Es war Gundi. Sie klang, als sei jemand in ihrer Nähe, der nicht hören dürfe, was sie sagt. Man sah förmlich, wie sie den Kopf senkte, um Mund und Hörer möglichst dicht zusammenzubringen. Und verfügte doch in ihrem Schlößchen in der Menterschwaige über soviel Ungestörtheit, wie sie nur wollte. Eigentlich war sie entspannt. Die Gelassenheit selbst, sagte Diego, sei sie. Gelegentlich sprach er ihr sogar eine göttliche Gelassenheit zu. Aber heute gab es einen Grund für diesen Dringlichkeitston. Diego liegt im Schwabinger Krankenhaus. Er konnte morgens nicht aufstehen, konnte keinen Arm, kein Bein mehr bewegen, ist darüber so erschrocken, daß er sofort gekotzt hat. Sie hat den Notarzt gerufen, der hat Diego ins Schwabinger Krankenhaus bringen lassen, da liegt er jetzt seit achtundvierzig Stunden, die Ärzte können sich für keine Ursache entscheiden. Also Schlaganfall ist schon mal ausgeschlossen worden. MS noch nicht.
Als Karl von Kahn hörte, daß das schon vorgestern passiert war, konnte er ein zu lautes, fast klagendes Nein nicht zurückhalten.
Gundi sagte: Ja. Sagte das ganz matt.
Karl, eher heftig: Sag Lambert, ich komme sofort.
Karl, rief sie, Karl!
Er verstand nicht gleich und erfuhr, er habe Diego Lambert genannt. Das tue ihr weh. Jetzt, da Diego so elend daliege, ganz besonders.
Karl rief: Gundi, liebe Gundi, das tut mir so leid, wie ich es nicht sagen kann. Wisch es weg, hab es nicht gehört, laß es bedeutungslos sein. Ich bitte dich darum.
Gewährt, sagte sie.
Ich danke dir, Gundi, sagte er.
Also um drei, sagte sie.
Und Karl notierte: Haus 4, Abteilung 4a, Zimmer 4023. Um drei.
Gundi hauchte ein Ja.
Karl legte nach ihr auf, holte Atem und sagte es Helen weiter.
Die saß schon an ihrem Schreibtisch, der der Schreibtisch ihres Vaters war. Öfter sagte sie, wenn sie es noch zu etwas bringe, verdanke sie das ihrem zweiten Mann, der ihr erster Mann, ihr Mann überhaupt sei. Damit wollte sie sein Frühaufstehen rühmen. Karl von Kahn hatte es zur Lebensbedingung schlechthin gemacht, vor seinen Kunden auf zu sein, die Börsenkurse zu studieren, bevor seine Kunden sie studierten. Er hatte ganz unauffällig aus jedem seiner Kunden die Aufstehzeit herausgefragt. Vor sieben saß keiner vor dem Schirm. Also saß er um sieben vor dem Schirm. Also saß Helen um sieben an ihrem Schreibtisch. Sie war durch Karl zur Frühaufsteherin geworden. Das hätte, sagte sie, ihrem Vater sehr gefallen. Womit sie Karl wissen ließ, daß viel mehr, als ihrem Vater zu gefallen, nicht erreichbar war.
Als sie hörte, was Lambert passiert war, stand sie auf, kam zu Karl, der an der Tür ihres Arbeitszimmers stehengeblieben war, lehnte ihren Kopf an seine Brust und sagte: Mein armer Karl.
Karl sagte: Sag lieber, der arme Lambert.
Das war eine Lieblingsstellung: Ihr Gesicht an seine Brust geschmiegt, sein Kinn in ihren blonden Haaren. Dazu gehörte, daß er seine Arme um sie legte und mit seinem Kinn in ihren Haaren hin- und herrieb. Das ging jetzt nicht.
Er sagte: Entschuldige, bitte.
Er richtete Helen vorsichtig auf, dann streichelte er sie. Dann ging er hinauf in sein Arbeitszimmer. Dort ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, kippte den Stuhl und sah auf die Balken und Bretter seiner schrägen Zimmerdecke.
Der Freund hatte Lambert geheißen, als er vor Karl, der wieder einmal auf seinen von Schwermut geplagten Tennispartner hatte warten müssen, stehengeblieben war und gesagt hatte: Meine Partnerin kommt auch nicht, ich finde, jetzt spielen wir. Ich bin Lambert Trautmann. Das weiß ich doch, hatte Karl gesagt. Gedacht hatte er, das seh ich doch. Und Sie sind Herr von Kahn, der Bruder Ereweins, dem ich viel verdanke. Er Ihnen auch, sagte Karl. Das freut mich, sagte Lambert.
Dann hatten sie gespielt, Lambert hatte gewonnen, aber nur knapp, und Karl hatte nichts dagegen, gegen dieses Gebirge von Mann knapp zu verlieren. Der war nicht viel größer, aber massiver, schwerer, wuchtiger. Lambert und Karl hatten dann jahrelang gegeneinander gespielt. Lambert nahm immerzu Stunden. Zuerst in der Tennisakademie bei Niki Pilic, dann bei weniger berühmten Lehrern. Karl nahm nie Stunden. Daraus, daß er trotzdem so oft gewann und verlor wie Lambert, schloß er, er sei eigentlich der bessere Spieler. Aber es war unübersehbar, daß auch Lambert sich für den besseren Spieler hielt. Lambert überraschte immer wieder mit neuen Taktiken, die er sich von seinen Lehrern beibringen ließ. Geschnittene Aufschläge und dann sofort vor ans Netz. Karl freute sich über jeden Technikimport. Je mehr Lambert ihm abverlangte, desto fröhlicher wurde er. Das war doch das reine Glück, dieses ernsthafte Gegeneinanderspielen. Wenn es einmal zweifelhaft war, ob der Ball die Linie noch berührt habe, konnte durchaus Streit entstehen. Sie waren ja Freunde geworden, und Freunde, die nicht streiten, sind keine Freunde. Um so beglückender dann, wenn sie nach einem Streit zurückfanden ins Spiel. Karl wußte immer: Wenn Lambert einmal aufhören würde zu spielen, würde er auch aufhören. Lambert war fünf Jahre jünger als Karl. Nach jedem Spiel pflegten sie den nächsten Termin zu verabreden. Für Lambert wurde es immer schwieriger, noch einen Termin zu finden. Seit Lambert in zwei Etagen in der Brienner Straße residierte, war er praktisch unerreichbar. Karl las in der Zeitung, daß Lambert keine Messe mehr ausließ. In Basel, in Paris, in Maastricht, Hannover, Salzburg und natürlich in München und sonstwo zeigte Lambert seine Potenz als Meister des Kunst- und Antiquitätenhandels. Seine Stände waren immer die größten. Aber daß er inzwischen mehr Zeit mit Gundi in deren Haus auf Menorca verbrachte, verhinderte Tennis gründlicher als alle Geschäfte zusammen. Lambert hatte offenbar Gundis Haus und Anwesen dort ins Großartige gesteigert. Auch einen Tennisplatz hatte er anlegen lassen, obwohl Gundi Tennis eher verachtete. Es sei ein Sport für Marionetten, hatte sie formuliert. Und Lambert hatte den Satz stolz lachend Karl weitergesagt.
Lambert hieß Lambert, bis er Gundi oder bis Gundi Lambert entdeckte. Sie nannte ihn von Anfang an Diego. Nach der Hochzeit erklärte sie, sie könne ihren Mann nicht mit einem Namen rufen, mit dem andere — und sie meinte die beiden Frauen, mit denen Lambert vor ihr verheiratet gewesen war — ihn gerufen hätten. Lambert war gerührt. Das war doch ein Liebessturm. Daß sie in der Villa in der Menterschwaige alle Schlösser ersetzen ließ, konnte eine praktische Maßnahme sein. Aber sie ließ alles ersetzen und erneuern, was durch eine ihrer beiden Vorgängerinnen ins Haus gekommen war. In ein paar Wochen hatte sie, ohne daß Lambert das jedesmal gleich begriff, herausgefragt, daß alle Keshans durch die erste Frau, und alles, was Biedermeier war, durch die zweite Frau ins Haus gekommen war. Hinaus damit. Lambert erlebte jede Säuberungswelle als Liebesbeweis der einundzwanzig Jahre jüngeren Gundi.
An dem, was Diego im ersten Stock der Villa präsentierte, konnte Gundi keinen Anstoß nehmen. Der Sängersaal, das war der erste Stock der Villa, die der Erfinder Ruckstuhl dem Schloß Neuschwanstein nachbauen ließ. Von Diego Bonsai-Neuschwanstein getauft. Mit dem Sängersaal hatte Diego die Bühne gefunden, die er für seine Selbstentfaltung brauchte. Seit er das Schlößchen hatte, spürte man förmlich seinen Ehrgeiz, jeden Abend für die Eingeladenen zum Ereignis werden zu lassen. Wie das dann ablief, wirkte kein bißchen vorbereitet. War es wahrscheinlich auch nicht. Er ließ immer erleben, was er gerade erlebt hatte. Wenn er in einem Buch Voltaires Satz entdeckt hatte Le superflu, chose très nécessaire, dann mußte er diesen Satz doch weitersagen und dazusagen, daß er in diesem Satz das Motto seiner Lebensarbeit und Lebensstimmung ausgedrückt sehe und daß seine Freunde, bitte, nicht über ihn lächeln mögen, wenn sie diesem Satz von jetzt an auf allen seinen geschäftlichen Papieren in bekenntnishafter Verwendung begegnen werden. Daß das Überflüssige das Notwendige sei, und das von Voltaire, seinem Hausheiligen, darauf trinken wir den Wein, den Voltaire zu schätzen wußte: Corton Charlemagne, zum Wohl.
Diego erfaßte, womit den jeweils Eingeladenen zu entsprechen, ja zu dienen war. Und er entsprach, er diente! Die Eingeladenen, das waren seine Freunde und solche, die es werden sollten. Das waren Damen und Herren, die auch als Kunden in Frage kamen.
Der Sängersaal hatte seine sechs säulengefaßten Rundbogenfenster zur Isar hin. Auf der sogenannten Galerieseite präsentierte Diego das, was er gerade am schönsten fand, also am heftigsten empfahl, seinen Kunden empfahl. Den Auserwählten. Es war ein Privileg, ins Bonsai-Schloß eingeladen und dort in den Sängersaal geführt zu werden. Auch jetzt noch, nachdem er sein Ladengeschäft aus der sanften Theresienstraße in die knallharte Brienner Straße verlegt hatte, um seinen Kunsthändlerrang unmißverständlich zu manifestieren, auch jetzt war das Bonsai-Neuschwanstein noch immer die Herzkammer seines Schönheitsimperiums, und der Sängersaal war die Herzkammer der Herzkammer. Vor den von drei Porphyrsäulen getragenen Rundbögen auf der Stirnseite des Saals hatte Diego seinen eigenen Geschmack entfaltet. Empire. Da saß man, nachdem man, von Diego geführt, auf der Galerieseite des Saals Diegos neueste Eroberungen beziehungsweise Offerten besichtigt hatte. Graphiken von Rembrandt ebenso wie Schafe am Bachlauf bei Bad Tölz im Vorfrühling. Fragonard-Blätter ebenso wie Hirtenjunge mit Kühen und Kälbern. Aber eben auch Schinkel-Stühle, versehen noch mit dem Etikett aus dem Stadtschloß in Berlin, oder eine Amatigeige mit diamantbesetzten Wirbeln aus dem Jahr 1646. Und er sagte immer freiheraus, daß er dieses Adolph-Menzel-Bild und diesen Corinth und diesen Schreibtisch Metternichs hier im engsten Kreis zeige, weil er solche Werke von keiner Laufkundschaft weggekauft sehen möchte. Er wollte immer wissen, wo, was er anbot, bleiben würde.
Denen, die er zum ersten Mal in den Sängersaal geladen hatte, erzählte er natürlich, wie er Besitzer dieses Bonsai-Neuschwansteins geworden war. Er hatte den Erfinder Ruckstuhl über fünfzehn Jahre hin zu einem bedeutenden Manierismussammler gemacht. Das war Diegos Leidenschaft: in jedem, der zu ihm kam, die Neigung zu entdecken, die in dem Betreffenden angelegt war, und diese Neigung dann zu entwickeln. Der Erfinder Ruckstuhl sei ein Verehrer Ludwigs II. gewesen und ein schwieriger Mensch, der sich mit manieristischer Kunst umgeben habe, mit Bildern, die man nicht verstehen, sondern nur anschauen konnte. Ihn habe nur das Unerklärliche interessiert. Bevor der Darmkrebs ihn zwang, sich zu vergiften, habe er seine Sammlung seiner Heimatstadt Rietberg im Ostwestfälischen geschenkt. Reich geworden sei Ruckstuhl mit revolutionären Erfindungen im Bereich der Abwasserbeseitigung. Zuletzt habe er noch mitgewirkt an der Entwicklung der Vakuumtechnik, mit deren Hilfe unsere Ausscheidungen ohne viel Wasserverbrauch aus den Zugaborten herausgesaugt werden.
Wenn Diego etwas erzählte, mußte er immer auch alles, was dazugehörte, erzählen. Also erlebte man eine gewisse Umständlichkeit. Die wollte er vor seinen Zuhörern nicht verbergen. Und daß, was er erzählte, erzählens-, also anhörenswert war, das mußte jeder, der ihm zuhörte, auch wenn er’s lieber knapper gehabt hätte, zugeben. Manche hielten Diego sicher für einen Angeber, bis sie merkten, daß er nur sagt, was er weiß. Diego macht den Eindruck, als wisse er immer noch mehr, als er sagt. Das eigentliche Risiko der Diego-Entfaltungen war, daß es unter seinen Gästen und Freunden Damen und Herren gab, die solche Abende und Nächte zur Selbstentfaltung brauchten. Amadeus Stengl etwa und Marcus Luzius Babenberg. Solche wie Stengl und Babenberg warteten darauf, sich einschalten und dann das Gespräch kurz einmal auf ihr Themengelände führen zu können. Sie waren doch auch Solisten. Als Diego, weil es wirklich dazugehörte, erzählte, daß der Erfinder Ruckstuhl nicht nur Ludwig II., sondern auch Pettenkofer verehrt habe, jenen Max von Pettenkofer, der geadelt worden war, weil er München durch ein Kanalsystem hygienisch, das heißt cholerafrei gemacht habe, da mußte er natürlich dazusagen, daß Ruckstuhl zeitlebens Pettenkofers Grab auf dem Alten Südlichen Friedhof gepflegt habe, ein Grab am Friedhofsrand, weil Pettenkofer eben auch ein Selbstmörder gewesen war. Selbstmord mit einundachtzig. Und viel unerklärlicher als Ruckstuhls Selbstmord.
Das war die Stelle, an der Marcus Luzius Babenberg sich einschaltete. Es leuchtete jedem Zuhörer ein, daß das, was Babenberg dann vorbrachte, nicht fehlen durfte. Der Selbstmord Pettenkofers sei keinesfalls unerklärlich gewesen, Pettenkofer habe sich umgebracht in einem Anfall von Schwermut und Verzweiflung, weil Robert Koch die Erreger der Seuchen, die Bakterien, entdeckt hatte, während er, nur ein Hygienefanatiker, ein Abwasser-Praktiker, versuchen mußte, die Bedeutung der Koch-Entdeckungen vielleicht wider besseres Wissen herunterzuspielen. Auch vor sich selbst. Wer kennt das nicht! Den überlegenen Konkurrenten nicht anerkennen können heißt, sich selber umbringen zu müssen. Der Goethe-Spruch, daß gegen unbestreitbare Vorzüge des Konkurrenten nur die Liebe helfe, war dem Naturwissenschaftler nicht mitgegeben worden. Dann entschuldigte sich Babenberg dafür, daß er Diego unterbrochen habe. Und, sagte er, er hätte es nicht getan, wenn er nicht der Cousin einer Urenkelin Pettenkofers wäre; dessen Selbstmordgeschichte werde in der Familie sorgfältig gepflegt, damit keiner glaube, Selbstmord sei in der Familie genetisch bedingt.
Daß Babenberg nichts sagte, dem man widersprechen konnte, machte es für Diego schwer fortzufahren. Aber Diego fiel der rettende Satz ein. Er habe, sagte er, Herrn Ruckstuhl gelegentlich erzählt, daß er ein Verehrer Voltaires sei, und als sie sich zum letzten Mal getroffen hätten, habe Ruckstuhl gesagt, er sei froh, daß er sein Haus in den Händen eines Ampère-Verehrers wisse. Da konnte man lachen. Und in dieses Lachen hinein konnte Diego sagen: Immerhin hat Ruckstuhl dieses Schlößchen eine Oase des schönen Wahns genannt. Und, sein Niveau zeigend, hat er hinzugefügt, er, als Liebhaber des Unerwartbaren, hätte auch lieber den Palazzo Carignano des Guarino Guarini nachgebaut, aber eine Imitation sei leichter zu imitieren als ein Original.
Hier hätte sich Karl von Kahn auch einmal einmischen können. Als Turin-Kenner. Er war mit seiner Zuhörerrolle durchaus zufrieden. Hier zu reden war nicht sein Fach. Die Redenden könnten ohne Zuhörer gar nicht reden. Trotzdem tat es weh, als Freund Diego den Palazzo Carignano erwähnte, ohne dazuzusagen, daß er Ruckstuhls Bemerkung erst zu würdigen wußte, als Karl, der leidenschaftliche Turin-Besucher, ihn nachträglich informiert hatte.
Daß Gundi ihren Lambert Diego getauft hatte, war verständlich, beziehungsweise sie machte es verständlich. Gundi hatte aus Lambert einen anderen Menschen geschaffen, und den hatte sie Diego getauft. Beide betonten, sie habe nicht nur in Lambert den Diego entdeckt, sondern auch aus Lambert den Diego gemacht. Den schlanken Diego, einundzwanzig Kilo leichter. Einundzwanzig Jahre ist meine Dritte jünger, so fing seine Rühmung immer an, und einundzwanzig Kilo war ich zu schwer. Und als er einundzwanzig Kilo leichter war, sang Gundi weiter, war er der Diego, den ich vom ersten Augenblick an in ihm vermutete. Eine Zeit lang habe ich nur Diego gespielt, fuhr er fort. Er hat, sang sie, nicht an den Diego in sich geglaubt. Aber sie, sang er, hat an den Diego in mir geglaubt. Und sie: Lambert sei für einen männlichen Mann eine lächerliche Bezeichnung, für eine Käsesorte Richtung Weichkäse immer, aber nicht für den Mann, den sie liebe, der sei von Kopf bis Fuß Diego.
Karl mußte immer wieder einmal die Versuchung niederkämpfen, dem Freund endlich zu gestehen, was ihm eingefallen war, als er Gundi zum ersten Mal gesehen hatte, im Königshof. Da war die zweite Frau noch im Haus, also traf man sich im Königshof und dinierte fast feierlich, auf jeden Fall in vollem Zukunftsernst. Von der zweiten Frau hatte Lambert Gundi offenbar schon so viel erzählt, daß Gundi sie nur noch die Biedermeier-Zicke nannte. Als Karl im Königshof auf den Tisch zugegangen war, als Lambert aufgestanden war, als Karl die Hand genommen hatte, die ihm Gundi entgegenstreckte, da war in ihm, obwohl er diese Gundi natürlich vom Fernsehen kannte und obwohl sie auch jetzt wie in ihren Fernsehsendungen in Türkis auftrat, trotzdem war in ihm, als er sie zum ersten Mal persönlich sah, eine Art Schlagzeile entstanden: Die Schwarze Witwenspinne, die ihren Partner tötet, wenn sie sich mit ihm gepaart hat. Und das, obwohl sie vor ihm stand in einem seidenen Anzug in lichtestem Türkis. Und in den Jahren seit diesem Abend war Gundi immer in irgendeiner Türkisvariation erschienen. Er empfand es als eine Untreue Lambert-Diego gegenüber, daß er nie die Schwarze Witwenspinne gestehen konnte, die ihm zuerst eingefallen war. Inzwischen hätten sie doch alle miteinander lachen können über diesen disneyhaften Einfall.
Jetzt lag der also da, der Freund. Gelähmt.
Karl sagte vor sich hin: Siehst du, Lambert, gleich neun, so früh hat Gundi noch nie angerufen. Daß sie noch vor halb neun anrief, hieß, sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen, halbneun, das war für Gundis Lebensart kurz nach Mitternacht, und ich, lieber Lambert, hätte keine Minute länger mit ihr telefonieren können, weil ich immer am Montag um neun Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel anzurufen habe, so geht das dann, lieber Lambert, unsere Lebensarten haben sich auseinanderentwickelt, weil ich mich ab sieben um die Kurse kümmere, kümmern muß, lieber Lambert. Verzeih. Bitte.
Er wußte nicht, wie er es anfangen sollte, wegzudenken vom bewegungsunfähigen Freund. Durch dieses elende Daliegen war ihm der Freund plötzlich so nah, wie er schon lange nicht mehr gewesen war.
Er wählte Amei Varnbühler-Bülow-Wachtels Nummer. Die kannte er auswendig. Jede Zahl mußte gegen einen Widerstand gewählt werden.
Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel war schon vor fünfundzwanzig Jahren dreifache Witwe gewesen. Karl von Kahn hatte noch bei der Hypo gearbeitet, zuständig für das Privatkundengeschäft, und wäre vielleicht bis zur Pensionierung eine Hypo-Nummer geblieben, hätte nicht eines Tages der Baron Ratterer, auch ein Kunde, für den Karl zuständig gewesen war, zu ihm gesagt: Wenn Sie in einer solchen Hierarchie verdorren wollen, hätten Sie gleich Pfarrer werden können. Karl sagte dem Baron, sollte der sein Depot statt der Hypo ihm anvertrauen, werde er kündigen und selber eine Firma aufmachen. Schließlich folgten ihm sieben Kunden, die er jahrelang hingebungsvoll gepflegt und reicher gemacht hatte, als sie schon waren. Mit sieben Kunden, die zusammen für Anlagen von fünfzig bis siebzig Millionen sorgen, kann man eine Firma gründen. Aber wenn schon im zweiten Jahr drei von diesen sieben Kunden wegsterben und deren Angelegtes von ebenso hilflosen wie gierigen Erben vertan wird — und Baron Ratterer war einer dieser Gestorbenen — und wenn noch ein betrügerischer Bankrott das Depot des potentesten Kunden dem Staatsanwalt ausliefert, dann starrt man nachts zur Decke. Ohne die dreifache Witwe Amei, ohne den musikalischen Physiker Professor Schertenleib und ohne die dreimal geschiedene Magistra Leonie von Beulwitzen wäre er untergegangen. Wahrscheinlich. Vielleicht. Keinesfalls. Unterzugehen kann er sich nicht leisten. Er ist zum Nichtuntergehen verurteilt.
Der Neun-Uhr-Anruf am Montag war ein Ritual. Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel meldete sich mit allen drei Namen plus Vornamen, wie sie sich immer meldete, nämlich in einer mit jedem Namen aufwärtssteigenden Melodie, so daß die Schlußsilbe von Wachtel klang, als schreibe man das mit zwei — l-. Karl von Kahn antwortete mit seiner Namensmelodie, die so deutlich nach unten führte wie die der Kundin aufwärts.
Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel war seine älteste Kundin überhaupt. Da sie selber gegen den Alterszucker kämpfte, war sie interessiert an Anlagen im Pharmafeld. Sie wollte immer genau informiert werden über die Produkte der Firma, deren Aktien sie kaufen sollte. Karl hatte, auch wenn gewisse Formulierungen Pflicht waren, an jedem Montag Substanz zu bieten. Montag ist Spieltag. Sie will ihre Geschäftsentscheidungen verstanden wissen als Spielzüge. Ihr zuliebe hatte Karl in einer der letzten Nummern seiner Kunden-Post einen Artikel geschrieben über das, was in der Branche Nachhaltigkeit genannt wurde. Das war das Hauptwort der Branchen-Ethik. Immerhin hatten die sonst der anglo-amerikanischen Prägekraft eher willenlos ausgelieferten Jargonschöpfer diesmal zu einem konkurrenzfähigen deutschen Wort gefunden.
Karls Artikel war eine Hommage an Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel. Ein Kompliment für den die Folgen bedenkenden Anleger. Er hatte allerdings, da er auch ganz andere Kunden hatte, das Gegenteil genauso gelten lassen müssen. Aber Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel fand, er habe sie und ihre Politik und Ethik bevorzugt. Das hatte er nicht, aber er war froh, daß sie das so verstand.
Heute hat er der Gnädigen Frau einen Kauf zu empfehlen, der geschaffen ist für sie. Wir greifen, wenn Sie mir folgen möchten, jetzt zu. Paion, die Bio-Tech-Firma, die sich neulich so unbeholfen an die Börse gewagt hat. Er hat den stotternden Start für Sie beobachtet. Der Einstiegskurs wurde dreimal gesenkt, zuerst sollte die Aktie vierzehn kosten, dann zwölf, dann zehn, jetzt also acht. Jetzt wären wir, wenn Sie wollen, dabei. Entwickelt wird ein blutgerinnsellösendes Medikament, dessen Wirkstoff aus dem Speichel einer südamerikanischen Fledermaus stammt, das dann aber gentechnisch produziert wird und Schlaganfallpatienten dramatisch schnell rettet.
Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel ließ sich dazu bewegen, dabeizusein. Ist notiert, sagte sie, morgen hören Sie von mir, an wieviel denken Sie?
Fünfzigtausend, sagte Karl von Kahn und sprach die Zahl, wie es zum Ritual beziehungsweise Spiel gehörte, so leichthin, als sei das nichts.
Wenn ich einsteige, sagte sie und wiederholte rituell, wenn ich einsteige, schlage ich die Finanzierung vor.
Sie schlug immer die Finanzierung vor. Diesmal hieß das, sie wollte die Finanzierung aus ihrem Schering-Portfolio herübergeholt wissen, weil sie in der Süddeutschen gelesen hatte, Schering sei mit Yasmin und Mirena zum Weltmarktführer bei den Verhütungsmitteln aufgestiegen. Da wollte sie nicht mehr dabeisein. Das konnte ihr Karl nur mit einer Einschränkung zusagen. Er werde ihre Schering-Aktien erst verkaufen, wenn sich die gerade vom Schering-Chef verkündeten Rekordergebnisse und die dazu gelieferte Zukunftsvision, daß nämlich von jetzt an der Gewinn stärker wachsen solle als der Umsatz, in einer Kurssteigerung bemerkbar gemacht haben wird. Da es dann aber für den günstigen Einstiegskurs bei Paion zu spät sein könne, werde er den Einstieg für die Gnädige Frau mit deren Erlaubnis per Kredit finanzieren. Kredite lungerten ja zur Zeit auf dem Markt herum und bettelten förmlich darum, aufgenommen zu werden. Da er aber immer das ganze Portfolio der Gnädigen Frau im Blick habe, und er möchte es lieber ein Anlagen-Gewächshaus nennen als ein Portfolio, könnte er ihr auch vorschlagen, den Einstieg bei Paion mit dem Verkauf von Puma-Werten zu finanzieren. Zwei Gründe dafür: Heute morgen die Meldung, Puma kauft weiter eigene Aktien zurück, für weitere hundert Millionen Euro, das heißt, die Puma-Aktien werden steigen. Zweitens: Puma-Papiere wirken im Werte-Gewächshaus der Gnädigen Frau eher fremd.
Und genau deshalb bleiben sie drin, rief die Kundin.
Um Ihre Instinktsouveränität habe ich Sie immer beneidet, sagte Karl im Finalton. Er sei glücklich, die Gnädige Frau heute wieder so situationsbewußt und dazu noch jahreszeitgemäß, also nichts als frühlingshaft erlebt zu haben. Wir hören voneinander.
Sie von mir, mein Lieber, sagte sie. Adieu.
Adieu, sagte Karl, wie es zum Ritual gehörte, deutlich leiser als sie.
Das Ritual, das er sonst mit nicht nachlassen dürfender Lust bediente, kam ihm heute lächerlich vor. Lambert! Daß Lambert, als er sich, aufgewacht, gelähmt sah, sofort gekotzt hat! Gundi hat es ihm tatsachenhart hingesagt.
Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel, in seiner Jahreszählung: neunzig plus. Seine Kunden starben nicht mehr einfach so weg wie in den ersten drei Jahren. Sobald die achtzig waren, ging es aufwärts. Dafür sorgte er. Durch immer neue, immer spannende, oft dramatische Um- und Umschichtungen der Anlagen. Karl hatte inzwischen eine Kunst daraus gemacht, Kunden, die siebzig plus, achtzig plus und neunzig plus waren, für langfristige Anlagen zu begeistern. Er setzte seine Kunden nicht den Kunststoffwörtern aus, mit denen die Branche sich den Anschein gab, das Weltwettergeschehen der Märkte mit immer feineren Maschinen und Methoden durchschauen und berechnen und lenken zu können. Er blieb beim Natürlichen. Der Markt als Naturgeschehen. Das war seine Sprache. Jede Bewegung auf dem Markt hat eine Wirkung, und diese Wirkung wirkt zurück auf ihre Ursache. Und die dadurch veränderte Ursache produziert eine veränderte Wirkung, die wieder zur veränderten Ursache einer anderen Wirkung wird. Daß du nicht zweimal im selben Wasser baden kannst, wird nirgends so wahr wie im Anlegergeschäft. Und er ist der, der handelnd etwas für seinen Kunden bewirkt, aber dann weiterhandeln muß, weil das Hin und Her nie aufhört, es sei denn, man zöge seinen Einsatz zurück. Glattstellung hieße das dann. Aber das will er nicht, das wollen seine Kunden nicht. Das will das Lebendige nicht. Und Karl von Kahn und seine Kunden sind für das Lebendige. Zins und Zinseszins. Verbrauch ist banal. Das Leben will die Wieder- und Wieder und Wiederanlage des Erworbenen.
In seiner Kunden-Post pflegte er eine Kolumne Das Zitat der Woche. Das war, fand er, eine schöne Möglichkeit, seine Kunden aufzuklären, ihnen seine Geschäfts-Philosophie nahezubringen. In der letzten Woche stand da: Money makes money. And the money that money makes makes more money. Benjamin Franklin. Immerhin. Dieses Zitat hatten vierzehn Kunden mit herzlichen Zuschriften beantwortet. Die wird er in der nächsten Kunden-Post veröffentlichen. Seine Kunden sollten sich in einem ungegründeten, aber spürbaren Club befinden.
Karl von Kahn übersetzte in seiner immer freitags verschickten Kunden-Post alles Wirtschaftliche ins Menschliche, verwendete aber soviel Farben aus dem Branchenflor, daß seine Kunden an seiner Zuständigkeit nie zweifeln konnten. Das ganze soziologisch-statistische Alarmierungsgewäsch, also alles, worin Demographie vorkam, ließ er höchstens zu, um seine Sechzig- bis Neunzigjährigen zum Lachen zu bringen.
Im letzten Leitartikel in seiner Kunden-Post hatte er seiner Laune freien Lauf gelassen. Die wissen doch, stand da, wenn sie über uns phantasieren, nicht, wovon sie reden. Lebenszyklusfonds, A S-Fonds beziehungsweise Altersvorsorge-Sondervermögen, stellen Sie sich vor, mit dergleichen versicherungsmathematischem Müll wollen sie der Tatsache entsprechen, daß wir immer noch nicht gestorben sind. Sie schreiben über unser Alter wie über ein Gebirge, das sie nur vom Flugzeug aus kennen. Vom Drüberhinfliegen. Sie wissen nicht, wie das ist, in diesem Gebirge zu leben. Es ist ein Gebirge, das Alter. Ein Leben in großer Höhe. So die Sonntagsausdrucksweise für unser Alter. In Wirklichkeit gibt es unser Alter nicht. Es ist eine Mache der Alarmisten. Von meinem und deinem Alter wissen sie nichts. Für die Alarmisten sind wir Statistikfutter. Sie reden über uns, wie der Farbenblinde von der Farbe redet. Über mein Alter und dein Alter gibt es keine Auskunft. Die produzieren Horizonte aus nichts als Gefahren, um sich als Retter aufspielen zu können. Das dazu verwendete Expertenvokabular erinnert doch an die Sprache, die die Theologen aufbieten, wenn sie die Existenz Gottes beweisen wollen. Die Anleihen, auf die wir uns eingelassen haben, sind katastrophensicher. Damit es uns nicht langweilig wird, haben wir dazu noch ein Aktienpaket geschnürt, das das tägliche Börsen-Auf-und-Ab mittanzt. Und wir haben Verkaufsoptionen gekauft. Fallen die Kurse, gewinnen die Optionen an Wert. Wir verkaufen nicht die sinkenden Aktien, sondern die wegen der sinkenden Aktien teurer werdenden Verkaufsoptionen. So überstehen wir die Krise. Uns kann nichts Ernsthaftes geschehen. Fliegt er doch nach Berlin, Köln, Frankfurt, Zürich und Stuttgart, wenn sich dort die Garnitur derer versammelt, die selber an der Wertschöpfungskette tätig sind. Wertschöpfungskette, das ist ein Wort nach seinem Geschmack. Man kann es gar nicht oft genug sagen. Wertschöpfungskette. Und damit Sie nicht etwas glauben müssen, was Sie wissen können, werte Damen, werte Herren, sagt er Ihnen die einzigen Zahlen, die zählen: Steigt die Lebenserwartung um 10 Prozent, reicht zur gleichbleibenden Versorgung eine Renditesteigerung von 0,17 Prozent. Das ist doch eine Auskunft, mit der es sich leben läßt. Mit einer Einschränkung: So geht es nur uns, die wir selber für uns sorgen per Anleihen und Aktien, denen, die leben vom Zinseszinseffekt, von der Wiederanlage.
Karl von Kahn liebte es, wenn die Gesichter seiner Kunden vor Staunen blühten, wenn er ihnen die Melodie des reinen Gewinns vortrug. Er lenkte immer den Blick auf die Schlechtberatenen, die den Staat für sich machen ließen. Da wird die Banalität zum Schicksal. Immer weniger Beitragszahler müssen aufkommen für immer mehr Ältere. Und warum? Weil der Staat mit dem Geld, das man ihm überläßt, nichts anzufangen weiß, während wir den Zins säen und den Zinseszins ernten. Das hätte man im 20. Jahrhundert doch lernen können: Auf nichts ist so wenig Verlaß wie auf alles Staatliche. Der Staat schafft nichts. Er reguliert. Der Regulator ist er. Seien wir froh, daß wir diesem Zirkus der Verantwortungslosigkeit entronnen sind. Und bedauern wir jeden, der ihm noch ausgeliefert ist. Wer hat denn die Kriege vorbereitet, erklärt, geführt! Die Staaten. Es wird eine Zeit kommen, und zwar schon bald, da werden die Staaten abgestorben sein, leere Fensterhöhlen der Bürokratie. Kapitalmarktinformationshaftungsgesetz. Das ist ein echtes Staatsprodukt. Wir, die wir uns selber verwalten, sind die Wegbereiter der Zukunft.
Jeder Mensch ist bereit, sich die Welt schönreden zu lassen. Nicht nur bereit. Er ist dessen bedürftig. Man muß nur sich selber als ersten davon überzeugen, daß diese Welt die beste sei von allen, die möglich gewesen wären. Der Weltprozeß entscheidet sich immer für das Bessere. Das Schlechtere unterbleibt. Jeder wird Zeuge, wieviel Schlechteres andauernd scheitert. Die Schlacht wird vom Besseren gewonnen. Das ist das tautologische Axiom. Das ist die Formel, nach der jeder irdische Prozeß verläuft. Wenn du nicht gewinnst, bist du der Schlechtere. Du kannst aber gewinnen. Denn jeder ist der Bessere. Das ist so paradox wie wahr. Absolut wahr.
Das hatten Diego und Karl einander jahrelang vorgesagt, eingeredet. Diego gab diesen Ton an. Karl machte mit. Auch durch Widerspruch. So zwang er Diego und sich selber zu einer Art Bodenhaftung. Diego sammelte unermüdlich Sätze aus Büchern, die man für unsterblich hielt, weil sie drei- oder vierhundert Jahre überdauert hatten. Am liebsten stattete er sich mit Voltaire-Sätzen aus. Die eigneten sich dazu, eingerahmt und aufgehängt zu werden. Gundi belächelte Diegos Eifer. Mein Zitatenpflücker, sagte sie und nahm seine beiden Hände und küßte ihm die Fingerspitzen.
Karl benutzte Zitate nur in der Kunden-Post. In den Kundengesprächen gab er sich erfahrungsreich, hell und zukunftsfroh. Das war er auch. Zumindest, wenn er nicht allein war. Seine Kunden belebten ihn. Seine Vorschläge waren ganz und gar das Resultat dessen, was die Kunden ihm erzählten. Sobald er allein war, wußte er sich oft nicht mehr zu helfen. Mutlosigkeit breitete sich aus in ihm. Die Welt war anders. Sie rächte sich dafür, daß er sie gepriesen hatte, obwohl er wußte, daß sie anders war. Wenn die Kunden ihn so erlebten, so mutlos, sie müßten ihn für einen Betrüger halten. Jeder Mensch muß jedem anderen Menschen gegenüber die Welt preisen. Sonst hört sich alles auf. Verzweifeln darf jeder für sich.
Kein Mensch darf merken, wie mutlos du bist. Nicht einmal du selbst. Und Helen schon gar nicht. Deren prinzipielle, wenn auch zarte Unentwegtheit schloß die Fähigkeit aus, einen Menschen für mutlos zu halten. Andererseits genügte es, wenn er auf dem Weg zu Professor Schertenleib in Gräfelfing um die Mittagszeit auf dem Bahnsteig stand und die Schienen gleißten in der Sonne. Da war er sofort wieder bereit für jede Einbildung.
Er mußte sich durchfragen durch dieses edle Labyrinth aus Gängen und Innenhöfen und fand schließlich hin. Ein Zimmer im Parterre. Raumhöhe, schätzte er, sechs Meter. Gundi, die sein Staunen bemerkte, sagte: 1904, denen war der Patient noch etwas wert.
Diego lag mit geschlossenen Augen, hing an mehreren Schläuchen und Leitungen, seine Lippen bewegten sich, er schlief nicht. Karl setzte sich auf den Stuhl am Bett und legte eine Hand so neben Diegos Linke, daß er sie berührte. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er wollte nicht, daß Gundi das bemerke. Sie sagte, Diego könne seit heute morgen so gut wie nicht mehr sprechen. Gestern habe er noch sprechen können. Aber er verstehe alles. Nicht wahr, Liebster. Diego bejahte durch Lippenbewegungen.
Karl legte seine Hand jetzt auf die Hand des Freundes und sagte: Ach, Lambert.
Gundi, die einen halben Meter vom Bett entfernt saß, sagte leise, aber scharf: Karl!
Entschuldige, sagte er und deutete auf den Kranken, als sei dessen elendes Daliegen schuld an seinem Versehen. Karl nahm jetzt die linke Hand des Freundes, umschloß sie mit beiden Händen. Er war im Augenblick nicht imstande, seinen Freund mit Diego anzusprechen, und Lambert durfte nicht sein. Das verstand er ja. Also verlangte er von sich das Unmögliche. Diego, sagte er und wußte, ohne hinzuschauen, daß Gundi ihm jetzt ermunternd zunickte. Noch einmal: Diego. Er spürte Gundis Zustimmung als eine Kräftigung. Aber er konnte nicht weiterreden. Wie der jetzt dalag, der Freund!
Gundi gab Karl das verabredete Zeichen. Der Besuch sollte kurz sein. Diego lag doch da, wie zu Tode erschöpft.
Karl verabschiedete sich mit einem langen Händedruck. Dazu sagte er, Diegos Gesichtsfarbe verrate ihm, daß Diego bald wieder gesund sein werde. Diegos Lippen kräuselten sich ein bißchen. Und das Frühjahr tue ein übriges, sagte Karl. Ist doch wunderbar, daß du ein Zimmer hast, in dem du die Vögel singen hörst. Tatsächlich hallten die Vogelstimmen, die von draußen hereindrangen, in dem hohen Zimmer wie in einer Kirche. Am liebsten hätte Karl gesagt, das sei wahnsinnig, diese geradezu tobenden Vogelstimmen in diesem kirchenhohen Krankenzimmer. Er spürte, daß alles, was er sagen konnte, unangebracht war. Aber er mußte so daherreden, um nicht merken zu lassen, wie ihm das weh tat, seinen Freund so daliegen zu sehen.
Gundi bat ihn, draußen auf sie zu warten, sie komme gleich.
Bis bald, lieber Diego. Krankheiten, die keinen Namen haben, halten sich nicht lang. Also, Diego, bis bald.
Er sollte mit Gundi hinausfahren in die Villa.
Gundi stieß die Sätze, die sie sagen mußte, mehr heraus, als daß sie sie sagte. Im Katastrophen-Telegrammstil. Die Mitteilung, die sie zu machen hatte, ließ nichts anderes zu. Diego will Trautmann Titan verkaufen. An Puma. Verhandelt wird seit Wochen. Und erst jetzt ist ein Ergebnis in Sicht gekommen. Diego hätte natürlich Karl jetzt zugezogen. Ohne Karls Zustimmung kein Verkauf. Dann der Zusammenbruch. Wenn sich das in der Branche herumspricht, ist die Firma nur noch halb soviel wert. Leider hat heute schon Amadeus Stengl angerufen, der tat, als wisse er Bescheid. Sie hat ihm das Weitersagen verboten. Aber genausogut kannst du den Gänsen das Schnattern verbieten. Auf jeden Fall muß jetzt schnell gehandelt werden. Diego will sechs Millionen, darunter geht nichts. Diego hat vor dem Zusammenbruch noch alles unterschriftsfertig hingekriegt. Die Konkurrenz im Racket-Business sei strangulierend. Das sagt er seit Jahren. Und betet immer die gleichen Namen her: Dunlop, Kneissl, Pro-Kennex. Und jetzt diese Gelegenheit! Artikel zu produzieren, um sie dann zu verkaufen, habe ohnehin nie zu Diego gepaßt. Er sei damals nur Karl zuliebe eingestiegen, vielleicht auch ein bißchen geblendet vom deutschen Tenniswunder. Das ist aus und vorbei. Jetzt mit sechs Millionen davonzukommen, das wär’s doch. Und ließ, was sie gerade gesagt hatte, von ihrem Porsche bestätigen.
