Frau Lenneweit fragte, ob sie durchstellen solle, Graf Josef sei am Apparat. Frau Lenneweit wußte so gut wie Karl, daß Graf Josef anrufen würde, bis er Karl von Kahn erreichte, also sagte er: Bringen wir’s hinter uns. Graf Josef rief immer für Benedikt Loibl an, immer um zu melden, was Loibl jetzt wieder angerichtet hatte. In der Firma hießen Graf Josef und Benedikt Loibl: Unsere Laienschauspieler.
Karl war jedesmal überrascht, was Graf Josef sich zur Dringlichmachung seines Anliegens wieder hatte einfallen lassen. Heute meldete Graf Josef: Er habe Benedikt Loibl auf der Liegewiese gefunden, ohnmächtig, Cognac, die leere Flasche neben ihm im Gras. Als es Graf Josef gelungen war, Loibl mit besonders sanften Ohrfeigen aus dem Koma zurückzurufen, erfuhr er: Benedikt Loibl hat Herrn von Kahn betrogen. Ist ihm regelrecht untreu geworden. Daß er seinen Retter und Gönner betrogen hat, das verzeihe ihm, wer wolle, er verzeihe es sich nicht. Da geschieht es ihm gerade recht, daß er bestraft wird jetzt, dreihunderttausend sind weg. Eine Immobilie und dann Insolvenz, er sieht keinen Cent mehr von dem Geld und hat, was er da investiert hat, doch gar nicht gehabt, das hat er geliehen. Ein paar Tage flau, das Wetter auch nichts, der Umsatz sackt ab, jetzt geht’s los, denkt er, jetzt aber schnell, und da bietet sich, bietet ihm der Steuerberater diese Immobilie. Wenn Herr von Kahn es über sich brächte und käme, verlangen kann er’s nicht, bei Gott, das weiß er. Und weinte und schniefte und schneuzte sich. Und er, Graf Josef, hat den Benedikt Loibl, der ja sein Chef ist, so schnell wie möglich durch den Hintergang ins Haus und ins Büro schleppen müssen. Hätte ein Hotelgast den Chef in diesem Zustand gesehen, hätte der das Verkehrsamt angerufen, die Konzession wär weg. Jetzt hocke er auf seinem Bürostuhl, den Kopf auf dem Schreibtisch. Wenn Graf Josef sage, Chef, was ist jetzt? murmle der immer wieder nur den gleichen Satz: Ich muß erwachsen werden, endlich. Immer bloß das. Graf Josef habe ihm ins Ohr gerufen, ob er Herrn von Kahn verständigen solle. Da habe der Chef sich aufgerichtet und habe den ersten klaren Satz klar ausgesprochen: Graf Josef, ja, aber sag Herrn von Kahn, wie ich mich genier.
Karl sagte seinen Spruch für solche Fälle: In jedem Sturz steckt ein Start. Den finden wir. Um fünf bin ich bei euch. Bei Frau Lenneweit bestellte er ein Vollmacht-Formular.
Dr. Herzig kam aus seinem Zimmer, war wie immer in Eile, er fährt nach Frankfurt, dort ist morgen Medtech Day. Der Early Stage-Markt blüht, sagte er, die berührungsfreie Meßtechnik wird ein Renner. Oh, sagte er, stellte die Tasche ab, ging noch einmal in sein Zimmer, kam mit einem Blatt zurück, da habe er doch einen Spruch vom Hausheiligen der Firma, als Zitat der Woche für die nächste Kunden-Post. Hören Sie, bitte, Carla — er nannte Frau Lenneweit Carla, sie ihn Dirk — , den Spruch unseres Hausheiligen zum heutigen Tage. Also, spricht Warren Buffett: It’s not that I want Money. It’s the fun of making it and watching it grow.
Karl fragte: Was sagen unsere Damen dazu?
Frau Lenneweit in Einserschülerin-Schnelligkeit: Ja, lieber Dirk, mit dem Spruch haben wir im Oktober 1995 unsere Kunden-Post eröffnet.
Frau Leuthold, satirisch: Da war ich noch im Kindergarten.
