich bleibe noch ein wenig. Falls der Herr Major geruhen würde, mich auf einen Cocktail einzuladen, würde ich seine Bitte nicht abschlagen.«
Cliff grinste anerkennend und winkte dem Mädchen hinter der Bar. Hassos erleichterter Seufzer wirkte fast wie eine Startsirene ...
Aus vielen Gründen waren die Raumschiffbasen unterirdisch angelegt worden.
Hier, im Norden des australischen Kontinents, im Carpentaria-Golf, befand sich Basis 104. Zwischen Groote Eylandt und Duifken Point waren die Werften der Kreuzer untergebracht, die Zuleitungen für Energie und Nachschub, die technischen Einrichtungen und die Quartiere für die Bedienungsmannschaften. Die breiten Druckstollen und abzweigenden Korridore zogen sich vom Meeresgrund hinauf bis zum Festland; ein Netz von Bahnen und Rolltreppen besorgte den Transport. Ein Schott glitt auf.
Der Gang war schnurgerade und führte in die Vorkammern des Startfeldes. Es war ein rundgebohrter Stollen, etwa drei Meter im Durchmesser. Die Beleuchtung kam aus den Stellen, die den Boden bildeten; sie unterbrachen die glatte Fläche und gingen rechtwinklig in den Boden aus Plastikraster über. McLane und seine Mannschaft gingen durch diesen Korridor.
De Monti fehlte - er war bereits im Schiff.
Eine Druckschleuse, die das Startfeld gegen die anderen Anlagen absicherte, nahm die vier Leute auf. Die Wände und Portale der Schleuse konnten den Wasserdruck auffangen, der über der submarinen Basis lag. Hinter den Mitgliedern der Crew schloß sich fast lautlos die starke Stahlplatte.
»Kadett McLane mit Mannschaft auf den Weg!« murmelte der Commander leise.
Hasso Sigbjörnson grinste verstohlen.
Die äußere Pforte der Schleuse zog sich zurück. Die Crew ging hinaus auf die Startfläche. Der Stahlzylinder besaß einen Durchmesser von fast genau einem Kilometer, und in seiner Mitte stand die ORION VII. Die Scheinwerfer, die senkrecht entlang der Rundung nach oben strahlten, warfen ein bläuliches, spannungsgeladenes Licht auf die Szene. Der Boden der Basis, vor einem Jahrhundert aus dem unterseeischen Fels geschmolzen, war mit wuchtigen viereckigen Platten bedeckt, die den Eindruck von Sickerwasser verhinderten und die die Kräfte aushielten, die während der Starts und der Landungen frei wurden. Dreißig Mann vom Bodenpersonal waren zu sehen.
Sie räumten die Maschinen und Testgeräte weg, mit denen die ORION während der letzten achtundvierzig Stunden überholt worden war.
McLane und seine Leute gingen auf das Schiff zu.
Die ORION ruhte in zehn Metern Höhe auf einem Ring aus Antigravstrahlen. Die Kreise im Boden be-zeichneten die Stellen, an denen die Strahlen auftrafen. McLane bestieg als erster den Lift - eine schlanke Röhre, die aus dem Unterteil des Schiffes ausgefahren war und den Boden berührte. Seine Leute folgten.
Der Lift schloß sich, indem eine zweite zylinderförmige Muffe über den Einstieg glitt. Dann hafteten die breiten Bänder, und die hydraulische Vorrichtung zog den Lift nach oben in den Bauch des Schiffes.
Der flache, hervorragend geformte Diskus der ORION VII hatte einen Durchmesser von fünfzig Metern, und die Höhe von der Radarantenne bis zum Bodengrill des Liftes betrug zwölf Meter. Zwei über den Außenrand hinausragende Stahlstreben trugen in den verkleideten Spitzen die Geschütze des Raumkreuzers. Die summenden Maschinen empfingen die Mannschaft mit den vertrauten Geräuschen. Die Mannschaft verteilte sich in ihre Kabinen und zog sich um.
Drei Minuten später betrat Cliff die Kommandokanzel, einen runden Raum mit zehn Metern Durchmesser, der voller Instrumente und Geräte, Sessel und Verstrebungen war.
»Alles klar, Mario?« fragte Cliff und setzte sich in den Sessel vor dem Steuerpult.