Da Karl Gundi noch nie am Steuer erlebt hatte, staunte er. So unbeeindruckt von Geschwindigkeitsbeschränkungen und anderen Verkehrsgeboten hatte er noch nie jemanden am Steuer erlebt. Und sie lenkte immer nur mit der Linken. Karl mußte sich vorstellen, daß ihre Rechte dann mit Diego beschäftigt war. Dieses irrsinnige Fahren nur mit der Linken und diese beschäftigungslose Rechte! Wartete er darauf, daß sie sich auf sein Knie lege? Niemals! Überhaupt nicht! Daß einem so etwas einfällt, ist ärgerlich. Wenn Gundi die Sätze nicht in Fahrtrichtung hinausstieße, sondern zu dir herüber, was ja bei diesem Tempo tödlich wäre, aber einmal angenommen, auf der langen, geraden Grünwalder Straße täte sie das, spräche herüber zu dir, und dann hätte sie einen Mundgeruch, das wäre der Hammer.
Damit war er von Gundi weg. Zu sagen, etwas sei der Hammer, das war reiner Amadeus Stengl. Amadeus war zwar nur ein bißchen jünger als Karl, na ja, fünf Jahre oder vielleicht sogar sieben Jahre konnten es sein, aber er ging offenbar intensiv mit den nachfolgenden Generationen um und übernahm, wahrscheinlich ohne es zu merken, deren Wortgewohnheiten. Daß etwas der Hammer sei oder echt geil sei oder durchgeknallt sei oder der Wahnsinn sei, dergleichen blühte dem andauernd aus dem ohnehin immer noch fast kindlich formlosen Mund. Das Älterwerden hat diesen Mund, der offenbar nie eine bleibenkönnende Fassung gefunden hat, vollends entgleiten lassen. Ein Lippendurcheinander von Mund. Er merkte, daß er abwertend über Amadeus Stengl dachte. Das wollte er aber nicht. Wer bin ich, daß ich abwertend über Amadeus Stengl denke! Daß ein Mund sich weigert, eine Fassung zu finden, kann ein Zeichen von Lebendigkeit sein.
Hauptsache, er war von Gundi weggekommen.
Aber da sagte sie schon: Denk nicht so weit weg! Als er den Erstaunten spielte, ergänzte sie: Von mir! Das mir zweisilbig. Ihre beschäftigungslose Rechte ließ sie dabei auf sich selber zeigen, zentral.
Er hätte jetzt sagen können, daß er selber nicht mit dem, was ihm durch den Kopf gehe, einverstanden sei. Er hätte sagen sollen, daß er oft das denken müsse, was er am wenigsten denken wolle. Aber, hätte er noch dazusagen müssen, das Schlimmste sei, daß er nichts dagegen habe, das denken zu müssen, was er am wenigsten denken wolle. Da das alles unsagbar war, schaute er auf Gundis beschäftigungslose Rechte hin, produzierte, obwohl Gundi das ja nicht wahrnehmen konnte, einen Gesichtsausdruck reiner Bewunderung, um dann sagen zu können: Aus deinen Interviews weiß ich, daß du in Berlin das Geld für das Studium als Taxifahrerin verdient hast.
Hab ich, sagte sie. Bevor ich bei Max Staub Assistentin war. Der blieb aber nur ein Jahr in Berlin. Daß ich nicht mit ihm nach New York gegangen bin, sagt Diego, das sei, weil er und ich dann nicht zusammengefunden hätten, eine Entscheidung von prophetischer Genialität gewesen. Max war ja total lieb, aber er wollte mich heiraten.
Karl sagte, als erkläre das alles: Ethnologie.
Ethno-Psychoanalyse, sagte sie.
Karl dachte an die Szene im Schlößchen. Im Sängersaal. Gundi litt wieder einmal darunter, daß sie die Wissenschaft verlassen hatte. Sie hätte die Ethno-Psychoanalyse, diese gerade entstehende Wissenschaft, nicht verlassen dürfen, sagte sie. Sie wirkte wie ein Soldat, der von einer achtenswerten Armee desertiert ist. Mitten im Satz hatte sie zu sprechen aufgehört, saß da mit geschlossenen Augen und sog an ihrer bulgarischen Zigarette, als könne sie sich so aus der Welt hinaussaugen. Sie rauchte, solange sie noch rauchte, nur bulgarische Zigaretten. Wenn man sie fragte, warum, rief sie: Muß man denn immer wissen, warum man etwas tut! Nach diesem unendlich tiefen Zug aus der bulgarischen Zigarette ließ sie die Augen aufgehen wie ein Gestirn und sagte vollkommen sanft, sie habe mit ihrem Bedauern, die Ethno-Psychoanalyse verlassen zu haben, nichts gegen das Fernsehen sagen wollen.
Das war ihre Natur, das war sie selber ganz und gar, diese nichts übersehende Ausgeglichenheit. Zu ahnen war, welche Kräfte in ihr gegeneinander kämpften. Auf dem Bildschirm demonstriert sie, wie sehr man mit sich im reinen sein kann, aber das Pathos, das ihr unwillkürlich eigen ist, verrät, daß sie nichts geschenkt bekommen hat. Und eben das macht ihr grenzenloses Einverstandensein mit sich selbst schön. Dazu gehört, daß das immer nur für diesen Augenblick gilt. Gerade jetzt schwimmen die schwarzen Augen im weißen Gesicht wie ruhige Feuer. Der Mund, eine Fülle der Gelassenheit. Bis auf die dann doch noch jäh abfallenden Mundwinkel. In jedem Interview sagt sie: Was sie bei Max Staub gelernt habe, könne nirgends so fruchtbar werden wie im Fernsehen. Als müsse sie sich selbst immer wieder beweisen, wie richtig es gewesen sei, die Ethno-Psychoanalyse zugunsten des Fernsehens im Stich zu lassen. Wie richtig das war, bestätigen ihr die Zuschauer seit mehr als zehn Jahren, eben seit es Zu Gast bei Gundi gibt.
Karl war jetzt voller Bewunderung für die Frau, die viel zu schnell fuhr, alles mit der Linken erledigte und die Rechte demonstrativ beschäftigungslos ließ. Obwohl das nichts mit ihm zu tun hatte, dachte er, daß Gundi ihm demonstriere, was diese Rechte alles tun könnte. Natürlich dachte Gundi nichts dergleichen. Und er auch nicht. Aber er konnte nicht verhindern, daß er doch daran dachte. Gewissermaßen um sich gegen Gundis Gegenwart zu wehren, sagte er sich: Wenn es taghell ist, sieht sie verblüht aus. Abends, ob bei Diego oder auf dem Schirm, ist sie schön. Tageslicht ist nichts für sie. Sobald die Sonne weg ist, ist sie schön. Dabei konnte er bleiben.
Das schwere, von zwei Türmchen umstandene Tor wich vor ihnen zurück, ebenso hob sich schon das Garagentor, Gundi fuhr bis zur Garagenstirnwand.
Komm, sagte sie und öffnete weitere Tore und Türen per Fernbefehl.
Gundis Reich war das Parterre. Lichtarm, aber farbig, das war ihr Lebensbühnenbild. Sie hätte am liebsten nur Bilder von Tamara de Lempicka um sich gehabt. Aber die konnte man nirgends mehr kaufen. Immerhin, das Selbstportrait mit Bentley hatte Diego dem internationalen Markt entreißen können. Aber Giorgio de Chirico und Georges Braque und Jan Mahulka lieferten auch Stimmungen, in denen sie sich daheim fühlte.
Gundi führte Karl hinaus in den Wintergarten. Der Wintergarten war taghell und so voller Pflanzen und Blumen, daß man in einem Gewächshaus war. Auch Orchideen fehlten nicht. Hier wurde auf einem Tisch, dessen Platte aus alten Kacheln bestand, der Tee serviert. Gundi hatte ihn während der Fahrt per Autotelefon bestellt. Zwei hauchleicht auftretende Thaimädchen servierten. Zum Tee gab es Häppchen, die genau so überraschend schmeckten, wie sie aussahen.
Die Thaimädchen, die man unwillkürlich für Zwillinge halten mußte, traten immer nur zusammen auf und auch da enger nebeneinander, als es nötig oder auch nur praktisch war. Varieté, dachte Karl. Er war schon länger nicht mehr Gast gewesen im Bonsai-Schloß. Das letzte Mal hatten zwei südamerikanische Indios serviert. Auch zwillingshaft. Das war wohl Gundis Vorliebe. Vielleicht weil sie keine Kinder hatte. Oder aus ethno-psychoanalytischem Interesse. Gundi lächelte den Thaimädchen zu, als sei dieses Lächeln für die eine Information. Aber auch Applaus.
Ach, Karl, sagte sie. Er nickte. Sie tranken darauf, daß Diego noch einmal davonkomme. Aber Gundi ließ spüren, daß sie an kein Davonkommen mehr glaube. Und fing an: Sie müsse Karl jetzt doch noch sagen, daß Diego in der ersten Nacht alle Leitungen heruntergerissen und die Schläuche durchgeschnitten habe. Er habe das Gefühl gehabt, fliehen zu müssen. Die Zimmerdecke senkte sich auf ihn herab. Zum Glück kam die Nachtschwester. Er schrie sie an: Strecken Sie Ihren Arm nach oben! Tatsächlich, er sah, die Hand der Nachtschwester steckte bis zum Ellbogen in der Decke. Erst als der Nachtarzt kam und ihm eine Spritze geben wollte, die er ablehnte, wurde er ruhiger. Als Gundi dann eintraf, mittags, habe er ihr, was er getan hatte, gestanden, verzweifelt gestanden, in einer grellen Depression gestanden, weil er sich jetzt nicht mehr auf sich verlassen könne. Dabei habe er sich so an den Kopf gegriffen, als wolle er sagen, er fürchte um seinen Verstand.
Karl sagte: Das ist so furchtbar. Mehr konnte er nicht sagen.
Gundi sagte: Genau das ist es. Und eben deshalb müsse man noch froh sein, daß Diego den Vertrag unterschriftsfertig gemacht und selber noch unterschrieben habe.
In ihrem Arbeitszimmer hatte Gundi alles zur Unterschrift vorbereitet. Karl tat, was sie mit winzigen Handbewegungen empfahl, nahm vor ihrem Schreibtisch Platz, sie schob ihm die Papiere auf der dunkelblauen Glasplatte hin, kam herüber, stand neben ihm, stützte sich mit einer Hand auf seine linke Schulter und zeigte überallhin, wo er unterschreiben sollte. Dazu reichte sie ihm einen Füllhalter. Er war vor fünfzehn Jahren, als Lambert und Gundi geheiratet hatten, Trauzeuge gewesen, der Standesbeamte hatte ihm einen Füller gereicht, mit dem er dann die Urkunde unterschrieb. Seitdem hatte er kein so feierliches Schreibgerät mehr in der Hand gehabt. Er bemühte sich, Gundi zu zeigen, daß er nicht durchlese, was er unterschrieb. Diego war ihm so nahe wie er sich selber. Besonders in diesem Augenblick. Ohne es zu wollen, nahm er noch wahr, daß das, was er unterschrieb, ein Auflösungsvertrag und eine Vollmacht war. Für den Notar, sagte er, stehe er zur Verfügung.
Gundi überreichte ihm ein Kuvert. Der Scheck, sagte sie. Eins Komma zwei Millionen. Da Diego sechs Millionen verlangt und kriegt, beläuft sich der Zwanzigprozentanteil von Karl auf eins Komma zwei Millionen.
Sie sah Karl so an, daß er jetzt sagen mußte, ja, zweihunderttausend habe er eingebracht.
Diego viermal soviel, sagte sie.
Ja, sagte Karl, Diego wollte immer viermal so hoch drin sein wie ich.
Darum, sagte sie, jetzt vier Komma acht von sechs für ihn.
Karl sagte: Es gibt schwächere Renditen.
Komm, sagte sie und ging voraus. In die Bar.
Ihr Parterre schwamm im blauen Dämmer, die Bar in Orange. Karl trank sofort mehrere Schnäpse hintereinander. Quitten. Das war Diegos Entdeckung. Flaschen, die so bucklig und unsymmetrisch waren, als kämen sie aus dem abgelegensten Schottland. Gundi trank nicht einmal das erste Gläschen ganz aus.
Karl sagte, er kenne immer noch keinen Schnaps, der sich mit diesem Quittenschnaps messen könne. Jedesmal, wenn er hier davon getrunken habe, habe er sich aufschreiben wollen, wo’s den gebe.
Gundi sagte, sie werde ihm den Lieferanten nennen.
Karl merkte, daß es ihm nicht gelang, diesen Quittenschnaps gebührend zu rühmen. Er wollte nichts mehr von Geschäften wissen. Er habe sich angewöhnt, neben sich her zu leben. Das war doch ein Satz, der von einem Gast in Gundis Fernsehsalon hätte gesagt werden können, und dann hätte Gundi zu dem Gast gleichzeitig lieb und ernst hingeschaut und hätte gefragt: Fühlen Sie sich wohl dabei? Auf jeden Fall wäre ein solcher Satz ein Einfallstor gewesen für sie. Nichts davon jetzt. Das ärgerte Karl. Ein bißchen Interesse für ihn, Gundula Powolny! Er interessierte sich für Gundi. Das spürte er. Ihre Haare waren durch die Jahre hindurch gleich dunkel geblieben. Kastanienbraun mit einem Hauch Rot. Am Telefon sprach Gundi ihren Namen immer so aus, daß das — i- gleichzeitig betont und verkürzt wurde. Es schnellte förmlich weg vom — d-. Schwarze Witwe. Wahrscheinlich war sie das bald. O Diego. Seit er ihn da liegen gesehen hatte, fühlte er sich ihm wieder so nah wie vor fünfzehn Jahren. Diego und er waren jetzt nicht mehr so befreundet, wie sie es gewesen waren. Immer seltener telefonierten sie. Karl fand, daß Diego anrufen müßte. Es war Diego, der ihn nicht mehr so brauchte. Allenfalls noch für Trautmann Titan. Diego hatte viel mehr Freunde, als Karl je gehabt hatte. Er hielt es für möglich, daß Gundi auch die Freunde bestimmte, wie sie die Möbel und die Urlaubsorte und die Automarken und Diegos Kleider bestimmte. Sie hatte Diego die Krawatten abgewöhnt. Fast verboten. Im Theater traf man Diego ohne Krawatte. Es sah grotesk aus, fand Karl. Aber Diego fand das offenbar nicht. In die Oper durfte Karl nicht mehr, weil es die ebenso zarte wie eigensinnige Helen nervös machte, wenn sie die gesungenen Texte nicht verstand. Und in Konzerte ging Diego nicht mehr, weil Gundi fand, das Konzertpublikum heuchle. Das machte sie nervös. Karl ging nie ohne Krawatte aus dem Haus. Wenn Diego dann auch noch den obersten, manchmal sogar auch noch den zweitobersten Knopf offenließ, kommentierte Karl: Oben ohne, was! Bei Karl hatte sich ein Schrank voller Krawatten angesammelt, weil er eine Krawatte, nur weil er sie nicht mehr trug, nicht wegwerfen konnte. Er kaufte immer mehr Krawatten, als er tragen konnte. Die Häuser Lavin, Versace, Leonardo, Monsieur Élysée, Armani, Missoni und andere, auf die er geschmacklich abonniert war, hielten ihn mit immer noch prächtigeren Kreationen in Atem. Also mehrten sich im Krawattenschrank auch die ungetragenen Krawatten. Nur auf die Tennisplätze war er ohne Krawatte gegangen. Das war vorbei.
Karl und Gundi saßen nebeneinander an der Bar, die zwei Thaimädchen standen wie zusammengewachsen hinter der Bar, so freundlich wie ernst. Gundi bestellte einen Tomatensaft.
Und du, sagte sie.
Ich, sagte Karl, lebe neben mir her.
Ein Glas Dom Pérignon für meinen Freund, sagte Gundi.
Als Karl das Glas in der Hand hatte, sagte sie: Ach, Karl.
Ich weiß, sagte der.
Und sie: Manchmal muß man sich Mühe geben, nicht zu sehr verstanden zu werden.
Ich weiß, sagte Karl.
Und sie: Manchmal merkt man, man wäre ruiniert, wenn einen der andere verstünde.
Genau, sagte Karl.
Alles hat immer mehr Gründe, als man sagen kann, sagte sie.
Sogar als man weiß, sagte er.
Woher weißt du das, sagte sie fast heftig.
Von dir, sagte er.
Sie sah ihn an, als müsse sie sich jetzt zusammennehmen. Dann löste sie sich und sagte: Diego hat im vergangenen Jahr und im Jahr davor scheußlich wenig verkauft.
Karls Gesicht verzerrte sich, als tue ihm plötzlich etwas weh.
Und dann die Brienner Straße, sagte sie, was die kostet.
Karl nickte.
Daß er Trautmann Titan verkaufen will, ist keine Laune, sagte sie. Sammler, die er zu Persönlichkeiten entwickelt hat, zu Sammlerpersönlichkeiten von internationalem Ruf, die stellen sich jetzt taub. Stücke, für die sie vor zwei Jahren hätten das Doppelte bezahlen müssen, nehmen sie jetzt nicht für die Hälfte. Bitte, typisch, du kennst sie auch, die Leonie von Beulwitzen, die diesen Tick hat: nur Landschaften großer Meister, aber es darf kein Mensch drauf sein. Menschen stören mich, sagt die dreimal Geschiedene, die unser Freund und Formulierer Amadeus Stengl die Scheidungsgewinnlerin nennt. Diego hat sie in die Schweiz gelenkt. Jedes Jahr für eine knappe Million. Segantini oder Hodler oder Anker. Und jetzt, Diego bietet ihr einen Segantini für neunhunderttausend. Sie winkt ab. Sie will jetzt mehrere Jahre Geld nur noch für Precious Woods ausgeben. Edelholz-Aktien, ökologisch einwandfreie Renditen. Falls du so was hast, biete es ihr an. Ich werde nächsten Donnerstag noch einmal reden mit ihr. Läßt sich zehn Jahre bedienen, schwelgt in den menschenlosen Bächen und Bergen von Hodler und Segantini, und jetzt Edelhölzer. Diego fürchtet allmählich um sein Charisma, sein spell, schlicht seine Potenz. Das ist der Horror überhaupt. Wenn er nicht mehr an sich glaubt, glaubt kein Mensch mehr an ihn. Das ist der Ruin.
Zuerst muß er jetzt gesund werden, sagte Karl.
Ich finde, du hast fabelhaft reagiert, sagte sie.
Er fragte, wie sie das meine.
Daß du den Verkauf sofort bejaht hast, sagte sie.
Es ist Diegos Firma, sagte Karl.
Aber du hast sie gegründet, sagte sie.
Und Diego hat sie groß gemacht, sagte er. Einhunderttausend TOP FIT an Tchibo! Das war sein Einstieg. Ein echter Diego-Coup. Ich wäre nie über die Sportgeschäfte hinausgekommen.
Auf Diego, sagte sie, den größten Liebling aller Zeiten.
Auf ihn, sagte Karl.
Sie tranken, saßen stumm, aber einander zugewandt, dann glitt sie von ihrem Barhocker, kam zu Karl hin, nahm seine beiden Hände und sah ihn so an, daß er wegschauen mußte. Sie griff an sein Kinn, holte sein Gesicht zurück und sah ihn weiterhin so an, daß es nicht auszuhalten war. Ihre ohnehin dunklen Augen schimmerten wie eine Flüssigkeit. Offenbar weinte sie. In diesem Licht war sie wieder schön. Nichts als schön. Dann zog sie ihn vom Hocker, zog ihn zu sich hin und flüsterte: Solche Freunde zu haben ist eine Auszeichnung. So ungeschützt pathetisch konnte nur Gundi daherreden.
Karl mußte sagen: Bitte, nicht übertreiben.
Feigling, sagte sie.
Das ist weniger übertrieben, sagte er.
Sie ließ sich auch einen Dom Pérignon geben, Karl kriegte auch noch einen, Cheerio, sagte sie, und Karl, der lieber Prosit gesagt hätte, sagte auch Cheerio.
Besser, als du es gesagt hast, kann man es nicht sagen, sagte sie, es ist so furchtbar.
Karl spürte, daß Diego für Gundi jetzt tot war. Er mußte jetzt von Diego reden. Er fing an: Daß wir nach so vielen Freundschaftsjahren auch noch in einer Firma zusammengefunden haben, war eher ein Zufall. Aber Zufälle gibt’s eben nicht. Schon komisch, daß ich die ganze Tennis-Chose dem Amadeus Stengl verdanke. Der ruft mich eines Tages an und sagt: Du, jetzt hab ich was für dich, so was, wie für mich noch keiner gehabt hat. Du kennst ja seine Sprüche. Dann schickt er mir den Ingenieur Ignaz Gruber, gerade ungut bei Kneissl ausgeschieden, aber dort beteiligt an der Entwicklung von White Star, Red Star und Blue Star. Mit White Star hat sich Ivan Lendl in einer Saison von Platz 78 unter die ersten zehn gespielt. Beim Magic Allround gab’s dann Zwist. Und dieser Ignaz hat einen Schläger in petto gehabt, hundert Prozent Graphit, vor allem aber die neue Form. Das hatte er noch bei Kneissl am Schlag-Simulator erkannt, daß achtzig Prozent aller Bälle auf dem unteren Teil der Schlagfläche landen, also macht er diesen Teil breiter. Und eine Bespannung, zusammen mit Kuebler entwickelt, wie überhaupt Kueblers Plus 40 Grubers Vorbild war. Fastest Racket in the World, so der Slogan. Gruber hatte sein Racket zuerst in den USA angeboten, bei Kent, der klassischen Firma in Pawtucket, Rhode Island, die waren zum Glück taub. Und ich hatte gerade Helen, geborene Wieland, geheiratet, und ihr Vater, der sich viel hatte einfallen lassen, das Vermögen, das er seinem einzigen Kind hinterließ, vor unsoliden Schwiegersöhnen zu schützen, war gerade gestorben. Aber ich hätte Ignaz Gruber auch ohne Helens Vermögen finanzieren können. Dann der Tennis-Boom der neunziger Jahre. Wir waren jedes Jahr mit einem neuen Schläger auf dem Markt. Auch wenn Steffi Graf und Boris Becker schon vergeben waren, Diego entwickelte Strategien, als habe er sein Leben lang Rackets verkauft. Produziert wurde in Kuala Lumpur. Selbst für Diegos Verhältnisse wurde gut verdient. Wir saßen in der vordersten Reihe in Wimbledon und jubelten, wenn Boris den Ball cross an Edberg vorbeijagte, und der Atem stockte uns, wenn Steffi Graf die Rückhand der Sabatini umlief, ihre rechte Ecke freigab und die Sabatini mit einem Longline-Schlag den Punkt machte. Wir waren überall. November 89 im Madison Square Garden, Steffis zweiter Sieg im Master’s Turnier, und Martina Navratilova, die zum dritten Mal von Steffi Geschlagene, sagt: Steffi hat mir die Freude am Tennis zurückgegeben. Das ist Humanität! Wir haben natürlich gehofft, wir könnten Steffi vielleicht doch noch den Dunlops abspenstig machen. Ging nicht. Egal. Wir blieben dran. Wir waren dabei, anno 92, als sich Boris in Paris zum ersten Mal mit Zweitagebart präsentierte. Und wir haben uns Hoffnungen gemacht, als Goran Ivanisevic den Ball, bevor er ihn zum Aufschlag hochwarf, an unserer Bespannung schnuppern ließ. Überhaupt Ivanisevic! Er schlug immer nur mit dem Ball auf, mit dem er einen Punkt gemacht hatte, die anderen Bälle steckte er in die Tasche. Dann Pete Sampras, Ballgeschwindigkeit 194 Kilometer. Boris brachte da nur noch 184. Weißt du, das Tennisgeschäft paßte in meine Biographie so wenig wie in die von Diego. Ich wollte nie Geld gegenständlich verdienen. Und Diego wollte Geld nur mit den schönsten und größten Stücken der Vergangenheit verdienen. Wir haben uns hinreißen lassen. Aber so hätte es nicht enden dürfen. Das ist so furchtbar.
Und in die Pause hinein wieder: Gundi.
Ihre Augen waren immer noch diese Flüssigkeit. Hätte er etwas gegen Diego sagen sollen? Das war unvorstellbar. Aber in ihm fand eine Vorstellung zusammen, in der Gundi nackt war. Er hätte doch viel zu sagen gegen Diego beziehungsweise Lambert. Der hatte ihn doch seit Jahren nur noch behandelt wie Dreck. Und es war ganz unmißverständlich, daß sich Lambert der kulturellen Fraktion angeschlossen hatte. Das waren Leute, die den Geldhandel, das Investitionswesen und die Spekulation verachteten. Karl hätte diese Selbsttäuscher auch verachten können. Er verachtete sie nicht. Die waren einfach befangen, kulturell befangen. Die glaubten sich, daß sie Kunst um der Kunst und Politik und Wissenschaft um der Politik und um der Wissenschaft willen betrieben. Natürlich alles immer zum Wohl der Menschen oder gar der Menschheit. Daß sie alles nur um des Geldes willen betrieben und das Geld nur das Mittel war, um Frauen zu bekommen, daß also alles, was überhaupt stattfand, wegen der Frau stattfand, das wurde nicht mehr erlebt und schon gar nicht gestanden. So raste es in ihm. Und immer wieder: Gundi nackt. Gundula Powolny. So mußte sie heißen, der Name war wie ein Körperteil, ein weiblicher Körperteil. Rundweichfließend. Gundipowolny.
Er mußte jetzt noch einmal über Diego reden. Egal, was dabei herauskam. Selbst die Wahrheit durfte es sein. Weißt du, Gundi, du weißt es natürlich nicht, und für dich ist es, ich weiß nicht, was es für dich ist, aber Diego und ich, wir haben von Anfang an auseinandertendiert. Ich, angefüllt von Flausen, Diego mit einer genialen Nase für das Mögliche. Nicht beneidenswert zu sein, mehr kann man nicht erreichen. Das war mein Spruch, wenn wir nachts betrunken durch den Englischen Garten taumelten und einer den anderen in die Isar stieß und sofort nachsprang und ihn wieder herauszog. Diego wollte beneidenswert sein. Beinahe hätte ich jetzt gesagt, sonst hätte er ja dich nicht geheiratet. Als wir uns kennenlernten, sagte er, bevor er wissen konnte, wie das auf mich wirken würde, er halte es mit Oscar Wilde: Die Anzahl meiner Neider bestätigt meine Fähigkeiten. Diego hatte eine Menge Sprüche im Kopf, die alle nur hießen: Es lohnt sich nicht, der Zweite zu sein. Ich wollte lieber lächerlich als beneidenswert sein. Willst du es wirklich besser haben als andere, habe ich ihn gefragt. Er hat mich ausgelacht. Du spekulierst immer noch auf den christlichen Mehrwert, sagte er. Diego war von Anfang an beneidenswert. Ihm machte es nichts aus, Theaterwissenschaft zu studieren, ohne je etwas mit Theater zu tun haben zu wollen. Kunstwissenschaft genauso. Die erste Firma, die er noch als Student drüben in Haidhausen gründete, war ein Versandhaus für aussterbende oder ausgestorbene Artikel. Alles, was sonst nicht mehr ging, ging, wenn Diego es anbot. Er kaufte bei bankrotten Firmen die Artikel, an denen diese Firmen bankrott gegangen waren, und ließ sie in seinen Katalogen auferstehen. Der Katalog der Dinge. Wurde Kult. Diego war leidenschaftlich nostalgisch. Kein kalter Kalkulator, sondern ein aller Vergänglichkeit widerstehender Mensch. Mich hat er eingeladen, an diesem Kampf gegen das Vergehen mitzumachen. Meinen Bruder Erewein hatte er schon vorher entdeckt. Haidhauser Nachbarschaft. Ob Feuerzeug oder Auto, Diego machte das aus der Mode Gekommene zum Wert, zum Schönheitswert. In seinen Katalogen wurde alles, was unansehnlich geworden war, wieder schön. Schöner, als es gewesen war, als es noch in Mode war. Ich schrieb eine Zeit lang die Texte zu den Bildern, die mein Bruder Erewein unter dem Pseudonym YX fotografierte. Seine Fotos waren magischer Realismus. Jede Damenhandtasche hatte Aura, jeder Liegestuhl eine Gloriole aus Licht und Einsamkeit. Nach ein paar Jahren veranstalteten Galerien Ausstellungen mit Ereweins Bildern. Niemand, stand dann in der Zeitung, könne Gegenstände feiern wie Lambert Trautmann und YX. Als dann auch noch Beuys für den Katalog der Dinge ein Vorwort schrieb, war Diego angekommen. Er wechselte ganz allmählich zum luxe subtil und dann zum Nichtsalsschönen, zum unanzweifelbar Schönen. Und weißt du, was ich an Diego am meisten bewundere? Seine Geradlinigkeit. Er sagt immer, was er will. Als er dich wollte, hat er zu dir gesagt: Ich will Sie. Ich habe immer versucht, von ihm zu lernen. Im Geschäft. Keine Tricks. Egal, ob Gegner oder Klient, den anderen verblüffen durch Geradlinigkeit. Ich will Sie übervorteilen, wehren Sie sich. Das kann er sagen. Nichts ist ihm so fremd wie Betrug. Ich hab’s gelegentlich versucht, bei mir wird’s immer zur Groteske.
Es ist so furchtbar, sagte Gundi. Sie müsse sich vorbereiten. Morgen hat sie Sendung. Und in der letzten Nacht habe sie geträumt, daß Stalin ihr die Fußnägel schneide. Das könne sie morgen brauchen, sie hat nämlich morgen einen Gast, der die Welt verachtet, weil die Welt ihn enttäuscht hat. Zwar Milliardär, finanziert aber nur noch, was die Nächstenliebe in der Welt steigert. Den will sie nach seinen Träumen fragen. Seit Stalin ihr im Traum die Fußnägel geschnitten hat, weiß sie, daß von jetzt an in jeder Sendung nach den Träumen gefragt wird. Mach’s gut, lieber Karl. Ich beherrsche mich, sonst würde ich sagen: Liebster Karl.
Karl dachte sofort: Liebster, das ist doch belegt für heute, gerade im Krankenhaus gebraucht von ihr, als sie gesagt hatte, Diego verstehe noch alles, und geschlossen hatte: Nicht wahr, Liebster. In einem Schulaufsatz würde man das als Wiederholung ankreuzen.
Sie glitt von ihrem Hocker, rief den Mädchen zu, sie sollten für ihren Freund ein Taxi bestellen und ihn nachher hinausbringen. Sie nickte ein bißchen, veranlaßte Karl, ihr links und rechts die Wange zu berühren, und ging in ihrem farbigen Dämmer dahin. Oder davon. Und drehte sich noch einmal um und rief: Carlito. Er stand ja noch, ins Nachsehen versunken. Was kam jetzt? Kam jetzt doch noch etwas? Kam ES jetzt noch … zu was auch immer. Sie winkte.
Er folgte. Hinaus in die Halle, dann die schön geschwungene breite Treppe hinauf in den ersten Stock, in Diegos Etage, und in den Sängersaal. Das Aprillicht brach grell herein durch die säulenumstandenen Rundbogenfenster auf der Isarseite. Gundi schien sich an den Lichtwechsel schneller gewöhnt zu haben als Karl. Sie ging gleich vor zur Stirnseite. Sie ging so rasch und strikt wie ein Chef, der weiß, sein Angestellter hat ihm zu folgen. Direkt vor den Porphyrsäulen, die die Rundbögen der Stirnseite trugen, stand die Chaiselongue, auf der Diego immer saß, ruhte, lag, je nachdem, was seine Abend- oder Nachtdarbietung erforderte. Davor stand das verrückte Ding, das als Tisch diente. Ein Kunstwerk, fraglos. Und doch auch ein Tisch. Eine fingerdicke Tischplatte, offenbar aus Bronze, in sie eingelassen eine runde Scheibe aus milchig weißem Glas. Die Tischplatte wurde auf einer Seite von drei astähnlichen, auf jeden Fall ganz natürlich krummen Beinen getragen, auf der anderen Seite aber von einem Einhorn, das seinen Kopf samt Horn unter die Tischplatte beugen mußte. Der Körper des Einhorns war ein weiblicher Frauentorso mit Prachtsbrüsten. Alles aus Bronze, die nach unten hin immer grünspaniger wurde. Aber das Einhorn, dessen Horn unter der Tischplatte bis zu den krummen Astbeinen reichte, das Einhorn mit dem nackten Frauenkörper, das war schon … ja, Karl fand es wieder toll, ganz toll. Erst vor zwei Monaten hatte Diego dieses Kunststück aus Paris mitgebracht. Aus dem Hôtel Lambert. Du weißt. Karl nickte. Das ganze Inventar des Hôtel Lambert, die Sammlung des Barons de Redé, war von Sotheby’s versteigert worden. Da konnte Diego nicht fehlen. Gundi sagte, Diego habe sich das, als er das noch gekauft habe, schon nicht mehr leisten können. Du kennst ihn ja. Karl nickte. Sie standen beide und sahen dieses aufreizende Ding an. Karl dachte: Und es gibt Menschen, die leben andauernd mit so etwas. Gundi, soll ich’s dir kaufen. Den Satz sagte er nicht. Aber nichts lag jetzt näher als dieser Satz. Daß Diego das krasse Stück vor seine Chaiselongue gestellt hatte, hieß: Das war das Stück, das er bei der nächsten Gelegenheit dem Kreis seiner Freunde und Kunden vorstellen und empfehlen würde. Ein Stück aus seinem Hôtel Lambert, von dem er immer erzählt hatte wie von einem Paradies, aus dem er nicht vertrieben werden konnte, weil er noch nie drin gewesen war. Aber würde es eine nächste Gelegenheit geben?
Zeigen wollte ich dir das, sagte sie und zeigte auf einen Sessel, der neben der Chaiselongue stand.
O ja, sagte Karl und kam sich gleich ein bißchen minderwertig vor, weil ihm dieses Stück nicht selber aufgefallen war.
Diegos letzter Kauf, sagte Gundi, eins Komma vier Millionen. Wieder in Paris ersteigert, im Hôtel Drouot. Eileen Gray, die Königin des Art-déco-Designs, hat sechs solche Sessel geschaffen, Fauteuils à la Sirène, 1912, in Paris. Das ist einer von ihnen. Nachher hat Diego gesagt, er wäre bis zu jedem Preis gegangen. Meinetwegen. Du verstehst. Art déco, mein Stil, mein ein und alles. Er hat sich diesen Sessel überhaupt nicht leisten können. Du kennst ihn. Seit Jahr und Tag winken auch die zuverlässigsten Kunden ab, und er kauft und kauft wie zu den besten Zeiten. Jedesmal mit einer unschlagbaren Begründung. Eileen Gray, Fauteuil à la Sirène. Für mich. Du verstehst.
Ja, sagte Karl, das ist Diego.
Eigentlich hatte er sagen wollen: Setz dich hinein in den Sirenenstuhl, schmieg deine Arme in diese ungeheuer sanft geschwungenen Lehnen, Sirene, du. Aber er stand nur und schaute und nickte. Er hätte sagen sollen: Zu hoch der Preis. Auch das sagte er nicht.
Das ist Diego, sagte sie, komm.
Gundi nahm Karl bei der Hand und führte ihn hinunter. Das schaffte sie. Hinaus fand er allein. Aber sie rief ihn noch einmal. Diesmal mit einer ganz anderen, kein bißchen gefühlsbelegten Stimme. Und sagte: Du mußt wissen, bitte, vergiß es nie, ich bin leider von allen Menschen der glücklichste. Jetzt verschwand sie wirklich. Wie auf dem Bildschirm, dachte Karl. Sie tritt auf, agiert, tritt ab. Sie ist Fernsehen durch und durch. Zu Gast bei Gundi. Gib zu, das wär’s. Gib’s nicht zu.
Karl und Diego sind immer wieder, wenn sie zusammen eine Gundi-Sendung angeschaut haben, bei der Vermutung angekommen, Gundi sei so erfolgreich, weil sie zeigen kann, wie sie ihren Erfolg genießt. Sie bestaunt den Erfolg und genießt ihn. Ohne Mache. Karl sagt dann: Sie schämt sich nicht, das ist es. Und Diego: Ja, sie ist göttlich unverschämt.
Schon wie sie ihre Sendung anfängt und aufhört, ist längst zum Ritual geworden. Das Studio im Arbeitslicht, also eher trüb und düster als hell. Kameramänner und — frauen stehen an ihren Kameras, sie werden von der gläsernen Regiekanzel, die man ganz hinten oben gerade noch wahrnimmt, auf ihre Positionen dirigiert. Eben das ruhige Gewusel, bevor man auf Sendung ist. Zu Gast bei Gundi kommt immer live. Gundi hat von Anfang an das volle Risiko der Live-Sendung verlangt. Dann setzt Musik ein. Die kommt einem bekannt vor. Dann doch wieder nicht. Titel laufen über den Schirm, und in die Szene schiebt sich von links nach rechts ein schwarzes Schiff. Deutlich eine Attrappe. Aber doch ein Schiff. Und an der richtigen Stelle, aber viel größer als bei jedem wirklichen Schiff, leuchtet der Name auf: Inutile Precauzione. Das Schiff ist so gewaltig, daß es die Szene füllt, obwohl es höchstens mit seinem vorderen Viertel hereinragt. Die Musik ist inzwischen sowohl groß feierlich wie unmißverständlich schräg. Auf einer schwarzen Treppe, deren Stufen mit einem schwarzen Teppich belegt sind, kommt Gundi herab. Da die schwarze Treppe vor der schwarzen Schiffswand im unaufmerksamen Bühnenlicht so gut wie unsichtbar bleibt, geht Gundi wie durch die Luft. Ihr schwarzseidener Mantel tut ein übriges. Aber er öffnet sich bei jedem Schritt und läßt Gundis Wesensfarbe Türkis sehen. Sobald sie den Studioboden erreicht, zieht sich das Schiff nach links hinaus, verschwindet. Die Kameramänner und — frauen begrüßt Gundi wie alte Bekannte. Mit ihnen zusammen schaut sie jetzt dem hinausziehenden Schiff nach, mit ihnen zusammen hört sie der Musik zu. Und lacht. Und alle um sie herum lachen mit. Dann die erste Großaufnahme. Und Gundi sagt jedesmal einen Text, der, je nach ihrer Stimmung, wehmütig gefühlvoll oder fröhlich frech mitteilt: Diese Musik ist, was ich gern wäre. Was ich zu sein versuche. Wer uns zum ersten Mal zuschaut, soll nicht lang herumrätseln. Die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, in einer Streichquartett-Version von Hindemith. Hindemith gab seiner Version den Titel: Die Ouvertüre zum Fliegenden Holländer, wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um sieben vom Blatt spielt. Und sagt dazu: Mich wirft diese Art von Wagner-Verehrung einfach immer wieder um. Nebenbei streichelt sie die Kameras wie liebe Tiere, nach denen sie sich seit der letzten Sendung gesehnt hat.
Sie duldet kein Publikum im Studio. Sie will mit ihrem jeweiligen Gast und mit dem Fernsehzuschauer allein sein. Und sie will immer nur einen einzigen Gast. Daß da mehrere säßen und einer nach dem anderen käme dran wie beim Friseur oder beim Zahnarzt, ist bei Gundi unvorstellbar. Sie macht auch immer wieder deutlich, daß sie nur für einen einzigen Zuschauer, eine einzige Zuschauerin agiert. Und gibt zu, daß sie sich wohl fühlt zwischen den Kameras und in dieser Szene. Aber auch wenn sie sich einmal gar nicht wohl fühlt, sagt sie das.
Dann geht sie zu ihrem Salon, der mehr als die Hälfte des Studios beansprucht. Zwei hüfthohe Vasen markieren den Eingang zum Salon. Aus jeder Vase ragen sieben weiße Lilien. Links und rechts davon sind Kraniche aus Porzellan aufgereiht, fast eine Art Zaun. Sie sind nur halb so hoch wie die Vasen. Zwischen den Vasen wartet der Butler, Mr. Sheshadri. Er wird von Gundi freundschaftlich begrüßt. Er nimmt ihr den schwarzseidenen Reisemantel ab. Von diesem Augenblick an erlischt das Arbeitslicht, keine Kameras mehr, keine Kabel, nur noch der Salon. Der schimmert. Allmählich wird einzelnes durch das Licht gewissermaßen geboren. Gundi erlebt die Geburt der Salonschönheiten mit Andacht. Und mit Zärtlichkeit. Das sind Gesten und Bewegungen, die im Augenblick entstehen. Oder eben nicht. Und wenn nicht, dann kann es sein, daß sie gleich auf das alles beherrschende Sofa zugeht und sich aufs champagnerfarbene Velours fallen läßt, nie in die Mitte, immer in die linke Hälfte, vor das linke der beiden großen rechteckigen Kissen und in Reichweite der Polsterrolle auf ihrer Seite. Alles, was weich ist, schimmert in goldenster Champagnertönung. Die Sofaschale ist aus Palisander, gerundete Ecken, aber auf dem dunklen Holz läuft ein vergoldetes Bronzeband. Egal, in welcher Stimmung Gundi ist oder welche Stimmung sie ausdrücken will, sie landet nie auf dem Sofa, ohne es mit dem Namen seines Erschaffers zu grüßen. Als wäre der selber gegenwärtig, sagt sie: Guten Abend, Jacques-Emile Ruhlmann. Je nach Laune folgt: Ich bin so froh, endlich wieder auf Ihrem paradiesischen Meisterwerk Platz nehmen zu dürfen. Oder: Heute ist dieses Sofa Asyl. Zuletzt gehen die zwei Stehlampen an: dunkle, sich verjüngende Holzsäulen, die plissierte helle Schirme tragen. Und hinter und über allem schimmert in jeden Himmel das Chryslerbuilding aus New York. Es sieht aber nicht aus wie von außen beleuchtet, sondern schimmert von innen heraus. Und das immer mehr.
Außer der Chryslerbuilding-Magie ist alles, was man jetzt sieht, echt. Darauf besteht Gundi. Davon lebt sie. Das erlebt man als Zuschauer, wenn man sieht, wie sie umgeht mit dem, was sie ihre wunderbaren Dinge nennt.