Karl sagte, er finde es sympathisch, daß Dr. Dirk den Hausheiligen gelten lasse.
Herr Brauch sagte von seiner Tür her: Vielleicht sogar in der Praxis, wer weiß.
Muß ich da einen kritischen Unterton heraushören, sagte Dr. Dirk.
Nie ohne den Oberton der Bewunderung, sagte Herr Brauch.
Dr. Dirk mußte jetzt wirklich gehen.
Karl von Kahn dachte an die Kunden-Post-Nummer, in der er über Mr. Buffett einen verehrungsvollen Artikel geschrieben hatte, mit Bild. Insgeheim hatte er gehofft, daß jemand bemerke, wie er Mr. Buffett gleichsehe. Aber weder einem Kunden noch einem Mitarbeiter, noch Helen war diese Ähnlichkeit aufgefallen.
Frau Lenneweit mahnte: Sie hat einem, der eine arg laute Stimme hat, versprochen, daß er, sobald Herr von Kahn frei sei, zurückgerufen werde. Darauf hat dieser Laute gesagt: Aber glauben Sie nicht, daß ich, falls Sie mich auf die lange Bank schieben, nicht noch einmal aufkreuze bei Ihnen. Ich gehöre zum Stamm der Gnadenlosen. Jetzt verband sie.
Es meldete sich Theodor Strabanzer. Karl hatte das Gefühl, der genieße seinen Namen, wenn er ihn aussprach. Er sprach viel lauter, als man es am Telefon erwartet. Schon gar nicht bei der bloßen Namensnennung.
Sehr gut, maravilloso, daß Sie al instante reagieren, rief Herr Strabanzer, so muß es gehen, samuraisch knapp. Sein alter Freund, die Exzellenz Stengl, habe ihm gesagt, der einzige, dem er es gönne, an einem so rasend schönen Projekt finanzierend mitmachen zu dürfen, sei Herr von Kahn. Und seinem alten Freund Amadeus traue er wie der Schlüssel dem Loch.
Karl merkte, daß Herr Strabanzer glaubte, Karl von Kahn müsse ihn kennen.
Welche seiner Filme Herr von Kahn gesehen habe, sei im Augenblick nicht wichtig, sagte Herr Strabanzer. Egal, wie diese Filme angekommen oder nicht angekommen seien, sie seien leider alle gleich gut. Manchmal frage er sich, wie lange er noch so tun solle, als wisse er nicht, daß er der Beste sei. Egal, jetzt steht er kurz vor seinem bisher steilsten und geilsten Projekt und hat, weil ein armes Schwein sein Vertrauen mißbraucht und ihn hereingelegt hat, noch Platz für einen Investor, der sich schnell mal dusselig verdienen möchte.
Karl wußte natürlich, daß er in den Besitzer dieser um sich schlagenden Stimme keinen Euro investieren werde, aber er hörte sich sagen, daß er ab sechs Uhr im Kronprinz Ludwig in Herrsching zu sprechen sei.
Herr Strabanzer schrie geradezu auf. Beim Benedikt im Kronprinz, mein Herr, Zufälle gibt es nicht. Wenn man mal sein eigenes Netzwerk entdeckt hat, gibt es keinen Fehltritt mehr. Dem Wahren nur ist ewiges Bestehen, Und immer wird das Täuschende verwehen.
Jetzt mußte Karl die Stimme auch anheben. Karl-Theodor-Stube, sagte er.
Meine Stube, rief der. Falls Sie mich allerdings aus Versehen oder absichtlich Theo nennen, darf unsere Beziehung als beendet gelten.
Also um sechs, sagte Karl.
In der Karl-Theodor-Stube, rief der andere.
Daß der Immerlaute im Kronprinz Ludwig die Stuben kannte und sogar den Wandspruch der Karl-Theodor-Stube aufsagen konnte, milderte die Abneigung, die sich gebildet hatte, als dessen Suada ihm ins Ohr geprasselt war. Daß einer alles, was er sagt, immer gleich laut sagt, ist interessant. Und wieder eine Amadeus-Stengl-Empfehlung! Mit wem war der eigentlich nicht befreundet! Netzwerk!