Cliff schaltete eine Reihe von Tasten durch. Nacheinander flammten die konischen Beleuchtungskörper an der Decke auf, die kleinen Monitoren zwischen den verchromten Deckenstreben, die sich rings um die Kanzel hinzogen, die mächtige Scheibe des Kommandantenbildschirms vor dem Steuersessel, die Beleuchtung der Skalen und Chronometer.
Helga Legrelle, ebenfalls in den dunklen Bordoverall gekleidet, kam herein und setzte sich.
»Mario?« fragte McLane ruhig. »Programmierung überprüft?«
Die Stimme de Montis kam aus der Ecke, in der ein leuchtender eiförmiger Gegenstand zwischen Boden und Decke stand. Die Finger des Ersten Offiziers lagen auf der Eingabetastatur des Computers.
»Unser elektronisches Genie ist in Ordnung ... Aber fragt mich nicht, welche zauberhaften Mädchen des Kadettenkorps ich deswegen versetzen mußte!«
Helga Legrelle schaltete mit einer geübten Bewegung eine Reihe von Knöpfen an; lautlos erwachten die Armaturen zu geheimnisvollem Leben.
»Computer einwandfrei - Kurs und Flugkoordinaten?«
»In Ordnung, Cliff«, sagte de Monti.
»Bordkontrolle!«
De Monti setzte sich neben McLane an das Steuerpult und ging die wichtigsten Schaltungen durch.
»Kontrolle beendet«, sagte Mario nach einer Weile.
Hasso Sigbjörnson und Atan Shubashi, der Bordingenieur und der Astrogator, betraten die Kommando-kanzel und nahmen vor ihren Kontrolltischen Platz. Die Routineüberprüfung, die jedem Flug voranging, nahm ihren Fortgang.
Tamara Jagellovsk, Leutnant Erster Klasse, betrat über die schmale Treppe die Steuerkanzel. Niemand beachtete den Sicherheitsoffizier. Tamara blieb unschlüssig stehen. Dann lehnte sie sich gegen eine der schwungvoll verkleideten Verstrebungen und wartete. Tamara trug den >Kleinen Bordanzug<, eine dunkelgraue Hosenkombination.
Das elektronische Bordbuch lief bereits.
Hasso fuhr ein Mikrophon zu sich heran und sagte gegen das Lamellengitter: »Maschine an Kommandant: Künstliches Schwerefeld setzt bei Zeit minus sechs Sekunden ein.«
»Tamara Jagellovsk vom Galaktischen Sicherheitsdienst meldet sich an Bord«, sagte Tamara halblaut. Noch immer beachtete sie niemand, aber das Bordbuch hatte die Impulse gespeichert.
»Kommandant an Astrogator und Navigation«, sagte Cliff in sein Mikrophon, »Computer auf Steuerung und Automatik!«
»Rechenmaschine übernimmt bei Zeit minus zehn Sekunden, Chef!«
Atan Shubashi hantierte mit seinem Pultrechengerät.
Signale huschten über Mattscheiben. Lichtbänder flammten auf, und Helga Legrelle meldete: »Raumüberwachung hat sich eingeschaltet. Leitstrahl steht. ORION und Basis 104 in Funkkontakt mit Erdaußenstation IV.«
Sie legte einen Funkspruch auf die Bordkommunikation um. Aus den Lautsprechern dröhnte die Stimme der Startüberwachung, die in einer drucksicheren Kanzel am oberen Rand des stählernen Schachtes saß und das Startfeld übersehen konnte.
»Basis 104. Abschußkontrolle an Schnellen Raumkreuzer ORION VII ... Sie sind zum Start freigegeben.«
»Danke, Basis!« sagte McLane und schaltete die Verbindung aus. Die Lautsprecherstimme sprach weiter.
»Basis 104 übergibt weiter an Erdaußenstation IV.«
»Fertig zum Start«, sagte McLane. »Erste Beschleunigungsstufe. Andruckausgleich und Eigenschwerkraftfeld einschalten!«
Hasso und Atan bedienten ihre Schalter und Hebel. Betont lässig drehte sich McLane um und musterte Leutnant Jagellovsk. Dann sagte er so laut, daß es jeder - einschließlich des Bordbuchs - hören könnte: »Ach - Sie sind ja auch da!«
Tamara nickte und lächelte ihn sarkastisch an.