Der Zuschauer sieht sie in der linken, den Gast in der rechten Ecke. Der Gast wird von Mr. Sheshadri hereingeführt, Gundi steht auf, der Butler stellt den Gast vor, Gundi zeigt sich informiert. Auf Gundis Seite endet das Sofa vor einem Gauguin-Bild: Kopf einer Frau auf Tahiti. Auf der anderen Seite vor der Meditazione del mattino von Giorgio de Chirico. Dazwischen ein Relief, in Elfenbein, vor schwarzem Hintergrund fünf Figuren, sitzend Paris, hinter ihm Merkur, auf die beiden zu kommen Venus, Juno und Minerva. Paris hält Venus den Apfel hin. Das Urteil des Paris also. Manchmal fragt Gundi einen Gast unvermittelt: Wie finden Sie Gauguins Frau, Chiricos Meditation oder die drei blanken Elfenbeinschönen vor dem sitzenden Paris? So fragt sie erst, wenn durch den Gesprächsverlauf erbracht ist, daß man sich nicht zu bewähren hat, daß man sich nicht blamieren kann, daß man aber, indem man in diesem Augenblick sagt, wie es einem zumute ist, etwas über sich erfährt. Sie selber sitzt meistens so, daß sie Venus oder Juno jeder Zeit streicheln kann. Dem Gast sagt sie, dieses schönste Elfenbein aus dem frühen 17. Jahrhundert habe sie gewählt, weil fraglose Schönheit ihr Leben steigere wie nichts sonst. Sie sei nackt ein anderer Mensch, sagt sie. Wie geht es Ihnen? So führt sie den Gast, ob Mann oder Frau, aus seiner Kleiderbiographie heraus ins Freie. Beziehungsweise in die Geborgenheit ihres Salons. Der Gast erfährt: Die zwei hüfthohen Vasen sind von Michael Powolny, mit dem ist sie trotz des gleichen Namens nicht verwandt. Die links und rechts streng aufrechten weißen Kraniche auf ihren türkis schimmernden Porzellanfelsen liefern dem Salon eine Art Schönheitszaun. Sie kommen aus dem China der Qing-Dynastie, auch aus dem 17. Jahrhundert. Und, sagt Gundi zu ihrem Gast, dort waren sie die heiligsten Vögel überhaupt. Als höhere Abschirmung, sagt sie, empfinde sie ihren Kranichzaun. Aber es ist durchaus möglich, daß sie plötzlich zur Kamera, also zum Fernsehzuschauer sagt: Wenn ich jetzt die Briefe nicht hätte, die Sie mir geschrieben haben, wären all diese wunderbaren Dinge in meinem Salon nicht imstande, mich zu beleben. Und liest einen oder zwei oder drei Briefe vor. In Großaufnahme. Wenn sie diese Briefe vorliest, werden es Liebesbriefe, und Gundi sagt, sie sei die glücklichste Frau der Welt, weil ihr solche Briefe geschrieben werden. Aber solche Briefe werden es erst durch ihr Vorlesen. Sie kniet, wenn ein Brief es ihr souffliert, auf dem Sofa, kippt zur Seite, kuschelt sich klein in die Ecke, sie tut immer, was der Brief mit ihr macht. Sie führt diese Briefe auf. Sie feiert sie. Das regt immer mehr Leute zu immer heftigeren Briefen an. Gundi gesteht, daß sie ohne diese Briefe gar nicht mehr leben könnte. Wenn ich diese Briefe nicht mehr bekomme, rauch ich wieder, hat sie einmal gesagt.
Sie hatte sich ja das Rauchen öffentlich abgewöhnt. Alle Rückfälle gestanden. Den ganzen Leidenskampf vorgeführt. Das war überhaupt ihr Durchbruch. Die Anteilnahme der Zuschauer wuchs lawinenartig. Tausende und Abertausende, die sich auch vom Rauchen befreien wollten, schlossen sich an, machten mit, meldeten ihre Siege und ihre Niederlagen. Gundi selber kämpfte sich von vierzig auf fünfunddreißig, auf dreißig, und ab zwanzig in Zweierschritten herunter, bis sie die Null erreicht hatte und — das war spannend genug — die Null hielt und wieder fiel und sich wieder erhob, bis sie einhundert Tage rein durchgestanden und damit einen neuen Standard der Selbstüberwindung geschaffen hatte. Und das führte die Frau vor, die Selbstbeherrschung verachtete, die das Evangelium der Haltlosigkeit verkündete und vorlebte und ihren mehr oder weniger leidenden Gästen als einzige Heilchance empfahl. Es dürfe nichts geben, an das man sich gebunden fühlen müsse. Weder das Rauchen noch das Nichtrauchen. Das Fernsehen mußte einen Arbeitsstab einrichten und eine Bewertungsmethode entwickeln: Wer weniger als dreißig rauchte, rangierte im Achtelfinale, weniger als zwanzig im Viertelfinale, mit zehn kam man ins Halbfinale, ab null war man im Finale, aber erst nach einhundert Tagen war man Champion oder Championesse. Das waren mediengerechte Vorgänge. Das sogenannte Keppeletui mit seinem transluziden Emailledekor in Königsblau und den schmalen Goldstreifen und der honiggoldene Aschenbecher blieben auf ihrem Tisch als Schönheitsdenkmal für ihre Raucherzeit. Sie hatte diesen Aschenbecher aus dem Jahr 1924 und dieses Zigarettenetui wie alle ihre wunderbaren Dinge liebevoll vorgestellt und hingebungsvoll benutzt. Man muß nicht dagegen sein, geraucht zu haben. Vor allem, wenn man nicht mehr raucht. Was transluzid sei, habe sie zwar gesehen, aber sie habe nicht gewußt, daß das, was sie sah, transluzid genannt werde. Ihr Liebster habe es ihr erklärt. Sie lasse sich von ihrem Liebsten gern etwas erklären, weil sie dabei erlebe, wie gut ihm das tue, wenn er ihr etwas erklären könne. Dazu komme allerdings, daß außer Gott keiner so allwissend sei wie ihr Liebster. Sie frage ihn eins, und er erkläre ihr alles. Wer, wenn nicht ihr Liebster, hätte ihr sagen können, daß das transluzide Keppeletui geschaffen worden ist von Henrik Emanuel Wigström, und zwar geschaffen für Fabergé, das Goldschmiedgenie der Romanows, und daß eben dieses Etui, das da vor ihr auf dem Tisch liegt, vom englischen König Edward VII. seiner Geliebten Alice Keppel geschenkt worden ist, und wer war denn diese Alice Keppel, fragt sie dann natürlich ihren Liebsten, und hört, das war die Großmutter von Camilla Parker Bowles, und jetzt kann sie wieder mithalten, Camilla Parker Bowles, zuerst Jahr für Jahr unbeirrbare Geliebte von Prinz Charles und schließlich seine Gattin, also Nachfolgerin der märchenreifen Diana.
Das schlenkert sie allen ihren Zuschauern und speziell Barbara Steinbrech hin, ihrem heutigen Gast. Die hatte vorher bis zum Stimmversagen hervorgebracht, daß sie lieber ihre Kinder verliere als ihren Geliebten, obwohl sie doch ohne ihre Kinder überhaupt nicht leben könne, und beide Unmöglichkeiten habe sie durch und durch erfahren, also habe sie erfahren, daß sie nicht mehr leben könne. Und Gundi, nach ihrem schwebend leichten Bildungsschlenker zu Transluzid und Edward-Alice-Charles-Camilla, holt jetzt aus: Weg mit der verhinderungssüchtigen Wirklichkeit, in der so gut wie nichts möglich ist. Vor allem nichts Schönes. Schluß mit der Vorherrschaft des Wirklichkeitsprinzips. Wenigstens hier, bei Gundi, mit Gundi, durch Gundi, um Gundi herum. Alles ist möglich. Wir müssen es nur zulassen. Und griff nach ihrem Aschenbecher, fingerte aus dem transluzid schimmernden Keppeletui eine Zigarette, zündete ein zehn Zentimeter langes Zündholz an und sagte: Frau Steinbrech, mit dieser Heiligsprechung der Unmöglichkeit zwingen Sie mich dazu, wieder zu rauchen. Wenn etwas unmöglich ist, bleibt nur noch das Rauchen. Frau Steinbrech stieß einen Schreckschrei aus, fiel ihr in den Arm beziehungsweise blies das Zündholz aus und sagte Gundi etwas ins Ohr. Gundi zerbrach die Zigarette, streichelte Frau Steinbrech ausgiebig. Dann sagte sie: Irgendwo habe ich von Karl Marx den Satz gelesen: In einer kommunistischen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen. Ist das nicht ein wunderbarer Satz, rief sie dann. Barbara Steinbrech, sagt Ihnen der Satz etwas? Und Frau Steinbrech zögerte, kaute auf dem Wort kommunistisch herum. Lassen Sie’s einfach weg, sagte Gundi. Kommunistisch, das war, als Marx es benutzte, ein blühendes, noch ganz unausgeschöpftes, ein reines Hoffnungswort für einen schönen Zustand. Sagen Sie einfach: In der richtigen Gesellschaft gibt es keine Maler, sondern höchstens Menschen, die unter anderem auch malen. Das ist genau so schöne, unwirkliche Zukunftsmusik, wir haben so wenig eine richtige Gesellschaft, wie es je eine kommunistische Gesellschaft gegeben hat oder hat geben können. Moment. Und sie kramte in ihrem Täschchen, das sie selber ihr verflixtes Täschchen nennt und das hauptsächlich aus dunklem Leder und Atlas und Bronze und Lapislazuli besteht und verziert ist mit mancherlei Getier, holte aus dem goldschimmernden Täschcheninneren einen Zettel heraus und sagte: Erst gestern habe ich noch ein paar Marx-Wörter gefunden, die spüren lassen, was für eine Gesellschaft ihm vorschwebte, hören Sie: … heute dies, morgen jenes zu tun, morgen zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe; ohne je Jäger, Fischer oder Kritiker zu werden. Und was heißt das für Barbara Steinbrech, fragte sie dann. Und die fuhr im Gundi-Ton fort: … ohne je Geliebte oder Mutter zu werden. Bravo, sagte Gundi, brava, müßte ich zu Ihnen sagen. Und wissen Sie was, sagte sie, während sie ihren Zettel sorgfältig ins Täschchen zurücksteckte, Sie sind in den letzten Minuten, seit wir von einer Gesellschaft ohne Rollenzwänge sprechen, von Sekunde zu Sekunde schöner geworden. Überzeugen Sie sich. Herr Sheshadri, bitte. Der Butler schob den immer verfügbaren Spiegel auf Rädern vor Frau Steinbrech hin. Sie sind eine Frau, sagte Gundi, die in diesem Spiegel vollkommen zur Geltung kommt, aber der Spiegel durch Sie auch. Venedig, aus meinem geliebten 17. Jahrhundert, fühlen Sie mal diesen dunklen Rahmen, belegt mit Gold und Perlmutt. Und der Spiegel war noch nie so schön wie in diesem Augenblick, weil Sie in ihn hineinschauen, weil er Sie spiegeln, Sie rahmen darf. Wenn er mir gehörte, würde ich ihn Ihnen schenken, daß sie in ihm immerzu sich selber fänden, Barbara Steinbrech. Weil wir keine Gesellschaft sind, die ein Recht hat, uns Rollen zu verpassen, müssen wir uns aus allen Rollen wegstehlen und so weiter. Einverstanden? Barbara Steinbrech sagte: Im Augenblick ganz und gar. Und weil Sie im Augenblick einverstanden sind mit sich, sind Sie schön, sagte Gundi. Im Augenblick macht die Mutter der Geliebten keinen Vorwurf und die Geliebte der Mutter auch nicht. Aber, sagte Barbara Steinbrech, sich Vorwürfe zu machen bringt auch etwas. Und Gundi sofort: Das Schlimmste sei, wenn man sich nichts mehr übelnehme. Wenn man gesiegt hat in sich selbst. Herr ist über sich selbst. Aber dann ahnt man, über wen man da Herr geworden ist. Der möchte man lieber nicht sein. Also doch gegen sich sein, sagte Frau Steinbrech. Ja, rief Gundi, um sich selbst kennenzulernen. Dann tue man, bitte, das, was einen schöner mache. Und das seien nicht die das Gesicht zerfurchenden Vorwürfe. Jeder habe in sich eine Schönheit, die er erlösen müsse, befreien. Durch nichts als Einverstandensein mit sich selbst.
Gundi hat, glaubt sie, etwas entdeckt, was sie nicht Entdeckung, sondern Erfahrung nennt. Sie hat erfahren, sagt sie und bringt es zum Ausdruck, daß wir haltlos sind. Wir alle. Weil wir keine Gesellschaft sind. Geschwollen ausgedrückt, sagt sie, keine Kultur mehr sind und noch keine Gesellschaft, sondern ein Gemenge von Isolationen.
Jeder sei seines Unglücks Schmied, hat Gundi einmal zu einem ihrer Gäste gesagt, zu einem Lehrer, der sich von seinen Kolleginnen verfolgt fühlte, weil er gesagt hatte, seit die Frauen im Lehrerzimmer die Majorität hätten, sei die Wahrheit zur Fremdsprache geworden. Die Direktorin: Wenn er sich nicht sofort entschuldige, drohten disziplinarische Maßnahmen.
Gundi zitiert dann immer wieder Grundgesetzsätze, die die Illusion schaffen, Gerechtigkeit sei möglich. Nichts sei so verletzend wie die Gerechtigkeitsillusion. Dann fragt sie so lange, bis ihre Gäste die Kälte zugeben, in der sie leben. Individuum, sagt Gundi, sei der Name unserer Krankheit. Das Individuum will keine Gesellschaft, sondern sich. Sie fragt aus jedem seine Individualität heraus. Sie läßt ihn erleben, daß er stolz ist auf seine Unverwechselbarkeit. Dann fragt sie weiter, bis aus der Unverwechselbarkeit lauter Verwechselbarkeiten werden. Und sie nimmt sich nicht aus. Sie geht immer noch einen Schritt weiter als der Gast. Aber sie ist auch in der extremsten Stimmung geleitet von einem Ziel, von einer Tendenz: dem Begreifen unserer Haltlosigkeit. Sie kann jeden Gast für eine Stunde erlösen. Länger nicht, sagt sie. Aber vielleicht erinnert sich der Gast später an diese Stunde der Erlöstheit. Die soll sich nämlich anfühlen wie Freiheit. Anerkennung der Haltlosigkeit aller. Auch die, um derentwillen wir leiden, sind haltlos. Das Erlebnis der Vorwurfslosigkeit. Keinem und keiner ist ein Vorwurf zu machen. Und im richtigen Augenblick schenkt sie Tee ein, grünen Tee, und schenkt ihn ein aus der von Josef Hoffmann 1903 für die Wiener Werkstätten entworfenen Kanne. Das sagt sie jedesmal dazu. Sie sagt immer alles dazu. Sie sagt, wenn sie etwas sagt, immer dazu, woher sie das, was sie sagt, hat oder wie sie selber dazu gekommen ist. Sie feiert ihre wunderbaren Dinge unaufhörlich. Es gibt das Schöne, darauf besteht sie. Alles kann, weil es trügt, eingerissen, gestürzt werden. Nur das Schöne nicht. Sehen Sie diesen Tisch aus dem Jahr 1930, sagt sie. Sieht er nicht aus, als lebte er? Und hat doch kein bißchen Organisches. Es ist das wie ein Tischtuch niederhängende Filigrangeflecht, das ihn so lebendig erscheinen läßt. Es ist die Lebendigkeit, die nur der Kunst gelingt. Sagt sie. Und fragt den Gast, ob er das ähnlich oder ganz anders empfinde. Sie wirbt für das Schöne, mit dem sie sich umgeben hat. Marius-Ernest Sabino hat 1930 dieses Tischkunstwerk geschaffen. Sie habe das Gefühl, der Tisch klinge. Eigentlich weint dieser Tisch, hat sie einmal über den Sabino-Tisch gesagt. Aber schöner weinen könne niemand als dieser Tisch. Das sagte sie, als ein Mann ihr Gast war, dessen Frau von ihm verlangt hat, daß er sich mit ihrem Liebhaber befreunde. Daß sie dann zu dritt miteinander schliefen. Wenn nicht, sei eine Tragödie nicht auszuschließen.
Wenn Karl ihr allein zuschaute, warf er sich öfter vor, daß er nicht abschalten konnte. Er wollte doch nicht hineingerissen werden in die Leidensgröße und — lächerlichkeit von Leuten, die ihn nichts angingen. Es war immer Gundi, die ihn nicht abschalten ließ. Wie weit würde sie es heute treiben? Karl hatte den Verdacht, daß diese rabiaten Sichselbstentblößungen nur für Fernsehzwecke inszeniert wurden. Vielleicht waren das alles brave Langweiler und Gelangweilte, die sich vor den Kameras austobten, weil sie sich sonst nirgends so austoben konnten. Karl wagte aber nicht, Gundi diesen Verdacht wissen zu lassen. Gundi ertrug keine Fragen, deren Beantwortung auch nur im entferntesten mit Rechtfertigung zu tun haben könnte. Auch wenn Diego sich da einmal launisch vergriff, verformte sich ihr Gesicht nach ihren Mundwinkeln hin, die ja, egal wie fröhlich frech und ausgelassen ihr Gesicht gerade blühte, ihren sonst ebenmäßig schönen Mund mit zwei kurzen harten Rissen nach unten bogen.
Sein Freund Lambert hatte dieser Seelenführerin, sobald er sie auf dem Bildschirm entdeckt hatte, nicht zuschauen können, ohne in eine Art Abhängigkeit von der Bildschirmerscheinung zu geraten. Wenn das momentan die schönste, gescheiteste, frechste Frau war, dann gehörte sie zu ihm, dem Herrn der schönen Dinge aller Jahrhunderte. Und wenn Lambert Trautmann etwas wollte, dann fing er nicht an, sich, was er wollte, zu verbieten, dann sorgte er für Verwirklichung. Lambert sagte: Das Leben ist zu kurz für Umwege. Und schickte Gundi, die bei ihren Fernsehauftritten aus ihrer Schmucklosigkeit ein Evangelium gemacht hatte, ein Platin-Armband aus ihrem Jahrzehnt. Das Dekor schwelgte zart in japanischen Motiven, die eingebettet waren in Linien und Felder aus Diamanten, Saphiren, Rubinen und Smaragden. Das trug sie seitdem, und alle ihre Bewegungen wußten, daß sie das trug. Und Lambert durfte kommen und bleiben, und sie kam und blieb. Als Lambert einmal sagte: Es war eine Temperamentsumarmung, sagte Gundi: Eine Bewußtseinsbegegnung. Darauf Lambert: Eine Umarmungsbegegnung. Da stimmte sie zu. Ihr einfach dieses Armband zu schicken mit einer Visitenkarte und einem schönen Gruß, das war eine Provokation. Sie hatte Frauen, die ihr geschrieben hatten: Warum kein Schmuck? vor die Kamera geladen. Wochenlang tobte die Diskussion zwischen Frauen hin und her. Gundi gab zu, daß sie als junges Mädchen, wenn sie schmuckbeladene Madames gesehen hatte, sich geschworen habe: So wirst du nie! Deshalb hatte sie in ihrem Salon von Anfang an die eigene schmucklose Nacktheit gefeiert und alle Geschmückten als Nachfolgerinnen der Opfertiere verhöhnt, die, bevor sie geschlachtet wurden, geschmückt worden waren. Die Ethnologin drehte auf. Je auffälliger der Schmuck, desto bedauernswerter die Frau. Dann die Sensation: Sie schwenkt den Arm mit dem Armband vor die Kamera, gibt sich geschlagen, bekennt Ignoranz, Unreife, Vorurteil, Borniertheit und ist geheilt davon durch nichts als Liebe. Bloß keine Theorien! Bloß keine Rechthaberei! Bloß keine maßgebende Meinung, Haltlosigkeit, liebe Schwestern! Und, falls ihr’s schafft, auch ihr, Brüder! Und begleitete ihre Reden mit dem Platinarmband, das unter dem halblangen Türkisärmel ziemlich authentisch wirkte. Und gestand, daß sie von der Frauenarmee der Schmucklosen desertiere. Eine Desertion mehr. Und das wegen dem Kerl, der einem so etwas Fabelhaftes antut. Und hatte noch hingewiesen auf die winzige Silberspur um ihren Hals. Diese Nichthalskette, diese Nichtsalssilberspur habe sie ihrem Hals zugemutet, um das Armband nicht ganz allein siegen zu lassen. Gundi kriegte jede Kurve, weil sie dazusagte, daß sie jetzt wieder in einer Kurve liege. Schleudergefahr, rief sie dann. Und bat die fabelhaften Mitmenschen, über sie nicht zu urteilen, solange sie noch lebe.
In der Sendung nach der Kapitulation vor dem Armband begrüßte sie zum ersten Mal das neue Sofa, das Ruhlmann-Sofa. Sie, die Göttin in Türkis, ließ sich auf das champagnerfarbene Velours fallen und reckte und streckte und bog und krümmte sich wie neugeboren. Bis dahin hatte sie auf einem strengen, schwarzen, dänischen Ledersofa agiert. Ein edles Stück, Baujahr circa 1960, aber überhaupt kein Showstück. Dann also das Champagnervelours im goldverzierten Palisander. Und wieder war es ihr Liebster, dem sie das verdankte. Der habe ihr schwarzes Sofa nicht gut gefunden, also habe er ihr kurzerhand bei einer Auktion von Sotheby’s in Monaco das Ruhlmann-Prachtstück gekauft. Das ist jetzt ihre Welt. Aber — und das erregte Karls Eifer — sie sagte nicht dazu, daß Diego, den sie nie beim Namen nannte, das Sofa dem Fernsehen vermietet hatte. Auch als man abends noch zusammenfand, wurde nicht erwähnt, für wieviel Diego das Sofa vermietete. Wenn schon von allem die Herkunft, dann, bitte, mit Preis, liebe Gundi! Fernsehgetue. Sie ist das leibhaftige Fernsehen. Na und? Sie tut nicht so, als ginge es um Nachrichten, Informationen und dergleichen. Es geht nur ums Angeschautwerden. Von einer Million oder zwei Millionen Menschen. Jeder Zuschauer erlebt an dem, den er anschaut, das Angeschautwerden. Und nimmt teil. Ist, solange er anschaut, ein Angeschauter. So weit hat es keine der Vorgängerreligionen gebracht. Jetzt und in alle Ewigkeit. Zu Gast bei Gundi.
Hinter den zusammengewachsenen Mädchen hergehend, kam Karl wieder hinaus. Das Prinzip war tatsächlich: Je weiter man hinauskam, desto heller wurde es. So daß man vom Tageslicht — und heute war es Münchens frühlingsgemäß hellstes — nicht geblendet wurde. In die Steinstraße, Haidhausen, sagte er zum Taxifahrer, der höchstens von halb so weit her war wie die Thaimädchen.
Er mochte Taxifahrer, weil klar war, daß sie ihre Arbeit nur taten, um Geld zu verdienen. Da konnte auch der kulturell Befangenste nicht auf die Idee kommen, sie täten diese Arbeit, um Menschen möglichst harmonisch von der sauerstoffreichen Osterwaldstraße in die Blechschlucht Klenzestraße zu befördern. Deshalb fügte er dem Preis jedesmal das Doppelte als Trinkgeld dazu und produzierte eine Solidaritätsnummer, die ausdrücken konnte, er habe auch einmal als Taxifahrer angefangen, also komm, Kumpel, mach’s gut. Aber er setzte sich nie neben den Fahrer. Die waren alle mindestens so sauber wie er. Trotzdem. Er saß hinten.
Mußte er jetzt so tun, als sei es schlimm, daß er sich Gundi nackt vorgestellt hatte? Was war das bloß für ein Gespräch gewesen? Gundi konnte einen anschauen, daß einem anders wurde. Aber wenn man sich benähme, wie die einen anschaute, dann gäbe sie sich wahrscheinlich erstaunt und entsetzt. Die Frau des besten Freundes! Des ehedem besten Freundes! Hätte er versuchen sollen … Diego hätte es in einer vergleichbaren Lage versucht. Nicht mit Helen. Um es grob zu sagen: Helen war zu fein für Diego. Jenseits seiner sexuellen Wahrnehmbarkeit. Aber wenn Karl eine Gundi vergleichbare Frau gehabt hätte, Diego hätte es versucht und getan. Diego tat eben immer das, was er tun wollte. Diese Unverblümtheit kam an als Notwendigkeit. Karl war alles andere als unverblümt. Er war verblümt. Verblümt bis ins Innerste und Äußerste. Aber er wollte sich nichts mehr vorwerfen. Weder das, was er tat, noch das, was er nicht tat. Er wollte endlich sein, wie er war, und nicht, wie er sein sollte. Im Alter nimmt Verschiedenes ab. Auch die Kraft, moralisch zu sein. Oder sich so zu geben.
Die geschlechtliche Neugier ist ohnehin unabhängig von Sitten. Trauer, Freundschaft, Tragödie, dem diesbezüglichen Appetit ist es egal, der tendiert einfach. Er war jetzt öfter bereit zu glauben, kein Mensch sei moralisch, alle täten nur so. Vor allem schriftlich. Er hatte immer so getan, als ob er anständig sei. Und das ging nicht, ohne dann und wann wirklich anständig zu sein. Er war das, was Gundi verkündete, ohne daß sie es war. Er war haltlos. Sie tat nur so. Fernsehen! Selbst wenn sich einer im Fernsehen erschießen würde, er wäre nicht tot. Diego … Hör auf mit Diego.
Bei Diego war jede winzige körperliche Bemerkbarkeit für den Anfang einer endgüligen Krankheit gehalten worden. Er redete am Telefon ununterbrechbar über eine unerklärliche Trockenheit in der Mundhöhle anstatt über das, was Karl von ihm wissen wollte. Hoffentlich war diese neueste Lähmung wieder so eine übersteigerte Selbstwahrnehmung. Hoffentlich, dachte Karl.
Er rief noch vor Haidhausen die Firma an.
Berthold Brauch hatte schon gehandelt. Die zwei Kunden, die darauf warteten, Puma zu verkaufen, hatte er schon informiert. Karl entschuldigte sich.
Wofür denn, fragte der Partner.
Daß er geglaubt hatte, Herr Brauch habe abends kurz vor sechs noch nicht reagiert auf eine solche Nachricht. Und fragte noch, ob es bei dem Halbachttreff bleibe.
Dr. Herzig bereite im Konferenzraum schon die Charts-Präsentation vor, sagte Herr Brauch, und Frau Lenneweit verfälsche die Tafel ins Festliche.
Angenehmer als dieser Herr Brauch konnte niemand sein. Karl hatte seinen Partner sogar im Verdacht, der lege es förmlich darauf an, angenehm zu sein.
Karl rief noch schnell Severin Seethaler an. Morgen Power Lunch im Carlton, geht das? Thema: Puma für 1,2 Millionen. Falls die durch die Rückkaufaktion der Firma nicht schon zu sehr gestiegen sind.
Herr Seethaler sagte, was er immer sagt, wenn eine größere Transaktion in Sicht ist, es handle sich offenbar um einen seriösen Spaß. Er habe in der letzten Stunde das Gefühl gehabt, er müsse noch am Schreibtisch bleiben, ohne daß er gewußt habe, warum. Jetzt wisse er es. Und er freue sich.
Alles, wozu man eine Bank braucht, wurde für von Kahn und Partner beim Bankhaus Metzler besorgt, vorne am Odeonsplatz, keine fünf Minuten vom Montgelaspalais weg, und dort von Severin Seethaler, einem Mann von unverbrauchbarer Freundlichkeit. Die Telefongespräche mit ihm waren, weil Seethaler dieses Freundlichkeitstalent hatte, nicht leicht zu beenden. Sie hätten eigentlich überhaupt nicht aufhören müssen. Immer kam der Aufhöranlaß von außen. Moment, ich muß jetzt aufhören, ein Terroranschlag, ich muß mich um die Börse kümmern.
Er hatte nicht vorgehabt, nach Haidhausen in die Steinstraße zu seinem Bruder zu fahren. Aber es war Anfang Mai. In der ersten Maihälfte war ihm sein Bruder gegenwärtiger als in jeder anderen Jahreszeit. Wenigstens noch schnell reinschauen. Seit Weihnachten hatten sie einander nicht mehr gesehen. Und Erewein meldete sich nie. Man mußte ihn anrufen, ihn besuchen. Rief man ihn an, ließ er einen merken, daß man ihn nur anrief und nicht besuchte. Also, bitte, jetzt besuchst du ihn. Eineinhalb Stunden sind noch drin.
Als er in der Steinstraße aus dem Taxi stieg, erlitt er einen Anfall von Illegitimität. Er wurde beherrscht von dem Gefühl, er dürfe den Boden nicht mehr berühren. Diese öffentliche Straße, den Bürgersteig. Ganz schnell hinein in das schmale Haus seines Bruders. Der Boden des Bruders ließ sich als Asyl empfinden. Aber bevor er die Haustür erreichte, kriegte er noch eine Dusche Lokales. Eine Frau redete auf einen Mann ein, der zu ihr, da sie größer war, aufschaute. Brez’n und Kartoffisolad, Brez’n is ned so deins, muaßd du net hom … Dann waren sie vorbei, und er war bei der nie abgeschlossenen Haustür seines Bruders. Aber heute war sie, zum ersten Mal, abgeschlossen.
Sicher wüßten Meschenmosers, die nächste Haustüre rechts, wo Erewein und Frau Lotte waren, wann sie zurückkommen würden.
Erewein und Frau Lotte lebten in vollkommener Harmonie mit Meschenmosers. Meschenmosers waren die liebenswürdigsten Menschen der Welt. Er schaute aus seiner grauen Eingewachsenheit heraus wie aus einer Grotte, sie suchte andauernd nach Möglichkeiten, etwas für andere zu tun. Meschenmosers würden ihn, wenn er bei ihnen nachfragte, nicht mehr gehen lassen. Es war gleich sechs, sollten Erewein und Frau Lotte um sieben zurückerwartet werden, würden Meschenmosers verlangen, daß Karl so lange bei ihnen säße.
Karl stand vor dem kleinen Schaufenster, das Erewein aus zwei Wohnzimmerfenstern gewonnen hatte. Um das Schaufenster herum hatte er einen bayerischen Barockrahmen gemalt und darüber geschrieben: Das Atelier YZ. In Buchstaben der Sütterlinschrift. Im Schaufenster stellte er immer das jüngste Werk aus. Kopierte Meister, Originale, Fotos, auch von ihm selbst Geschnitztes. Weil Erewein mehr als einmal gesagt hatte, er geniere sich für das ganze Ateliergetue, war Karl jedesmal froh, daß es das Schaufenster noch gab. Und wie! Ein einziges Bild füllte jetzt das ganze Schaufenster aus. Erewein mußte es für sein Schaufenster gemalt haben. Nichts als Maiglöckchen, Hunderte oder Tausende von Maiglöckchen, gehalten von ihren tiefgrün glänzenden Blättern. Der Blätterglanz war bis zur Unheimlichkeit gemalt. Die Maiglöckchen wirkten dagegen matt. Sie wußten nichts von den grellen Blättern. Sie waren die Gefangenen der gleißenden Blätter. Karl schüttelte unwillkürlich den Kopf.
Was mit Diego passiert war, konnte er Erewein telefonisch mitteilen. Erewein hatte auf der Gartenseite des Hauses eine Werkstatt, in der er für Diego restaurierte. Alles, von Möbeln bis zu Bildern. Erewein hatte zuerst geheiratet, dann hatte er Medizin studiert, war Facharzt für Urologie geworden, weil Frau Lottes Vater zusammen mit einem Dr. Petöfi eine Urologie-Praxis plus Dialyse-Station betrieb und Frau Lotte, das einzige Kind, lieber Kirchenmusik als Urologie studierte. Also sollte Erewein antreten. Als Erewein so weit war, daß er in der Praxis hätte anfangen können, merkte er, daß er nicht so weit war, wie er jetzt hätte sein sollen, und daß er nie so weit sein würde. Zum Glück hatte Dr. Petöfi zwei Söhne, sozusagen geborene Urologen, Lotte erbte also. Erewein, der nie eine einzige kunstgeschichtliche Vorlesung gehört hatte, fing an zu malen, zu fotografieren, zu restaurieren. Er war ein leidenschaftlicher Autodidakt. Er wollte beweisen, daß man sich alles selber beibringen könne. Es gab offenbar nichts, was er seine Hände, seine Augen nicht zu lehren vermochte. Am liebsten kopierte er die Bilder alter und neuerer Meister. Von Siena bis zum Blauen Reiter. In seinem Viertel bekannt wurde er durch seine Tierbilder. Wem ein Hund starb, der kam mit einem Foto zu Erewein, Erewein malte den Hund und rahmte das Bild. Und signierte immer mit YX. Man nahm’s für eine Marotte. Als Karl das letzte Mal bei Erewein gewesen war, es war am 26. Dezember, dem Todestag ihres Vaters, da kopierte Erewein gerade das Bild, das Raffael von sich gemalt hatte, als er Anfang Zwanzig war. Jetzt stell dir vor, hatte Erewein gesagt, ich müßte hoffnungslosen Nierenkranken ihre verfaulenden Zehen absäbeln, statt diesen göttlichen Buben zu malen. Schau, wie er mich anschaut. Hatte er gesagt. Für Frau Lotte, die er, wenn er von ihr sprach, immer Frau Lotte nannte, und das so nachhaltig, daß jeder, der von ihr sprach, sie Frau Lotte nannte, für sie hatte er, als sie die Kirchenmusik pfarrherrlicher Intrigen wegen nicht mehr ausüben konnte, eine Hausorgel gebaut. Drei Jahre hatte er dafür gebraucht. Dann mußte Frau Lotte, wenn sie Orgel spielen wollte, nirgends mehr betteln, mußte das Haus nicht mehr verlassen. Das war eigentlich der Sinn aller Arbeiten Ereweins: daß Frau Lotte und er das Haus nicht mehr verlassen müssen. Nicht ein einziges Mal waren Frau Lotte und Erewein drüben bei Karl und Helen in der Osterwaldstraße gewesen. Wer die zwei sprechen wollte, mußte nach Haidhausen, in die Steinstraße, kommen.
Karl glaubte, alles, was Erewein tue und was er unterlasse, habe einen Grund. Im Mai 1945. Einmal war er mit Erewein gewandert. Im April 1968. Ende April. Sie erwanderten Karls Hausberg, den Wank. Gerade war Rudi Dutschke niedergeschossen worden, Vietnam wurde mit Napalm und Phosphor übersprüht. Erewein fing vom Mai 45 an. Ausführlich. Drei Russen waren auf ihn und seine Leute zugekommen — er war Leutnant — , um ihn und seine Leute gefangenzunehmen. Er und seine Leute hatten ihre Waffen weggeworfen, hatten ihre Hände erhoben, die drei Russen hatten sich ungeschützt genähert, es war ja der 9. Mai, aber Erewein war jäh klargeworden, russische Gefangenschaft, das war ein halbes Todesurteil, also zog er in letzter Sekunde seine Pistole, die hatte er nicht weggeworfen, er wollte sich — das war der Vorsatz — lieber selber erschießen, als in russische Gefangenschaft zu geraten, aber jetzt erschoß er nicht sich, sondern drei Russen. Und die waren alle drei jünger als er. Einundzwanzig war er. Dann ab durch die Wälder. Noch vor Passau fanden sie Amerikaner, von denen sie sich gefangennehmen lassen konnten. Seine Pistole hatte er einem kriegsversehrten Bauern gegeben, bei dem sie im Heu übernachtet hatten. Erst im Gefangenenlager kehrte zurück, was passiert war. Ihm passiert war. Einmal hatte er zu Karl gesagt, als er die Russen sah, sei er vom Schock geschlagen worden. Lebensanfang, das habe er gerade noch empfunden. Wie ein Fieber. Lebensanfang. In ihm sang es Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus, da bleibe, wer Lust hat, mit Sorgen zu Haus. Und jetzt die Russen.
Erewein war am 17. Mai geboren. Seinen Geburtstag zu feiern, etwa den fünfzigsten, sechzigsten oder siebzigsten, hat er immer abgelehnt. Karl hatte also gar nicht mehr versucht, bei Erewein oder Frau Lotte zu fragen, wie der achtzigste gefeiert werden sollte. Karl hat Erewein zu jedem Geburtstag geschrieben, kurz, aber mit deutlicher Empfindung. Erewein hat jedesmal zurückgeschrieben. Ausführlicher, erzählerischer, erinnerungsträchtiger. In einer innigen Tonart. Jedesmal hat Karl gedacht: Bruderliebe gibt es. Da Erewein das Maiereignis bis jetzt nur erwähnt hatte, wenn er mit Karl allein war, mußte Karl annehmen, er sei der einzige, dem Erewein gesagt hatte, was geschehen war, was er getan hatte. Von sich aus hätte Karl den Vorfall nie erwähnt. Aber dreimal in einem halben Jahrhundert hat Erewein selber davon angefangen. Das erste Mal hat er noch berichtet. Die nächsten zweimal war es nur noch ein Du-weißt-schon. Jedesmal mit dem Satz: Zum Überlegen blieb keine Zeit. Und: Meine Leute mußten mich wegziehen.
Die Pistole hat er bei dem Bauern, dem er sie gegeben hatte, wieder geholt. Aber Frau Lotte hat er das verheimlicht. Er hatte herausgebracht, daß Frau Lotte nicht in einem Haus leben konnte, in dem eine Waffe herumlag.
Erewein sprach nie von sich aus. Frau Lotte führte das Gespräch. Erewein bejahte, was sie sagte, durch Kopfbewegungen, er schien froh zu sein, daß seine Frau den Verkehr mit der Welt besorgte. Helen, die Hochstudierte, entdeckte in Ereweins Gesicht ein Stigma. Einen Leidenszug. Eine Art Entstellung. Nicht lokalisierbar, im ganzen Gesicht mehr spürbar als sichtbar.
Helen sagte, Erewein leide nicht darunter, daß er weniger erfolgreich sei als Karl.
Was nennst du erfolgreich, fragte Karl.
Er verdient so viel weniger als du, sein Haus ist so viel …
Mein Haus ist dein Haus, unterbrach Karl.
Ereweins Leiden, sagte sie, ist die Lebenserfolglosigkeit vom Maidrama an.
Jedesmal, wenn davon die Rede war, erinnerte sie an ihren Vater. 1944 in Holland von den Engländern gefangen genommen, nach Olham transportiert, dicht bei Manchester, ein Lager mit sechshundert Gefangenen, an Weihnachten 45 werden zweihundert ausgelost, die sind eingeladen von englischen Familien, Helens Vater ist nicht unter den Gewinnern, er arbeitet am Abend noch in der Kleiderkammer, da kommt der Lagerkommandant vorbei, Korvettenkapitän a. D. Jack Parson, der nimmt den Vater mit zu sich heim, eine Freundschaft ist geboren, die vierzig Jahre lang lebendig bleibt, Besuche hin und her, der Vater wird in Olham in der Zeitung abgebildet, wenn er bei Jack ist, bis beide tot sind. So fing das Leben ihres Vaters nach 45 an. Von Anfang an hell. Und Erewein? Das Stigma der Lebenserfolglosigkeit.
Das Handy spielte sich auf. Es war Daniela. Er sollte bedauern, daß er den Termin heute abgesagt hatte. Er bedauerte. Mehr, sagte sie, glaubwürdiger. Er soll sagen, es schmerze ihn und besonders in einer Körpergegend schmerze es ihn, daß sie einander heute nicht sähen, nicht küßten, nicht undsoweiter. Also morgen.
Er deutete an, daß morgen nichts möglich sei. Sobald er auch nur den Hauch einer Hoffnung hat auf einen neuen Termin, ruft er sie an.
Die Welt muß von einem Moralisten erfunden worden sein, dachte er. Je weniger du liebst, desto weniger hast du davon, geliebt zu werden. Darum steigerte er sich dann doch in Empfindungen hinein, die er nicht hatte. Daniela und er kämpften seit Jahr und Tag um eine Art Würde, eine Beziehungswürde. Beiden mußte daran gelegen sein, daß die Hotelnächte hier und da einen Schicksalston produzierten, den beide Ehen nicht übertönen konnten. Ach, Daniela, sagte er ganz schnell in ihren Wortschwall hinein, ach, Daniela, wenn du nicht eine so fabelhafte Zornige wärst, würde ich jedesmal, wenn du mich Unschuldigen beschimpfst, einfach aufhängen. Aber deine Arien lassen es nicht zu. Dann weinte sie natürlich. Arien nennt er das, Herzblutarien sind es, ja! Und du bist ein tauber Klotz. Also sagte er, er küsse sie, und sie sagte: Schuft, aber leider lieber Schuft, und er sagte: danke. Und legte auf. Und erlebte einmal mehr, daß Wörter nichts sind, aber für alles gut.
Um halb acht in der Firma. Es war noch nicht einmal halb sieben. Im Augenblick kam er sich vor wie ein Fragment. Also ins Roma.
Im Roma ging er, ohne sich umzusehen, auf den nächsten freien Tisch zu. Er wollte niemanden entdecken, zu dem er sich dann setzen müßte. Daß er in diesem Lokal der Älteste war, wußte er, ohne hinzuschauen. Er bestellte sein Bier. Schlug das Handelsblatt auf, war sofort, womit er immer anfing, bei Unternehmen und Märkten, kein Tag, an dem nicht etwas wirklich Aufregendes passierte. Heute Thyssen-Krupp. Dem Großaktionär Iran wird das Aufsichtsrat-Mandat entzogen. Der Aufsichtsrat hat Navab-Motlagh nicht mehr aufstellen können, weil der Konzern dadurch in Amerika ernsthaft geschädigt werde. Karl erinnerte sich noch, wie der Iran vor mehr als zehn Jahren durch seine Milliardenbeteiligung Krupp-Stahl aus der Misere gehievt hatte. Und jetzt das. Seine Thyssen-Krupp-Aktien würden darunter nicht leiden, aber ihn störte die Machtausübung, nicht nur die der USA.
Als er gerade das Neueste über Carl Icahn las, der ihn nicht wegen der Namensähnlichkeit, sondern als weltbester Firmenjäger interessierte, wurde er gestört: Amadeus Stengl.
Ich sehe, sagte der, du widmest dich dem Corporate Raider der westlichen Welt, deinem Ideal.