Helen war den ganzen Nachmittag in Klausur. So nannte sie es, wenn der Erfolg davon abhing, daß sie ihre Klienten oder Patienten keine Sekunde lang aus den Augen ließ. Heute war es ein Paar, das keines mehr war. Die Anwälte hatten die Scheidung unterschriftsfertig gemacht, Helen behauptete, diese Scheidung wäre ein grotesker Irrtum, dieses Paar sei noch ein Paar. Das wollte sie dem Paar, das keines mehr sein wollte, erklären, beweisen. Helen kämpfte wieder einmal um eine Ehe, als hinge das Schicksal der ganzen Welt davon ab, daß diese Ehe weiter bestehe. Helen, die glücklich Geschiedene und verheiratet mit einem genauso glücklich Geschiedenen, sagte, jede Ehe, die länger als zehn Jahre gedauert habe, sei zu retten.
Er teilte ihr auf der Mobilbox mit, daß er zwei Verabredungen in Herrsching habe. Bei Benedikt Loibl. Es werde sicher nicht spät. Essen werde er bei Benedikt, der wieder ein benediktinisches Schlamassel angerichtet habe, aber als Koch mache er mehr gut, als er geschäftlich vermasseln könne. Bis später, mein Liebes, sagte er und hauchte noch eine Art Kuß nach.
Dann noch Daniela. Da benutzte er kaltblütig den schlimmen Tod seines Bruders. Es war eine Sauerei, Ereweins Tod so zu benutzen. Ach ja, laß bloß keine Gelegenheit aus, dir Vorwürfe zu machen. Wie sagte Diego spät in der Nacht: Genauigkeit darf schon sein. Erewein ist doch anwesend.
Auch wenn er nicht an den Bruder dachte, sah er sich jetzt in einer Distanz zu allem, was er tat, und diese Distanz mußte durch Ereweins Tod entstanden sein. Als sei er durch Ereweins Tod ein anderer geworden. Zwar immer noch der, der er gewesen war, aber als der weiter weg von allem. Er konnte sich Ereweins Sätze nicht zu eigen machen, aber er verstand sie. Er mußte Ereweins Sätze aufnehmen in seine Empfindungen. Das war keine ganz neue Erfahrung: In ihm stritt sich, was sich widersprach, nicht. Einträchtig bestanden in ihm die Gegensätze. Und verlangten keine Schlichtung. Er sah sich als ein Parlament, in dem er dafür zu sorgen hatte, daß nichts zur Regierung wurde. Was in dir Herr werden will, kommt von außen. Karls Lieblingsillusion war doch: Unabhängigkeit.
In der S 6 nach Herrsching beschäftigte sich Karl von Kahn mit der Akte Loibl. Benedikt Loibl, immerhin einer der sieben Ersten. Karl von Kahn noch bei der Hypo, aber schon gekündigt, stieß im Gang, an dem sein Büro lag, mit einem offenbar Betrunkenen zusammen. Der entschuldigte sich nicht, sondern faßte Karl an beiden Schultern, er brauchte Halt. Umbringen sollt ich den da drin, und zeigte auf die Tür von Karls Kollegen, und was tu ich, mich bring ich um, und zwar gleich. Nix für ungut, Herr Nachbar. Aber er hielt sich immer noch fest an Karls Schultern. Siebenhunderttausend, sagte er und fing an zu weinen.
Das war der Anfang. Karl nahm ihn mit nach Hause. Ihm lag damals an Kenntnissen, die gegen die Hypo verwendbar sein konnten.
Ein Hotelpächter also hatte mit aufgenommenem Geld Aktien gekauft, hatte die Aktien bei der Bank als Sicherheit für das aufgenommene Geld hinterlegt, dann sanken die Kurse, die Aktien waren keine Sicherheit mehr, also mußte dem Kunden zum Verkauf geraten werden, das war Alltag, dem Hypo-Kollegen war nichts vorzuwerfen. Das hatte zu einem Verlust von siebenhunderttausend Mark geführt. Zweihundertachtzigtausend waren ihm geblieben. Als er alles erzählt hatte, sagte er: Danke fürs Zuhören. Dann stand er auf und sagte: Heißen tu ich Benedikt Loibl. Und ich glaub, ich muß endlich erwachsen werden.