»Zum Start«, fuhr McLane ironisch fort, »brauche ich weder Ihre Hilfe noch Ihre Überwachung. Bitte begeben Sie sich jetzt in Ihre Kabine. Schalten Sie Ihre Sprechverbindung ein - es ist ein kleiner Knopf, unter dem BSA steht. Bordsprechanlage.«
Seine falsche Liebenswürdigkeit wurde ätzend.
»Falls Sie mich zu sehen wünschen, steht Ihnen das Videophon zur Verfügung. In dem eingebauten Schrank finden Sie Ihr Bordgepäck. Dazu ein Verpflegungsset für zwölf Monate, eine Paralysepistole -falls Sie sich zu paralysieren wünschen! Und wenn es Ihnen ganz schlecht gehen sollte, stehen Ihnen immer unsere Kälteschlafkammern offen.«
Er drehte sich um und beobachtete den runden Schirm.
»Sie würden mich nicht ungern einfrieren, nicht wahr, Major McLane?« fragte Tamara.
»Leider steht nicht zur Debatte, was ich will«, erwiderte McLane knurrend. »Legen Sie sich jetzt hin und schalten Sie das Schwerefeld der Kabine ein. Wenn Ihnen etwas passiert, heißt es womöglich noch, ich hätte einen Mordanschlag auf Sie verübt.«
Tamara schluckte etwas hinunter, drehte sich um und verließ den Raum. Sie stieg in den kleinen Lift, der sie hinunter auf Deck II brachte. Sie hörte, während sich die Lifttür schloß, die nächsten Kommandos des Majors.
»Hasso! Photonenaggregate halbe Kraft.«
Sigbjörnson drückte drei Knöpfe in das Armaturenbrett.
Ein dünnes, hohles Summen ging durch das Schiff und rüttelte an den Verstrebungen. Die Maschinen versetzten bei einer gewissen Umdrehungszahl die Zellen in Bewegung; dann wechselte die Frequenz, und das Metall beruhigte sich wieder.
»Ich bin auf Automatik und Kontrolle«, sagte Sigbjörnson.
McLane nickte und murmelte: »Gut. Dann wollen wir starten!«
Die Bodenkommandos hatten den Platz geräumt; er war leer und dunkel. Eine mechanische Stimme zählte rückwärts. Dann hob die ORION langsam ab. Gleichzeitig verstärkten sich die Projektoren und drückten das Wasser zur Seite.
Zuerst erschien in der gewaltigen Bucht ein Strudel, der seinen Radius vergrößerte, bis die Wand rasenden Wassers hinunter auf den Meeresgrund reichte. Wie ein Phoenix stieg die ORION langsam durch den Raum, hob sich über das Wasser, und der Strudel verringerte seine Drehungsgeschwindigkeit. Dann beruhigte sich das Meer wieder; an den Ufern würden ein wenig später schwere Brecher anbranden. Das Heulen der Maschinen verstärkte sich.
Der gewaltige Andruck des waagrecht startenden Schiffes, das seine Maschinen voll einsetzte, wurde von den Retardern abgefangen. Die ORION wurde schneller und durchjagte die Troposphäre und brach durch einen Streifen von Zirruswolken.
Zwanzigtausend Meter ... Mesosphäre: Ein Rudel Perlmutterwolken wurde durch den Sog auseinandergetrieben.
Heaviside-Schicht. Untere Appleton-Schicht. Thermosphäre. Die Konzentration der Gashülle wurde immer geringer. Exosphäre und Van-Allen-Gürtel. Die ORION war im freien Raum und jagte der Sonne entgegen.
Der riesige Digitalrechner an Bord arbeitete tickend.
Der Antrieb wurde jetzt, da die Frequenzen in Ultraschall übergegangen waren, leiser und schließlich völlig lautlos.
Hasso hob eine Hand.
»Willst du Tamara die gesamte Fahrt über in ihrer Kabine eingeschlossen halten? Das wäre in ihren Augen zweifellos Freiheitsberaubung, und das wiederum ist strafbar.«
Mürrisch sagte de Monti: »Wir werden diese Schnüfflerin schon kleinkriegen. Am Ende wird sie uns aus der Hand fressen.«
»Oder wir ihr«, warf Shubashi skeptisch ein.
»Daß ich nicht lache!« sagte Hasso. »Wir sind noch mit allem fertig geworden, was man uns in den Weg gelegt hat.«
Atan Shubashi, der gedrungene Astrogator der Mannschaft, wiegte unsicher den Kopf.