Meinem Idol, sagte Karl.
Eins zu null für dich, sagte Amadeus. Und wenn wir schon beim Tennis sind, dazu muß ich mich aber setzen, gratulieren tu ich dir allerdings noch stehend …
Wie ich meinen Amadeus kenne, sagte Karl, wird er mir nicht gratulieren, ohne mir zu verraten, wozu.
Stell dich nicht so, sagte Amadeus. Mir wird’s natürlich immer zuerst aufgedrängt, aber diesmal bin ich, weil’s deine Sache auch ist, glücklich, ein Erstwisser zu sein. Übermorgen steht’s in den Blättern. Das hat Puma verlangt. Interne Gründe. Nein, lieber Karl, das ist ein Coup, der deiner würdig ist. Und unser Diego kann erst recht froh sein. Neunzehn Millionen. Mit seinem 80-Prozent-Anteil reißt ihn das aus der Krise. Die tödlich hat werden wollen, das weißt du auch. In der Branche haben sie sich schon die Finger geleckt. Zwei Jahre ohne erwähnenswerte Verkäufe, nicht in Paris, nicht in Maastricht, nicht in Salzburg und in Basel auch nicht. Der stolze Diego war fast schon ein Unwert geworden. Und jetzt rettet ihn die Tennis-Chose, die er von dir hat. Neunzehn Millionen, das sind satte dreieinhalb für dich, gut, du brauchst sie nicht, aber du läßt es zu. Karl, ich gratuliere. Ich könnte mir denken, daß Diego unruhige Nächte hinter sich hat. Dieser Zusammenbruch sagt’s ja. Und die Wiederauferstehung auch. Vor einer Stunde ruft mich unsere göttliche Gundi an und meldet mir: Es geht ihm besser. Es geht ihm sogar gut. Morgen darf er heim ins Neuschwansteinchen. Mehr als einmal habe ich den historisch gerahmten Spruch an meiner Wand angeschaut, den er mir von seinem Voltaire gewidmet hat, daß Geld zu verdienen schwerer sei, als über Geld zu schreiben. Jedesmal denk ich dann, ich müßte den Gegenspruch in Alu rahmen lassen, sagend, daß Geldverdienen mit Schreiben über Geld schwerer sei, als Geld mit Geld zu verdienen. Und jetzt lädst du deinen Altfreund Amadeus zu was Spritzigem ein. Mario, zwei Dom Pérignon auf die Rechnung dieses Ihnen nicht unbekannten Herrn. Der ist nämlich schon ganz blaß vor Glück. Auch Glück will verkraftet sein.
Karl schaute ihn so an, daß Amadeus den Blick nur auf sich, auf seine szenische Darbietung beziehen mußte. Nicht auf den Inhalt. Der darf nichts merken! Bergauf beschleunigen! Auch wenn du kein Gefühl mehr in den Füßen hast. Wahrscheinlich keine Füße mehr hast. Bergauf beschleunigen!
Der Dom Pérignon kam, Amadeus sagte: Prosit.
Karl sagte auch: Prosit.
Dann sagte Amadeus: Weißt du noch, wie wir zu unserem Du gekommen sind?
Karl wußte es nicht.
Amadeus freute sich, sein Gedächtnis vorführen zu können. Sie seien miteinander schon um zehn Uhr vormittags in den Bayerischen Hof gekommen, weil Amadeus Karl bekannt machen wollte mit Mr. Milton Seaver, der in Deutschland Geld anlegen wollte und ein Frühaufsteher war. Im Foyer des Hotels stand auf dem Boden ein bißchen schräg ein Schild, darauf stand, daß man vorsichtig sein solle, der Boden sei slippery. Und: Freshly waxed. Beide hätten das gleichzeitig entdeckt, gelesen und gelacht, weil auf beide dieses Englisch rein bayerisch wirkte. Und diese Bagatelle habe beide überzeugt, daß sie antennenmäßig verwandt seien. Also sofort zum Chefportier: Etwas zum Anstoßen, bitte. Was es gewesen sei, wisse er nicht mehr, sagte Amadeus.
Es hat auf jeden Fall gehalten, sagte Karl.
Ja, sagte Amadeus, bis zu diesem Tag, den ich denkwürdig nennen möchte. Die unbezähmbare Gundi. Der unbesiegbare Diego. Warst du eigentlich dabei, als er uns im Sängersaal die Porträt-Serie Maler malen ihre zweiten Frauen präsentierte und ich einige dieser zweiten Frauen nicht so toll fand und, als der immer belächelte Erstverheiratete, sagte: Auch die zweiten Frauen kommen in die Jahre. Und Diego sofort: Aber die dritten nicht. Und sie nimmt seine beiden Hände und küßt ihm die Fingerspitzen. Das war ein Sieg über uns alle.
Wie alt schätzt du sie?
Karl sagte: Es hat mich noch nie interessiert.
Recht hast du, sagte Amadeus, schaute auf die Uhr. Ich gebe dich deinen Studien zurück, mein Lieber, und wenn ich mich nicht ganz arg beherrsche, sage ich: Mein Liebster! Um sieben Termin beim Chefaktuar der Hypo zur Entgegennahme neuester Flüsterschätzungen. Ich versichere dich meiner nicht geringer werden könnenden Hochachtung und bleibe ganz der deine: Amadeus. Im Weggehen fing er sich noch einmal ab und sagte: Weil es, wie du wohl weißt, eines meiner Prinzipien ist, keine Gelegenheit für eine Schmeichelei ungenutzt zu lassen, sage ich dir, daß die nichts als erfolgreiche LBBW dich imitiert und auch einen Geisteswissenschaftler vornehingewählt hat, schon wieder ein Doktorphil im Gewerbe, der deine hat ja immerhin noch über Kriegsfinanzierung geschrieben, der in Stuttgart aber über Alexander den Großen. Dich kann’s freuen, gell. Lies nach bei Midas. Ganz zum Schluß bitte ich dich freundschaftlichst, mir zu helfen in einer Ungewißheit, die mich sehr verfolgt. Ich lasse dir das Problem da, du, der kühlste Denker in diesen schwülen Breiten, wirst es mir lösen. Nämlich: Findest du nicht, daß Gundi mich imitiert in ihren Sendungen? Meine Methode der Unmittelbarkeit, der Scheuklappenlosigkeit, meine hart genug erarbeitete Virtuosität der Direktheit unter allen Umständen! Ist es Verfolgungswahn meinerseits, wenn ich glaube, Gundi imitiere das in ihrem Massenmedium bis zum Plagiat? Das Problem bleibt, ich gehe. Und er drehte sich, beleibt, wie er war, eindrucksvoll elegant weg und tänzelte mehr, als er ging, davon.
Karl konnte sich jetzt damit nicht abgeben. Er mußte Gundis Satz zurückholen. Diego konnte morgens nicht aufstehen, konnte keinen Arm, kein Bein mehr bewegen, ist darüber so erschrocken, daß er sofort gekotzt hat. Und warum hast du diesen Satz nicht als Gundi-Satz erkannt? Sofort gekotzt, das ist Gundi-Stil. Immer so grell wie möglich. Wahrscheinlich ist das ganze Manöver eine Gundi-Inszenierung. Diego hat sicher gesagt: Das ist nicht nötig. Wenn ich es will, unterschreibt er. Aber Gundi hat gesagt: Sicher ist sicher. Du brichst zusammen, er unterschreibt. Diese Ausschmückung des Zustands zur Steigerung der Erbarmungswürdigkeit konnte nur der begabten Gundi einfallen. Und für Enttäuschung gibt es keinen Grund. Das jahrelange Decrescendo dieser Freundschaft ist nur nie benannt worden. Er und Diego haben es wahrgenommen, empfunden, gebilligt. Diego betrieb die Freundschaftsverminderung ziemlich unverhüllt. Wegen Gundi. Sie gehörte zur kulturellen Fraktion. Diegos engster Freund, ein Geldhändler und Aktienempfehler, nein danke. Gut, wenn er in der Liga Warren Buffett oder George Soros spielen würde, aber von Kahn und Partner in der Kardinal-Faulhaber-Straße, nein danke. Mein Gott, was für ein Illusionist! Ja, du! Du hast es doch gemerkt, Diego hat es dich doch merken lassen, daß es für ihn anstrengend wurde, dir zu begegnen wie ehedem. Jede Begegnung würzte er mit Vorwürfen. Du hast es für Besorgnis gehalten. Du hast geglaubt, er wolle dich vor etwas bewahren, wovon er nichts verstand. Plötzlich redete er trivialantikapitalistisches Zeug daher. Und zwar so, als hättest du dich von aller Gemeinsamkeit wegentwickelt. Du, der Geldverdiener schlechthin. Er bestand ja immer darauf, daß Geld nur ein Mittel zu edleren, schöneren Zwecken sei. Mit so jemandem wie mit dir konnte jemand wie er doch gar nicht befreundet sein. Er hat dich dann als NPL behandelt, mehr als ein Non Performing Loan warst du für ihn nicht mehr. Er zeigte dir, wie anstrengend es für ihn war, dir noch so zu begegnen wie früher. Daß er sich bei den täglichen Telefongesprächen schon früher nie erkundigt hat, was du gerade machtest oder nicht machtest, daran hattest du dich gewöhnt, das war eben Diego, dein Diego. Dann dieser spürbare Überdruß. Du hattest dich nicht verändert, er schon. Gundi! Die kulturelle Fraktion! Wenn er dich einlud, war immer deutlicher geworden, daß er dir eine Freude bereiten wollte. Zu ihm kommen zu dürfen war ein Geschenk. Er genoß es, der Schenkende zu sein. Diego war der bessere Mensch geworden. Dadurch, daß er dich, dein Tun und Lassen kritisierte, war er der bessere Mensch geworden. Politisch, moralisch, überhaupt. Je reicher er geworden ist, desto mehr hat er von Brüderlichkeit geredet. Die ganze Welt sollte brüderlich gestimmt sein. Bloß keine Gewalt mehr. Ach, Diego, Freund!
Vielleicht war Amadeus eingeweiht. Wenn du Karl das nächste Mal siehst, sagst du ihm, für wieviel verkauft wurde, erfahren wird er es sowieso, also am besten gleich, kurz und schmerzlos, kann Gundi gesagt haben. Hat Gundi gesagt. Und Amadeus hat mitgemacht. Im Vorbeigehen hat er Karl die Nachricht verpaßt. Causa finita.
Amadeus blieb nirgends lange. Selbst bei Empfängen verschwand er immer, sobald er sicher war, daß die, auf die es ihm ankam, ihn bemerkt hatten oder er die Meinung, die er in Umlauf setzen wollte, losgeworden war. Er war auf allen Empfängen und Konferenzen gegenwärtig.
Karl hatte Angst vor Amadeus Stengl. Daß Amadeus ihn jederzeit vernichten konnte, war sicher. Gundi hatte gesagt, wenn sie sich nicht beherrsche, sage sie: Liebster Karl, und Amadeus hat gesagt, wenn er sich nicht ganz arg beherrsche, sage er: Mein Liebster! Untersuche diesen Zusammenhang. Gundi fand Amadeus immer nur komisch. Amadeus redete über Gundi, wie man über die absolut Berühmten redet. Man läßt sie gelten und ist froh, daß man sie, da sie ja schon von allen bewundert werden, nicht auch noch bewundern muß. Sogar Mitgefühl kam vor, wenn Amadeus Gundi erwähnte. Als wäre es auch eine Last, so berühmt zu sein. Amadeus war nicht ganz so berühmt wie Gundi. Aber vielleicht prominenter als sie. Außer bei Gundi trat er in jedem Fernsehprogramm auf und war seiner saftigen Späße wegen genauso beliebt wie wegen seiner fein dosierten Bosheiten. Bei Gundi konnte er nicht auftreten, weil sie mit einigem Pathos immer wieder verkündete, Medien-Inzucht sei unanständig und langweilig und sei das einzige, was zugleich unanständig und doch langweilig sei. Außerhalb der Medien waren die beiden kompatibel, erzkompatibel sogar. Erfolg und Erfolg gesellt sich gern. Daß er heute seinen Abgang mit einer Anti-Gundi-Parade inszeniert hat, verrät schlechtes Gewissen. Er hat Gundi gehorcht, hat den Boten gespielt, aber das tut ihm leid. Das wäre, falls es so ist, sympathisch.
Zuerst war Amadeus nur der Herausgeber der Midas-Briefe gewesen, da hat er bewiesen, daß man Wirtschaftsnachrichten mit Geist und Witz verkaufen kann. Die Midas-Briefe schrieb und edierte er unter dem bedeutungsschwangeren Namen Muspilli. Jahrelang entwickelte er unter diesem Pseudonym seinen Anspruch. Erst als er dann im Fernsehen auftrat und auch eine Midas Home Page entwickelte, erfuhr man, daß Muspilli Amadeus Stengl war. Da war er schon eine Instanz. Daß er an einem Privatsender beteiligt sei, bestätigte er nicht. Die Vermutung blieb. Wenn er von einer Pressekonferenz oder von einem Ministerempfang rasch wieder verschwunden war, wurden Köpfe geschüttelt und böse Bemerkungen gemacht. Meistens sagte der, der so eine Bemerkung gemacht hatte, noch dazu: Aber ein Schatz ist er schon. Oder er sagte: Wenn es ihn nicht gäbe, müßte man ihn erfinden. Einer hatte gesagt: Er ist kein Tausendsassa, sondern ein Millionensassa. Das hielt sich. Karl sagte nie etwas über Amadeus, wenn der nicht dabei war, weil er wußte, was auch immer er sagen würde, einer, der es mitkriegte, würde es Amadeus so weitersagen, daß er Amadeus durch dieses Weitersagen einen Gefallen erwiese. Aus Tausenden solcher Leistungen besteht das, was Gesellschaft heißt. Zweifellos eine irreführende Bezeichnung. Da hatte Gundi recht. Karl befand sich mit Amadeus in einem unerklärten Krieg. Amadeus war die absolute Feindfigur. Er hatte Karl bis jetzt nicht vernichtet, weil er es noch nicht für nötig gehalten hatte. Noch waren sie befreundet. Noch streute ihm Amadeus diesen und jenen Tip hin. Karl hätte nie irgendwo zu irgendwem sagen können, er sei mit Amadeus Stengl befreundet. Amadeus dagegen erwähnte da und dort, daß er mit Karl von Kahn befreundet sei. Wenn Karl das hörte, hielt er es für eine Drohung. Morgen konnte Amadeus die Geschäftspolitik der Firma von Kahn und Partner bemitleidenswert altmodisch nennen und hinzufügen, es falle ihm nicht leicht, so etwas zu sagen, weil er doch mit Karl von Kahn befreundet sei. Daß Karls Finanzdienstleistung bis vor kurzem altmodisch war, vielleicht sogar altbacken, weil jede Spezialisierung, also wohl auch jede Profilierung fehlte, das wußte Karl selber. Aber ihm war das recht gewesen. Und hätte er nicht, einer jähen Aufwallung von Sympathie folgend, den gerade öffentlich verunglimpften Berthold Brauch als Partner aufgenommen und hätte der nicht von der European Business School in Oestrich-Winkel das Junggenie Dr. Dirk Herzig geholt und wäre der nicht seit Jahren achtzig Stunden pro Woche damit beschäftigt, bei von Kahn und Partner einen hochspezialisierten Technologiefonds aufzulegen, genannt 40plus-TFM, dann, ja dann hätte man ihn samt Firma altmodisch nennen können, aber so …
Karl hätte sich gern bewiesen, daß Amadeus sein Freund sei. Also zählte er immer wieder zusammen, was dafür sprach, und kam immer wieder zu dem Ergebnis, daß zwar alles Zusammenzählbare für Freundschaft sprach, daß aber seine Angst dadurch überhaupt nicht berührt wurde. Deshalb mußte er sich keine krankhafte Disposition zuschreiben. Die Angst kam allein von der Macht, die Amadeus inzwischen hatte. Hatte und genoß. Karl wußte aus Erfahrung, daß einer, der Macht hat, nicht so genau aufpassen kann, wie oder gegen wen er sie gerade verwendet.
Er sagte sich, das Wichtigste an Amadeus sei dessen Niveau. Das sprach ihm keiner ab. Amadeus selber nannte sich tatsachenfromm. Andere in seiner Branche, und es sind renommierte andere, werden im Spätsommer, wenn die Nachrichten Urlaub haben, regelmäßig kreativ und kreieren Phänomene und Probleme. Dann war es Amadeus Stengl beziehungsweise Muspilli, der in den Midas-Briefen versuchte, solche erzeugten Erregungen auf ihre wirkliche Bedeutung zurückzubringen. Er hat öffentlich Wetten angeboten, daß der Nano-Hype, der die Nanotechnologie zur Technologie des 21. Jahrhunderts hochjubelte, Firmen-Gründungen verursachte und den seriösen Investierriesen Merrill Lynch dazu verführte, aus fünfundzwanzig Papieren einen Nano-Index zu konstruieren, daß dieser mediengeheizte Schwall in einem Jahr nur noch in der Geschichte der menschlichen Anfälligkeit eine Rolle spielen werde. Ebenso war’s mit dem Stammzellen-Fieber und ähnlichen mediengemachten Hypes. Karls Kunden waren genauso ängstlich, wie es sich gehört. Für den Anleger ist das Weltgeschehen ein Schicksal, das speziell ihm droht. In jedem Augenblick steht Unheil bevor. Nur trainierteste Aufmerksamkeit kann verhindern, daß man plötzlich nichts mehr hat. Alle Werte sind andauernd den raffiniertesten und übelsten Angriffen ausgesetzt, Angriffen, die nichts als die Entwertung dieser Werte zum Ziel haben, ohnehin haben alle Werte die Tendenz, wertlos zu werden, also muß der Dienstleister hochwach sein, um nicht zu versäumen, wenn irgendwo ein neuer Wert entsteht. Amadeus hat Niveau. Wenn er auch Macht hat und dich dadurch jederzeit, selbst wenn er das gar nicht will, einfach vernichten könnte und wenn er es wollte, erst recht, so ist doch seine Macht durch sein Niveau gewissermaßen gezähmt. Ein Mann dieses Niveaus wird, wenn er bemerkt, daß er gerade dabei ist, dich zu vernichten, noch einmal stutzen, wird ES sich noch einmal überlegen.
Karl merkte: Das Wunschdenken setzt sich durch. Auf Dankbarkeit seitens Amadeus rechnete er nicht. So naiv konnte ihn kein Wunschdenken machen. Jedesmal wenn er irgendwo Amadeus Stengls weißen Rolls-Royce stehen sah, durfte er daran denken, Amadeus habe dieses Auto gekauft, um, wie er launig sagte, dem englischen Pfund etwas von dem zurückzugeben, was er ihm gerade geraubt hatte. Oder er sagte einfach: Wiedergutmachung. Eine halbe Million hat Amadeus verdient, als er sich im Sommer 92 Karls Spekulation gegen das Pfund angeschlossen hat.
Karl beobachtete nichts mit so natürlicher Neugier, mit so müheloser Aufmerksamkeit wie die Devisenmärkte. Im Sommer 92 wurden, verglichen mit der D-Mark, viele Währungen schwach. Vor allem aber Lira und Pfund. Karl spezialisierte sich auf das Pfund. Sein Devisenexperte beim Bankhaus Metzler sah das nicht anders: Das Pfund ist überbewertet, es muß sinken. Erst seit 1990 gehörte England zum Europäischen Währungssystem. Leitkurs beim Einstieg: 1 Pfund sollte 2,95 Mark wert sein. Das galt sofort als Überbewertung des Pfundes. Im Sommer 92 verkündete der Schatzkanzler in London, er werde dafür sorgen, daß der Kurs, 1 Pfund für 2,95 Mark, durchgehalten werde. Eine Pfundabwertung komme überhaupt nicht in Frage. Solche Politikerschwüre machen hellhörig. Der Markt macht den Markt, nicht der Politiker. Immer mehr Marktteilnehmer wollten ihre Pfunde loswerden. Die Devisenhändler boten mehr Pfunde an, als die Notenbanken zur Stützung des Pfundes aufkaufen konnten. Genauso ging es der Lira. Als der Kurs des Pfundes im Sommer auf 2,90 angekommen war, kaufte Karl von Kahn auf Kredit 2 Millionen Pfund und tauschte sie in Mark. Dafür wurden ihm 5,8 Millionen Mark gutgeschrieben. Dann wartete er. Das Pfund sank weiter. Im September sank es nicht mehr, es fiel. Am 9. September hatte die Bank von England aus ihren Währungsreserven schon für 10 Milliarden Pfund aufgekauft, um das Pfund wieder wertvoller zu machen. Am Mittwoch, dem 16. September, der danach der Schwarze Mittwoch hieß, hat die Bank von England weitere Pfunde für 12 Milliarden vom Markt weggekauft. Die Deutsche Bundesbank kam ihrer vom Europäischen Währungssystem vorgeschriebenen Pflicht nach und kaufte Pfunde für 14 Milliarden D-Mark. Aber niemand glaubte dieser Währung noch ihren Wert. Die englische Regierung erhöhte den Leitzins, um ausländisches Geld anzulocken. Nichts half. Um den freien Fall der Währung zu stoppen, nahm die englische Regierung schließlich das Pfund aus dem Europäischen Währungssystem. Schlußkurs: 1 Pfund gleich 2,61 Mark. Jetzt war keine Notenbank mehr verpflichtet, Pfunde zu kaufen, wenn das Pfund tiefer als 15 Prozent unter den vereinbarten Leitkurs fallen würde. Auch die Lira hatte sich verabschiedet. Wie das Pfund: «Auf unbestimmte Zeit.»
Karl wartete noch ein paar Tage, weil er annehmen durfte, daß das Pfund, nachdem es in die Marktfreiheit beziehungsweise — ehrlichkeit entlassen war, noch weiter sinken würde. Das Pfund sank auch noch gelinde weiter, aber nur noch so, daß die Zinsen, die ihn sein Millionenkredit kostete, die weitere Pfundabwertung bald aufwogen. Am 28. September zahlte er seinen Pfundkredit zurück. Der Kurs war bei knapp über 2,50 Mark angekommen. Für noch längeres Hinschauen und Warten reichte seine Nervenkraft nicht aus. Karl zahlte seinen Pfundkredit zurück, brauchte dafür aber nicht die 5 Millionen und achthunderttausend Mark, die ihm vor nicht ganz vier Wochen für die 2 Millionen Pfund gutgeschrieben worden waren, sondern nur noch 5 Millionen, hatte also achthunderttausend verdient. Kreditkosten und Spesen abgerechnet, blieben noch eher sechs- als fünfhunderttausend. Und genauso machte es, auf Karls Rat, Amadeus. Nachher, als alle Aufregungen durchgestanden waren, war Amadeus mit einem Stoß Zeitungen aufgetaucht, und sie hatten gemeinsam zur Kenntnis genommen, wie die Londoner Politiker diese Tage vor und nach dem Schwarzen Mittwoch erlebt hatten. Wie alles, was sie noch probierten, wirkungslos blieb oder die Katastrophe noch verschärfte. Die Flucht aus einer angeschlagenen Währung wird zum Naturereignis. Aber daß die Währung so dahinschwand, war die Schuld einer Politik, die glaubte, dem Markt Werte diktieren zu können.
Amadeus sparte nicht mit Komplimenten, weil dann nachzulesen war, daß George Soros, der König aller Spekulation, am Pfundverfall in knapp vier Wochen 1 Milliarde Dollar gewonnen hatte. Er hatte allerdings 5 Milliarden Pfund geliehen für seinen Angriff auf diese Währung. Aber als Anlaufstation hatte auch er die Mark gewählt, weil er wußte, die Deutsche Bundesbank würde den Finanzorkan unbeschadet überstehen. Er hatte sich dann mit vielen hundert Millionen Dollar zum weltweit größten Philanthropen gemacht. Von den Soros-Nachrichten, die Amadeus angeschleppt hatte, war für Karl eine besonders lehrreich. George Soros war gefragt worden, ob der britische Premier seine Entschlossenheit, das Pfund zu stützen, hätte deutlicher zum Ausdruck bringen können als durch die Erhöhung der englischen Zinsen. Soros lachte und sagte: Absoluter Quatsch. Als die Zinsen am Schwarzen Mittwoch angehoben wurden, wußten wir, jetzt ist es höchste Zeit, unsere Pfundverkäufe zu beschleunigen. Das kommt in mein Lehrbuch, dachte Karl, als er das las. Als Beispiel dafür, daß jedem Übel nur mit einem Mittel begegnet werden kann, das von der Natur des Übels ist. Karl hatte im August noch 1000 Optionsscheine gekauft, von denen jeder bis zum 15. September zum Verkauf von 100 Pfund zum Preis von 2,85 Mark berechtigte. Gekauft für 7,25 Mark pro Schein. Und am 31. August, als der Pfundkurs schon auf 2,79 Mark gefallen war und nicht aufhörte zu fallen, hatte er die Scheine für 19,50 Mark das Stück verkauft. Das war auch noch ein kleiner Gewinn von etwas über 10 000 Mark. Daran nahm Amadeus nicht teil. Aber auch für die halbe Million, die Amadeus durch Karl verdient hatte, erwartete Karl keine Dankbarkeit. Wenn Amadeus diese heißen Septembertage überhaupt noch erwähnte, dann eher mit einer Art Schauder. In diesen Septembertagen habe er die Erfahrung gemacht, daß er zum Spekulanten nicht tauge. Und jedesmal bewunderte er wieder Karl, weil der ihrer beider Spekulationsboot damals so ruhig durch die Finanzstürme geleitet hatte. Daß Karl praktisch, wenn auch im Mini-Format, eine Operation veranstaltet habe wie George Soros, zeige ihm, daß er, Amadeus Muspilli Stengl, eben doch nicht fürs Schlachtfeld Wirklichkeit tauge, sondern allenfalls für den grünen Tisch.
Zuweilen muß man sich der eigenen Geschichte versichern. Den Schlag, den ihm Diego versetzt hatte, durfte er nicht zur Wirkung kommen lassen. Er hat eine Geschichte, die bleibt für Diego, benehme er sich, wie er wolle, unerreichbar.
Eines Morgens war Karl von Kahn aufgewacht und wußte, er werde bei der Hypo kündigen. Baron Ratterer! Den rief er an. Der mußte, wenn etwas zu disponieren war, vor neun Uhr angerufen werden. Der Baron hatte beim letzten Gespräch diesen Satz gesagt von der Hypo-Hierarchie, daß Karl von Kahn, wenn er in dieser Hierarchie verdorren wolle, hätte gleich Pfarrer werden können.
Karl hat den Anlegern, die er für mobilisierbar hielt, ein fünfseitiges Exposé geschickt. Seine Philosophie sei erlernt durch jahrelanges Beobachten der Entscheidungen Warren Buffetts, des erfolgreichsten Anlegers des letzten Jahrhunderts. Gesucht werden Aktien, die unter ihrem wirklichen Wert notiert sind. Dazu müssen die Bilanzen und Geschäftsberichte der in Frage kommenden Firmen analysiert werden. Dann werden Portfolios zusammengestellt, in denen Sicherheit und Risiko vertretbar ausgewogen sind. Er konnte auf sein Privatportfolio verweisen. Er hat von 91 bis 2000 den Marktwert seiner Anlagen jährlich um 28,7 Prozent gesteigert. Der Vergleichsindex MSCI hat in der gleichen Zeit jährlich 17,8 Prozent erreicht. Er könne jeden Dienst zur Hälfte des Hypo-Satzes anbieten. Das sei durchgerechnet.
Man hat gefischt, wo man Fische vermutete. Spezialisierung, das war ein Luxus, den der ums Überleben kämpfende Anlageberater sich nicht leisten konnte. Spezialisierung konnte sich Karl von Kahn erst leisten, als Dirk Herzig erschienen war. Einunddreißig. Hat zuerst Geschichte studiert. Den Doktortitel erworben mit einer Arbeit über die Finanzierung der Kriege gegen Napoleon. Karl hatte eher höflichkeitshalber gefragt, ob er diese Doktorarbeit ansehen dürfe, hatte hineingeblättert und wieder von vorn angefangen und dann keine Seite mehr ausgelassen. Und hatte seitenweise kopiert. Für sich. Danach hatte er sich gefragt, wie man Geschichte ohne Finanzgeschichte überhaupt studieren könne.
Solange diese Lektüre in mir nachwirkt, hatte Karl zu seinem jungen Mitarbeiter gesagt, werde ich Sie Doktor Dirk nennen.
Es war Berthold Brauch, der diesen einsfünfundachtzig großen Nichtsalsschlanken im Rheingau entdeckt hatte. Das war vielleicht Herrn Brauchs größte Tat, seit Karl Berthold Brauch zum Partner gemacht hatte. Wieder war Amadeus Stengl im Spiel gewesen. Mit seinen Midas-Briefen. Als Muspilli hatte er dargestellt, wie der wackere Abteilungsleiter Berthold Brauch von seiner Bayerischen Handelsbank aus dem Verkehr gezogen wurde, weil er von der insolventen Immobiliengesellschaft Pretium, einer Tochter der Handelsbank im Tessin, eine Villa im Wert von eineinhalb Millionen Franken erworben hatte. Für sich erworben hatte. Vorwurf: Herr Brauch habe von Insiderwissen profitiert, also für die Villa keinen marktgerechten Preis bezahlt. Muspilli hatte den Fall über mehrere Midas-Nummern begleitet, hatte, ganz im Gegensatz zur übrigen Presse, Berthold Brauch verteidigt, Karl hatte Amadeus nach dem zweiten Artikel angerufen und ihn gefragt, ob Amadeus Stengl Herrn Brauch ein gebrauchtes Auto abkaufen würde. Amadeus: Sogar eine gebrauchte Frau würde ich dem abkaufen. Und lachte scheppernd, wie er immer, wenn er etwas Lustiges gesagt hatte, lachte. Karl traf sich mit Brauch. Eine Handbreite kleiner als Karl, noch keine sechzig und auf die allgemeinste Art gutaussehend. So gekleidet, als wolle er, bitte, nicht durch Kleidung imponieren. Nur das Hemd mit seinem dünnlinigen Rautenmuster fiel auf. Später erfuhr Karl, daß Herr Brauch alle seine Hemden selber bügle. Immer schon. Niemand könne seine Hemden zu seiner Zufriedenheit bügeln. Ein Pedant also. Aber jetzt war alles gestört, verzerrt, zerquält. Er schlief seit Wochen nur noch zwei, drei Stunden pro Nacht, er konnte die Beruhigungsreden seiner Frau nicht mehr ertragen, er ertrug sich auch selbst nicht mehr. Warum war ihm das passiert?! Nach dreißig Jahren Erfahrung! Warum hat er sich nicht vorstellen können, daß ihm Leute, Kollegen und Vorgesetzte, die schon immer darauf warteten, daß das Korrektheitsmuster Brauch einen Fehler machte, einen Fehler, den man ins Moralische zerren konnte, daß die diese Gelegenheit, sie verfälschend, ausbeuten würden! Jetzt, nachdem es passiert ist und die Presse Sachverhalte roh verkürzt und bös verdreht darstellt, daß er ein ertappter Geldganove sei, jetzt sagten die Freunde: Aber das hättest du doch wissen müssen! Karl bot ihm sofort die Partnerschaft an. Herr Brauch sagte nichts, nahm aber die von Karl angebotene Hand und hielt sie, nach Karls Eindruck, länger, als je jemand seine Hand gehalten hatte. Und Karl wußte: Mit diesem Mann nur Gutes. Die Firma mußte wachsen. Dazu war ein zweiter Mann nötig. Die Sekretärinnen wurden, wenn sie länger als fünf Jahre blieben, zu Teilhaberinnen gemacht! Das heißt, von jedem Monatsgehalt wurden zwanzig Prozent einbehalten, daraus wuchs die Beteiligung. Ohne einen Rechtsanspruch zu gewähren, hatte er beiden Sekretärinnen, als sie sich dazu entschlossen, das Gehalt um zehn Prozent erhöht, so daß sie nur auf zehn Prozent zugunsten ihrer Teilhaberschaft verzichteten. Berthold Brauch beteiligte sich sofort mit einhunderttausend, und pro Monat kamen aus seinen Bezügen eintausend dazu. Seine Rehabilitierung betrieb Herr Brauch weiter. Mit Muspillis Unterstützung. Bis schließlich die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte & Touche bestätigte, daß von einer Schädigung Dritter durch Berthold Brauch keine Rede sein könne: Der Preis für die Villa war marktgerecht. Und Muspilli höhnte über das moralische Dreitagefieber gewisser Bankkreise, die mit prinzipiell schlechtem Gewissen gegenüber der Öffentlichkeit gleich in rituelle Reinigungsorgien verfielen und ihre Compliance-Büros zur Heiligen Inquisition aufplusterten.
Daß Karl von Kahn der Einstellung des großschlanken Einunddreißigjährigen rückhaltlos zugestimmt hatte, war, genau wie die Aufnahme Brauchs als Partner, eine Instinkt- oder Gefühlshandlung gewesen. Er war kein Zitatenpflücker wie sein Freund Diego, aber er lehnte sich mit Wohlbehagen in Sätze von Menschen, die er nicht nur achtete, sondern liebte. Zum Beispiel Keynes, Sir John Maynard, von dem hierzulande im Populistengewäsch nur noch das Schlagwort deficit spending übriggeblieben ist. Bei Keynes hat er gelesen: Seine Instinkte sagen ihm, was er tun soll, aber er kann jederzeit eine Theorie dazu erfinden, um die Menschen zu überzeugen, daß, was seine Instinkte raten, richtig ist.
Jetzt war er wieder halbwegs bei sich und konnte aufbrechen.
Wenn Anfang Mai die Abendsonne die Maximilianstraße ausleuchtet, kriegt die Protzmeile mit ihren vielen Rundbögen etwas Trauliches. Karl von Kahn fand, die Maximilianstraße sei von allen Protzmeilen, die er kannte, die liebenswürdigste. Die Brienner trumpfte doch ganz anders auf. Verglichen mit den Champs-Élysées oder der Regent Street oder dem Jungfernstieg oder der Kärntnerstraße oder gar der Fifth Avenue war die Maximilian ein Sträßlein, ein herzerwärmendes.
Wenn er von irgendeinem Punkt der Stadt zu Fuß in die Kardinal-Faulhaber-Straße ging, schaute er auf die Uhr. Vom Roma zu seinem Palais auch heute elf Minuten. Immer wenn er in die Kardinal-Faulhaber-Straße einbog, sah er in dieser von historischen Steinen flankierten Straße vor bis zum Schlachtschiff. So nannte er das Palais, von dem aus die Hypo regiert wurde. Verglichen mit den Barockmassen der Hypo, war die Seite des Montgelas-Palais, in dem Karl von Kahn sich etabliert hatte, ein klassizistisches Zierstück. Zuerst aus dem Souterrain in der Schlotthauerstraße in den ersten Stock in der Klenzestraße, dann der Umzug, der Aufstieg in das feine Quartier. Noch bevor Diego sich in der Brienner etablierte, war von Kahn und Partner schon eine Adresse in der Kardinal-Faulhaber-Straße. Wochenlang war er durch die Straßen und Gassen der innersten Innenstadt gewandert, war in jedes Gebäude, das ihn anzog, eingedrungen, hatte die Schilder studiert, bis er im Montgelas-Palais entdeckte, daß ein Anwalt, dem die Faulhaber offenbar zu ruhig war, umgezogen war an den Promenade-Platz. Der Rest war Verhandlungsmühe, Geschick und Glück.
Zwei vor halb trat Karl von Kahn ein. Frau Lenneweit sagte, nach ihm könne man die Uhr stellen.
Herr Brauch und Karl grüßten einander mit Verneigungen, die als übertriebene erkannt werden wollten. Herr Brauch hatte dieses Sichverneigen in Japan gelernt. Als er sich zum ersten Mal so vor Karl verneigte, hatte der das sofort erwidert. Nur er und Brauch verneigten sich so voreinander.
Herr Brauch fragte: Glauben Sie, Eliot Spitzer kann Warren Buffett was anhaben?
Und Karl: Was glauben Sie?
Und Brauch: Da Warren Buffett Ihr Hausgott ist und Sie ganz sicher keinen zum Hausgott werden lassen, dem ein Generalstaatsanwalt an die Ehre kann, sage ich: Spitzer kann Warren Buffett nichts anhaben.
Karl sagte: Herr Brauch, ich danke Ihnen für diesen Vertrauensbeweis.
Karl ging voraus in den Konferenzraum, der von allen Räumen der Firma der feierlich-feinste war. Olivgrüne Seidentapete, sechs grünbezogene Biedermeierstühle, die schwerer waren, als sie aussahen. Eine dunkel schimmernde Tischplatte, darüber ein Oval aus edlem Holz, an dem sechs Lampen hingen. Alles von Diego. Außer den Bildern. Die Stirnwand gehörte dem gewaltigen Neorenaissance-Bücherschrank. Auf einem der Bilder Karls Vater, gemalt im Jahr 1900, ein Bub, ein altersloser Engel in einem romantisch blusigen Hemd, verwaschengrün, in der Rechten, senkrecht gehalten, eine Trompete. Auf der gegenüberliegenden Wand das Flötenkonzert Friedrichs des Großen im Schloß Sanssouci, gemalt von Adolph Menzel, dem Original lebendigst nachgemalt von Erewein. Erewein hat wissen lassen, dieses Bild habe in der Kahnschen Familiengeschichte eine Rolle gespielt. Er forsche noch. Er werde berichten.
Frau Lenneweit bot Getränke an.
Nicht bevor der Hauptdarsteller da ist, sagte Karl so, daß es der gerade eintretende Dr. Herzig noch mitbekam. Karl dachte wieder einmal, daß er Dr. Dirk eigentlich Dr. Schlaks nennen müßte. Noch besser: Dr. Schlaksig. Wohl bekomm’s, sagte Karl und hob das Glas. Daß wir uns auch heute, ohne Alkohol zu trinken, versammeln, zeigt den Ethikstandard der Firma.
Das ist einer Ihrer feinsten Tricks, sagte Dr. Herzig. Bis jetzt war noch jeder Kunde oder Besucher, der Kunde werden wollte, von dieser als Ethik verkauften Enthaltsamkeit beeindruckt. Nichtraucherzonen gibt’s überall. Aber kein Alkohol, das wirkt vertrauensbildend.
Dann bat Karl Dr. Dirk freundlich-förmlich, mit seinem Vortrag zu beginnen.
Eigentlich trug Dr. Dirk immer denselben Anzug: nicht bemerkt werden wollendes Grau. Und seine Krawatten genauso unbemerkbar. Karl fand, es sei zu wenig, wenn die Krawatte ganz und gar durch Jacke und Hemd definiert werde. Karls Krawatten dominierten. Gelegentlich explodierten sie. Auf jeden Fall hatten sich Jacke und Hemd bei Karl den Krawatten zu fügen.
Dr. Herzigs Bubengesicht verbreiterte sich schnell zu einer parodistischen Grimasse des Selbstgenusses. Ja, sagte er, ich bin mit mir nicht unzufrieden. Übrigens, falls es die Herren noch nicht gelesen haben: Midas meldet, die LBBW hat jetzt auch einen Historiker vorne dran, Doktorarbeit über Alexander den Großen, Investmentbanking interessiere ihn mehr als historische Quellenforschung. Auf seiner ersten Pressekonferenz hat er sein Motto ausgeplaudert, sapere aude, und hat das nicht übersetzt. Amadeus Stengl sagt, damit habe Dr. Jaschinski den Wirtschaftsjournalisten das Kompliment machen wollen, soviel Latein habe jeder intus. Er, Dirk Herzig, freue sich über jeden Geisteswissenschaftler, der merkt, wo jetzt der Weltgeist wohnt beziehungsweise immer schon gewohnt hat.
Zur Sache: Er hat also in sechzehn statt in zwölf Monaten seinen TM fast auf zwanzig Millionen gebracht, und er dankt beiden Herrn für die souveräne, das heißt nie Nerven zeigende Geduld. Der nächste Fonds, den er veranstalten will, heißt wieder 40 plus, aber nicht mehr Technik München, sondern MM: Maschine München. Dr. Dirk hält den Maschinenbau für die deutsche Spezialität schlechthin. Er möchte MM auflegen, bevor er TM abschließen kann. Dann besingt er die berührungslose Meßtechnik, die Miniaturisierung der Sensoren, die Entwicklung der Thermofühler. Will man den berüchtigten Schadstoffausstoß halbieren, muß man die Sensorik vervielfachen. Schon mit einer intelligenten Drucksensorglühkerze lassen sich Emissionen reduzieren. Mit einem funkelektronischen Reifendruck-Kontrollsystem läßt sich die Reifenlebensdauer verdoppeln. Und die Zahnbürste mit Plaque-Detektor! Und das Cargobike mit der Wasserstoff-Brennzelle …
Das war die neue Dr.-Dirk-Arie, der Ton für Vierzigjährige. In die Gewinnzone nach drei Jahren. Frühestens. Aber dann ein unaufhörlicher stürmischer Segen. Da will ich dabeisein. Da muß ich dabeisein.
So, sagte Dr. Dirk, wird dieses Angebot wirken. Für den Maschinenfonds werde er zwei Jahre brauchen.
Herr Brauch fing an, den Kopf zu schütteln. Ihm wurde Dr. Dirks Temperamentsentfaltung offenbar unheimlich. Sollte dieser Ikarus abstürzen, dann stürzte womöglich diese schöne kleine Firma ab, und schuld war er, da er den Ikarus entdeckt und hergebracht hatte.
Karl von Kahn lachte seinen Partner aus. Herr Brauch dürfe sich auf die Sensorik seines Partners, um mit Dr. Dirk zu reden, verlassen.
Dieser Dr. Dirk war tatsächlich in allem das Gegenteil von dem, was Karl von Kahn fast dreißig Jahre lang gedacht und praktiziert hatte. Dr. Dirk war, als ihn Brauch von der European Business School in Oestrich-Winkel geholt hatte, geradezu versessen auf eine Spezialität. High Technology. Damit wollte er groß werden.