Karl von Kahn bot sich an, ihm dabei behilflich zu sein. Benedikt Loibl war seit sieben Jahren Pächter des Hotels Engelhof, hatte in sieben Jahren für den Besitzer mehr als eine Million Pacht erarbeitet und kam sich jetzt erschöpft und ausgenützt vor. Er will, solange er noch ein bißchen Kraft hat, etwas Eigenes. Er will wieder kochen. Er darf sich für einen geborenen Koch halten. Aber der Engelhof-Besitzer läßt ihn nur aus dem Vertrag, der noch vier Jahre geht, wenn er einen Nachfolger bringt. Einen solventen. Zwei Nachfolger hat Benedikt Loibl schon präsentiert. Einer wurde abgelehnt, weil er schon zweiundsechzig war und bisher nur Altersheime geführt hatte, der zweite, weil er ein Ausländer war, Rumäne. Schon bis Benedikt Loibl beim Besitzer einen Termin kriegt, dauert das jedesmal drei bis vier Wochen. In Pasing hat er ein Haus, das kann er nicht verkaufen, weil die sechzehn Zimmer an Studenten vermietet sind. Die gehen nicht raus. Wenn Benedikt Loibl dort erscheint, brüllen sie aus den Fenstern im Chor: Kapitalistenschwein. Er soll ruhig Räumungsklage anstrengen, er wird verlieren, ihr Anwalt Christian Ude gewinnt jeden Prozeß. Und als Loibl den Prozeß endlich doch gewinnt, macht der Studentenanwalt geltend, die Studenten stünden im Examen, wüßten nicht, wohin, also könnten sie nicht vor Semesterende ausziehen. Aber er hat in Herrsching am Hang auf einem großen Grundstück ein verfallenes Haus gesehen, das wäre der Platz für ein Hotel mit Restaurant. Schönbichlstraße. Seeblick! Wie das jetzt finanzieren?
Also hatte Karl von Kahn mit dem Besitzer des Hotels Engelhof verhandelt, hatte einen Immobilienkollegen aufgetrieben, der das Haus in Pasing auf Termin Semesterende verkaufte, und hatte mit dem, was er von Loibls Konten noch zusammenkratzen und an Sicherheiten noch dingfest machen konnte, ein Yen-Darlehen von 46 Millionen aufgenommen, hatte das in Mark getauscht, dafür einen Sparkassenbrief gekauft, zahlte für das Yen-Darlehen 2,3 Prozent Zins, kassierte für den Sparkassenbrief 5,2 Prozent und kündigte das Darlehen, als der Yen deutlich fiel und weiter zu fallen versprach, auf ein halbes Jahr im voraus, die Rückzahlung war dann, weil der Yen immer noch weiter fiel, 20 Prozent billiger als der ursprüngliche Erwerb. Dann gab es noch die Verwertung einer nicht unabenteuerlichen Beteiligung an einem van Gogh-Bild. Fünfzigtausend hatte sich ein Gast bei Benedikt Loibl geliehen, hatte für ein halbes Jahr zehn Prozent Zins zugesagt. Mit einem Prozent war Loibl damit an einem van Gogh beteiligt, der für sechs Millionen einen Käufer suchte. Fünfzig Mitbesitzer. Bisher war das Geld der Interessenten kein gutes Geld gewesen. Ein Prozent, das wären sechzigtausend. Plus zehn Prozent Zins. Aber es tat sich nichts. Das Bild im Banksafe. Mit Diegos Hilfe gelang es Karl von Kahn, einen zu finden, der Herrn Loibls Anteil übernahm. Plus siebzehntausend inzwischen fällig gewordener Zinsen. Möglich war das nur, weil Karl von Kahn Graf Lambsdorff als Garanten für die Bonität des van Gogh-Geschäfts nennen konnte.