»Ich habe das Gefühl«, sagte er vorsichtig, »daß mit Leutnant Jagellovsk nicht besonders gut Kirschen essen ist.«
»Kirschen essen ist auch nicht gerade das, was ich mit ihr vorhabe«, sagte de Monti mit seinem gewohnten siegessicheren Grinsen.
»Alter Angeber!« sagte Helga nachdrücklich. »Wenn du glaubst, bei ihr auch nur eine winzige Chance zu haben ... «
»Helga-Mädchen ...«, erwiderte de Monti erstaunt und hob die Stimme, »du wirst doch nicht jetzt schon eifersüchtig sein?«
»Pah!« machte Legrelle nur.
Hasso beruhigte die Gemüter.
»Dies ist«, verkündigte er im Ton eines Rezitators, »ein Streit um des Präsidenten Bart. In meinen Augen ist Tamara ein als Mädchen verkleideter Robot, aber keine Frau.«
Der Erste Offizier betätigte eine Schaltung.
»Das werden wir ja feststellen können«, versprach er. Über seinem Pult erhellte sich ein Schirm. »Wir sehen einmal nach, was sie macht.«
Tamaras Kabine wurde sichtbar. Der GSD-Offizier saß mit angezogenen Beinen auf der Liege und las in einem schmalen Buch. McLane drehte die ferngesteuerte Linse auf schärfste Vergrößerung und konnte jetzt den Titel lesen. Hammersmith: Psychologie der Raumfahrer. Ruckartig schaltete McLane den Monitor wieder aus.
»Das war ein Eingriff in die Intimsphäre«, sagte er. »Wenn du sie sehen oder sprechen willst, melde dich über BSA, wie sich das gehört.«
»Man wird doch noch mitlesen dürfen«, erwiderte Mario grinsend. Dann drückte er den Knopf BSA neben seinem Pult und sprach ins Mikrophon: »Leutnant de Monti an Sicherheitsoffizier Jagellovsk: Sind Sie sprechbereit? Dann schalten Sie bitte Ihr Videophon ein.«
Sofort war wieder Tamara zu sehen.
»Bitte?« fragte sie.
De Monti probierte seinen konzentrierten Charme aus und lächelte verbindlich.
»Eine außerdienstliche Frage, Leutnant Jagellovsk. Hätten Sie nach erfolgtem Start Lust auf einen Schluck Whisky in meiner Kabine?«
Ohne zu lächeln, erwiderte Tamara sofort: »Eine dienstliche Frage: Haben Sie den Whisky?«
»Aber«, sagte de Monti fast beleidigt, »eine ganze Kiste!«
Tamaras Gesicht kam näher an die Scheibe des Monitors heran.
»Sehr interessant. Ich danke Ihnen sehr für die Information. Ich werde darüber eine Meldung machen müssen.«
Das Videophon erlosch; sie schaltete es in ihrer Kabine aus.
McLane, Hasso, Helga und Shubashi fingen zu lachen an, während de Monti wie ein nasser Vogel vor seinem Pult saß und sich im Genick kratzte. In das Gelächter hinein kam die Meldung von Shubashi.
»Astrogator an Kommandant!«
»Ja?« fragte McLane hastig und drehte sich um.
»Ich habe eine Durchsage von der Sonnenwetterstation Dragon auf Merkur. Ich lege auf Verstärker um.«
Das Prasseln und Knattern von Störungen erfüllte die Kabine. Dann kam die automatische Stimme eines endlosen Bandes durch; stark überlagert durch die Eruptionen der Sonne.
»Dragon an alle - an alle - in Richtung Nord bewegt sich ein Eruptionswetter von der Sonne fort. Mit einem starken Strahlungssturm muß innerhalb des Kubus Eins gerechnet werden. Dragon an alle ...«
Tamara Jagellovsk kam zurück in die Steuerkanzel und lehnte sich wieder an die verkleidete Strebe. Wieder hämmerten die Störungen, durchbrochen von Pfeiftönen, durch die Kabine.
»Dragon an alle - Strahlungssturm in Kubus Nord Eins ... Strahlungssturm ...«
Cliff McLane schaltete den Autopiloten ab und leitete eine geringfügige Kurskorrektur ein. Der mächtige Körper der ORION kippte leicht und wich von der Geraden ab, die ihn ans Ziel führen sollte. Noch immer flog der Diskus Unterlichtgeschwindigkeit und war für die Vorgänge im Normalraum eine große Zielscheibe.