Als Dr. Herzig zum ersten Mal Karl von Kahns Zimmer betrat, legte er gleich ein Dokument auf den Schreibtisch. Certified Financial Planner. Sein Titel. Er hinterlege das Dokument hier und wolle es erst zurück, wenn er seinen ersten Zwanzigmillionenfonds geschafft habe. Das war ein Auftritt! Karl hatte in seinen Bewerbungszeiten sein Diplom von der Sparkassenakademie in Bonn immer eher verschämt überreicht, im Kuvert, und hatte doch mit SEHR GUT abgeschlossen. Der stürmische Jungherr bat um zwölf Monate Zeit. Er habe berechnet, daß er ein Jahr brauche, um in einem Kreis, dessen Mittelpunkt der Marienplatz sei und dessen Radius dreißig Kilometer betrage, die jungen Firmen aufzuspüren, und zwar ausschließlich Software-Firmen, die auf Anleger warteten, um ganz schnell groß zu werden. Ganz schnell, das heiße, in drei bis fünf Jahren. Dieser Umkreis sei das Silicon Valley Europas, aber da es eben in Europa liege, dauere es etwas länger als im heiligen Land des Fortschritts, Kalifornien. Das Beste an der Firma von Kahn und Partner sei die Lage: fünf Minuten vom Marienplatz, zweite Etage in einem edlen klassizistischen Palais, und das mit Lift. Das habe ihn sofort begeistert. Das ist das Milieu, dem Leute ihr Geld gern anvertrauen. Das Durchschnittsalter der Kunden der Firma von Kahn und Partner sei sechsundsechzig Jahre. Aus dieser Zahl ergebe sich sein Handlungsbedarf. Wenn das die Herren von Kahn und Brauch auch so sähen, tant mieux. Die angestammte Kundschaft könne von Herrn von Kahn und Herrn Brauch mit den täglichen Anlegergebeten begleitet werden bis zum sanften Ende. Die Zukunft sei sein.
Immerhin stand die Branche da noch unter dem Schock des Zusammenbruchs der Technologie-Werte. Die Neue-Markt-Pleite hatte Wirkungen hinterlassen wie ein Taifun. Da kommt dieser große Junge und will nichts als Spezialisierung auf Neue Technologie. Und er und Brauch lassen ihn machen.
Dieser Dr. Dirk würde in dem verwüsteten Marktgelände der Neuen Technologie die Zukunft säen. Da war von 1997 bis 2000 der Aktienmarkt in die Höhe geschossen wie noch nie zuvor, dann drei Jahre Talfahrt und Schluß. Karl von Kahn nahm Zahlen nie ganz ernst, weder positive noch negative. Es gibt einen Branchen-Masochismus, wie es das Gegenteil gibt. Die mehr als 150 Milliarden, die da vertan worden sind, verstand er als Melodie. Für ihn eine Glücksmelodie. Er hatte diesen Neuen Markt verschlafen. In seiner wöchentlichen Kunden-Post hatte er nachträglich den Vorteil des aktiven Verschlafens von trügerischen Möglichkeiten als eine Eigenschaft erklärt, die er fast ein Talent nennen möchte. Er jedenfalls wisse sein verläßliches Zuspätkommen zu schätzen. Er kannte seine Kunden, er wußte, sie würden diese seine Eigenschaft auch zu schätzen wissen.
Daß Karl und Herr Brauch diesen großen Schlanken, aber kein bißchen Dürren fast zu bereitwillig aufgenommen hatten, war zwischen Brauch und Karl öfter besprochen worden. Karl mußte Herrn Brauch nachher doch noch erklären, warum er einfach zugestimmt hatte. Sein Beispiel: Professor Schertenleib. Dem habe er einmal geraten, für fast eine Million amerikanische Staatspapiere zu kaufen, zu einer Zeit, als die zehnjährigen US-Staatsanleihen als hoffnungslos galten. Er selber habe sich mit der gleichen Summe eingebracht. Und vierzehn Monate später waren fünfzehn Prozent Gewinn zu buchen. Man muß einfach ein Gefühl haben, das sich von Tatsachen nähren kann. Damals waren drei Viertel aller US-Staatsanleihen in japanischer Hand, die Amerikaner hätten ihre Defizite ohne die japanischen Anleihekäufe nicht finanzieren können, die Japaner wiederum verhinderten durch ihre Anleihekäufe, daß die Amerikaner ihre Auto-Exporte in die USA stören konnten, die Japaner würden also den Wert dieser Papiere pflegen. Und das taten sie.
Nicht aussprechen konnte er hier im Konferenzraum, daß es sein Gefühl war, das auf Dr. Dirk vertraute. Nichts als ein Gefühl. Eine Art Liebe. Wenn der Ikarus stürzte und er mit ihm, dann stürzten sie eben miteinander. Diese Vorstellung konnte er fast genießen. Allerdings war er, jedesmal wenn er Dr. Dirk erlebte, auch einem Anfall von Trauer ausgesetzt. Warum hat Fanny keinem Dr. Dirk begegnen können! Nirgends wird die brutale Gewalt des Zufalls so spürbar wie im Schicksal junger Frauen. Wem begegnen sie! Und wem nicht! Seine einzige Tochter war Tom begegnet. Im Tierasyl. Damit hört der Zufall schon auf. Er wollte einen Hund aus dem Asyl erlösen, sie wollte einen Hund erlösen. Dann erlösten sie zusammen einen Hund. Daß es den Tieren in der Großstadt schlechtgeht, brachte sie zusammen. Die wiedergewonnene deutsche Einheit riß beide in den Osten. Schließlich wurde daraus eine Hühnerfarm in Ribnitz-Damgarten. Ihre Hühner hatten es offenbar besser als alle Hühner der Welt. Entsprechend klein der Gewinn. Aber Tom war auch noch ehrgeizig. Er züchtete. Er wollte blinde Hühner züchten, die ertrügen damit ihr Stallschicksal konfliktlos, und das würde ihre Legequalität steigern und ihr Fleisch wäre weicher. Ins Unvorstellbare steigern, so zitierte Fanny ihren Mann, der, wenn Fanny es wieder einmal von Mecklenburg-Vorpommern nach München schaffte, nie mitkam. Er konnte seine Hühner nicht verlassen. Und das Zwillingspärchen Tanja und Sonja auch nicht. Daß die Zwillinge hatten, obwohl Karl weder in seiner noch in Henriettes Verwandtschaft je etwas von Zwillingen gehört hatte, kam ihm vor wie ein Zuchterfolg. Er wollte hoffen, Fanny sei, was man glücklich nennt. Dafür gab es einen drastischen Beweis. Tom war ein Stotterer. Und Fanny stotterte inzwischen auch. Und zwar glaubhaft. Oder sollte man sagen: authentisch. Karl wagte nie zu fragen, ob ihr das selber bewußt sei. Stottern ist nichts Schlimmes. Und für einen Hühnerfarmer in Ribnitz-Damgarten schon gar nicht. Warum soll ein Ehepaar nicht gemeinsam stottern? Karl beschloß, froh zu sein, daß Mecklenburg-Vorpommern eine Art Abgelegenheit verbürgte. Das Paar war dort wahrscheinlich keiner hämischen Neugier ausgesetzt.
Aber diesen gelenkigen, schön kontrollierten, wörterreichen und vor Zukunftsfreude geradezu leuchtenden Dr. Schlaks erleben zu müssen hieß Fanny bedauern. Das war ungerecht, anmaßend, borniert und sonst noch was. Aber es war so. Er hatte die Gründung der Hühnerfarm damals finanziert. Weitere Zuwendungen hatten sich beide verbeten. Er hatte für das Zwillingspärchen eine langfristige Anlage konstruiert. Ihre Ausbildung war, wenn nicht alles stürzte, gesichert. Aber … Schluß.
Hör deinem Dr. Dirk-Schlaks zu.
Das Einnehmende an Dr. Dirks Vortrag war eine Gegenständlichkeit, die von Meinungen unabhängig zu sein schien. Und seine Stimme ging, wenn er von seiner Sache sprach, um zwei Töne nach oben, und zwar, ohne daß eine Anstrengung oder Absicht spürbar wurde. Karl konnte nicht verhindern, daß er an Arien dachte. Rezitativ und Arie eigentlich. Aber der Text war vollkommen konkret. Ein Experte im Fraunhofer-Institut hat ihn hellhörig gemacht. In Kürze werden endlich die elektronischen Impulse im Computer durch optische Signalgeber abgelöst werden. Bei den optischen Systemen auf Laser-Basis gibt es keine Wärmeabstrahlung mehr wie in den elektronischen Verbindungen auf Kupferbasis. Pro Computer werden zehn Laser à 3 bis 5 Euro gebraucht. Pro Jahr müssen 200 Millionen Computer damit ausgerüstet werden.
Dr. Dirk dankte für das Zuhören, dankte Frau Lenneweit für das Protokollieren und wandte sich an Herrn Brauch. Herr Bedenkenträger, sagte er, was kann ich für Sie tun.
Karl war froh, daß Berthold Brauch Bedenkenträger genannt wurde. Das war eine ideale Rollenverteilung. Dr. Dirk stürmisch, Berthold Brauch bremsend. Als auf alle Bedenken reagiert worden war, hob Karl die Sitzung auf. Er ging als erster. Bei Frau Lenneweit, die sich längst benahm, als gehöre die Firma ihr, bedankte er sich ausführlich. Immer wenn er ihre Hand halte, sagte er, wünsche er sich, Wilhelm der Zweite zu sein. Der sei ein geradezu süchtiger Damenhandküsser gewesen, das wisse er aus Familienüberlieferungen. Nicht nur die Hände der Damen, sondern die Unterarme bis zu den Ellbogen habe Seine Majestät abgeküßt. Es sei den Damen nicht erlaubt gewesen, ohne Handschuhe zu erscheinen. Wenn die Stimmung dann soweit war, gab Seine Majestät bekannt, die Damen dürften jetzt aus ihren Handschuhen schlüpfen. Das müsse die Sekunde der reinen Pornographie gewesen sein. Auch überliefert sei, daß Wilhelm, solange Zeugen gegenwärtig waren, nur die Hände geküßt habe. War kein Zeuge da, küßte er eben drauflos, also bis zum Ellbogen hinauf. Er selber hatte ja, das dürfe man dabei nicht vergessen, eine unterentwickelte Linke. Also, liebe Frau Lenneweit, da hier noch Zeugen sind, beherrsche ich mich und küsse Ihnen nichts als die Hand. Und empfehle mich.
Und empfahl sich.
Auf dem Weg zum Odeonsplatz dachte er an Erewein. Was er über Wilhelm II. gesagt hatte, wußte er von Erewein. Erewein war die Golddeckung, er war die Papierwährung. Er kursierte. Erewein war der Wert. Die Expertin Helen sah Erewein gezeichnet vom Stigma der Erfolglosigkeit. In Dr. Dirks Doktorarbeit hatte Karl gelesen, daß Nathan Rothschild sich weigerte, sich mit einem unglücklichen Manne einzulassen, und klinge, was der zu sagen habe, auch noch so klug. Nie mache ich Geschäfte mit solchen. Sie können sich selbst nicht helfen, wie sollen sie da mir helfen? Armer Erewein.
Wie die U 6 anschob, tat ihm jedesmal gut. Besonders wenn er einen Sitzplatz gefunden hatte. Er empfand den Schub mit seinem ganzen Körper. Das hatte man ihm wohl angesehen. Er hörte einen jungen Riesen sagen: Da hockt so ’n alter Knacker, der meint … Der Rest wurde zugedeckt vom Gelächter der Gruppe.
Natürlich mußte er, wenn er dann an der halbhohen Ziegelmauer des Nordfriedhofs entlangging, hinüberschauen ins Gräberwirrwarr. Nie morgens, aber abends auf dem Heimweg blieb er manchmal stehen bei dem Engel dicht an der Mauer, bei den großen grünspanigen Flügeln, die man nur von hinten sah, weil der Engel über die Gräber hinschaute, den Lebenden den Rücken zuwandte. Er sollte sich allmählich eine Grabstelle suchen. Die Vorstellung, bei Helens Vater und Mutter in Tutzing unterzukommen, war ihm unbehaglich. Aber jedesmal, wenn er über diese Mauer schaute, dachte er, daß er hier nicht beerdigt sein möchte. Die Grabsteine standen zu eng nebeneinander. Überfüllt wie die U-Bahn, dieser Friedhof.
Bis er in die Osterwaldstraße einbog, ging er immer, als sei er in Eile. Dann aber ließ er sich protegieren von den Bäumen. Die Bäume gaben alles, was man an sie hindachte, reichlich zurück. Zinsen, dachte er und ging noch langsamer.
Karl war noch nicht in der Halle, da rief sie für ihre Stimmausstattung zu laut: Ich bin wieder zitiert worden! Helen war stolz darauf, daß sie keine starke, sondern eine hauchige Stimme hatte. Wenn sie rief, ließ sie hören, daß sie sich überanstrengte.
Also rief er zurück: Gratuliere.
Und sie: Du errätst nicht, von wem.
Und er: Aber du wirst es mir sagen.
Jetzt war er schon im Wohnzimmer, das das Wohnzimmer ihrer Eltern war, weil Karl, als er in Helens Haus zog, seine Möbel und sein Haus Henriette überlassen hatte. Helen hatte es geschafft, ihren Mann ohne weiteres loszuwerden. Der hatte nichts mitgebracht, also hatte er auch nichts mitzunehmen. Er mußte einfach gehen. Helen konnte so etwas so deutlich darstellen, daß finanzielle oder andere rechtliche Probleme gar nicht mehr erwähnt werden konnten. Es ging, bitte, um Wesentlicheres, nämlich um das Leben. In diesem Fall um das durch den Ehemann verhinderte Leben. Das darzustellen war Helens Beruf. Die Ehe. Die wissenschaftliche Erforschung der Ehe und die Anwendung des Erforschten in der Eheberatung. Sie hatte zwei Bücher veröffentlicht, und eines, das auf ihre Doktorarbeit zurückging, wurde immer noch verkauft, es hieß jetzt: Leidenschaft, Liebe oder Leistung. Zitiert wurde immer aus der Doktorarbeit, die hatte geheißen: Zur Aufklärung der Zweierbeziehung als psychosomatisches Unikum.
Von wem sie zitiert worden war, wollte sie nicht sagen. Und warum nicht? Es sei so ernüchternd, Karls Gesicht anzusehen, daß er den Namen des berühmten Heidelberger Professors, der sie zitiere, noch nie gehört habe.
Immerhin ein Heidelberger Professor, sagte Karl.
Sie legte ihren Kopf wieder seitlich an seine Brust, und er rieb sein Kinn in ihren blonden Haaren.
Er ließ sein Kinn kräftiger reiben und zog sie heftiger an sich. Auch das ein Ritual. Aber eins, das Gefühle meldete und sie dadurch verstärkte. Helen würde nie alt oder unscheinbar oder häßlich aussehen. Nur die sich selbst inszenierenden, auffallen müssenden Schönen werden durch das Alter häßlich. Nicht aber die Gutaussehenden, die keinesfalls Unscheinbaren. Sie sind auf ihre persönliche Weise schön. Solchen Frauen sieht man ihre Seele an oder ihren Geist oder ihre Entschlossenheit. Das ist unzerstörbar. Helens Gesicht, das waren ihre vergißmeinnichtblaßblauen Augen und ihr Mund, dessen Lippen sich zart, aber deutlich nach vorne schoben und fast in einer Spitze endeten. Das Auffallende: Zuletzt überkreuzten sich Ober- und Unterlippe ein bißchen. Diese Lippenstellung sorgte dafür, daß Helen ein bißchen lispelte. Bei Helen war alles ein bißchen. Karl nannte sie manchmal Miss Einbißchen. Aber gar nicht ein bißchen waren ihre Augenwimpern. Die waren gesichtbeherrschend. Die Nase kam nicht in Frage zwischen diesen Wimpern. Die waren wohl im Erbprogramm in viel größeren Gesichtern tätig gewesen. Für Helens Maße waren diese blonden Jalousien zu groß. So erinnerte Helen immer auch an die Illustration in einem Kinderbuch. Dank dieser Wimpern war Helens Lispeln eine willkommene Ergänzung. Sie lispele, wenn es in ihr, hatte sie selber einmal gesagt, stürmte und drängte.
Und was sie heute wieder anhatte! Ein gerade noch eierschalenfarbenes Twinset, mit Röschenbordüren grell besetzt. Märchenhaft, dachte Karl. Entweder führte Helen ihr mattes Blond in der Kleidung fort, oder — und das öfter — sie setzte dem gleißenden Wimpernblond und dem matteren Haarblond meergrüne Blusen entgegen, oder sie nahm das Vergißmeinnichtblaßblau der Augen auf in einem massiv blauen Hemd.
Helen fragte nicht, wie es Diego gehe. Immerhin hatte sie am Vormittag Gundis Anruf mitgekriegt. Er fragte noch, ob Erewein angerufen habe.
Nein, hat er nicht. Helen mußte mitteilen, was sie heute, wieviel sie heute geschafft hat. Der erfolgreiche Patient ist fast fertig, es fehlt nur noch der apotheotische Triumph des Patienten, wenn er auf alles, was man bis jetzt von ihm erfahren hat, zurückblickt und begreift, daß seine Leidensgeschichte seine wirkliche, seine einzige Erfolgsgeschichte ist. Der zweite Teil ist die Anwendung all dessen, was der Patient im ersten Teil gelernt hat. Statt Gejammer Selbstgenuß, immer und überall. Lauter Belege des erlernten Sichselbstgenießenkönnens.
Auch wenn sie sich so steigerte, blieb sie zart, das heißt, sie wurde weder laut noch heftig, sie lispelte ein bißchen intensiver, sie zeigte, daß sie entzückt war von dem, was sie heute erarbeitet hatte. Sie konnte selber bewundern, was ihr heute wieder gelungen war. So bewundern, als sei nicht sie es, die das und das formuliert und damit zur Welt gebracht hatte, sondern als habe das, was sie heute beschrieben habe, immer schon existiert und sie sei eben die, die auf das aufmerksam mache, was immer schon dagewesen und aus Unachtsamkeit jeder Art bisher nicht wahrgenommen worden sei. Aber trotz des Eifers, von dem sie dann mitgerissen wurde, paßte sie scharf auf, ob ihr Zuhörer ihr wirklich zuhörte oder ob er bloß dasaß und insgeheim an etwas dachte, was er nicht vergessen durfte. Dann stand sie auf, kam zu ihm herüber, setzte sich auf seinen Schoß, legte ihren Kopf an ihn und sagte, daß sie ohne ihn weder zu einem Satz noch zu einem Gedanken fähig wäre, doch, das ist bewiesen, bewiesen in zwölf Jahren Pseudo-Ehe mit dem Schlösserverwalter und Ludwig-Zwo-Fan Dr. Sebastian Miquel.
Wenn sie so weit war, konnte sie an ihm liegen und leise weinen. Vor Glück, sagte sie. Wenn er sich nicht für alles, was in ihr vorgehe, so interessierte, könnte sie sich selber auch nicht dafür interessieren, und alles in ihr zerfiele sozusagen unbemerkt.
Er sagte dann: Was sie jetzt sage, sei die reine Phantasie ihrerseits, eine Blütenproduktion zur Ausschmückung der Neuen WG — sie hatten ihre Ehe von Anfang an die Neue WG genannt — , aber ihn mache dieses ihr Geschenk um so glücklicher, je deutlicher er spüre, daß er es nicht verdiene, daß es also ein reines Geschenk sei, das reine Geschenk schlechthin.
Du bist ein begabter Schatz, sagte sie und löste sich von ihm.
Jetzt aber hinauf, sagte er.
Ich entlasse dich, sagte sie.
Ich danke dir, sagte er. Daß sie jetzt nicht sagte: Ich dir! Das war eben Helen, das Kind, dem man zuhören mußte.
Es war von Anfang an so, daß sie immer mehr zu erzählen hatte als er. Sie mußte erzählen, was sie in der Praxis erlebt hatte. Sie kolportierte nichts, aber das Problemprofil ihrer Fälle mußte sie jemandem vorführen. Der erste Mann war dazu überhaupt nicht bereit gewesen, weil er seinerseits loswerden mußte, was ihm in der Schlösserverwaltung untergekommen war. Das hat nach zwölfjährigem Toleranzverschleiß zu dem natürlichsten Ehe-Ende geführt, das man sich vorstellen kann. Sebastian, dem Schlösserverwalter, mußte es allerdings noch denkgerecht vorgesagt werden. Die Ehe, die nie begonnen hat, sagte Helen über diese Ehe. Sebastian hatte sich Helens mit einer solchen Vehemenz bemächtigt, daß sie glaubte, Zeugin eines Naturschauspiels zu sein. Das ließ sie, neugierig, wißbegierig und lernfroh, wie sie war, einfach mit sich geschehen. Dr. Sebastian Miquel war einsneunzig groß und wog zweihundert Pfund. Er hatte sie Lenerl genannt.
Karl hatte begriffen, daß Helen Zuhörerschaft nicht vorgetäuscht werden durfte. Ihr Vater muß ein unersättlicher Helen-Zuhörer gewesen sein. Ihren Vater übertreffen, das sollte, wer sie wollte, wenigstens versuchen. Karl war ein Zuhörer. Zuhören war sein Beruf. Die Damen und Herren, die zu ihm kamen, reden lassen, bis sich das, was man ihnen zu raten hatte, aus dem Gehörten von selbst ergab. Die Leute beraten sich, wenn man ihnen Gelegenheit gibt, selbst.
Karl warf sich vor, daß er Helen zu wenig schätze. Sie erforschte das Leben. Er machte Geld. Geld war für sie etwas, das man hatte. Wollte man ihr etwas über Geld sagen, mußte man sich bildlich ausdrücken. Das hatte er eine Zeit lang versucht, sie hatte seine Sprachbilder kritisiert, er hatte zuzugeben, daß seine Sprachbilder für Geld mangelhaft seien. Er hatte dann aufgehört, sich ihr verständlich machen zu wollen. Wenn er empfand, wirklich empfand, daß er Helen zu wenig schätze, sagte er sich, daß sie ihn auch zu wenig schätze. Er mußte ihr immer demonstrieren, wie sehr er sich für alles interessiere, was sie tue und denke und schreibe. Was er dachte und tat, ließ sie gelten, mit Nachsicht. Sie warf es ihm gewiß nicht vor, daß er ein Geldmensch war, aber mehr als freundliches Geltenlassen durfte er nicht erwarten. Während sie doch die Eheheilerin selbst war. Und das war sie. Die Ehe sei, das hatte sie durch Studium und Praxis erkannt, das eigentlich Kranke dieser Zeit und dieser Gesellschaft. Wenn sie nicht jahrelang das Ehemartyrium unter den zweihundert Pfunden des Dr. Miquel erlitten hätte, wäre sie nicht geworden, was sie jetzt ist. Eheheilerin aus Leidenschaft. Hätte sie sofort ein Eheglück erlebt wie mit Karl, hätte sie Ehe-Therapie für einen luxuriösen Zeitvertreib halten müssen. Sie kämpft ja um jede mürbgewordene, brüchige oder schon kaputte Ehe, als hinge immer das Schicksal der Menschheit ab von diesem einzigen Fall. Und er vermehrt Geld. Das ist kulturell abgemacht: Für Wirtschaftliches muß man sich nicht interessieren. Das gehört zu keinem Kanon.
Droben in seinem Arbeitszimmer drückte er automatisch den Hebel, daß der Stuhl kippte, und sah zu den Lärchenbrettern seiner schrägen Decke hinauf. Er hatte, bevor er in Helens Haus einzog, dem Dachboden dieses Arbeitszimmer abgerungen. Von Giebel zu Giebel reichte das Zimmer unter der Dachschräge. Und die Lärchenbretter, die anfangs hell gewesen waren, wurden von Jahr zu Jahr honigfarbener. Wenn er so saß, sah er den Brettern direkt in ihre dunklen Astaugen und hatte das Gefühl, die sähen auch ihn an. Es ist nicht so schlimm, wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann. Wieviel Vermeidenswertes wird da vermieden. Wenn man mit einem Menschen zusammenlebt, mit dem man eigentlich sprechen können sollte, zum Beispiel weil man mit ihm verheiratet ist, dann wird das Nichtsprechenkönnen sogar etwas Feines. Eine Art Auszeichnung. Und wenn du mit dem mit dir Verheirateten nicht sprechen kannst, kannst du mit niemandem sprechen. Und das will schon etwas heißen.
Karl lachte.
Das war auch etwas, allein zu lachen. Lachen, dazu gehören doch noch andere. Als er sich jetzt allein lachend erlebte, erlebte er sich überhaupt zum ersten Mal lachend. Wenn er mit anderen in Gesellschaft lachte, erlebte er immer nur die anderen lachend, nie sich selbst.
Und lachte noch einmal. Aber das zweite Lachen gelang nicht mehr. Er würde nie mehr allein lachen.
Er rief Erewein an. Keine Antwort. So etwas wie einen Anrufbeantworter gab es nicht bei Erewein.
Karl war froh, wenn er nicht aus sich herausgehen mußte. Sein früh verstorbener Vater, Rechtsanwalt, aber im Allianz-Dienst, soll ein in sich gekehrter Mann gewesen sein. Wegen einer Zugpanne hatte er in Erfurt aussteigen müssen, hatte den Dom aufgesucht, hatte eine junge Frau im Dom herumgehen sehen, war hinter ihr stehengeblieben, als sie vor dem Wolfram stand, als wolle sie überhaupt nicht mehr weiter. Erst durch sie hatte er die barlachhaft schöne Figur aus dem Mittelalter entdeckt. Sie ging dann so weiter, daß an ein Ansprechen nicht zu denken war.
Er hatte ihr nachfahren müssen, nämlich nach Dresden.
Angesprochen hat er sie erst, als sie in Dresden aus der Theatertür, in die sie hineingegangen war, wieder herauskam. Beschwingt herauskam, weil sie die Choreographen-Stelle gekriegt hatte. Wenn sie nicht mehr herausgekommen wäre oder nicht mehr zu dieser Tür herausgekommen oder zwar zu dieser Tür herausgekommen, aber fröhlich plaudernd mit einem sizilianischen Tänzer oder einem norwegischen Korrepetitor, dann hätte er, der Sechsundzwanzigjährige, die Einunddreißigjährige nicht ansprechen und dann auch nicht heiraten können.
Diese Überlieferung konnte Karl brauchen. Bruder Erewein, der für die Familiengeschichte zuständig war, sagte, wenn er wieder etwas ausgegraben hatte: Das sind wir. Daß er zwischen sich und Karl keinen nennenswerten Unterschied sah, war Karl nur recht. Karl hatte Erewein gegenüber ein schlechtes Gewissen. Obwohl Erewein doch offenbar genauso lebte, wie er mit Frau Lotte leben wollte, glaubte Karl, Erewein lebe andauernd neben sich her. Bei ihm selber kam das gelegentlich auch vor. Vor jedem Treffen mit Erewein und Frau Lotte bat er Helen erneut, sie möge aufpassen und ihm nachher sagen, was ihr zu diesem Paar einfalle. Das sei schließlich ihr Beruf. Helen mußte nachher jedesmal zugeben, daß ihr das Erewein-Lotte-Paar verschlossen blieb. Sie wollte nicht vorschnell Trivialitäten produzieren. Ihre wiederkehrende Aussage war: Dieses Paar ist unzugänglich. Die haben einen Kokon gesponnen, an dem gleitet Neugier ab. Sie bleiben auf das freundlichste zugewandt, aber sie bestimmen in jedem Augenblick die Entfernung. Er vermutete, daß Erewein und er einander näher waren, als es der Unterschied ihrer Lebensumstände glauben machte. Seine Ungeduld und Ereweins scheinbar unerschöpfbare Geduld waren im Innersten eine Stimmung. Was es Erewein kostete, diese Gleichmütigkeit zu zeigen, konnte nur Karl ahnen. Das war doch dasselbe bei ihm und Diego. Er, der Geschehenlasser, Diego, der Macher. So mochte es aussehen, so mochte es die ganze Welt beurteilen. Er aber nicht. Das war seine Betriebsseite, seine Berufsmethode, vielleicht auch noch seine Gesellschaftsmaske. Es kostete jedes Jahr noch mehr Selbstbeherrschung, seine andauernd ausbrechen wollende Ungeduld zu zügeln, zu verbergen. Er hatte doch keine Zeit mehr. Und er hatte nicht erreicht, was er hatte erreichen wollen. Weder Henriette noch Helen hatte er je sagen können, wieviel er von sich erwartete. Oder auch nur: Was er von sich erwartete. Er konnte den Anspruch, den er an sich stellte, nicht ermäßigen. Das hieße zugeben, er habe sein Leben verfehlt. Das Stigma der Erfolglosigkeit, würde Helen dann sagen und ihm dieses Sätzchen wie ein Etikett aufs Wesen kleben. Soweit durfte er es nicht kommen lassen. Es mußte immer noch alles möglich sein. Sonst war das Leben nicht auszuhalten. Was dann? Antwort verweigert, Euer Ehren.
Hatte denn Diego erreicht, was er wollte? In den letzten Monologen, zu denen Karl noch geladen gewesen war, hat Diego seinen Traum vom Hôtel Lambert nicht mehr erwähnt. Jeder Diego-Freund wußte, daß es zu Diegos Träumen gehört hatte, eines Tages das Hôtel Lambert in Paris zu kaufen. Diego wußte genau, wem es schon gehört hatte und wem es zur Zeit gehörte. Vielleicht hatte es Guy de Rothschild an den Baron Redé verkauft. Diego war, geschäftlich gesehen, offenbar am Ersticken und ist trotzdem noch nach Paris gefahren und hat bei der Sotheby’s-Auktion im Hôtel Lambert mitgesteigert, hat diesen Einhorn-Tisch gekauft, der verrückter als schön ist. So aggressiv, daß schön oder nicht schön keine Rolle mehr spielt. Darum hat Diego ihn, obwohl er es sich nicht mehr leisten konnte, gekauft. Das war Diego. Er hat noch in keinem seiner Nachtmonologe ausgesprochen, daß der Traum, das Hôtel Lambert zu kaufen, ausgeträumt sei. Gerade unerfüllbare Träume haben eine Kraft. Und Menschen wie Lambert sind nicht bereit, einem unerfüllbaren Traum seine Unerfüllbarkeit zuzugestehen. Einmal hatte er Karl sogar gebeten zu überlegen, wie man den Kauf des Hôtel Lambert finanzieren könnte. Ein europäisches Kulturzentrum wollte er gründen. Einen Altbundespräsidenten, der dafür eine feine Trommel rühre, finde man immer. Immerhin hatte die Freundin seines Geistesheiligen, Émilie de Châtelet, das Hôtel Lambert einmal gekauft, Voltaire wollte es einrichten, wollte einziehen mit ihr, hatte aber gerade bei einer Spekulation durch einen Monsieur Michel viel Geld verloren, zog also nicht hinein in sein Lambert. Das Lambert blieb Sehnsucht.
Daß Diego sich vorstellen konnte, sein Feund Karl werde den Kauf des Hôtel Lambert finanzieren, hatte Karl elektrisiert. So nah war Karl dem Hausheiligen Diegos noch nie gekommen. Sofort hatte er sich mit Voltaire beschäftigt. Weniger mit dessen Schriften als mit seinen Geschäften. Prozessierfreudig und geizig, las er, sei Voltaire gewesen. Karl wußte, wie Geistesmenschen, die von Geschäften nichts verstehen, über die Geldwelt dachten und mehr noch schrieben als dachten. Voltaire hat offenbar gern und oft Geld verliehen, am liebsten an hochstehende, vornehme Herren. Und gerade als er das Hôtel Lambert einrichten will, verliert er durch diesen Monsieur Michel dreißigtausend Livres, das wären heute einige Millionen. Voltaire reagierte dichterisch auf diesen gewaltigen Verlust. Das gefiel Karl. Er lernte die Zeilen auswendig, und als er das nächste Mal bei Diego war, zitierte er fröhlich drauflos:
Michel au nom de l’Éternel
Mit jadis le diable en déroute
Mais après cette banqueroute
Que le Diable emporte Michel.
Diego staunte. Und umarmte seinen Freund. Das war ein Augenblick der Freundschaft!
Also wurde Karl übermütig und sagte gleich auch noch seine Übersetzung des Voltaire-Gedichtes auf:
Michel, ganz eins mit seinem Gott,
Hat den Teufel Gott befohlen
Aber jetzt nach diesem Bankrott
Soll ihn der Teufel holen.
Diego dämpfte seine Begeisterung. Klar, Französisch konnte nur er. Das stimmte ja auch. Diego konnte alles besser. Es war seine Art, besser zu sein als andere. Diego hatte von Kindheit an anstrengungslos gelernt, sozusagen von selbst. Einmal hat er gesagt: Mit sechzehn hatte ich die Welt intus. Es gab keine europäische Sprache, die er nicht wenigstens verstand. Die wichtigeren beherrschte er ganz und gar. Das war zumindest der Eindruck, den er, ohne es zu beabsichtigen, machte.
Karl war in den Jahren, in denen man, wie es heißt, unbegrenzt lernfähig ist, für alles zu begeistern gewesen, bloß nicht fürs Lernen. Von der Schule geflohen, mit einer Banklehre bestraft, als Betriebswirt ein Jahr Sparkassenakademie in Bonn, erste Freiheitsahnungen, allmähliche Dämmerung einer Ichtendenz. Von Diego entdeckt. Karl war eine Verehrungsbegabung. Und Diego brauchte Verehrung. Ihm wurde keine Verehrung zuviel. Karl glaubte, daß Diego keine Distanz zu sich selber kenne. Diego war immer ganz ausgefüllt von sich selbst. Karl hatte das Gefühl, er fülle sich selbst nie ganz aus. Er war nicht ohne Selbstgefühl. Aber dieses Selbstgefühl enthielt auch eine deutliche Portion Leere. Die er zu füllen hatte. Mit sich. Diesen Einhorn-Tisch mit dem Frauentorso hätte Karl, wäre er in eine vergleichbare Finanzlage geraten, nicht gekauft. Diego hatte Gundi nicht sagen können, was er dafür bezahlt hatte, das hieß, der Tisch war zu teuer.
Karl saß und überließ sich sich selbst. Immer angeschaut von den vielen dunklen Augen der honigfarbenen Bretter.
Aber Leonie von Beulwitzen wollte nicht, daß er sich sich selbst überließ. Eigentlich war ihr Telefontermin erst übermorgen, da allerdings — das war ihr Privileg — zu jeder Tageszeit. Kennengelernt im Bonsai-Neuschwanstein, immer wieder dort getroffen, ihr damaliger Mann, ein von der ganzen Welt bewunderter Chirurg, war Diegos Kunde, nach der Scheidung von Leonie kam der nicht mehr, Leonie kam immer noch, mußte mit den Gewinnen aus drei Scheidungen etwas anfangen, Karl von Kahn bot sich als Finanzdienstleister an, entdeckte in ihr, die laut Amadeus nur eine Scheidungsgewinnlerin sein sollte, ein Anleger-Talent, das entwickelte er, sie selber ließ wissen, sie habe sich dreimal präventiv scheiden lassen. Leonie von Beulwitzen konnte anrufen zu jeder Zeit. Karl ließ sich die Freude über Leonies Lerneifer nicht trüben. Bei Leonie von Beulwitzen kam es darauf an, daß sie alles so erlebte, als entscheide sie selber und allein. Sie hatte inzwischen das Handelsblatt abonniert und rief an, wenn sie etwas, das ihr wichtig vorkam, nicht verstand. Oder sie schrieb. Schrieb auf einem Briefpapier, auf dem zu lesen war: MA Leonie von Beulwitzen. Magister of Art war sie also. Und das schrieb sie vor den Namen. Sie hatte eine hohe Stimme, redete einem mit ihrem selbstbewußten Schwäbisch gern in die Sätze hinein. Diesmal wollte sie wissen, ob Karl von Kahn gelesen habe, was heute über Joseph Granville und von Joseph Granville in der Zeitung stand.
Natürlich wußte er das.
Und, was sagt er dazu?
Gnädige Frau, sagt er dazu, Sie sind vor allem lebendig …
Schmeichler, rief sie dazwischen …
… aber Mister Granville ist ein Maschinist.
Der gibt seit Jahrzehnten den Granville Market Letter heraus, rief sie, die Daten speichert er seit fünfzig Jahren, und jetzt schreibt er: Wir stehen kurz vor einem Zusammenbruch, der Markt schreit nach einem Ausstieg! Den Zusammenbruch der Technologiewerte hat Mister Granville genau vorausgesagt, überhaupt alle Katastrophen der letzten dreißig Jahre, ich habe den ganzen Tag auf Ihren Anruf gewartet, Herr Kahn. Ich fühle mich bedroht. Persönlich bedroht. Ich habe Angst, verstehen Sie.
Eine halbe Stunde brauchte er, um Frau von Beulwitzen aus ihrer Angst zurückzurufen.
Und er mußte sich ein bißchen gelassener geben, als er war.
Der Markt ist ein Nervensystem, hatte er ihr erklärt. Wenn in Australien ein deutscher Wirtschaftsprofessor etwas Schlimmes über Brasilien sagt, passiert dort etwas Halbschlimmes. Aber Mister Granville kann nicht für alle sprechen, auch wenn seine Maschinen mehr Daten speichern als alle andere Maschinen. Jeder hat nur eine Perspektive, aber jeder hat eine. Karl von Kahn kennt jede Anlage, die er entwickelt hat. Droht einer von ihm konstruierten Anlage eine Gefahr, fühlt er sich alarmiert. Die Depots, die er zusammengebaut hat, werden, da er ja andauernd mit ihnen umgeht, Teil seines Nervensystems. Er ist darauf spezialisiert, die Depots durch solche Niedergangsmeteorologie heil durchzusteuern. Jeder Zusammenbruch produziert auch eine Gegenbewegung. Die muß man spüren, dann erkennen, auf die muß man setzen. Mehr als einmal hatte Karl die ihm anvertrauten Depots nicht nur bewahrt, er hat sie gewinnreich aus solchen Katastrophenszenarien hervorgehen lassen. Die Katastrophenpanik ergreift immer die Großen. Wer sich konkret um das Kleine kümmern kann, der steuert aus der Nische heraus den rettenden Kurs.
Das war sein Text, sein Gesang. Dann konnte er sich einen Augenblick lang nicht beherrschen und sagte leichthin: Sollten die klassischen Werte stürzen, die Gnädige Frau hat sich ja bei Precious Woods zukunftssicher untergebracht.
Oh, sagte sie, Sie lassen mich beobachten.
Und er: München ist ein Dorf.
Zürich offenbar auch, sagte sie. Und wollte doch noch wissen, ob er über die Edelholz-Aktien, auch wenn sie sie nicht über ihn gekauft habe, ein Urteil abgeben könne.
Diese Aktien ordern, sagte er, heiße jung sein, also habe die gnädige Frau bestens entschieden.
Schmeichler, sagte sie.
Und er: Die Erträge werden mit den Bäumen wachsen. Und da das von Zürich aus überwacht wird, kann nichts schiefgehen. Was mir daran nicht gefällt, ist, daß nicht ich Ihnen diesen Bio-Wert erworben habe. Aber nach der Pleite mit dem Windpark-Fonds hatte ich vorerst nicht mehr den Mut …
Sie haben mich gewarnt, rief sie, Sie trifft keine Schuld.
Ich hätte Sie nicht nur warnen dürfen, ich hätte es Ihnen verbieten müssen.
Mir kann man nichts verbieten, sagte sie.
Sie sind überhaupt eine Autonome, sagte er. Eine alterslose Autonome sind Sie.
Es reicht, sagte sie. Und fügte hinzu: Für heute.
Karl hatte einen Augenblick lang das Gefühl, er könne, wenn es gefährlich wurde, nichts mehr falsch machen. Vielleicht war er ein Instinkt-Tier. Wenn er den Wank bestieg, seinen Hausberg, dann erlebte er seit Jahrzehnten unvermindert, daß seine Kraft, sobald es aufwärts ging, zunahm und um so mehr zunahm, je steiler es aufwärts ging. Bergauf beschleunigen, das war seine Energie-Formel. Manchmal hatte er dann fast das Gefühl, er schwebe.
Nachträglich lief das Gespräch noch einmal ab in ihm. War sie irritiert gewesen? Hatte sie in seinem letzten Satz Ironie gespürt? Daß er Precious Woods überhaupt erwähnt hatte, war richtig. Das bewies Informiertheit. Aber der letzte Satz! Bei Menschen, die sich älter fühlen, als sie sind, ist nichts so falsch wie die Erwähnung des Alters. Egal, wie man’s dreht und wendet. Er dachte an das Gedicht, das Frau von Beulwitzen verfaßt und auf Bütten herumgeschickt hatte.
Ich bin sechzig. Glaubt es nicht.
Schaut mir auf die Hände, nicht ins Gesicht.
Seid nicht freundlicher, als ihr wart.
Euch zu brauchen bleib mir erspart.
Diesen Ton liebte er bei der Magistra von Beulwitzen. Von wegen keep your age a secret. Eine Woche später wieder ein Büttenblatt, das Gedicht darauf teilt mit, die Verfasserin habe noch nicht aufgehört, sechzig zu sein.
Sechzig, ein Wort wie ein Grat.
Wie soll man sich nicht daran schneiden?
Ein Wort, das nur Ecken und Schärfen hat,
und wir können’s nicht meiden.
Dann kauft sie Aktien für zwei- oder dreihunderttausend Euro, die zehn Jahre lang nichts bringen. Das ist der reine Trotz. Er liebte diesen Trotz. Die Käufer solcher Edel-Aktien wollen nicht vernünftig handeln, sondern ethisch. Sie wollen der Erde etwas Gutes tun. Vor hundert Jahren hätten sie das Geld der Heidenmission gespendet.
Daß er glaubte, überlegen zu müssen, ob er sich einer Kundin gegenüber falsch ausgedrückt habe! Also war jenes Gefühl, er könne, wenn es gefährlich wurde, nichts falsch machen, war seine ganze Instinkt-Chose nichts als Romantik plus Ideologie. Ihm konnte in jeder Sekunde, ob gefährlich oder harmlos, immer alles passieren! Er hatte immer genausoviel Mut, wie er Angst hatte. Sein Mut war ein Angstprodukt. Dieser Kampf zwischen seiner Angst und seinem Mut wurde nie entschieden. Es gab keine gleichmütige Stimmung. Mit jedem Jahr wuchs die Gefahr, mit jedem Jahr nahm die Angst zu, er könne am Ende sein. Aber so, wie die Angst zunahm, nahm doch auch sein Mut zu! Das mußte er doch hoffen. Oder nicht?