Benedikt Loibl kaufte in Herrsching und baute. Das Hotel Kronprinz Ludwig samt den Kronprinz-Stuben gedieh. Nach drei Jahren hatte sich Benedikt Loibl im Gault Millaut fünfzehn Punkte erkocht. Er war kein Geschmacksopportunist. Er selber sagte, er sei ein Schmeichler. Er schmeichle aber, sagte er, nicht den Gästen, sondern den Gewürzen, den Gemüsen, den Filets und den Soßen und überlasse es den Speisen, seinen Gästen zu schmeicheln.
Bevor er das Restaurant in den Kronprinz-Stuben eröffnete, hospitierte er noch vier Monate in Baiersbronn bei seinen Vorbildern, den großen Meistern Harald Wohlfahrt und Jörg Sackmann. Und die Betriebsferien im November nutzte er jedes Jahr zu einer Baiersbronner Inspiration. Baiersbronn nannte er den Vatikan der Kochkunst.
Seine Ammersee-Fischsuppe hat er schon im Bayerischen Fernsehen kochen und austeilen dürfen.
Karl von Kahn hatte inzwischen begonnen, für Loibl wieder ein Depot zusammenzubauen, das aber noch keine hunderttausend erreicht hatte. Eine sehr defensive Mischung. Loibl gehörte auch deshalb zu Karls Lieblingskunden, weil bei ihm alles vorkam, was Karl als Finanzdienstleister können wollte.
Ein paarmal hatte Karl von Kahn mit Daniela im Kronprinz übernachtet. In der Kronprinzen-Suite. Benedikt Loibl hatte diese Übernachtungen besorgt ohne jede anbiedernde Vertraulichkeit. Genauso sensibel hatte sich Loibls Empfangs-Chef Graf Josef benommen. Der hatte es, weil er einem Redezwang ausgeliefert war, schwerer, die erwünschte Zurückhaltung zu praktizieren.
Vom Bahnhof hinaus und hinauf zum Kronprinz Ludwig ging Karl von Kahn immer zu Fuß. Graf Josef empfing ihn zwar nicht stumm, aber er redete so leise vor sich hin, daß man selber schuld war, wenn man etwas verstand. Er ging Karl voraus in die Karl-Theodor-Stube. Herr Strabanzer hatte schon angerufen und bestellt, Loibl erschien, Graf Josef trat fast feierlich einen Schritt zurück und entfernte sich rückwärts gehend aus der Szene. Nicht ohne durch eine seiner großbogigen Handbewegungen seinem Chef das Wort zu erteilen.
Also das neueste Loibl-Schlamassel. Loibl sagte, er nehme es hin, wenn Herr von Kahn ihn jetzt fallenlasse. Und verstummte.
Augen wie reife Kirschen, dachte Karl, und einen Mund wie eine überreife Frucht.
Loibl sagte: Mir graut vor mir. Ehrlich. Dann schob er die Akte, die er mitgebracht hatte, zu Karl hin.Karl deutete auf den wandbeherrschenden Spruch:
Dem Wahren nur ist ewiges Bestehen,
Und immer wird das Täuschende verwehen.
Kronprinz Ludwig
Ja, sagte Loibl, der Ludwig war ein großer Dichter.
Jetzt entwickelte Loibl schnell einen ablenkenden Eifer. Er hat in Herrsching einen Verein gegründet. Einladungen geschickt an alle Seegemeinden. Ziel: Sommertheater in Herrsching. Aufgeführt werden sollen die drei Stücke, die der Kronprinz geschrieben hat, bevor er Ludwig der Erste geworden ist: Otto. Teutschlands Errettung. Conradin. Was für ein Historiker, was für ein Dramatiker. Und alle reden nur von dem spinnigen zweiten Ludwig, der Richard Wagner zu seinem Finanzminister hat machen wollen. Überhaupt waren die Wittelsbacher g’sund und g’scheit, bis die Hohenzollern-Cousine hereingeheiratet hat. Da war’s aus. Sechs uneheliche Kinder hat der Maximilian gezeugt, alle g’sund und g’scheit, und die zwei Legitimen, der spinnige Ludwig und der arme Otto.