»... an die Raumkuben in der Umgebung der Erde: die Strahlungswellen haben eine Dauer von siebenundzwanzig Minuten und bewegen sich ... «
Die Störungen machten den Rest der Durchsage unverständlich.
»... die Strahlung erreicht das Hundertfünfzigfache der Normgrenzen ... Dragon an alle ...«
McLane sagte laut: »Aus. Schalte ihn ab, Atan! Wir gehen sofort auf die Ausweichkoordinaten der Fluglinie. Maschine besetzen. Rechner einschalten!«
Tamara blieb neben McLanes Pult stehen.
»Höre ich richtig?« fragte sie. »Andere Koordinaten?«
»Natürlich«, knurrte McLane. »Sind Sie etwa lebensmüde?«
»Nein. Ich ersuche jedenfalls darum, daß Station IV von unserer Kursänderung unterrichtet wird, Major McLane!«
Hasso warf einen langen Blick auf McLane und einen zweiten, noch längeren auf Leutnant Jagellovsk und verließ ruhig und unauffällig die Steuerkanzel, um seinen Platz zwischen den Maschinen des untersten Decks einzunehmen. Ein Lift brachte den Ingenieur nach unten. Shubashi wandte sich an Tamara.
»Der Außenstation ist es völlig gleichgültig, ob und wie wir den Kurs ändern, Leutnant. Glauben Sie, die könnten helfen?«
»Sonneneruptionen in der Chromosphäre des Gestirns entwickeln Geschwindigkeiten von siebenhundert Sekundenkilometern. Sie verursachen Störungen der Ionosphäre und legen den Funkverkehr lahm. Diese Partikelstrahlen bestehen aus Protonen und Elektronen und können in Sonnenferne bis zu zweitausend Sekundenkilometer erreichen. Unser Schiff wäre sehr gefährdet, wenn wir die Flugrichtung beibehalten.«
Tamara wiederholte ihre Aufforderung lauter und dringender.
»Bei einem Sonnensturm bricht der gesamte Funkverkehr in mindestens einem Kubus zusammen. Soll ich dem Satelliten eine Flaschenpost schicken?« sagte Cliff.
McLane beobachtete seine Geräte und kontrollierte den Kurs. Shubashi stand am Computer und programmierte die Zahlenreihen um. Legrelle arbeitete an dem Funkpult und versuchte, einen vernünftigen Text aus dem Wirrwarr der Störungen herauszufiltern. Vergebens.
Leise sagte das schwarzhaarige Mädchen mit der kleinen Nase: »Wir hatten Angst, daß es ein gräßlich langweiliger Flug werden würde.«
Die ersten Partikel hämmerten in den Schutzschirm, der um den Diskus lag. Ein knisterndes Geräusch, als würde eine unsichtbare Kraft das Metall der Zelle zerdrücken, ging durch das gesamte Schiff.
»Achtung!« sagte Helga laut. »Schiffswarnung. Ich habe die Impulse eines Randausläufers. Cliff - bitte ein Ausweichmanöver.«
Die ORION kippte und wich der Randzone aus. Da das Schiff eine wesentlich höhere Geschwindigkeit flog, als sie die Partikel je erreichen konnten, berührte der Diskus nur einzelne Ausläufer der anbrandenden Wellen. McLane hatte einen Kurs gewählt, der das Schiff entlang einer Reihe dieser Ausläufer führte.
So ritt die ORION VII, wie ein Kieselstein, der von Welle zu Welle springt, entlang der sich ausbreitenden Wolke aus der Sonne. Nur noch einige Minuten trennten das Schiff von dem ersten Hyperraumsprung, aber die Automatik würde den Menschen die Arbeit abnehmen.
Shubashi saß in seinem wuchtigen Schaumstoffsessel mit den lose herunterhängenden Gurten. Neben ihm standen Helga Legrelle und Tamara Jagellovsk. Auf dem großen Schirm sah man das unvergleichliche Schauspiel der Kaskaden aus verschiedenfarbigem Feuer, die sich bildeten, wenn die Grenze des Schutzschirms mit den Photonen in Berührung kam. Tamara war nervös; das sah jeder.
»Haben wir es geschafft?« fragte sie etwas unsicher.
»Wir schaffen es immer, Leutnant«, sagte Helga Legrelle. »Unsere Crew und McLane ...«
Genau in diesem Moment erschütterte eine schwere Explosion das Schiff.