Schluß jetzt, Herr Kahn, Sie verstoßen gegen die Regel. Die heißt: Untergehen liegt dir nicht.
Daß man zur eigenen Art, sein Geschäft zu betreiben, Philosophie sagte, hatte Karl früh gelernt. Und gern. Die Angelsachsen hatten das Wort von dem Schwulst befreit, der es im Deutschen zu einer Fakultätsverschrobenheit hat werden lassen. Karl hatte seine Geschäfts-Philosophie mit jedem Jahr genauer kennengelernt. Er war nie dem Irrglauben verfallen, er sei es, der diese Philosophie erdacht, entworfen oder erfunden habe. Allenfalls gefunden hatte er sie. Entdeckt. In sich selbst. Es wurde dann immer mehr seine Philosophie. Mit allem, was er fühlen und denken konnte, war es jetzt seine Philosophie. Während die sogenannten Philosophen und ihre Anhänger mit Eifer, oft unnachsichtigem Eifer, ihre Philosophie für die beste oder einzig richtige hielten und sie deshalb verbreiten wollten, am liebsten auf der ganzen Welt, konnte Karl seine Philosophie keinem zweiten Menschen gestehen. Ja, gestehen! Das war ihm deutlich genug geworden: Seine Philosophie war nicht anerkennenswert. Noch nicht. Die hatte er, so gut es ging, zu verbergen. Er hatte erfahren müssen, daß anderen die Tätigkeit, mit der sie Geld verdienen, wichtiger ist als das Geld, das sie damit verdienen. Ihm war von Anfang an das Geld wichtiger als die Tätigkeit, mit der er es verdiente. Es gibt offenbar Berufe, die denen, die sie ausüben, gar nicht erlauben, daß sie sie ausüben, um Geld zu verdienen. Die Berufe haben offenbar einen Wert in sich. Das Geld, das damit verdient wird, muß eher verschwiegen als vorgezeigt werden. Das war Karl von Kahns Sache nicht. Politikern, Künstlern, Dichtern, Philosophen muß es ums Weltverbessern gehen. Karl von Kahn bedurfte keiner Umwege dieser Art. Daß einzelne sich berufen fühlten, die Welt zu verbessern, kam ihm vor wie eine Anmaßung. Er lebte von dem Gefühl, die Welt verbessere sich von selbst. Durch das, was alle von selbst taten. Daß das keine Philosophie war, wußte er auch. Die Diskussionen der Kulturfraktion bei Diego kreisten um nichts als Weltverbesserung. Am Anfang hatte er bei diesen Abenden und Nächten nie gewußt, ob er so tun mußte, als kenne er das, worüber hier geredet wurde, oder ob das etwas war, was man nicht kennen mußte. Wenn das Wort Diskurs fiel, hatte er Pause. Wegen Gegenstandsverdünnung. Sein Eindruck: Bei einem Diskurs muß immer das herauskommen, was hineingesteckt wurde. Keine Rendite. Fand er. Beweisen konnte er das nicht. Allmählich hatte er gelernt, daß es genügte, hier Publikum zu sein.
Erstaunlich blieb, daß auch Gundi, die im Fernsehen eine Stunde lang Wortströme produzierte, im Sängersaal eher stumm dabeisaß. Förmlich zu Diegos Füßen. Zu seiner Dekoration. Sie gab die Bescheidene, das war deutlich, weil jeder wußte, im Fernsehen dreht sie auf.
Für Karl von Kahn genügte es, Geld zu vermehren, das war seine Kunst, seine Berufung. Wie dem Maler die Welt zu einem Andrang von Motiven wird, so boten sich ihm, wo er hinkam, Möglichkeiten an, Geld zu vermehren. Er hatte allerdings gelernt, seine Freude am Geldvermehren keinen Menschen merken zu lassen, oder wenn das, weil die Freude ihn einmal hinriß, nicht gelang, sie wenigstens zu bemänteln. Als er eine Zeit lang ganz aufgeregt in neueste Schiffe investierte und das auch seinen Kunden empfahl, sagte er, wenn er vor Helen seine Erregung nicht mehr verbergen konnte, er sorge dafür, daß die mürben alten Schiffe, die da und dort auseinanderbrachen und die Küsten ganzer Länder mit ihren tödlichen Ladungen verseuchten, von den Meeren verschwänden. Seine Geschäfts-Philosophie, wenn er sie rücksichtslos bekennen würde, wäre für Helen unverständlich oder, falls sie sie verstünde, unannehmbar.
Wirklich hilflos fühlte sich Karl von Kahn gegenüber Politikern, die als gebildet galten oder als christlich oder als gebildet und christlich und die durchs Land zogen und solche Sprüche predigten: Das Kapital hat den Menschen zu dienen, nicht der Mensch dem Kapital. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter nicht nur auf den Lippen, sondern, und das fand er schlimmer, im Herzen. Wenn schon drauflos formuliert werden soll, dann doch lieber mit Reverend Ike: Das Beste, was ihr für die Armen tun könnt, ist, nicht dazuzugehören.
Er hätte durch kluge Operation immer soviel verdienen können, wie er brauchte. Aber er brauchte Kunden. Seine Kunden hatte er erobert, wie man Kunden eben erobern muß.
Zum Beispiel Professor Schertenleib. Karl hatte vor sich auf der Autobahn Richtung Garmisch, als er unterwegs war nach Farchant zur wöchentlichen Wank-Wanderung, einen schweren Mercedes gesehen, dem links vorne etwas herunterhing und auf die Straße schlug. Karl sah’s, als er überholte. Also signalisierte er dem Mercedes, daß er auf die Haltespur einbiegen sollte. Der tat’s. Der Fahrer stellte sich vor, Professor Schertenleib. Er habe schon die ganze Zeit bemerkt, daß etwas nicht stimme, ein Geräusch, ein schlagendes. Was tun? ADAC anrufen? Er könne, beinamputiert, wie er nun einmal sei, nicht unter sein Auto kriechen. Karl kniete hin, sah, daß ein Kunststoffboden sich gelöst hatte und wahrscheinlich jetzt gleich ganz losgerissen worden wäre. Das hätte für das linke Vorderrad unangenehm werden können. Er holte aus seinem Auto das Schweizer Armeemesser, das er immer dabei hat, und schnitt, was herunterhing, weg. Also kein ADAC, sondern einfach morgen zur Werkstatt, die ersetzen das. Der Professor wollte dankbar sein. Das entspreche überhaupt nicht seinen Erfahrungen, daß sich jemand, der es nicht nötig hat, um einen kümmert. So wurde geredet und ein Treffen abgemacht. Gräfelfing. Karl sagte, da komme er jeden Monat zweimal hin. Er lernte einen Herrn kennen, der von sich sagte, das Leben habe ihn so mißtrauisch gemacht, wie er jetzt sei. Er wurde Karls vertrauensvoller Kunde. Wie Karl den Professor als Kunden gewonnen hatte, das erinnerte ihn an den großen Vorgänger Mayer Amschel Rothschild, mit dem durfte er sich in einer einzigen Erfahrung vergleichen: In allem schlummert die Gelegenheit. Und will geweckt werden. In Dr. Dirks Doktorarbeit hatte er gelesen, der Stammvater der Rothschilds sei zum ersten Mal beim hessischen Erbprinzen Wilhelm vorgelassen worden, als der gerade dabei war, eine Schachpartie gegen den General von Estorff zu verlieren. Mayer Amschel riet, den Springer zu opfern und so im übernächsten Zug unabwehrbar Schach zu bieten. Der Erbprinz tat’s und siegte. Mayer Amschel wurde sein Bankier, der ihm die Wechsel, die er für verkaufte Landeskinder aus London bezog, zu Geld machte.
Karls Lieblingsfigur in Herzigs Arbeit aber wurde Nathan Mayer Rothschild. Der zog, als er achtundzwanzig war und kein Wort Englisch konnte, nach London und ersann abenteuerliche Finanzaktionen, um die englischen Truppen und die Truppen Preußens, Österreichs und Rußlands auf allen Kriegsschauplätzen mit englischem Geld zu versorgen. Ohne ihn hätten Wellington und Blücher ihre Schlachten nicht schlagen können. Ohne die englischen Subsidien waren die kontinentalen Großmächte bankrott. Und Nathan sorgte dafür, daß die auf der Insel beschlossenen Subsidien auf dem Kontinent Kaufkraft wurden. Kriegsentscheidende Kaufkraft. Dr. Dirk stellte ihn als den eigentlichen Besieger Napoleons dar. Und zitierte, was Marschall Trivulzio zu Ludwig XII. gesagt hat: Zum Kriegführen seien dreierlei Dinge nötig — Geld, Geld, Geld! Und auch noch Rabelais: Les nerfs des batailles sont les pécunes.
Es war einigermaßen erleuchtend für Karl von Kahn, der Geschichte bloß als politische Geschichte kennengelernt hatte, jetzt zu erfahren, daß Napoleon als Einnahmequellen nur Steuern und Eroberung kannte. Kredit war für ihn etwas Abstraktes oder eine Ideologie der Nationalökonomen. Dr. Dirk zitierte aus dem Moniteur, daß Napoleon, der ein Verächter des Dampfschiffs war, den Bankrott Englands vorausgesagt hat. Das war die Folge seiner Abneigung gegen die Geldwirtschaft. Er soll die Finanzleute behandelt haben wie ein orientalischer Despot. Der internationale Zahlungsverkehr, den Nathan Rothschild zum Transfer der englischen Subsidien an die Allianz gegen Napoleon erfand, blieb für den Fiskalisten und Eroberer unsolide Machenschaft. Aber noch mehr als diese historische Unterrichtung erregte Karl, was Nathan Rothschild über den Gelderwerb gesagt hat. Daß der zum Lord erhobene Geschäftsmann sich nicht einreden ließ, er habe bei seinen Operationen etwas anderes als den Gelderwerb im Sinn gehabt! Und selbst dabei sei ihm der Erwerb wichtiger gewesen als das Geld selbst. Für diese Radikalisierung der Genauigkeit war Karl dankbar. Nicht auf das Geld oder die mit Geld zu beschaffenden Dinge sei es ihm angekommen, sondern auf den Erwerb. Das allerdings war schon eine Interpretation, allerdings die eines englischen Zeitgenossen. Einmal wurde Nathan selber zitiert. Als einer seiner Tischgäste, sozusagen kulturell besorgt, sagte, er hoffe, Nathans Kinder werden nicht so sehr auf den Gelderwerb versessen sein, daß sie darüber anderes und Wichtigeres versäumen, das werde Mr. Rothschild zweifellos nicht wollen, sagte der: Das will ich wohl. Ich will, daß sie sich mit Leib und Seele und Herz und Verstand und mit allen Kräften dem Geschäft hingeben. Jemand hat ihn an der Börse so gesehen: In seiner Erscheinung ist eine Starrheit und Gespanntheit, daß man glauben könnte, es stünde jemand hinter ihm, der ihn kneift, und er fürchtete sich oder schämte sich, es einzugestehen. So wird man schließlich die führende Adresse für die Emission großer Staatsanleihen.
Karl wäre froh gewesen, wenn er jedem hätte sagen können, daß es ihm auf nichts als den Gelderwerb ankomme. Aber schon dieses Wort aus dem 19. Jahrhundert: Gelderwerb! Er möchte sagen: Auf das Geldvermehren kommt es mir an. Und warum möchte er das sagen? Weil er, wenn er einen anderen Grund nennt für seine zunehmende, ausufernde, ihn sozusagen hetzende Rastlosigkeit, das Gefühl hat, er habe gelogen. Nun läge ihm doch nichts daran, gelogen zu haben. Lüge ist der Aufstrich aufs tägliche Brot, ohne den das Brot ungenießbar bliebe. Lüge ist kein moralisches, sondern ein linguistisches Problem. Ihn quält es, sein Arbeits-, sein Handlungs-, sein Lebensmotiv mit falschen Wörtern bezeichnen zu müssen. Er weiß nicht, warum er unter diesem Verfälschungszwang leidet. Er stellt es sich als eine Erlösung vor, alles so zu sagen, wie es ist.
Mein Gott, wie lächerlich war es, als er Helen kennengelernt hatte, ihr, sich selbst und allen anderen zu beweisen, daß er sie nicht heiraten wollte, weil sie wohlhabend war. Geld zu erheiraten war ganz genau nicht seine Leidenschaft, sondern Geld zu verdienen. Er hatte Helen auf dem Tennisplatz entdeckt. Karl war damals Mitglied bei drei Clubs, am Cosima-Park, am Herzog-Park und in Grünwald bei Grün-Gold. Er wollte sehen, wie sich sein Schläger TOP FIT in den Münchner Clubs einführte. Daß es in der Stadt kein Sportgeschäft gab, das seinen Schläger nicht anbot, dafür hatte er gesorgt. Er hatte dieser Tennisspielerin zuschauen müssen, weil sie wirklich jeden Ball erreichte, auch wenn sie dann nicht viel damit anfangen konnte. Und daß sie jeden Ball erreichte, konnte nicht nur an ihrer Beweglichkeit liegen. Sie sah vorher, was die Gegnerin oder der Gegner jetzt gleich machen würde. Diese Fähigkeit, vor dem Ball dort zu sein, wo er auftreffen würde, und doch nicht so früh sich dahin zu bewegen, daß der Gegner seine Schlagrichtung noch ändern konnte, diese Fähigkeit, den Gegner zu erfassen, zu taxieren und ihm dann noch zuvorzukommen, hatte Karl von Kahn begeistert. Das war doch genau das, was er praktizierte. Ein erfahrungsgeschulter Instinkt, der dich unwillkürlich handeln läßt. Aus jeder Gefahrensituation strömt dir eine Handlungsanweisung entgegen. Dich lähmt keine Angst. Du hast Angst. Natürlich hast du Angst. Immer gehabt. Angst ist der Grund für alles. Angst macht dich empfindlich. Deine Angst blüht auf in dir, hat einen Duft, den spürst du als Droge.
Als er versucht hatte, Helen vorzutragen, ihr Psycho-Tennis sei mit seinem Instinkt-Geschäft verwandt, hatte sie gesagt, sie höre das, verstehe den Wortsinn, aber wie das wirklich vor sich gehe, sein Instinkt-Geschäft, das bleibe ihr fremd. Das einzige, was sie verstehe: Sie wolle gewinnen auf dem Platz, und er wolle auch gewinnen.
Sie ging ja auch, als er sie zum ersten Mal wahrnahm, als Siegerin vom Platz. Sie hatte mehr gegeben, als sie hatte. Das sah man. Ein rot verschwitztes Gesicht unter den kein bißchen zerzausten blonden Haaren. Auch ihr Gesicht war kein bißchen deformiert von der Anstrengung. Wahrscheinlich weil die alles beherrschenden, glanzvoll ausschwingenden Wimpern von Anstrengung nichts wußten.
Er saß so, daß sie auf dem Weg zur Dusche und in die Garderobe dicht an ihm vorbei mußte. Er sah sie an. Sein Mund ging auf. Wie willenlos. Es kam ihm offenbar darauf an, ihr zu demonstrieren, daß er sie jetzt anschaute, als gehe sie als Königin des Augenblicks im bunten Scheinwerferlicht langsam eine sehr bequeme Treppe herab, um sich einem nach Tausenden zählenden Publikum gnädigst zu nähern und sich dabei mit jedem Schritt noch unverschämter zu öffnen; bei jedem Schritt ein bißchen einknickend und so zu lächeln, als wisse sie genau, wie unwiderstehlich sie sei, und das finde sie ganz lustig. So etwa hat er ihr nachher ihre Wirkung auf ihn dargeboten. Beabsichtigt hatte er das nicht. Gespielt hatte er nichts. Er hatte sich nur nicht gewehrt. Er hatte sich einfach gehenlassen, wie es sonst nicht seine Art war. Und sie hätte blind sein müssen, wenn sie das nicht gesehen hätte. Als sie geduscht und angezogen zurückkam, sagte er so, daß es rundum gehört werden konnte: Könnten Sie mich auch einmal so besiegen?
Und sie: Ich spiele nicht gern gegen Männer.
Und er: Fünfzehn zu null.
Und sie: Sagen wir deuce.
Und er: Gehen wir.
Er war selber überrascht über die Festigkeit seines Tons. Eine Art Bestimmtheit, die er nicht verantworten mußte. Er tat, was er mußte. Er spürte, daß er ausdrückte, er könne nichts dafür. Es wurde nichts mehr gesprochen, bis sie bei ihrem Auto angekommen waren. Bevor sie einstieg, stellte er sich noch vor. Und sie sagte, sie sei Helen. Mehr sagte sie nicht. Diese Frau war verheiratet. Daß sie nur ihren Vornamen gesagt hatte, war eine Gefühlsleistung.
Er kam heim, Henriette übte. Flöte. Auf Henriette wirkte das Flötenspiel wie auf ihn das Geldvermehren. Sie drehte sich weg von ihren Noten, breitete ihre Arme aus und umarmte ihn, ohne die Flöte aus der Hand zu geben. Sie war selig. Wieder einmal. Telemann. Sie hätte am liebsten mit ihm getanzt. Ob sie ihm vorspielen dürfe. Von ihr aus könnte das Vereinskonzert morgen stattfinden. Weißt du … Und sie spielte. Wie sie gespielt hatte, als er einem Kunden zuliebe ein Vereinskonzert besuchen mußte und so saß, daß die Flötistin direkt vor ihm spielte. Ein Kleid, in grellen Farben, die Muster organisch, nicht geometrisch. Aber was ihn dieser Flötistin unterworfen hatte, war, daß ihre Oberschenkel durch eine schräg über das Kleid herablaufende Schärpe praktisch zusammengebunden waren. Die Flötistin bog sich in der Musik wie ein Baum im Sturm. Sie musizierte gegen die Oberschenkelfesselung. Dann die Veränderung ihres Mundes, sobald sie nicht spielte. Sofort schwoll ihr gerade noch übermäßig disziplinierter Mund in eine vorher nicht vorstellbare Fülle. Und wenn sie wieder dran war, nahm der Mund sich wieder unheimlich zusammen. Karl von Kahn war verloren. Henriette war Krankengymnastin in einer Naturheilpraxis, und sie war Flötistin. Er heiratete ein Märchen. Ihr war alles eins. Fanny wurde vom Geburtsaugenblick an aufgenommen in ihr wirklichkeitsresistentes Märchen. Die Scheidung ließ sie sich gefallen wie eine Fremdsprache. Ihre Zurückhaltung, ihr Staunen, ihr wirkliches oder gespieltes Unverständnis für das, was passierte, war, fand er, schlimmer als der Ehekrieg, den Helen und der Schlösserverwalter gegeneinander führten. Sieben schreckliche Monate lang. Elf Monate später heirateten Helen und er. Beide hatten am Hochzeitstag noch Scheidungswunden. Sie streichelte die seinen, er leckte die ihren. Das taten sie an der ligurischen Küste, im Wasser und auf dem Land und Tag und Nacht. Zwölf Jahre war das jetzt her, daß der Achtundfünfzigjährige die neununddreißigjährige Psycho-Tennisspielerin entdeckt hatte, die jeden Ball kriegte. Er hatte zum Glück die entscheidenden Sätze gesprochen, die ausschlaggebenden Anträge gestellt, bevor er wußte, daß sie wohlhabend war. Von Haus aus. Darauf hatte ihr Mann, der Schlösserverwalter, keinen Anspruch. Helens Vater hatte alles getan, gierigen Schwiegersöhnen zu wehren. Jetzt war der Vater tot. Und Helen, die jetzt, hatte sie gesagt, zum ersten Mal verliebt sei, ließ es nicht zu, daß ihre Konten, seine und ihre, nichts voneinander wüßten. Ihr Schlösserverwalter weinte eine Zeit lang. Dann fluchte er. Dann knirschte er mit den Zähnen und bewies ihr und sich selbst, daß sie nie seiner würdig gewesen sei. Helen sagte danach, in den Stunden dieser Auseinandersetzung habe sie immer daran gedacht, daß der Schlösserverwalter es trotz ihres Sträubens, trotz der erwiesenen physischen Unmöglichkeit nicht aufgegeben hatte, den Geschlechtsverkehr in ihrem Arsch praktizieren zu wollen. So drastisch redete die eher zarte, feine, flinke, nur ein bißchen lispelnde und eher reiche als nur wohlhabende Helen damals daher. Karl war begeistert. Er machte das sofort zum Thema. Seine Henriette hätte, wenn sie so etwas mitzuteilen gehabt hätte, sie hatte natürlich überhaupt nichts dergleichen mitzuteilen, einen Flor von Umschreibungen gehäkelt, nur um dieses Wort in einem solchen Zusammenhang nicht in den Mund nehmen zu müssen. Und er selber — aber das verschwieg er — konnte das schlichte Wort Helen gegenüber auch nicht gleich in den Mund nehmen. Daran war nun wirklich seine Mutter schuld, die, wenn sich die Erwähnung dieser Körpergegend gar nicht vermeiden ließ, immer vom Hintern oder gar vom Anus gesprochen hatte. Arsch kam nur im Fluch vor. Leck mich am Arsch. Wer das sagte, bewies durch die Erregung, mit der er den Fluch herausschleuderte, daß er momentan nicht zurechnungsfähig war.
Es gibt zwar keine Zufälle, aber es gibt Fügungen, deren Notwendigkeit sich schwer erschließt. Auf einem Club-Ball, den Karl versäumte, hatte Helen bei einer Tombola ein Gewinnlos gezogen. Der Gewinn, gestiftet von der Bayerischen Seen- und Schlösserverwaltung, war: Sie durfte wählen, welches Schloß sie, geführt von einem bedeutenden Kopf der Bayerischen Schlösserverwaltung, besuchen wollte. Sie wählte Neuschwanstein. Wurde geführt von Herrn Dr. Sebastian Miquel. Das war’s dann schon. Dem Schlösserverwalter gefiel das von Helens Vater erfundene und geleitete Sanatorium, in dem Leute, die nicht krank waren, noch gesünder werden konnten. Wielands Ruh genannt. Slogan: Wer es kennt, gehört dazu. Und findet hin. Irgendwo in Tutzing am Hang. Daß Helen sich nicht im geringsten aufgelegt fühlte, ihres Vaters Nachfolgerin zu werden, hatte dem Vater einen endgültigen Schmerz zugefügt. Bis zum Schluß hatte er gehofft, sie besinne sich. Auch der Schlösserverwalter wollte sie als Direktorin und wahrscheinlich sich als Direktor sehen. Lieber übernehme sie gleich ein Altersheim, als sich über die Wehwehchen dieser Klientel zu beugen. Der Vater war gestorben. Helen verkaufte. Verkaufte aber nicht alles. Das eingewachsene Gartenhäuschen samt kleinem Garten drumrum behielt sie. In einem Brennerei genannten Hinterraum des Häuschens zaubert sie jedes Jahr zweimal, nämlich am 21. Dezember und am 21. Juni, ein Getränk. Wielands Trunk. Helens Vater hat das Rezept von einer Reise aus Georgien mitgebracht, vielleicht auch noch weiterentwickelt. 10 Liter Rémy Martin, 3 Kilogramm Knoblauch, wieviel Pfund Wacholderbeeren, wieviel Pfund Honig, wieviel Pfund Kümmel, der deckt den Knoblauchgeruch zu, und was sonst noch reinkam, vor allem, wie der Knoblauch in der von Dr. Wieland selbst konstruierten Presse gepreßt und wie das Ganze dann gesotten und abgefüllt wurde, das blieb Helens gehütetes Vatererbe. Aber dem Sanatoriums-Besitzer sind jährlich mindestens 30 Flaschen Wielands Trunk vertraglich zugesagt. Für gutes Geld. Das Getränk ist, schon weil es nie genug davon gibt, heftig gefragt. Und daß Karl und Helen von allen Krankheiten gemieden werden, führen sie auf die zwei Gläschen Trunk zurück, die Helen jeden Morgen zum Frühstück einschenkt.
Zu einem Geburtstag hatte Helen ihm Guy de Rothschilds von ihm selbst verfaßte Lebensbeschreibung geschenkt. Sie hatte das Buch nicht gelesen, der Titel genügte ihr: Geld ist nicht alles. Wenn man’s hat, sagte Karl. Wenn du das Echo einer Trivialität wirst, bist du nichts als diese Trivialität. Aber dann sagte er noch: Wenn man’s hat und vermehrt es nicht, wird es weniger. Also gibt es jenseits aller sonstigen Begründungen einen Zwang zur Geldvermehrung. Es sei denn, man sei einverstanden, systematisch beraubt zu werden.
Jedesmal wenn Helen Erewein vom Stigma der Erfolglosigkeit gezeichnet sah, fühlte sich Karl mitgemeint, wagte aber nicht, das zu gestehen. Seine Erfolglosigkeit war eine andere als die Ereweins. Helen hatte dem groben Fortpflanzungswillen des Schlösserverwalters tapfer widerstanden. Zuerst hatte die von Thea Bauridel betreute Doktorarbeit die Dauerausrede geliefert. Dann der Aufbau der Eheberatungspraxis in der Ottostraße. Nachträglich war sie nicht mehr sicher, ob das nur Ausreden waren. Sie wollte den Titel und sie wollte die Praxis. Und sie wollte ein Kind. Diesen Wunsch schob sie auf. Dem Schlösserverwalter gegenüber sei es ihr leichtgefallen, diesen Wunsch aufzuschieben. Als sie mit Karl von Kahn im Hotel am Schloßgarten in Stuttgart im Zimmer 712 die Türe verschlossen hatte, drehte sie sich um und sagte: Ich will ein Kind von dir. Und er sagte: Ich fühle mich geehrt. Wann immer Helen diesen Satz sagte, er führte ins Bett. Entweder gleich oder sobald es eben ging. Aber — und das war sein Stigma der Erfolglosigkeit — Helen wurde nicht schwanger. Helen konnte ihren Satz nie ohne Zuversicht sagen, und Karl nahm diesen Zuversichtston jedesmal auf. Die Formel drückte inzwischen aus: Ich liebe dich. Und das ohne jedes trotzdem. Und Karls Antwortsatz signalisierte: Das grenzt an Glück.
Jetzt mußte er aufstehen und sich unter der Dachschräge auf den Racket Chair setzen. Den hat Helge Vestergaard Jensen 1955 geschaffen, und Diego hatte ihn aus Maastricht mitgebracht. Ein Sitzkunstwerk, das die zwei vorderen Beine in sanftester Rundung an der Sitzfläche vorbeiführt und oben den genauso sanften Bogen der Rückenlehne ergibt. Die Fläche der Lehne ist eine Tennisschlägerbespannung, und in die ist ein überdimensionaler weißer Kreis eingearbeitet: der Ball. Das war eine Diego-Reliquie, erinnernd an die Zeit der Zugewandtheit. Karl nahm fast feierlich Platz auf dem Racket Chair.
Er ließ jetzt zu, was jetzt zu denken war. Diego hat den Trautmann Titan-Verkauf abgemacht gehabt, bevor er Karl verständigt hat. Er hat gewußt, Karl wird unterschreiben. Das Krankenhaus-Theater war Gundis Idee. Diego hat sicher gesagt: Nötig ist es nicht, Karl unterschreibt, aber wenn du meinst, bitte. Und daß es Gundis Einfall war, zeigte ihr Satz und ist darüber so erschrocken, daß er sofort gekotzt hat.
Diego hatte in den seltener werdenden Telefongesprächen der letzten Jahre die allgemeine Kaufunlust nicht verschwiegen oder beschönigt, aber es gab keine Erwähnung eines Krisendetails, das er nicht mit einem Fortissimo des Gegentons beantwortet hätte. Alles, was der Branche gefährlich werden konnte, produzierte in ihm Einfälle, Handlungslust und eine Art Risikoleidenschaft. Der Umzug von der Theresienstraße in die Brienner, das war Diegos Antwort auf die Kaufträgheit des Publikums und aller Kuratoren. Da war er kein bißchen anders als Karl. Angstblüte heißt’s bei den Bäumen. Du kannst dem Erfolg nicht gestatten, daß er sich von dir verabschiedet. Du kannst nämlich nicht leben ohne den Erfolg. Das sich einzugestehen heißt, den Erfolg zu zwingen, bei dir zu bleiben. Würde der Erfolg sich von dir trennen, er käme nie mehr zurück. Er fände dich nicht mehr. Weil es dich nicht mehr gäbe. Ohne dich wäre dein Erfolg verwaist.
Diegos Bilder und Porzellane waren so schön, wie sie gewesen waren, als die Sammler in Maastricht, Paris, Basel und Stuttgart sich noch um seinen Stand gedrängt hatten. Den Journalisten war Diego Trautmann, dessen immer pralle Sätze sie vorher so gern zitiert hatten, kaum noch erwähnenswert. Jetzt meldeten sie aus Maastricht lieber den Verkauf eines Rosenkranzes aus Schlangenwirbeln, gekauft vom Diözesan-Museum Köln. Sie konnten eben melden, was sie wollten. Sie hatten das Sagen.
Die Banken dürften ihm den Rest gegeben haben.
Es herrschte Glattstellung vor. Die ohnehin erloschene Freundschaft mußte verkauft werden für neunzehn Millionen. Karl hätte die Firma, wenn Diego ihn gefragt hätte, Adidas angeboten, weil Adidas gerade Salomon einverleibt hatte, da hätten die Titan-Schläger besser in die Palette gepaßt. Ach, laß es. Diego hat getan, was längst fällig war. Gundi hat ihren Mann ganz zur kulturellen Fraktion bekehrt, da gehört er hin. Und Karl gehört genau da nicht hin. Das kann er schmerzfrei konstatieren. Nichts schlimmer als Rücksichten, die keinen Grund als Rücksichten haben. Wie verzweifelt muß Diego gewesen sein, daß er so handeln konnte. So kann man nur einen Freund hereinlegen. Das ist die Kehrseite der Freundschaft, jedem anderen gegenüber wäre das Betrug. Diego weiß, daß Karl ihn nicht belangen wird. Er weiß, daß Karl weiß, daß Diego so nicht ohne Not gehandelt hat. Diego hat auch in diesen Krisenzeiten nie aufgehört, Karl zu beschenken. Die Freundschaft wurde zwar immer seltener praktiziert, aber Diego blieb der Geber, der er war, sobald er sich zum Antiquitäten-König gemacht hatte. Er ließ keinen Tag aus auf dem Geschenkkalender und ließ zu jedem Tag Erstaunliches und Überraschendes überbringen. Er kam nicht mehr selber. Aber die demonstrierte Aufmerksamkeit ließ er sich von keinem Ruin verbieten. Jetzt also ein Schlußstrich, der alles beendete. Danach ist nichts mehr möglich. Es waren einmal zwei Freunde, die wußten vor lauter Einhelligkeit nicht, wie sehr sie befreundet waren. Sie dachten keine Sekunde lang daran, ihre Freundschaft zu messen, zu wägen, zu vergleichen. Sie waren maßlos befreundet. Sie mußten ihre Freundschaft nie bezeichnen. Ihre Freundschaft war das Selbstverständliche. Das Fraglose. Karl schubste dem Freund die Firma hin. Da, nimm du sie, du kannst das besser als ich: das eigene Produkt verkaufen. Dann die atemraubenden Reisejahre. Angeblich nur, um auf den Tennisplätzen der Welt die Spieler zu finden für Trautmann Titan. In Wirklichkeit mußten die Freunde reisen, weil sie reisend viel mehr Berührungen erlebten, als wenn der eine in Schwabing und der andere in der Menterschwaige saß. Dann aber auf einmal des einen Freundes Mehralserfolg, der bewirkt, wogegen keiner gefeit ist, die Levitation. Jeff Stamp kaufte das Château Marmoutier-le-Rideau am Cher, dem lieblichen Nebenfluß der Loire. Chenonceau ist berühmter, aber Marmoutier-le-Rideau ist intimer — schöner — raffinierter. Die Adelsfamilie Fénelon, die das Schloß 1745 bis 50 erbauen ließ und dann immer dort wohnte, war am Ende. Finanziell. Und Jeff Stamp war nach zweiundzwanzig Jahren Kinderserienstar-Leben auch am Ende. Aber nicht finanziell. Er zählte zu Hollywoods Reichsten. Zum Glück hatte die Adelsfamilie das Inventar schon extra verkauft. Jeff Stamp kaufte ein leeres Schloß. Das war Diegos Stunde. Er hatte aus Santa Monica gehört, von seiner Erzkundin Luciana Herris, die er von Warhol zu Klee entwickelt hatte, gehört von dem Schloßkauf des Kinderserienstars, war rechtzeitig zur Stelle und befreite den eher depressiven als nur melancholischen Kinderserienstar von allen Geschmackssorgen. Ein halbes Jahr residierte Diego in Orléans und kaufte, was Schloß Marmoutier-le-Rideau brauchte, um einen verdrossenen Kinderserienstar noch einmal aufzuhellen. Das gelang. Jeff Stamp konnte jetzt an der Tafel tafeln, an der einmal Heinrich III. seine Gelage zelebriert hatte, deren Reiz darin bestand, daß er nur als anständig bekannte Damen einlud, die er nötigte, an seiner Tafel halbnackt zu erscheinen. Von den Tellern, von denen gegessen wurde, hat Madame de Staël Brochet rôti gegessen. Die Porzellandose, aus der Zigarren angeboten wurden, hatte Balzac in seinen Händen gehabt. Ein Bett, in dem Madame de Pompadour geschlafen hatte. Zurück in Paris, hatte sie gesagt, in diesem Bett habe sie die zweitschönste Nacht ihres Lebens verbracht. Diego konnte die Briefstelle dieser Rühmung zitieren.
Diego hatte Jeff Stamp nicht nur eine Einrichtung beschafft, sondern eine Geschichte aus tausend Geschichten. Das habe Jeff am meisten gefreut. Jetzt konnte er, wenn seine Freunde aus Kalifornien kamen, die Rolle des Hausherrn geben.
Als Diego Marmoutier-le-Rideau hinter sich hatte, konnte er monatelang nicht vor zwei Uhr, drei Uhr nachts aufhören, wenn er seine Freunde und Bekannten und Leute, die seine Kunden werden konnten, nur mit dem Nötigsten versorgen wollte. Er hatte aus dem Schlösserparadies Frankreichs etwas mitgebracht, was er Jeff Stamp wohl für keinen Preis überlassen hätte. Aus dem Schloß Sully eine Chaiselongue, auf der Voltaire gesessen hatte, wenn er die Abendgesellschaft unterhielt. Von dieser Chaiselongue aus hatte Voltaire dem Salon den Satz gesagt, für dessen Unsterblichkeit die Aufmerksamkeit der fabelhaften Zuhörerschaft sorgte: Le superflu, chose très nécessaire. Und Diego konnte aufzählen, welche Comtes und Comtessen um den gefährlichen Philosophen herumsaßen und hörten, daß das Überflüssige das wirklich Notwendige ist.
Was Diego sagte, war Sache, Tatsache, historisch beglaubigt. Diego verkündete nicht, er erzählte. Und das unter einem Zwang, der es nicht duldete, daß ihm ein anderer dazwischenfahren, ihm gar das Wort rauben wollte. Solche Unterbrecher, die es ja gab, tun so, als gehöre das, was sie jetzt sagen wollen, zu dem, was Diego gerade erzählte. Diego musterte solche Unterbrecher mit einem kindlichen Staunen. Und Karl staunte seinerseits jedesmal, wie Diego dann das Wort wieder eroberte. Als einmal, wieder einmal, über Alt-Schwabing gesprochen wurde und Diego gerade dabei war, die Geschichte eines Hauses mit weißen Gitterbalkons und säulenumstandenem Portal zu erzählen, eines Hauses, in dem angeblich zuerst der SA-Stabschef Ernst Röhm und dann Werner Heisenberg gewohnt habe, flocht Marcus Luzius Babenberg, weil er schon zu lange hatte zuhören müssen, ein, daß ja keine zehn Minuten weiter, nämlich in der Agnesstraße 54, Oswald Spengler den Untergang des Abendlandes geschrieben habe. Und Diego, so herablassend, wie nur der Überlegene sein kann: Ja, bloß hat, was Spengler da schrieb, noch nicht geheißen Der Untergang des Abendlandes, sondern Umriß einer Morphologie der Weltgeschichte. Und leiser, wie zu sich selbst, fügte er noch hinzu: Genauigkeit darf schon sein. Aber als Diego eine halbe Stunde später Leonie von Beulwitzen ermuntern wollte, zuzugreifen und dazu sagte, er sage es ihr mit Karl Kraus, der in den Letzten Tagen der Menschheit zu Ganghofer sage: Jetzt essen Sie doch, Ganghofer! da konnte, da mußte Babenberg verbessern, das sage nicht Karl Kraus, sondern Karl Kraus lasse das Wilhelm II. sagen!
Manchmal erholte sich Diego nicht mehr von solchen Einsprüchen. Er zog sich dann früher zurück und immer mit der Formel: Morgen wieder lustig. Daß sich mit dieser Formel Jérôme, der eine Zeit lang König von Westphalen war, von seinen Gelagen verabschiedet hatte, war inzwischen allen bekannt. Erstaunlich war, daß die Dikussionen auch nach Diegos Weggang durchaus weiterbranden konnten. Gundi blieb bis zu jedem Schluß. Da blieb man doch einfach auch. Gundis Attraktivität nahm, wenn Diego einmal weg war, geradezu spürbar zu. Wahrscheinlich bildete sich jeder ein bißchen ein, sie bleibe seinetwegen. Karl von Kahn gestand sich diese Einbildung auf dem Heimweg jedesmal.
Wenn die Abende normal verliefen, also bis tief in die Nächte hinein, rief Diego gewöhnlich am Vormittag an und sagte: Es ist leider wieder spät geworden, und leider habe ich wieder ein bißchen viel geredet. Dann mußte Karl sagen, daß es kein bißchen zuviel gewesen sei. Oder: Daß es keinen außer Diego gebe, dem man so lange zuhören möchte. Das bestritt Diego glaubhaft, danach konnte man über die Themen des Vormittags reden. Wenn man aber seinem Hinweis, daß er wieder zuviel geredet habe, nicht ernsthaft widersprach, kam er noch Tage, ja sogar Wochen später darauf zurück. Er finde es doch ziemlich hart, sagte er dann, daß sein Freund Karl ihn nicht befreit habe von dem von ihm selbst erhobenen Vorwurf, zuviel, zu lange geredet zu haben. Meistens beschloß er dieses Thema mit dem Satz: Ich bin einfach zu sensibel. Gar keine Frage, daß er Karl näher war als den anderen Befreundeten.
Aber was hat Gundi, die Teuflischgöttliche, am Nachmittag in ihrer Bar gedacht oder gewollt? Manchmal muß man sich Mühe geben, nicht zu sehr verstanden zu werden, hatte sie gesagt. Und er, dämlich: Ich weiß. Und sie ganz intensiv, geradezu bohrend: Manchmal merkt man, man wäre ruiniert, wenn einen der andere verstünde. Und er, total dämlich: Genau. Erst danach hatte er ein bißchen aufholen können. Aber da war es zu spät. Sie war schon, wenn sie je irgendwo anders gewesen war, zurück bei Diego. Danach nur noch das Geschäft. Plus Theater. Von dem er nichts ahnte. Gundi nackt! Nach allem, was passiert war, hätte Diego nichts dagegen haben können, daß Karl zu Gundi gesagt hätte: Wenn ich jetzt gehe, ohne dich gefragt zu haben, ob ich deinen unwahrscheinlichen Hals berühren darf, dann werde ich mir das, wie ich mich kenne, ewig vorwerfen. Aber er war einfach gegangen. Feigling, hatte sie gesagt. Wie sie nackt aussieht, ist nicht leicht vorstellbar. Es ist auch egal, wie sie nackt aussieht. Wie sie nackt ist, ist entscheidend. Sie ist Art déco. Die ins Schöne verliebte Schönheit. Die rasende Selbstsucht. Die Allesversprechende. Und Nichtsgewährende. Mein Gott. Sie ist Fernsehen, basta.
Er mußte ans Telefon. Helen. Sie rief zum Essen. Bärlauch-Pesto!
Genau, sagte Karl und ging hinunter.
Am nächsten Morgen wachte Karl von Kahn schon um halb sechs auf anstatt, wie er’s gewohnt war, um sechs. Mit ihm erwachte ein Traum, den er sicher nicht erst in den Frühstunden geträumt hatte, der hatte aber darauf gewartet, daß Karl aufwache und sich mit ihm beschäftige. Diego!
Ein gewaltiger Unfall mit Diego. In Diegos Lancia. Mehrmals überschlagen, das Auto zerriß in zwei Teile, im vorderen Teil, der einige Meter voraus gelandet war, saß Diego reglos am Steuer. Im hinteren Teil krümmte sich Karl in ein vom Unfall gebogenes Blech, das ihn so umgab, daß er wußte, er habe diesem Blech sein Überleben zu verdanken. Und er dachte sofort daran, wie oft er Diego schon gebeten hatte, nicht so zu rasen. Und Diego hatte immer gelacht und gelegentlich gesagt, dieses Auto würde es ihm übelnehmen, wenn er ihm nicht seine natürliche Geschwindigkeit gönnte. Jetzt sah Karl, daß seine Tochter Fanny vorne neben Diego saß. Und er wußte, daß er nicht sagen durfte: Ich hab’s doch immer schon gesagt. Er spürte überdeutlich, wie sehr Diego darunter litt, daß ihm ein solcher Unfall passiert war. Er wußte, er mußte sofort hin zu Diego und lachen. Das tat er. Wand sich aus der Blechhülle, versicherte sich seiner Glieder, lachte und lachte. Lachte, bis er Diego aus seiner Schreckstarre erlöst hatte. Diego lächelte. Mir fehlt nichts, rief Karl. Doch, sagte Fanny, nahm Karls Hand, griff mit zwei Fingern ein weghängendes Stück Fleisch, gab Karl den Blick frei ins Innere. Da sah er tief in sich hinab. Ein entsetzlicher Anblick, ein Durcheinander aus blutigem Fleisch und blutigen Zwetschgen. Und als er sagen wollte, es sei doch erstaunlich, daß er mit blauen blutigen Zwetschgen gefüllt sei, entwand sich dem Durcheinander eine Maus, die sprang ihm ins Gesicht. Mehr wußte er nicht mehr.
Und nur durch Manöver wie das mit Karl und Puma habe er überlebt. Vielen Dank, lieber Karl, für dein Verständnis. Bis bald.
Auch wenn sie einander nicht mehr so nah waren, wie sie einmal gewesen waren, die frühere Nähe erlaubte kein anderes Gefühl als das, das sich jetzt in Karl festigte. Wenn man einmal so befreundet war, kann man einander nicht mehr betrügen. Alles, was man dem anderen überhaupt antun kann, muß von dem verstanden werden. Karl war froh, daß er jetzt dieses Gefühl hatte. Diego war sein einziger Freund gewesen. Und was einmal war, kann nicht durch irgendwelche Operationen dazu verurteilt werden, nicht gewesen zu sein. Wenn etwas nicht mehr ist, hört es nicht auf, gewesen zu sein.
Diegos Zusammenbruch war kein Theater. Diego ist aufgewacht, hat gewußt, heute muß er seinen Freund täuschen, vorübergehend täuschen. Hat das gedacht und mußte, laut Gundi, kotzen und konnte sich nicht mehr rühren. Das war der Schock. Natürlich hätte Diego anrufen können, hätte sagen können, er müsse jetzt, um nicht ganz verloren zu sein, zum Befreiungsschlag ausholen … Dazu hat sein Vertrauen nicht gereicht. Er war schon zu weit weg. Zuerst die zunehmende Entfernung, dann plötzlich: Ich brauche dich! Das hat er nicht geschafft. Er könnte immer noch anrufen: Du, ich hatte keine Wahl, versteh’s oder versteh’s nicht, mir wär’s lieber, du verstündest.
Um Punkt sieben rief Professor Schertenleib an. Wie Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel konnte der Professor anrufen, wann er wollte.
Er werde dieses Land so schnell wie möglich verlassen, er bitte Herrn von Kahn, möglichst heute noch zu ihm zu kommen.
Die Ruhe, mit der der Professor das mitteilte, war alarmierend. Karl sagte aber genauso ruhig: Wenn es Ihnen recht ist, bin ich um zehn bei Ihnen. Der Professor liebte eindeutige Aussagen. Er war Physiker.
Zuerst mußte Karl noch Erewein anrufen. Wieder keine Antwort. Das war beunruhigend. In der ersten Maihälfte. Jetzt rief er doch bei Meschenmosers an. Frau Meschenmoser brauchte viele Sätze, um mitzuteilen, daß sie gedacht habe, der Herr von Kahn sei von seinem Bruder auf dem laufenden gehalten worden darüber, daß Frau Lotte heute vor drei Wochen hat ins Krankenhaus müssen, daß der Bruder zu ihr gezogen ist ins Krankenhaus, in das in der Nußbaumer Straße, daß die Operation gut verlaufen ist, daß aber an ein Zurückkommen der beiden nicht vor Ende dieser Woche zu denken ist und daß Lusch, die Katze, sich bei Meschenmosers gut eingelebt hat, weil sie ja, seit Frau Lotte diese Schmerzen gehabt hat, sowieso schon mehr bei Meschenmosers gewesen ist als drüben.
Karl von Kahn sagte: Bloß gut, daß es Sie gibt, Frau Meschenmoser.
Man tut, was man kann, sagte sie.
Karl nahm sich vor, Frau Meschenmoser einen Frühlingsstrauß zu schicken. Im Krankenhaus würde er erst am Nachmittag anrufen. Zuerst zu Professor Schertenleib.
Der Professor war, als sich Karl von der Hypo getrennt hatte, mit Karl gegangen. Der Professor war, als Anleger, Karls Geschöpf. Vierundsechzig war er gewesen, als er, nach der Begegnung auf der Autobahn, sein Überflüssiges Karl anvertraute. Und dann immer weiter, alles, was er nicht brauchte, ließ er von Karl vermehren, und das Vermehrte überließ er Karl zur weiteren Vermehrung. Das andauernde Beobachten dieser immer wieder von überraschenden Hemmnissen bedrohten Vermehrung wurde Schertenleibs liebste Beschäftigung. Das heißt: Er wurde ein Karl-von-Kahn-Kunde schlechthin. Verbrauch fand er kitschig. Die Vermehrung seiner Werte erlebte er als Erfolg. Er wollte von jeder Umschichtung, von jedem An- oder Verkauf genau informiert werden. Er war ein anstrengender Kunde. Solche Kunden liebte Karl von Kahn.
Einmal hatte er Karl anvertraut, er wäre lieber nicht Physiker geworden, sondern Sänger, Opernsänger, wenn er im Krieg nicht ein Bein verloren hätte. In Stalingrad. Oberschenkelamputiert. Geht doch nicht, Tristan, oberschenkelamputiert. Und hatte eine Arie angeträllert. Dieses rasche Hineinsingen kam immer wieder vor, wenn man mit ihm sprach. Es war, als seien in ihm Arien gefangen, die darauf warteten, daß sie ihm aus der Seele und aus dem Mund kämen. Er war einfach voller Arien, voller Musik. Er hatte Tristan singen wollen und Lohengrin und Tannhäuser. Dann aber Physik. Atomphysik. Statt Staatsoper Siemens.
Die Villa in Gräfelfing war in der Zeit der Sichtbeton-Architektur gebaut worden, kälteste Moderne. Auch an diesem hellsten Maitag mußte Karl angesichts des Betonwürfels an einen Bunker denken. Auf dem Flachdach wuchs ein bißchen Gras. Im Haus sorgten Schränke, Bilder und Regale dafür, daß der Sichtbeton erträglich blieb. Wie immer wurde Karl auch diesmal in das Zimmer geführt, das fast die ganze Hausbreite zum Garten hin einnahm. Kalte, schwarze, lederbezogene Sitzgelegenheiten, das Sofa erinnerte ihn an das dänische Sofa, auf dem Gundi ihre Fernsehkarriere gestartet hatte. Und ein gewaltiger Flügel. Aufgeklappt. Mit Noten.
Als sie saßen und einen Schluck Evian getrunken hatten, machte der Professor eine Handbewegung, daß Karl verstand, er solle das Gespräch eröffnen.
Ja, sagte Karl ganz hell, Sie wollen also dieses Land verlassen.
Ich muß, sagte der Professor. Meine Kinder, die zwei eigenen und die angeheirateten gleichermaßen. Und die Enkel. Jetzt auch die Enkel.
Der Professor, der in seinem Sessel auf mehreren Kissen saß, stemmte sich hoch und ging auf und ab. In der Stadt sah man ihn nie ohne Stock. Im Haus immer ohne Stock. Er war ein Hüne mit einem Habichtprofil. Und immer noch silbernes Haar. Und braungebrannt. Der Professor war schön. Sein Auf- und Abgehen wirkte angestrengt. Er konnte auch nicht gleich sprechen. Bei jedem Schritt knickte er nach vorne, warf das Prothesenbein voraus, richtete sich auf und holte mit einer Drehung der linken Schulter das linke Bein, das gesunde, nach. Dann wurde die Prothese mit einem leichten Einknicken des Oberkörpers wieder vorausgeschickt, der Oberkörper aufgerichtet und die linke Partie hereingedreht. Sein Gehen paßte zu dem, was er sagte. Karl begriff, daß der Professor, was er sagte, nicht im Sitzen sagen konnte.
Die Kinder, sagte er, die eigenen und die angeheirateten, und jetzt auch schon die Enkel. Obwohl, die Enkel, sie reden noch nicht so daher wie ihre Eltern, sie staunen noch, mitleidig staunen sie, sie kommen mir sogar so nah, daß sie schielen, sie streicheln mich, aber sie verteidigen mich nicht. Gegen ihre Eltern. Die Schlacht ist entschieden. Seit heute nacht. Gestern sein Geburtstag. Tochter Mildred hat den ganzen Tag gekramt. Er hat sich gefreut, daß sie sich endlich für die Schachteln in den Kellerschränken interessiert hat. Dann, abends, gibt sie ihm, bevor die anderen im Raum sind, den Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1944, aufgeklebt auf ein Blatt schlechten Papiers, legt ihm das hin und sagt: Tun wir weg. Es war die Todesanzeige für Gerhard, seinen Zwillingsbruder.
Sein Leben, das zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, hat nun im Opfertod seine Erfüllung gefunden.
Mildred meinte, ihre Kinder sollten so etwas nicht sehen und ihr Mann Jost auch nicht. Er sagte ihr, daß er vorhabe, an diesem Abend zu erzählen, was er vor einem Monat auf dem Heldenfriedhof Charinki erlebt hatte. Einhundert Kilometer südlich von Wjasma. Da kamen schon die anderen, Mildred wollte die Todesanzeige verschwinden lassen, er nahm sie ihr weg, er präsentierte sie nach dem Essen. Sohn und Schwiegersohn und Tochter und Schwiegertochter boten mildernde Umstände an, das heißt, sie verstünden ja, daß er den Mai 45 als Niederlage erlebt haben könnte, aber in die Geschichte werde er aus guten Gründen eingehen als Monat der Befreiung.
Die seien ja, wie sie da um ihn herum saßen, noch ganz im Bann ihrer Gedenkübungen gewesen. Die gehören, sagte er, jetzt zum Mai wie früher Alles neu macht der Mai. Nun möge Herr von Kahn bitte bedenken, daß der Vater des Schwiegersohns Jost SS-Oberscharführer gewesen sei. Sein und Gerhards Vater aber war Bürgermeister in Tannheim und wurde abgesetzt, weil seine Frau im jüdischen Geschäft kaufte, obwohl da dranstand: Kauft nicht beim Juden. Der Vater kam dann notdürftig unter bei einem Freund als Hausmeister. Gerhard wurde vom Ortsgruppenleiter geohrfeigt, weil er ohne Hitlergruß an einem SA-Trupp vorbeigegangen war, der gerade eine Adolf-Hitler-Linde pflanzte.
Seine Geburtstagsgesellschaft hat der Professor gefragt, ob er erzählen dürfe, wie er um sein rechtes Bein gekommen sei. Das wollten die Enkel unbedingt hören. Also erzählte er: Er war kein Kriegsfreiwilliger oder Berufssoldat, er wurde eingezogen zur Infanterie, an Pfingsten 41 verlegt nach Polen, bis an den Bug, am 23. Juni um drei Uhr fünfzehn ging es los, Flieger, Geschütze, alles über sie weg. Sie sahen drüben auf der russischen Seite die Einschläge. Sie sind erschrocken. So eine Hölle hatten sie noch nicht erlebt. Er war ausgebildet als Funker. Jetzt über den Bug, über die Beresina, Mogilev, Smolensk, vor Moskau erwischten ihn drei Granatsplitter, alle drei in die linke Wade, in Jena wieder marschfähig gemacht, zurück in die Donsteppe, weiter ging’s bis Stalingrad. Sie schafften es bis zur Stadtmitte. Drei Monate lang hielten sie sich da. Bei einem Stoßtrupp warfen sie sich, um einem T 34 zu entgehen, in einen Granattrichter. Der T 34 kam auf sie zu, wollte sie überrollen. Er hatte noch eine Handgranate, die warf er dem in die Ketten, rannte los, wollte hinter einer Hausruine in Deckung gehen, der Panzer schoß, zerschoß ihm das rechte Bein, im linken Arm Granatsplitter, halb im Dusel hat er mit seinem umgehängten Funkgerät Hilfe herrufen wollen, das Gerät war zersplittert. Er hatte Angst, Angst, daß die Russen kommen und ihn noch gar totschlagen, da rennt sein Kompaniechef her und schleift ihn in einer Zeltplane zurück, im Behelfslazarett am Stadtrand wird amputiert, er liegt tagelang, wieviel Tage weiß er nicht, in einen Zementsack verschnürt in einem ausgetrockneten Abwasserkanal und wird, bevor die Russen den Flugplatz Pitomir erobern, ausgeflogen ans Schwarze Meer. Auf dem Heldenfriedhof von Charinki an Gerhards Grab hat er gedacht, daß er nur überlebt hat, weil Gerhard gefallen ist. Beide tot, das hätte die Mutter nicht aushalten können. Bei ihrer Aussegnung sagte der Pfarrer, daß man dem Herrn lebe und sterbe, und nicht für sich. Stimmt nicht, hat er gedacht, seine Mutter hat nicht dem Herrn gelebt, sondern ihren Zwillingen. Was die Söhne gesagt und getan haben, war immer richtig. Sie hat nie eine Sekunde an Gerhard oder an ihm gezweifelt. Ihretwegen hat er überleben müssen. Daß man dem, was man nicht begreift, einen Sinn geben muß, weiß nur, wer mit der Sinnlosigkeit zu tun gehabt hat. Im Opfertod seine Erfüllung. Dann die Niederlage. Dann hat man erst zur Gänze erfahren, was für ein Drecksregime das war. Und wenn die in Stalingrad ihm das Bein nicht zerschossen hätten, wäre er überhaupt nicht mehr herausgekommen. Also hat er Glück gehabt.
Sag doch nicht immer Heldenfriedhof, sagte Mildred.
Die Enkel hatten große Augen. Jost sagte, man müsse einen Irrtum nicht lebenslänglich beibehalten.
Einen Irrtum! Da hat er sagen müssen, daß es nicht jedem gegeben sei, die eigene Biographie so zu optimieren, wie es Josts Vater gelungen sei. Zuerst Oberscharführer, dann evangelische Theologie, dann Pfarrer, und als es doch brenzlig zu werden drohte, Pfarrer in Südafrika und eine Schwarze geheiratet.
Folgte ein wüster Streit. Er bestand auf der ihm vorgeworfenen Unbelehrbarkeit. Er hat der Bande ihre Ignoranz nicht erlebbar machen können. Der Geburtstag ist ausgefallen. Er muß fort. Aber er will auch.
Zurück auf den Kissen seines Sessels, ließ er die Finger auf den Lehnen Klavier spielen. Und bat Karl von Kahn um Auskunft.
Karl war vorbereitet. Er hatte die Nenn- und die Kurswerte verglichen, er hätte Summen aufsagen können. Er hätte nicht ohne Zufriedenheit melden können, daß er aus einem Einsatz von nicht ganz einhunderttausend Mark einen Depotwert von fast drei Millionen Euro erwirtschaftet hat. Und das ohne je auch nur einen einzigen Euro in eine Firma investiert zu haben, die mit Waffenproduktion oder — verkauf zu tun gehabt hätte. Rheinmetall, Krauss-Maffei oder gar EADS hatte Karl von Kahn zu meiden. Eine Firma, in der mit Lenkflugkörpersystemen experimentiert wurde, kam nicht in Frage.
Doch der Professor mußte, auch als er saß, noch einmal von der Familienschlacht sprechen. Nach drei Uhr in der Nacht hat Mildred gerufen, daß jetzt Frieden sei zwischen uns. Sie hatte von allen am meisten getrunken. Die Enkel waren schon im Bett. Toleranz, rief sie, Toleranz für alle und alles. Volle Anerkennung einer unbehebbaren Unvereinbarkeit.
Diesem Zapfenstreich sei allerdings noch vorausgegangen ein Themenwechsel, weg vom Krieg, hin zu des Professors Arbeit für die Kraftwerkunion. Jetzt stellte sich heraus, daß die Tochter Mildred als Kind Todesängste ausgestanden hat, wenn der Vater damals beim Abendessen die Unsicherheits-Philosophie der KWU zum besten gab. Was passiert in den ersten zehn Sekunden nach einem Riß der Primärrohrleitung, aufgeteilt in Zehntel- und Hundertstelsekunden? Kommt das Reservekühlwasser überhaupt noch bis an die Brennstäbe? Die Absorberstäbe können die Reaktion bis auf drei Prozent herunterdrücken, wenn sie nicht auch gleich einschmelzen in der ersten Zehntelsekunde, in der das Kühlwasser fehlt. Und drei Prozent von vier Millionen Kilowatt sind noch einhundertzwanzigtausend Kilowatt, eine Wärmemenge, die den Außenbehälter mit einem Fünzigtonnenschub in die Höhe hebt und, je nach Windrichtung und — stärke, eine zwei Kilometer breite und fünfzehn Kilometer lange Todesschneise zieht. Da überlebt nichts. Das rezitierte Mildred wortwörtlich. Das konnte sie auswendig. Was Mildred nicht mitkriegte, ist, daß ihr Vater dafür gearbeitet hat, dieses Szenario zu verhindern. Und es ist verhindert worden. Die Sicherheitsbestimmungen für Atomkraftwerke in Deutschland sind so überkandidelt, daß Export kaum möglich ist. Acht TÜVs! Und die müssen noch mit den Innenministerien korrespondieren. Beschlüsse nur einstimmig. Solange es eine abweichende Meinung gibt, kann, was geschieht, falsch sein. Es war nie etwas falsch. Und jetzt kommt die eigene Tochter und sagt, die Vatergeneration habe ihre Unbelehrbarkeit demonstriert. Zuerst Krieg, dann eine Atomtechnik, die jeden bisherigen Krieg zum Kinderspiel mache. Also was bleibt uns, als uns unvereinbar zu sehen.
Da habe er nur noch sagen können, er hoffe, daß sie und ihre Kinder nicht eines Tages gefragt werden: Warum habt ihr euch jeden Tag sattgegessen, obwohl in jedem Süden andauernd vor Hunger und Elend gestorben wurde.
Dann sei er gegangen. Jetzt sind sie fort. Mühsam gekittete Risse. Die Augen der Enkel beim Abschied blieben groß. Er muß dieses Land verlassen. Er ist diesem Rechtfertigungsdruck nicht gewachsen. Also, Herr von Kahn, verkaufen wir. Ich ermächtige Sie zu einem totalen Leerverkauf.
Karl sagte: Darüber wird zu sprechen sein.
Dieser Jost, sagte der Professor, stammt aus einer reinen Nazisippe. Mein Vater wurde aus dem Amt gejagt. Dem seine Sippe hat Karriere gemacht, hat kassiert.
Das ist, sagte Karl, das Normale. Nazikinder passen schärfer auf.
Ja, sagte der Professor, aber warum auf andere. Ihre Vorfahren haben aufgepaßt, daß ja jeder Nazi sei. Und sie passen jetzt auf, daß ja keiner Nazi sei. Das heißt, es gibt Aufpasserfamilien. Rechthaberfamilien. Ob es sich vererbt oder nur tradiert wird, ist ihm egal. Familien, die jedem System zugehörig sind, ob Demokratie oder Diktatur, sie müssen nie auf sich selber aufpassen, sondern immer auf andere. Es kommt darauf an, zu denen zu gehören, die bestimmen, was gut und was böse ist. Die Relativitätstheorie der Moral muß erst noch geschrieben werden.
Sich zu rechtfertigen, sagte Karl von Kahn, ist genauso töricht, wie andere zur Rechtfertigung zu nötigen. Er fühle sich verpflichtet, dem Herrn Professor zu sagen, daß er selber trainiere, sich nie zu rechtfertigen. Er wisse, daß nichts von dem, was geschieht, zu rechtfertigen ist. Trotzdem gelinge es jedem Unbedarften, ihn in Rechtfertigungsverkrampfungen zu stürzen. Nichts, was geschieht, geschieht ohne Grund. Trotzdem: Nichts ist durch den Grund, aus dem es geschieht, zu rechtfertigen. Bitte, Herr Professor, entschuldigen Sie die unerbetene Aussage. Sie beherrscht mich, weil ich täglich gezwungen werde zu rechtfertigen, was durch mich geschieht. Und Sie haben es doch gesagt: Die Relativitätstheorie der Moral muß erst noch geschrieben werden.
Dann kam Karl von Kahn zur Sache.
Was der Professor in den letzten zwanzig Jahren entwickelt habe, sei ein Wertebauwerk. Und er, Karl von Kahn, habe sich mit viel Freude an der Erschaffung dieses Werks beteiligt. Soll man so etwas, darf man so etwas von einem Stimmungstaifun verwüsten lassen? Die Tochter Mildred wird anrufen oder zurückkommen, sie wird einsehen, daß man über das Leben eines anderen, und sei es der eigene Vater, nicht richten kann wie über ein Strafgesetzbuchdelikt.
Und bat, den Professor zum Essen einladen zu dürfen.
Fraglos essen. Sonst nichts. Über alles andere reden wir später. Nur soviel vorweg: Glattstellung, Gewinnmitnahme und Schluß, das ist nicht Professor Dr. Hartmut Schertenleib. Das spüre ich. Und was ich spüre, das wissen Sie längst, ist immer das, was das Leben will. Ich bin immer auf der Seite des Lebens. Und Sie auch. Und daß Sie desertieren, kann ich nicht hinnehmen. Kommen Sie. Sie und ich bedürfen nicht der Anerkennung anderer, solange wir unser Essen selber bezahlen können, Herr Professor. Nur wenn wir abhängig wären, wären wir verloren. Aber wir, Sie und ich, haben es dahin gebracht, daß wir in diesem Augenblick unabhängig sind. Und das zu empfinden müssen wir lernen. Kommen Sie.
Der Professor bot Karl von Kahn seinen Arm. So gingen sie. Arm in Arm. Der Professor summte, dann sang er sogar. So leise er blieb, das war Gesang. Mehr kann nichts Gesang sein als dieses volltönende Pianissimo des Beinamputierten. Weil es eine von Karls Lieblingsarien war, drückte er den Arm des innig singenden Professors fast heftig an sich. Intonierte dieser alte Trotzkopf doch Nie sollst du mich befragen.
Als Karl von Kahn dann in der Osterwaldstraße die Haustüre hinter sich schloß, rief er, ohne zu wissen, wo Helen gerade war, ob sie ihn also höre oder nicht: Liebling, ich habe einen wunderbaren Beruf. Helen hörte ihn offenbar nicht oder war gar nicht im Haus, also ging er hinauf unter seine honigfarbenen Lärchenbretter und schrieb die nächste Kunden-Post.
Ihm war auf der Rückfahrt von Gräfelfing in der U-Bahn eingefallen, es sei Zeit, in jeder Kunden-Post eine Kolumne zu haben unter dem Titel: Wörterbuch für Anleger. Das war ihm eingefallen, als er das Gespräch mit Professor Schertenleib noch einmal durchging. Ich ermächtige Sie zu einem totalen Leerverkauf, hatte der Professor gesagt. Nach mehr als zwanzigjähriger Anlegepraxis wußte der Professor noch nicht, was ein Leerverkauf ist.
Karl würde die Kolumne eröffnen mit Leerverkauf. Und notierte gleich: Man kann ein Wertpapier verkaufen, das man noch nicht besitzt. Das nennt man einen Leerverkauf. Jemand glaubt, am 1. März sei die XY-Aktie 100 Euro wert, ich verkaufe sie ihm jetzt für 70 Euro das Stück. Ich habe diese Aktien nicht, ich glaube aber, die Aktie fällt im Preis und wird kurz vor dem 1. März für 60 Euro pro Stück zu kaufen sein. Abgemacht ist: Der Käufer kriegt von mir Aktien für 70 Euro das Stück, die mich, hoffe ich, 60 Euro das Stück gekostet haben werden. Dieser jetzt vereinbarte Verkauf ist ein Leerverkauf. Leerverkauf wäre auch, wenn man die Aktien, die man verkaufen will, mit geliehenem Geld bezahlt. Shorting heißt es in Amerika. Es gehört nicht zu den geringsten Reizen des Handels mit Wertpapieren, daß man etwas verkaufen kann, das man nicht besitzt. Ein Handel also mit virtuellen Werten.
Er durfte hoffen, der Herr Professor, der die Kunden-Post immer las, werde diese Ausführlichkeit zu schätzen wissen. Und werde bleiben.
Die Enkel kamen ihm so nah, daß sie schielten. Das war der Satz, den Karl nicht loswurde. Seine Enkelinnen Tanja und Sonja hatte er noch nie gesehen.
Helen klopfte an, und Karl dachte wieder einmal, daß er diese am Anfang eingeführte Formalität längst hätte abschaffen müssen. So wie sie sich NWG, die Neue Wohngemeinschaft, genannt hatten, so hatten sie damals, um auszudrücken, wie selbständig jeder weiterhin sei, das Anklopfen eingeführt. Dazu gehörte, daß nicht angeklopft und sofort eingetreten wurde, es wurde gewartet, bis von drinnen ein Ja kam. Aber in diesem Ja konnten Stimmungen ausgedrückt werden. Jetzt zum Beispiel jubelte Karl ein Ja hoch, das Helen signalisierte, wie willkommen, erwartet und herbeigesehnt sie sei. Formalitäten sind eben doch etwas wert.
Das Vergißmeinnichtblaßblau ihrer Augen beschwor das Gundi-Türkis herauf. Gundis Türkis, das reine Eis, Helens Vergißmeinnichtblaßblau, die Wärme selbst. Ihr Blondhaar hatte sie hinten hochgesteckt, daß es frech aussah, und ihre Lippen lagen so aufeinander, daß die Oberlippe besonders deutlich nach links und die Unterlippe nach rechts schaute. So deutlich überkreuz, das hieß, sie war übermütig. Und das hieß bei Helen, Karl durfte sie an der Hand nehmen, sie zu sich herziehen und sein Kinn in ihren Haaren reiben, so fest, wie er wollte.
Sie blieben eine Zeit lang so, dann sagte sie, sie wolle ihm, wenn sie dürfe, vorlesen, was sie heute dem Erfolgreichen Patienten als Schluß entworfen habe.
Karl imitierte die Geste, mit der Professor Schertenleib ihn eingeladen hatte, das Gespräch zu eröffnen. Helen las:
Jeder Körper trachtet nach Unsterblichkeit. Das unüberschaubare Zusammenwirken aller körperlichen Systeme ist daran interessiert, daß es weitergeht. Weil wir vergessen haben, wovon wir bestimmt werden, hat sich die Kulturlegende eingebürgert, der Mensch als geistiges Wesen sei an der Unsterblichkeit interessiert. Dabei ist es der Hort des Lebens, der Körper, der überleben will. Ich rate dir, dich zu vergessen. Selbstbewußtsein ist ein sinnloses Wort. Wenn du immer an etwas denkst, was du nicht bist, wirst du gesund. Am meisten ist das Leben sich selbst überlassen im Schlaf. Deshalb ist der Schlaf das Heilende schlechthin. Wenn wir schlafen, können wir dem Leben nicht dreinpfuschen. Aber es gibt einen Schlaf, in dem die Träume toben. Da setzt sich der Wachzustand in einer übertreibenden Entfesselung fort. Das Wirkliche, unbewacht, gerät außer Rand und Band. In dem Schlaf, der das erleiden muß, ist das Heilende bedroht. Und trotzdem wirkt es noch. Das Toben der Träume drückt aus den Kampf des Schlafes gegen den Einbruch einer nicht mehr zu kontrollierenden Wirklichkeit. Also wollen wir wissen: Wie muß unser Tag verlaufen, daß die Wirklichkeit den Schlaf als Heil und Heilendes gelten lassen muß? Eine Erfahrung, die noch nicht zum Ziel führt, aber doch eine Ahnung stärkt: Wörter meiden, die nicht selbstverständlich sind. In die Sprache sind viele Wörter hineingekommen, die nicht von selber verständlich sind. Zum Beispiel: Angst, Sex, Gott, Bewußtsein, Wahrheit, Ethik, Moral, Freiheit … Mit solchen Wörtern wirst du dir selber gegenüber in eine Stimmung des Nichtgenügens versetzt. Und das Nichtgenügen ist dann der Dirigent aller Träume, in denen der Schlaf seines Heils und seines Heilenden beraubt wird. Ein Schlaf, der nicht gemartert wird von Traumsequenzen des Ungenügens, kann nicht anders, als sein Heil und sein Heilendes zu entfalten. Träumend ist jeder Mensch ein Dichter. Der Dichter hat Erfahrung im Beantworten widrigen Schicksals, aber auch im Aufblühenlassen der Spur des Glücks. Nicht umsonst haben sich sogenannte Traumdeuter zu allen Zeiten hergemacht über die Träume der Menschen und haben den Menschen Ahndungen verpaßt durch die simple Übersetzung des Geträumten in die Wörtersprache, aus der die Träume ihren traurigen Anlaß haben. Tautologie. Vernichtung des gewöhnlichen Dichterischen jeden Traums. Der Traum ist wie jedes dichterische Wort nicht nur ein Geständnis, sondern auch ein Widerspruch. Den unterschlägt der Deuter.
Die Wörter, mit denen dein Nichtgenügen produziert wird, sind selber Ausdruck einer Unmöglichkeit. Es gibt ihnen gegenüber nichts als das Versagen. Das ist beabsichtigt. Wenn du ihnen hörig bist, zahlst du drauf. Mit deinem Schlaf zahlst du drauf. Und bleibst ein Patient. Ein erfolgloser Patient.
Das Leiden ist nicht abzuschaffen, es kann nicht aus der Welt hinausdefiniert werden. Wir bleiben Patienten. Aber nicht Kranke. Das muß jetzt klargeworden sein. Der erfolgreiche Patient sorgt dafür, daß er leidet, ohne krank zu sein. Die Kunst, das Leiden zu genießen, wird ahnbar, wenn wir den unguten Wörtern widerstehen, unsere Hörigkeit kündigen.
Ach, Helen, sagte er und zog sie noch heftiger an sich.
Bevor du mich erstickst, sagte sie, muß ich dir noch sagen, daß ich dich immer noch zu wenig kenne.
Ich fühle mich durchschaut, sagte er.
Er nahm ihren Kopf in seine Hände. Er hatte das Gefühl, er halte den Kopf eines Vogels in seinen Händen.
Das sagte er ihr.
Was für eines Vogels, sagte sie.
Eines Paradiesvogels, sagte er.
Eines Paradiesvogels, sagte sie in einem alles beendenden Ton. Sie verlispelte das dreimal vorkommende S mehr als bei ihr üblich.
Das hieß, es stürmte und drängte in ihr. Auch ihre Augen drückten das aus. Das Vergißmeinnichtblaßblau verfestigte sich zu einem leuchtenden Wegwartenblau.
Ich will ein Kind von dir, sagte sie.
Ich fühle mich geehrt, sagte er, komm.
Frau Lotte rief an. Das war noch nicht alarmierend, weil Erewein Anrufe, die er für nötig hielt, von Frau Lotte erledigen ließ. Auch ihre Stimme war wie immer und paßte deshalb nicht zu dem, was sie sagte. Ein Unglück, sagte sie. Es sei alles schon vorbei. Karl solle jetzt einmal herüberkommen. Er konnte nur sagen: Ja.
Erewein war tot. Das hatte sie nicht aussprechen müssen.
Er ließ das Taxi auf dem Wiener Platz halten. Sich von der Steinstraße allmählich in Haidhausen aufnehmen zu lassen, fand er heute wichtiger als je zuvor. Daß Erewein und Lotte in dem Teil der Steinstraße wohnten, der es dazu gebracht hat, Fußgängerzone zu werden, tat ihm jetzt gut. Die Straße führt am Genoveva-Schauer-Platz entlang, man sieht, sobald man den Platz erreicht, hinüber zu Ereweins barock ummaltem Schaufenster. Heute häuften sich unter dem kleinen Schaufenster Blumen. In der Steinstraße gab es keine Schaufensterödnis wie in der Brienner Straße. Auch auf der mit Kupferblech belegten Fensterbank Blumen. Sträuße und einzelne Blumen, deutlich geordnet. Frau Meschenmoser, dachte Karl. Im Schaufenster immer noch das Bild mit den von hart gleißenden Blättern bewachten Maiglöckchen. Das schräg einfallende Licht sorgte wieder für einen unheimlichen Glanz. Karl hörte, schon bevor er im Flur war, die Orgel. Alle Töne, die angeschlagen wurden, wollten bleiben. Dehnten sich. Mußten aber doch verlassen werden. Dann wieder ein verwirkter Akkord, dann hohe, flüchtige Einzeltöne, die nirgendwohin fanden.
In Schwarz erschien Frau Meschenmoser. Sie winkte ihn in Ereweins Arbeitszimmer. Da stand mitten im Zimmer auf einem Brett, das quer über den Billard-Tisch gelegt war, eine Urne. Die Urne. Der Billard-Tisch war Ereweins letztes Werk. Täglich hat er seine Karambolage gespielt. Als Karl einmal gestaunt hatte über dieses Alleinspielen, hatte Erewein gesagt: Man kann sich auch selber besiegen.
Links und rechts von der Urne je drei Kerzen. Brennende. Dann lag da noch eine flache, verschnürte Schachtel. Auf der Schachtel eine Pistole. Die Pistole. Und ein kleines rotes Buch.
Frau Meschenmoser flüsterte Karl ins Ohr: Sie hört gar nicht mehr auf.
Drei Jahre hat Erewein an dieser Orgel gebaut, dachte er.
Frau Meschenmoser lenkte Karl durch sanfte Gesten zur Urne hin, deutete auf die Schachtel, auf die Pistole und auf das Buch und sagte: Für Sie. Der Herr Doktor habe ihr das im Brief aufgetragen. Die Schachtel, die Pistole und das Buch seien seinem Bruder zu geben. Sie versenkte alles in eine Plastiktüte, die hielt sie Karl hin. Dann nickte sie und ging.
Ihm wäre es lieber gewesen, wenn sie Frau Lotte mitgeteilt hätte, daß der Bruder des Herrn Doktor da sei. Er ging so langsam wie möglich in Frau Lottes Zimmer, trat hinter die Spielende und hoffte, sie werde irgendwann bemerken, daß jemand hinter ihr stehe. Wohin mit der Plastiktüte? Noch einmal in den Flur. Und wieder zurück zur Orgelspielerin. Sie trug immer weite, dunkle Blusen. Ihre Haare kämmte sie immer nach hinten und ließ sie dort in einem den Rücken hinunterfallenden, starr wirkenden Zopf enden. Sie sah gern aus wie aus der Vergangenheit, ohne daß man hätte sagen können, aus welcher.
Als Erewein sein Atelier noch in einem der vier Zimmer der Wohnung hatte, stellte sich heraus, daß Frau Lotte nicht alle Arbeitsgeräusche Ereweins gleich gut ertragen konnte. Hämmern und Sägen hat sie nicht nur ertragen, sondern genossen. Aber Bohren ging ihr auf die Nerven. Zum Glück haben die Häuser in der Steinstraße ins Grüne reichende Hinterhöfe. Erewein baute sich dort seine Atelierwerkstatt unter die hohen Bäume.
Frau Lottes Orgelspiel war auch eine Art Mitteilung. Sie sagte ihm durch ihr Spiel alles, was sie ihm sagen konnte.
Karl ging.
In seinem Zimmer legte er die Pistole in die unterste Schreibtischschublade. Zu Streichholzschachteln und Zigarettenspitzen aus seiner Raucherzeit, zu Tintengläsern, in denen die Tinte vertrocknet war, zu unbrauchbar gewordenen Klebestreifen. Alles Zeug, das längst weggeworfen gehört hätte. Da paßte sie hin.
Er löste die Verschnürung der Schachtel. Dann las er.
Lieber Karl,
zu dem, was bevorsteht, gibt es kein Verhältnis. Also kann ich nichts falsch machen. Auch nichts richtig machen. Nur daß Du weißt, wie es soweit gekommen ist.
Was ich schon vor längerer Zeit über unseren Großvater notiert habe, lege ich dazu. Das bin ich Dir immer noch schuldig. Dir und Fanny und Tanja und Sonja. Ich bin Onkel und Großonkel. Es ist eine Pflicht.
Zuerst mein Fall.
Ich konnte nachts nie allein sein. Ich weiß nicht, warum. Es hat immer jemand in der Nähe sein müssen. Am liebsten im gleichen Zimmer. Die Vorstellung, daß niemand da wäre, durfte ich nicht zulassen. Ich glaubte, ich würde, wenn niemand da wäre, schreien.
Als Lotte in die Klinik mußte, bin ich einfach mitgegangen. Die sind fortschrittlich dort. Nußbaumer Straße.
Zehn Tage Vorbereitung auf die Operation. In die Intensivstation, achtundvierzig Stunden, würde ich nicht mitdürfen. Ich habe es der Oberärztin sagen können. Daß Du es gleich weißt: Sie heißt Márfa, sie ist neunundvierzig Jahre alt, und immer wenn Lotte beim Röntgen war, hat sie hereingeschaut. Das war nicht nötig. Tagsüber kann ich allein sein, will ich allein sein. Sie hat gelächelt, als ich fragte, wie sich das organisieren lasse, Lotte auf der Intensivstation, zwei Nächte lang. Sie hat gesagt, sie werde das organisieren. Ich kann Dir ihre Augen nicht beschreiben. In einem Gesicht aus flachen Bögen. Auch die Augenhöhlen flach. Sie hat bei unserem Vetter Gero studiert. Ja, in Göttingen. Frag ihn nach Márfa. Márfa genügt, hat sie gesagt. Zu mir hat sie gesagt: Sprich meinen Namen aus. Hab ich getan. Sie ist dann gekommen, hat sich ans Bett gesetzt, wir haben geredet, bis es hell geworden ist, dann ist sie gegangen, vorher hat sie mich noch auf die Stirn geküßt. Ganz leicht. Wenn sie lächelte, lösten sich ihre Lippen voneinander. Eine Art Zeitlupenvorgang.
Vielleicht ist das ein russischer Zauber. Ich brauche Ausreden. Auch wenn ich Dir ihre Augen beschreiben könnte, wüßtest Du nichts von ihrem Blick. Steppe, Großstadt, Nacht, Nacht ohne Sterne. Lotte und ich waren immer ein zusammengepreßtes Paar. Die Distanz, die zur Betrachtung nötig ist, fehlte. Weil ich weiß, wohin dieses Schreiben führt, höre ich auf, wenn ich begreiflich werde. Ich muß unbegreiflich bleiben. Auch mir selber. Márfa neunundvierzig, ich neunundsiebzig. Gerade noch neunundsiebzig. Achtzig will ich nicht sein. Nicht unter solchen Umständen. Wenn Lotte das ahnte, das erführe, das wüßte … Sie würde sich so aufführen, daß die Leute vor ihr davonrennen würden. Ich habe Lotte nie betrügen müssen. Márfa ist aus Sebastopol. Ich war einen Monat lang in Sebastopol beziehungsweise vor Sebastopol. Wir haben Sebastopol belagert, kaputtgeschossen, eingenommen, dann natürlich wieder verloren. Lotte hat nicht achtundvierzig, sondern zweiundsiebzig Stunden auf der Intensivstation bleiben müssen. Sie war in Lebensgefahr. Und ob die Operation dauerhaft hilft, hat man nicht gewußt. Márfa und ich haben in der zweiten Nacht und in der dritten geschlafen, miteinander.
Als wir in die Steinstraße zurückgekommen sind, habe ich gemerkt, daß nichts möglich ist. Ich habe Lotte geschrieben, daß ich nicht aufzählen kann, womit ich nicht fertig werde. Ich habe Márfa geschrieben. Vom Mai 45 weiß sie nichts. Auch unter den günstigsten Umständen könnte ich ihr nicht sagen, was ich im Mai 45 getan habe. Zum Überlegen blieb keine Zeit. Meine Leute haben mich wegziehen müssen.
Lieber Karl, ich weiß, wie unangenehm Dir Beerdigungen sind. Je mehr Du mit einem Menschen zu tun hattest, um so unangenehmer war Dir immer die Beerdigung. Ich stimme Dir zu. So sind wir eben. Es ist ein Segen, daß man an der eigenen Beerdigung nicht teilnehmen muß. Lotte wird viel Zeit an der Orgel verbringen. Die Bestrahlungen werden, sagt der Professor, erfolgreich sein. Deinem Freund Diego mußt Du nichts erzählen. Ich weiß, er ist Dein bester Freund. Ich habe das nicht verstehen müssen. Mit wem ein uns Nahestehender befreundet ist, muß man genausowenig verstehen wie, mit wem jemand verheiratet ist.
Es mag sich ausgewirkt haben, daß Diego mich nie wahrgenommen hat. Er hat mich beschäftigt, bezahlt, gelobt, aber er hat mich nicht wahrgenommen. Nie vergeß ich unser Mittagessen im Neuner. Du, Diego und ich. Wir hatten gerade den letzten Katalog der Dinge herausgebracht. Lebhafte Nachfrage. Sozusagen Erfolg. Er hat während des ganzen Essens kein einziges Mal einen Satz an mich gerichtet. Immer an Dich. Geredet hat fast ausschließlich er. Glaub mir, das ist nicht vorwurfsvoll gemeint. Ich habe ihn nicht interessiert. Er war nicht der einzige, den ich nicht interessiert habe. Frau Meschenmoser dagegen vibriert vor Neugier auf alles, was ich mache. Dein Diego hatte ziemlich schnell ziemlich viel Geld. Geld macht ehrlich. Er konnte es ungeniert deutlich werden lassen, daß er sich nicht für mich interessiert. Das ist unvermeidlich, daß Du Dich, wenn Du es Dir leisten kannst, gehenläßt. Als ich damals aus dem Neuner zurückkam zu Frau Lotte, war ich erregt. Wie ich zu allen stehe, habe ich gesagt, käme erst heraus, wenn ich genug Geld hätte. Solange ich nicht genug Geld habe, habe ich gesagt, kann keiner sagen, er wisse schon, wie ich zu ihm stehe. Wenn ich erst genug Geld haben werde, habe ich gesagt, werdet ihr mich kennenlernen. Frau Lotte hat gelacht. Ich auch. Ihr zuliebe. Ich bin mir vorgekommen wie ein Diego-Imitat. Damit Du, lieber Bruder, nicht glaubst, ich sei nichts als beleidigt, muß ich Dir eine Beobachtung mitteilen, deren, sagen wir, Richtigkeit Du, bitte, an Deinen eigenen Beobachtungen messen kannst. Das heißt, deren Unrichtigkeit Du jederzeit durch Deine eigenen Beobachtungen beweisen kannst. Es geht immer noch um Diego.
Nach dem Loire-Schloß-Coup, also als er dann reich geworden war, erstarrte seine Mundpartie zusehends, sie gefror. Das war, bitte, mein Eindruck. Der Mund war jetzt eine Wucht, eine pathetische Wucht. Immer begleitet und verstärkt von einem ebenso massiven Pathosblick. Insgesamt eine Dauerdrohgrimasse. Vorher war er doch öfter lustig, manchmal sogar herzlich gewesen. Sogar zu mir.
Daraus schließe ich: Reich sein macht häßlich. Das ist keine moralische, sondern eine ästhetische Erfahrung. Und daß Reichsein unanständig ist, ist auch eine ästhetische Erfahrung. Unanständiges kann vielleicht schön sein. Reichsein gehört nicht zum schönen Unanständigen, sondern zum häßlichen. Reichsein platzt andauernd aus allen Nähten. Sein Zuvielhaben dringt dem Reichen andauernd aus allen Poren. Und aus jedem Wort. Als Diego reich geworden war, kam aus seinem erfrorenen Mund kein Wort so häufig wie das Wort Brüderlichkeit. Der ehedem sportlich Freche und manchmal herzlich Kühne hatte nichts dagegen, finster pastoral zu werden. Er drohte denen, die sich weigerten, in der Brüderlichkeit das globale Heil zu erkennen. Es war, es mußte sein, das ungeheuer angeschwollene Selbstgefühl, das ihn jetzt bedrängte. Er erlebte andauernd nur noch, daß er im Recht war. Mehr im Recht als jeder andere, den er kannte. Das war die Wirkung seines Reichseins. Sein Reichsein erlebte er dann nicht mehr als Reichsein, sondern als Erfolg. Und sein Erfolg kam nicht von seinem Reichsein, sondern von ihm selbst. Das heißt, sein Rechthaben war nicht mehr zurückzuführen auf seinen Erfolg oder auf sein Reichsein, sondern ganz allein auf ihn selbst. Er, er, er selbst war im Recht. Er war das ungeheure Selbst. Das Selbst aller Selbste. Er war das Selbst selbst. Und daß ihr alle um ihn herumsitzt und ihn feiert und verehrt, gibt ihm recht. Das ist der Feudalismus von heute.
Seit mindestens zweitausend Jahren wird die Geisteskraft der Besten verbraucht zur Propagierung dessen, was wir nicht sind, aber sein sollen, dieses Lügengewebe soll uns uns selber bis zur Unfühlbarkeit entfremden. Beispiel Calvin: … reich sind wir, sofern wir dienen können und andere uns brauchen … Das ist Dein Diego, der Propagandist der Brüderlichkeit.
Verzeih mir, lieber Karl, das habe ich nicht gewollt. Du kennst Deinen Diego. Ich kenne meinen beziehungsweise keinen Diego. Es gibt keinen Diego. Es gibt nur Menschen. Und die sind so. Jetzt kann ich einen Satz nicht zurückhalten, einen Satz, dessen Richtigkeit ich zum Glück durch nichts beweisen kann, einen Satz, den ich nur Dir, lieber Karl, sagen kann, verzeih. Der Satz heißt: Reichsein macht böse. Vergiß es. Reichsein ist böse. Vergiß, vergiß, vergiß. Bedenk, ich bin am Ende.
Aber den Vorfahr, unseren Großvater, den wilhelminischen Beamten, den bin ich Dir noch schuldig. Als ich mich wegen unserer Herkunft mit Wilhelm II. beschäftigte, ist mir öfter Diego eingefallen. Und von Wilhelm zwei zu seinem Vetter Ludwig zwei ist es nicht weit. Daß Diegos Ironien über seine eigene Hofhaltung in seinem Neuschwansteinchen nicht ernst zu nehmen sind, darfst Du Dir als Freund nicht gestehen. Eine Frau, die Ludwig und Wilhelm erlebt hat, war von der Ähnlichkeit der beiden «schmerzlich berührt», «dieselbe einstudierte Pose des Kopfes», dieselbe «affektierte Würde», aber das Bemerkenswerte, das auf uns Anwendbare: Keiner und keine hat dem Ludwig oder dem Wilhelm gesagt, wie komisch das wirkte. Und das geblendete Volk seufzte im Chor: Jeder Zoll ein König. Mit welcher Lust beide ihre Diener gequält haben, ist bekannt. Und ich habe erfahren, wie bedrohlich finster Diego werden kann, wenn man einen Vorschlag von ihm nicht für ausgezeichnet hält. Wie er einen da anschaut, wäre zu Ludwigs und Wilhelms Zeiten einer Verbannung vom Hof gleichgekommen. Ludwig befahl, seinen Finanzminister zu blenden, weil der sich weigerte, ihm weitere zwanzig Millionen für sein Neuschwanstein zu bewilligen. Bekanntlich wollte er Richard Wagner zu seinem Finanzminister machen. Ich schweife aus, nicht ab. In unserer Gegenwart lebt viel mehr ungenierte Vergangenheit, als wir wissen, weil wir von der Vergangenheit keine Ahnung mehr haben. Vielleicht bin ich eifersüchtig, weil Diego Dich nicht nur wahr-, sondern eingenommen hat.
Gestern bin ich noch einmal im Englischen Garten herumgetorkelt. Ich habe vielleicht dem Schicksal eine Chance geben wollen. Eine Frau in meinem Alter, die gemerkt hat, was mit mir los ist, hat sich neben mich gestellt und hat, ohne mich anzuschauen, gesagt: Wissen S’, die Jahre vor achtzig sind die schönsten. Jetzt isses nix mehr. Der Mo tot. Hören tut man nimmer gscheit. Schlofn is a nix mehr. Aber bis achtzig war das Leben schön.
Lieber Karl, Du findest hier Papiere, auf denen ich festgehalten habe, was über unseren Großvater herauszubringen war. Viel ist es nicht. Die DDR hat gründlich aufgeräumt mit der Geschichte, die die unsere war. Es ist Wichtigeres zerstört worden. Sebastopol zum Beispiel. Aber selbst wenn ich mit Márfa leben dürfte, es wäre für sie nichts mehr wert. Ich wäre für sie nichts mehr wert. Zum Glück habe ich vor zwanzig Jahren die Pistole in Wolfersreut wieder geholt. Der Bauer lebte noch. Die Pistole hat er gut behandelt.
Ich liebe Dich, lieber Karl, auf eine unausdrückbare Weise. Du warst immer das Nächste, was ich hatte. Nur Dir kann ich sagen, Márfa sieht aus wie eine Blume, die auf dürrem Boden gewachsen ist und das ganz vergessen läßt. Ich kann nicht aufhören, von ihr zu reden. Und muß, um von ihr reden zu können, durch die ganze Welt hindurchreden, die im Weg steht. Ich bin mit Lotte verheiratet. Jedes Wort über Márfa ist ein Stich in Lottes Herz. Márfa ist mein Leben, darum ist sie mein Tod. Ich bin dran jetzt. Mir ist auf dem Kopfe das letzte Moos gewachsen. Mein Atem erreicht meine Lippen kaum noch. Stille, Leere, Ausgeräumtheit. Möchte fort sein von mir und lasse mich nicht gehen. Ich hänge an mir. Ich habe nicht nur eine Orgel gebaut, sondern auch Uhren. Für Kirchtürme sogar. Und träumte vorgestern nacht, daß ich nach einer Uhr greife, habe sie in der Hand, spüre, daß sie nicht mehr fest ist, also Vorsicht, es darf sich in ihr nichts verschieben, sonst bring ich sie nicht mehr zum Gehen, und das muß ich, aber so vorsichtig ich bin, gleich verschieben sich Teile gegeneinander, gleich ist die Uhr ein Haufen Teilchen, und eine zweite dieser Art werde ich nicht kriegen. Ich bin aber im Meer geschwommen und hatte die Uhr am Handgelenk. Darum ist sie jetzt aufgeweicht und kaputt. Und eine Frau schält sich am Strand aus dem Sand, sieht eckig aus, ihr Gesicht aber, sobald ich ihr von der Nähe ins Gesicht schaue, ihr Gesicht ist eine Steppe im Morgenlicht. Verzeih. Wir finden eine beige Decke. Jetzt schon in einem Zimmer. Da kommt ein Mann, der schiebt eine Hand unter sie, und sofort steht sie auf, sehr eng aneinander gehen sie davon. Und sprechen Russisch. Ich suche im Hotel ein Zimmer für Lotte und für mich. Es ist ein kleines Bett. Wir müssen uns eng aneinander pressen. Um uns herum stehen Figuren aus Gips, Trachtenträger aus Gips. Auf den Köpfen hohe Hut-Aufbauten aus Gips. Eine riesige Frau nähert sich. Ich ihr entgegen. Sie: Frau Bürgermeister will mit Ihnen tanzen. Dreht sich ein bißchen, hinter ihr, klein, fast winzig Márfa. Ich kann nicht tanzen mit ihr, sie ist zu klein. Dann reißt mich die Riesin mit sich fort und schleudert mich herum.
Die Utopie aller Utopien: Von uns sollte nichts bleiben als was wir träumten. Ungedeutet. Unsere Träume sind unser Deutlichstes. Mein letzter Traum, gestern nacht: Mein 80. Geburtstag steht bevor. Eingeladen habe ich Dostojewskij, Hölderlin, Bruckner, Karl May, Nietzsche, Bismarck, Franz Kafka und Sylvia Plath. Franz Kafka hat abgesagt, Sylvia Plath hat weder zu- noch abgesagt. Ich sah einem harmonischen Fest entgegen. Das Fest stand bevor. Kam aber nicht näher. Ein stehengebliebener Film. Atemlos.
Ich weiß, lieber Karl, alle haben mein Bestes gewollt.
Auch Diego. Entschuldige mich bei ihm. Mir bleibt für die Abendstunde der Blick auf die Bäume. Eine jenseitsfreie Welt. Ich könnte noch mit Asien telefonieren. Besuch wünschen aus Tokio. Heilsamen Besuch. Die Höflichkeit des Buddhismus, verglichen mit dem aggressiven Wahn unserer aufklärerischen Soziologen. Ich entschuldige mich, lieber Karl. Mir sind die Aggressiven so nah wie die Friedlichen. Ich bin weit weg. Also ist alles gleich nah. Daß ich das Auto verschenkt habe an den jungen Meschenmoser, war Dir nicht verständlich, weil der junge Meschenmoser Dir ein-, zweimal frech gekommen ist. Er ist Oberkellner, lieber Karl, davon muß er sich in der Freizeit erholen. Aber warum kein Auto mehr? Das muß ich Dir noch hinterlassen, weil es zur Spur gehört, die sich durch das Dasein zieht, das ich mein Dasein nennen soll. Ich mit meinem Volvo auf der Autobahn nach Bayreuth. Hölzer zu holen für die Orgel. Da winkten drei so heftig, daß ich rechts ranfahren mußte. Drei Burschen. Sie wollten mitgenommen werden. Das sagte einer zum Fenster herein. Die zwei anderen hatten schon den Kofferraum aufgemacht. Das sah nicht gut aus. Also geb ich Gas und fahr ab. Allerdings mit einem Ruck. Ich komm in Bayreuth an, mach den Kofferraum auf, da liegt blutig eine abgerissene Hand drin. Ich zur Polizei, melde alles, die nehmen die Hand, schreiben alles auf. Nie mehr etwas gehört. Aber an einem Finger dieser Hand war ein Ring.
Lieber Karl, leben können ist eine besondere Fähigkeit. Ich habe nichts auszusetzen an irgendwas oder irgendwem. Wenn ich etwas nicht für richtig halte, fällt mir sofort auf, daß ich nicht weiß, wie man es besser machen könnte. Ich möchte nie mehr jemandem widersprechen. Sich Schreie leihen bei den Gequälten, weil man selber nicht mehr zu schreien wagt. Es fehlt das Recht. Ich bin schon zu ausgeräumt. Ich muß anderen mehr zustimmen als sie mir. Das ist eine Erfahrung.
Ich weiß, daß Du mich für einen Verlierer hältst. Für einen, der unterlegen ist. Für einen Besiegten also.
Márfa hat gesagt: Wir brauchen niemanden. Sie und ich. Sie hat keine Ahnung von Frau Lotte. Eine solche Altehe wehrt sich nicht, glaubt sie. Sie hat gesagt: Wir ziehen in die Gegend von Tbilissi. Du wirst einhundertneunzehn. Dafür sorge ich. Ihr Großvater war Georgier. Sie ist eine gute Ärztin. Sie kann von Lotte wegdenken. Du mußt in den Osten denken, sagt sie. Laß den Westen zurück. Vielleicht ist sie auch nur wahnsinnig. Genau wie ich. Wer liebt, muß wahnsinnig sein. Lotte ist das Gesetz, und das Gesetz ist Lotte, und es gibt nichts außer Lotte. Außer Lotte ist alles Wahn. Aber Lotte ist …
Ich bin besiegt. Immer schon gewesen. Die Sieger haben es ermöglicht, daß der Verlierer ein guter Verlierer sein kann. Er lernt, sich so zu benehmen, daß die Sieger im Genuß ihres Sieges nicht gestört werden. Er hat durch sein Benehmen zu demonstrieren, daß ihm recht geschehen ist. Jeder weiß, wohin er gehört. Der Verfolgungswahn des Verlierers verhilft dem Lorbeer des Siegers zu seinem Immergrün. Der Verfolgungswahn des Verlierers beweist, daß dieser Verlierer ein entsetzlicher Kerl ist. Überall sieht er Verfolger, Unterdrücker, Herrschaft. Er hält sich natürlich für so gut wie die Clique, die sich jeweils in der vollen Gunst der Geschichte räkelt. Eingebaut in die historische Funktion der jeweiligen Clique ist der Schlag, der ihm zu versetzen ist, sobald er sich rührt. Also lernt er, sich nicht mehr zu rühren. Dann ist ihm ein Glück beschieden, das Weltreisen nicht ausschließt.
Lotte und ich sind aufgenommen in diese Gesetzesmaschine. Márfa hätte diesen weltherrschaftlichen Opportunismusautomaten zerlacht. Die Blume, gewachsen auf dürrem Boden, und das läßt sie vergessen.
Lieber Karl, nur Du weißt, wie es war, wenn es im Winter geregnet hat, im Flur dann die nassen Mäntel, wie die rochen, im Flur, die nassen Mäntel, wenn es geregnet hat, im Winter, Karl. Als Fische geboren und sterben als Vögel. Als Geborstene ragen wir in die Welt.
Abschied. Klingt süß. Müßte ein Wort sein wie ein Hieb. Unglück macht trivial. Meine Leute mußten mich wegziehen. Angesichts der Vernichtung gibt es nichts Falsches. Außer dem Leben. Sogar ohne daß ich Dir etwas gesagt habe, hast Du mich immer verstanden. Das glaube ich.
Leb wohl.
Dich grüßt immer
Erewein
Karl las weiter.
Über unseren Großvater.
Am 24. Oktober 1899 wurde der Sang an Aegir an der königlichen Oper in Berlin uraufgeführt. Es war eine Matinee. Die Majestäten, Kaiser Wilhelm und Auguste Viktoria, waren anwesend. Wilhelm wurde gefeiert. Als Komponist. Der Sang an Aegir galt sofort als sein Meisterstück. Bei den Majestäten saßen auch der Fürst und die Fürstin zu Wied. Der Fürst, noch nicht sechzig, aber silberhaarig, Bruder der Königin von Rumänien, Onkel der Königin von Holland, erhob sich jedesmal, wenn der Beifall anschwoll, von seinem Sitz und verbeugte sich vor seinem Neffen Wilhelm. Und so oft er sich erhob und sich verneigte, Wilhelm nahm es jedesmal gnädig entgegen.
Wilhelms Schwester, die Prinzessin von Meiningen, wollte vom Grafen Moltke, dem Adjutanten des Kaisers, wissen, wer dem Kaiser geholfen habe, diesen fürchterlichen Sang an Aegir zu komponieren. Es ist überliefert, daß Graf Moltke geantwortet hat, das sei ein Staatsgeheimnis. Als sie sich damit nicht zufriedengab, sagte Moltke klipp und klar: Seine Majestät hat das Lied komponiert.
Ob gute oder schlechte Musik, unser Großvater Friedrich Karl hat an der Komposition des Sangs an Aegir zumindest mitgewirkt. Erstaunlich ist, daß es dem Kaiser erst im Jahr 1899 gelang, seine Komposition in Berlin zur Uraufführung zu bringen. Schon im September 1897 erhielt die Musiklehrerin Hedwig Jaede in Stettin drei Monate Gefängnis, weil sie im Jahr 1894 den Sang an Aegir schlechtes Zeug genannt hatte. Fräulein Jaede richtete ein Gnadengesuch an die Kaiserin, die wagte nicht, den Kaiser damit zu behelligen, weil sie wußte, wie empfindlich er war, wenn er als schaffender Künstler kritisiert wurde. Immerhin versicherte ihm eine hofnahe Presse, daß die Hohenzollern in jeder Generation Talente, wenn nicht Genies vorzuweisen hätten. Schriftsteller, Dichter, Musiker, Maler. Was Fräulein Jaede gesagt hatte, fiel unter Majestätsbeleidigung.
Dieses Vergehen verjährte erst nach fünf Jahren. Fünf Jahre lang konnte jeder einen anzeigen, der etwas gesagt oder geschrieben hatte, was den Kaiser beleidigte. Die Kaiserin gab das Gnadengesuch der Musiklehrerin an Herrn von Levetzow, der schon Präsident des Reichstags gewesen war. Der fragte den Kaiser, ob Majestätsbeleidigungen nicht doch zu streng bestraft würden. Der Kaiser: Sobald er den richtigen Mann für den Kanzlerposten finde, müsse der ein Gesetz einbringen, das die Strafen für derartige Verräter verdoppelt. Von Levetzow wechselte das Thema. Den Sang an Aegir hat es also schon 1894 gegeben.
Bezeugt ist, daß der Kaiser im Mai 1894, begleitet vom Grafen Goertz, im Eulenburgschen Schloß Liebenberg die Salzwedeler Ulanen dirigierte. Die Militärkapelle spielte, und der Kaiser dirigierte, während die Gäste dinierten. Er dirigierte nicht nur den Marsch aus Aida und den Hohenfriedberger, sondern auch den Reitermarsch des Grafen von Moltke und seinen Sang an Aegir.
Der Großvater Kahn war schon zwei Wochen davor auf das Schloß Liebenberg befohlen worden, er mußte die Militärkapelle so trainieren, daß beim kaiserlichen Dirigat nichts passieren konnte.
Wie kam die Komposition zustande? Unser Großvater Friedrich Karl Kahn war Musiklehrer in Potsdam am Gymnasium und wohnte in einem Haus, in dem auch ein Kaiserlicher Kammerdiener wohnte. Friedrich Quentz hieß er. Der wurde wohl Zeuge, wie Seine Majestät am Klavier klimperte. Immer ohne Noten. Und nur mit einer Hand. Seine Linke war zurückgeblieben, war eine Kinderhand geblieben. Der Kaiser versuchte, das nicht merken zu lassen. Alle wußten es. Die einen schlossen sich der Erklärung an, die die Hebamme gab: Ein Nervenleiden der sehr jungen Mutter sei schuld. Die anderen machten die Hebamme für den Schaden verantwortlich. Die Hebamme hat den Frischgeborenen, der keinen Laut von sich gab, nach alter Hebammensitte mit einem nassen Handtuch geschlagen, bis er schrie; dabei habe sie das Ellbogengelenk ausgerenkt.
Der Kammerdiener Quentz machte eine Bemerkung. Er kenne, sagte er, einen hochbegabten Musiker, dem es eine Ehre wäre, Seiner Majestät Talent zu entfalten. So kam der Vorfahr ins Neue Palais. Was er dort erlebte, erzählte er daheim und in den Briefen an seine Schwester Mathilde, in Potsdam geboren, in Stuttgart verheiratet und süchtig nach Berliner Hofklatsch, wenn darin nur der von ihr verehrte Kaiser vorkam. Die Entstehung des Sangs an Aegir hat Friedrich Karl seiner Schwester in mehreren Briefen geschildert. Die Briefe haben sich bei den Nachkommen der Großtante Mathilde erhalten. Danach läßt sich sagen: Der Kaiser war dem Meer verfallen. Den Künstler Saltzmann ließ er das Meer wieder und wieder skizzieren und vollendete die Bilder und hielt sie für eigene und signierte sie. Aufführungen des Fliegenden Holländers besuchte der Kaiser nur in Admirals-Uniform.
Der Kaiser suchte auf dem Klavier eine Melodie zu finden, um die Geschichte des Seegotts Aegir zu erzählen. Aegir hatte seinen Sitz auf Læsø im Kattegat. Neun Wellenmädchen waren seine Kinder. Als der Gott Loki einmal Aegir besuchte, geriet er mit den neun Wellenmädchen in einen Streit, den er nicht überlebte.
Der Vorfahr schilderte der Tante, wie er mit der endgültigen Fixierung der auf dem Klavier gemeinsam ertasteten Melodie beauftragt wurde. Und zwar schilderte er, daß Auguste Viktoria wissen wollte, wie dieses Werk entstanden sei. Und er: Mit Eurer Majestät Erlaubnis wage ich daran zu erinnern, daß das feinste Gehör von uns allen Seiner Majestät eigen ist. Und wenn Eure Majestät mich nicht verraten, so fiel mir als untertänigstem Diener die Ehre zu, die allerhöchste Komposition aufzuzeichnen. Bei der Ausarbeitung des Notierten habe er sich durchaus inspiriert gefühlt von des Grafen Eulenburg Legende des Nordens und von den strömenden Tönen Edvard Griegs, den Seine Majestät ja auf seiner letzten Nordlandreise kennen- und schätzengelernt habe.
So weit war der Vorfahr im Jahr 1894. Dann infizierte er den Grafen Eulenburg, den engsten Freund des Kaisers, mit einer Idee. Eulenburg hatte dafür zu sorgen, daß es dem Kaiser nie langweilig wurde. In einem Schreiben eröffnete Friedrich Karl dem Grafen, daß der größte Maler der Epoche, Adolph Menzel, im Juni 1895 achtzig werde. Dieser geniale Künstler sei, als er im Schloß Sanssouci Skizzen gemacht habe für sein Bild, das das Flötenkonzert Friedrichs des Großen darstellt, vom damaligen Hofmarschall Friedrich Wilhelm IV., dem inzwischen verstorbenen Grafen Keller, miserabel behandelt worden. Menzel habe darum gebeten, das Musikzimmer Friedrichs des Großen so beleuchtet zu sehen, wie es beleuchtet war, als der König darin musizierte. In den zeitgenössischen Schilderungen ist überliefert, daß ein einziger Lüster, mit Kerzen bestückt, von der Decke hing. Diese Kerzen wollte der Künstler angezündet sehen. Abgelehnt. Er hat dann gemalt, was ihm verwehrt wurde. Der Flöte spielende König im Lüsterglanz, der auch noch vom spiegelnden Boden verstärkt wird. Man würdigte den Künstler keiner Antwort. Die Räume des Schlosses waren ihm nur zugänglich gewesen wie jedem zahlenden Besucher. Er mußte das Material zu seinen Skizzen in Museen und Archiven zusammensuchen. Wäre es da nicht angebracht, jenes Flötenkonzert-Bild in den Originalräumen zu inszenieren und dazu den Künstler zu seinem Achtzigsten einzuladen? Eulenburg spurte. Der Kaiser auch: Ich werde, was Preußen Menzel schuldet, bezahlen. Und tat’s. Das Gemälde wurde genau nachgestellt, der Cellist, der Geiger und am Spinett der Vorfahr selber in Maske und Kostüm Carl Philipp Emanuel Bachs, der große Friedrich, dargestellt von einem schönen jungen Musiker, Ihre Majestät als Prinzessin Amalia, Seine Majestät in der Kürassieruniform aus der Zeit Friedrichs des Großen als Generaladjutant Baron von Lentulus. Als der achtzigjährige Künstler, der nicht wußte, wozu er geladen war, zwischen den Riesengrenadieren in den historischen blauen und roten Uniformen auf das Schloß zuging, als er die langen weißen Gamaschen sah, die bis über die Knie reichten, und die vergoldeten Helme aus Blech auf den gepuderten Perücken, da wußte er, was hier gespielt wurde. Im Vestibül wurde der Künstler erwartet vom Generaladjutanten Baron von Lentulus, in dem er wohl den Kaiser erkannte. Jetzt spielte er seinerseits mit. Ich habe die Ehre, den Generaladjutanten Baron von Lentulus vor mir zu sehen. Und bat ihn, er möge Seiner Majestät, dem König, den untertänigsten Dank für diese unerwartete Ehrung überbringen. Dann wurde musiziert wie damals. Der Vorfahr durfte das Klavierkonzert des Prinzen Ludwig Ferdinand von Preußen spielen, und zuletzt überbot der Geigenvirtuose Joachim alles mit Johann Sebastian Bach.
Graf Eulenburg vergaß im Erfolgsrausch dieser Soiree nicht, wem das zu danken sei, und sorgte beim Kaiser dafür, daß Friedrich Karl Kahn am Jahresende in den erblichen Adelsstand erhoben wurde. Natürlich mußte die Presse, die davon lebt, daß immer etwas fehlt, nachher bemerken, die Menzel-Ehrung sei ja gut gemeint gewesen, aber an der Tafel seien dann eben nicht Voltaire, La Mettrie, D’Argens und Algarotti höchst geistreich übereinander hergefallen, sondern eher brave Perückenträger hätten dem Herrscherpaar Komplimente geliefert, von denen sie hofften, sie seien den Allerhöchsten Ohren noch neu.
Von da an wurde der Vorfahr immer wieder ins Eulenburgsche Schloß Liebenberg bestellt, um abends die Jagdgäste des Kaisers und diesen selbst mit Eulenburgschen Liedern zu unterhalten. Auch ins Neue Palais und ins Marmorpalais wurde er bestellt und durfte, wenn Graf Eulenburg nicht im Lande war und Seine Majestät Sehnsucht empfand nach den Balladen oder nach den Rosenliedern seines Freundes, vortragen, und Seine Majestät hatte die Noten vor sich auf den Knien und blätterte um, wenn Umblättern fällig war. Friedrich Karl von Kahn, wie er jetzt hieß, glaubte, Seine Majestät genieße es, Noten lesen zu können.
Seiner Schwester schrieb er, die Melodien der Eulenburg-Lieder hätten mehr von Schumann als die Texte von Lenau und Heine. Eine Sehnsucht nahm der Vorfahr unerfüllt ins Grab: einmal vom Reisekaiser auf der kaiserlichen Yacht Hohenzollern mitgenommen zu werden ins Mittelmeer und auf Korfu im Achilleon vor dem Kaiser und seinen Gästen singen und spielen zu dürfen.
Das Ende der Hofkarriere unseres Großvaters entsprach nicht ihrem Beginn. Sie hatte ja vernünftig und hilfreich begonnen. Aber der Vorfahr hat offenbar nicht gelernt, wie man auf die Stimmungen des Kaisers zu reagieren hatte. Der Kammerdiener, Herr Quentz, durch den sowohl Graf Eulenburg wie auch der Hofmarschall Baron von Lyncker den Großvater jeweils orderten, hatte zu melden, daß der Kaiser sich überraschend für drei Tage nach Rominten begebe, aber Graf Eulenburg, der zur Zeit heiser sei, könne, selbst wenn er mit von der Partie wäre, abends für den Kaiser, falls der das wünsche, die beliebten Balladen nicht singen. Der Graf könne wahrscheinlich überhaupt nicht mit hinaus nach Rominten, da Seine Majestät nichts so wenig ertrage wie einen vielleicht erkälteten Menschen. Und illustrierte dem Großvater die kaiserliche Empfindlichkeit schnell mit ein paar am Hof kursierenden Geschichten, die wiederum der Vorfahr seiner wilhelmsüchtigen Schwester in Stuttgart genußvoll weitermeldete. Hören Seine Majestät von Ihrer Majestät, eine ihrer Hofdamen habe Halsweh, wird befohlen, daß diese Hofdame das Marmorpalais sofort zu verlassen habe, und von Ihrer Majestät zieht der Kaiser sich zurück, bis erwiesen ist, daß die Kaiserin von der Hofdame nicht angesteckt wurde. Den Hofmarschall von Liebenau fragt er, ob in Potsdam Diphtheritisfälle gemeldet seien. Und der: Nicht daß ich wüßte, Eure Majestät. Diese Antwort empört den Kaiser. Das heiße doch, daß es dem Hofmarschall an dem von ihm verlangbaren Kenntnisstand mangle oder daß Krankheitsfälle verheimlicht würden. Und befiehlt, daß alle Personen des Gefolges, welche Halsschmerzen haben, sofort ins Hospital gebracht werden müssen. Jeder Dienstbote ist informiert und verpflichtet, jede noch so kleine Krankheit in der Familie zu melden. Das gilt für den Generaladjutanten des Kaisers genauso wie für den letzten Küchenjungen. Oft genug hat man den Kaiser bei Empfängen plötzlich wegeilen sehen von einer Person, die dann höchst unglücklich zurückblieb und, gefragt, wovon zuletzt gesprochen wurde, antwortete: Von der Erkältung eines Onkels.
Der Großvater ließ seine Schwester wissen, daß er die Furcht des Kaisers vor Ansteckung insbesondere im Halsbereich nicht belächelnswert finde, er sei als Lehrer winters oft genug voller Angst, etwas von einem Schülerhalsweh einzufangen und dann mindestens eine Woche lang an einer eitrigen Mandelentzündung leiden zu müssen. Nur Immunitätsbarbaren könnten über eine solche Empfindlichkeit spotten. Wenn er die Macht hätte, würde er jeden, der hüstelt oder rotzt, sofort der Schule verweisen.
Graf Eulenburg fiel also als Balladensänger aus, der Großvater wurde bestellt. Für alle Fälle, hieß es.
Zu einem Jagdausflug lud der Kaiser immer mindestens zwei Dutzend Gäste, dazu gehörte ein Troß von sechzig oder achtzig Bedienten. Keine der Leidenschaften des Kaisers, das Uniformtragen ausgenommen, dürfte ihn intensiver beherrscht haben als die Leidenschaft, das Wild zu erlegen.
In Rominten sollte diesmal ein Elch zu sehen sein. Als dort alle die ihnen zugewiesenen Quartiere bezogen hatten, brachen die Gäste auf, um den Elch zu sehen. Der Vorfahr durfte mit. Immerhin war er jetzt Herr von Kahn und ein Künstler. Er stand dann am Waldrand in einer langen Reihe von Herren höheren Ranges, stand mehrere Stunden, die Lichtung, in der der Elch auftreten sollte, blieb leer, der Kaiser war enttäuscht. Also zurück ins Jagdhaus. Das lag nun jenseits der Rominte. Der Kaiser hatte dann plötzlich den Einfall zu befehlen, daß man nicht an der Rominte entlang bis zur Brücke gehe, über die man hergekommen war, er befahl, die Rominte zu durchwaten, und tat das selber allen voran. Es war schon Oktober. Es blieb nichts übrig als zu folgen. Drüben der zweite Befehl: Keiner geht auf sein Zimmer und kleidet sich um, alle erscheinen so, wie sie jetzt sind, sofort bei Tisch. Der Kaiser erlebte seine Jagdausflüge und das Abschießen der Hirsche und Hasen auch als Ersatz für Kriegerisches. Er ließ, was er tötete, zählen, wie der Feldherr die toten Soldaten des Feindes zählen läßt. Über fünfzigtausend Hirsche und Hasen sollen es gewesen sein. Einmal hat er dem durch die Treiber gestellten Wild, bevor er abdrückte, zugerufen, was sein großer Vorfahre bei Leuthen seinen Soldaten zugerufen hat: Hunde, wollt ihr ewig leben. Von seinen Jagdgästen erwartete er offenbar, daß sie die Jagdsituationen auch mit solchen Vorstellungen erlebten und bestanden.
Der Großvater versagte. Er hatte keine Angst vor Diphtheritis, aber eben vor eitrigen Mandelentzündungen. Für drei Tage hatte ihn der Rektor des Real-Gymnasiums beurlaubt, aber auch das nicht, ohne ironisch zu fragen, wie hoch sich Herr von Kahn eigentlich noch hinaufsingen wolle. Daß er sich nach dem Jagdausflug noch eine Woche mit Mandelentzündung ins Bett lege, das ging einfach nicht. Also rasch ins Zimmer und wenigstens trockene Socken und Schuhe angezogen, wenn schon die bis übers Knie hinauf nassen Hosen und Unterhosen blieben. Da alle außer ihm den Befehl des Kaisers mannhaft befolgt hatten, war er der letzte, der im Speisesaal erschien. Der Kaiser tat, als bemerke er das nicht. Aber das war das letzte Mal, daß er Friedrich Karl von Kahn bestellt hatte. Vom Grafen Eulenburg ist ein herzlicher Brief an den Großvater überliefert. Seine Majestät reagiere in solchen Situationen immer so lebhaft, wie nur das Genie reagieren könne. Übermäßig! In allem mehr als vorstellbar! Damit sei nun einmal Seine Majestät gesegnet. Manchmal könnten Unverständige meinen: Mehr geschlagen als gesegnet. Aber er, als Kenner, dürfe bezeugen: Gesegnet! Dann noch zum Trost: Seine Majestät befrage sich selber regelmäßig, ob diese und jene jähe Entscheidung Bestand haben solle oder zu revidieren sei.
Diese Entscheidung gehörte offenbar zu den nicht revidierten.
Der Großvater hat nicht gelitten darunter. Und sein Rektor war froh, den tüchtigen Pädagogen und Sänger wieder ganz für seine Schule zu haben. Unser Vater war bei Kriegsausbruch (so nannte man das) neunzehn Jahre alt und einundzwanzig, als er als «Kriegsfreiwilliger» eingezogen wurde, und dreiundzwanzig, als ihm vier Finger der linken Hand von einem Granatsplitter weggerissen wurden. Ich war achtzehn, als ich eingezogen wurde, auch als Freiwilliger. Ein paar Tage bevor ich einundzwanzig wurde, war alles aus.
Ich bin jetzt der Ansicht, daß es ohne den ersten Krieg das, was zum zweiten Krieg führte, nicht gegeben hätte. Weil der zweite Krieg in mein Leben hineingepfuscht hat und ohne den ersten Krieg nicht stattgefunden hätte, hat es mich interessiert, warum Wilhelm II. nicht gehindert werden konnte, dieses Reich in diesen Krieg hineinzuregieren.
Kein Mensch dürfte je begriffen haben, wie Wilhelm sein Kaisersein von Gottes Gnaden empfand und praktizierte. Ein konstitutioneller Monarch zu sein, einem Parlament, einem Kanzler entsprechen zu müssen, eine Verfassung zu respektieren, das blieb ihm fremd. Darüber konnte er, wenn er mit sich allein war, nur lachen.
Wilhelm II., das glaube ich erkannt zu haben, hat alles nur gespielt. Auch den Ernst. Auch den Spaß. Er hat die Krone vom Altar empfangen und seine Legitimität von Gott. Er war kein religiöser Mensch. Er hat den Religiösen gespielt, wie er das Gottesgnadentum und den absoluten Kaiser gespielt hat. Er war geschützt durch einen Wahn, der sich gerade noch so wirklichkeitsgerecht aufführen konnte, daß man dem von ihm Benommenen nicht in den Arm fallen konnte. So wie Don Quijote, als das Mittelalter vorbei war, den mittelalterlichen Ritter mit allem Drum und Dran gab, so gab dieser Wilhelm in einem aufgeklärten Zeitalter den Gottesgnadenkaiser. Nur, Don Quijote tobte sich auf dem Papier aus, Wilhelm im Marmorpalais, im Neuen Palais, im Stadtschloß, im Reichstag und als «Reisekaiser» jedes Jahr an einhundertfünfzig Tagen überall, von den nördlichsten Fjorden bis nach Jerusalem.
Herr Quentz, der Kammerdiener Seiner Majestät, war auch Vorgesetzter der Garderobiers des Kaisers. Er war verantwortlich dafür, daß Seine Majestät in jedem Augenblick jede der über dreihundert Uniformen, die in mehreren Sälen des Neuen Palais in Potsdam gepflegt wurden, abrufen und tragen konnte. Eine Kürassieruniform zum Beispiel bestand aus vierzehn verschiedenen Teilen. Daß Seine Majestät auf Reisen viermal am Tag die Uniform wechselte, muß nicht verwundern, aber auch zu Hause in Potsdam war damit zu rechnen, daß der Kaiser an einem Tag in vier oder fünf verschiedenen Uniformen erscheinen wollte. Das waren die Uniformen der Regimenter, denen der Kaiser mit irgendeinem Rang angehörte. Denen er neue Fahnen oder Kasernen stiftete und dann die jeweils fällige Rede hielt. In einer Extra-Abteilung wurden die ausländischen Uniformen gepflegt. Der Kaiser war vom Oberst bis zum Generalmajor und Feldmarschall Offizier in vierzehn ausländischen Armeen.
Als Rußlands Niederlage im Krieg gegen Japan perfekt war, telegraphierte er dem Zarenvetter «Waidmannsheil für das große Spiel». Der alte Moltke, das Militärgenie des Krieges anno 1870/71, seufzte: «Dekorativ ist die Losung des Tages. Übungen werden zu parademäßigen Theaterstücken.» Der Kaiser spielte dieses Auftrumpfspiel bis zu einem tödlichen Ernst, den zu begreifen ihm seine Benommenheit ersparte. Verantwortlich fühlte er sich, das hat er hörbar genug gesagt, nur dem Allmächtigen, von dem er die Krone empfangen hatte. An den er keine Sekunde lang geglaubt hat, wie ein religiöser Mensch an Gott glaubt. Gott, das war die allerhöchste Figur im Spiel. Daß er selber ernstunfähig war, hat er weder geahnt noch gewußt, noch begriffen. Man hätte ihm in den Arm fallen müssen.
Der Vorfahr kommentiert diese und jene Manie der Majestät durchaus witzig. Er bemerkt sogar, daß Wilhelm wahrscheinlich aus einer schwer erklärlichen persönlichen Unsicherheit von einer Uniform in die andere floh. Er hat durch den Kammerdiener den Text eines Telegramms erfahren, das Wilhelm an seinen Vetter, den Zaren Nikolaus, sandte, bevor sie sich auf der Zarenyacht trafen: «Welchen Anzug für Begegnung? Willy.» So unsicher war er. Es ist zuviel verlangt, vom Großvater zu erwarten, er hätte die Erhebung in den erblichen Adelsstand ablehnen sollen. Wir haben die drei Buchstaben in unserem Namen ja auch nicht gestrichen. Die Vergangenheit ist nicht abwählbar. Man vergesse nicht — und das macht diesen Wilhelm für heutige Vorgänge auf hoher Ebene musterhaft —: Wilhelm war beliebt. Heute würde man sagen: echt beliebt. Er wurde verehrt. Er war der erste Medienkaiser. Niemand in Europa, auch nicht Caruso, wurde so häufig, so feierlich und so phantastisch fotografiert wie der Kaiserdarsteller Wilhelm II. Keiner wurde so ätzend oder so liebevoll karikiert. Das steigerte seinen Wahn, bestätigte ihn. Er brauchte Gott als höchste Kulissenzutat, die Massen, längst gottverlassen, brauchten ihn als Abgott. So jemandem in den Arm zu fallen wagt man in Deutschland nicht. Er war ein Megastar. Nichts anderes. Auch heute ist es undenkbar, einen Megastar daran zu hindern, seine Siege zu pflücken. Seine Zeitgeistsiege.
Wie kommt das, daß wir solche bis zum Irrsinn unfähige Figuren, Figuren äußerster Unmöglichkeit, nicht loswerden ohne Krieg, ohne Gesamtkatastrophe? Die Kapelle im Eulenburg-Schloß Liebenberg heißt heute Libertas-Kapelle, weil Libertas, die Enkeltochter Eulenburgs, hier getraut und dann, 1942, von Hitlers Bande in Plötzensee hingerichtet worden ist, zusammen mit ihrem Mann Harro Schulze-Boysen, beide Widerstandskämpfer, organisiert in der Roten Kapelle. Die um Hitler herum haben sich viel schlimmer aufgeführt als die um Wilhelm herum.
Die Sehnsucht der Deutschen nach durch keine Vernunft begrenzten Figuren. Selbst wenn das eine Sehnsucht aller Menschen sein sollte, so haben andere Länder doch verläßliche Hemmungen kultiviert, die uns fehlen. Hitler war der erste Mediendiktator, wie Wilhelm der erste Medienkaiser war. Verglichen mit Hitler darf man Wilhelm schuldunfähig nennen. Nach dem antiken Rom hat es, außer der deutschen, keine westliche Gesellschaft mehr zugelassen, daß sich einer zum Abgott machen lassen konnte und sich dann auch entsprechend benahm. Derjenige muß nur die jeweils neueste Technik der Selbstvervielfältigung so rechtzeitig, so früh benutzen, daß seine Person das technische Wunder selbst wird. Eine bis dahin unerhörte Allgegenwart. Dann funktioniert das. In Deutschland. Warum? Die Person im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.
Ich war immer Teil des Problems. Ich bin nicht selbständig geworden. Und unabhängig schon gar nicht. Ich verabschiede mich. Zu spät.
Fritz Wunderlich ist, ich glaube, neununddreißig gewesen, als er im Jagdhaus eines Freundes die Treppe hinunterstürzte und starb. Das letzte, was ich hören werde, ist seine Stimme. Wenn er die Schubertlieder und die Schumannlieder singt, schreit er. Und das hat nichts mit Lautstärke zu tun. Seine Stimme schreit, weil er diese Lieder singt. Diese Lieder schreien, wenn sie richtig gesungen werden. Ich habe gewählt. Schumann — Wunderlich — Heine: Im wunderschönen Monat Mai. Mayday.
Helen war zurück, kam hinauf, klopfte an, Karl sagte Ja, sie trat ein, sah ihn da sitzen, er fragte: Darf ich dir etwas vorlesen?
Dann las er ihr alles vor, mußte aber Pausen machen, Atem holen, sonst hätte er nicht weiterlesen können.
Als es ihm gelungen war, alles vorzulesen, schaute er wieder auf. Helen weinte. Sie weinte so leise, wie sie lebte.
Dann sagte sie: Dieser ruhige Mensch.
Karl sagte, er müsse der Schwägerin schreiben. Zum ersten Mal sagte er nicht Frau Lotte, sondern Schwägerin.
In ihm stürmte es. Wilhelmprotz, Hitlerwahn, Ereweinelend. Das Lebensdurcheinander. Im Katastrophenschutt und — dreck die Götzenbilder.
Helen sagte noch einmal: Dieser ruhige Mensch. Sie müsse sich vorwerfen, daß sie, was jetzt passiert sei, nicht für möglich gehalten habe.
Karl sagte: Das ist immer so.