Loibl verstummte wieder.
Karl von Kahn schlug die Akte auf und mußte sich gleich beherrschen. Dreihunderttausend hatte Loibl investiert in eine Firma, die seit Monaten in den Gazetten krankgeschrieben wurde. Das Objekt, eine kanadische Immobilie, versprach acht bis zwölf Prozent. Jetzt hatte das Unternehmen Insolvenz angemeldet. Benedikt Loibls Schuldenkonto würde sich um dreihunderttausend erhöhen. Und wer hat ihm zu dieser Investition geraten? Sein Steuerberater. Das dürfte der gar nicht, sagte Karl von Kahn.
Loibls ganzes Gesicht produzierte einen Ausdruck, den man von Märtyrerbildern her kennt. Er sagte: Ich komm mir jetzt fremd vor, ein paar Tage Flaute, die Leute bleiben weg, dann mach ich so was. Im Rausch. Im Angstrausch. Und schüttelte den Kopf wie ein Hund, der etwas loswerden will.
Ein bißchen verwunderlich finde ich, sagte Karl von Kahn, daß ein Mensch, der in der Wirtschaft tätig ist, zu dieser Firma rät. Stand doch letzte Woche noch in der Zeitung: Scheitert die Suche nach neuen Geschäftsführern, müssen die Anleger mit ihrem gesamten Vermögen haften.
Benedikt Loibl stieß einen Schmerzlaut aus, als habe der Folterknecht die Schraube um eine Umdrehung tiefer gedreht.
Das Neugeschäft der Firma ist im vergangenen Jahr weggebrochen, also konnten die Mietgarantien nicht mehr eingehalten werden.
Stimmt, sagte Benedikt Loibl.
Karl von Kahn sah in den Papieren, daß die Anleger zu einer Hauptversammlung eingeladen waren. Im Méridien-Hotel. Er ließ Loibl die Vollmacht unterschreiben. Wie gesagt: In jedem Sturz steckt ein Start. Noch sei die Immobilie da. In Kanada. Der Markt für kanadische Immobilien sei im Kern gesund. Wahrscheinlich müsse man dort einen Interessenten finden, der etwas anfangen könne mit dieser Immobilie, die ja doch 25 Millionen Kanada-Dollars wert sein soll. Immobilien könnten zeitweilig unrentabel sein, aber ihre Substanz sei dauerhaft, wenn man sich nicht zu Notverkäufen zwingen lassen müsse. Und jetzt schalten wir um. Was essen wir heute?
Weil jeder Sturz ein Start ist, sagte Loibl, gibt es, was es heute gibt, zum ersten Mal. Er legte seine cremefarbene, sehr handliche Speisekarte vor Karl hin. Darauf stand in Benedikts eigener Handschrift, die gar nicht extra schön daherkam, sondern eher schwungvoll melancholisch: Mein Kleines Degustations-Menu. Und Klein hatte er groß geschrieben.
Karl überflog die Karte und sagte: Benedikt, Sie sind ein Schwärmer. Pochiertes Ei mit Karamelkruste!
Vier Stunden lang pochiert das Ei, sagte Loibl, bei fünfundsiebzig Grad.
Kürbisblüte im Fenchelsud mit Ingwer, las Karl.
Wenn Sie’s vorlesen, schmeckt es noch mal so gut, sagte Loibl.
Karl las weiter: Involtini von der Äsche mit Pata Negra, Grissini und Pistaziengnocchi.
Sie sollte man in allen Stuben als Vorleser haben, sagte Loibl.
Karl las: Lammcarré an Rosmarinjus mit Thymianpolenta und Chalotten.
Und zum Beschluß, rief Loibl, jetzt deutlich mitgerissen von seinen Schöpfungen.
Zum Beschluß, stimmte Karl von Kahn ein, Tarte Tatin mit Sauerrahmschnee à la Pierre Lingelser, mit Calvadosbonbon und zweierlei Apfelsorten.
Karl stand auf und drückte Loibl die Hand. Der nahm Karls Hand in seine Hände und hielt sie so, wie sie seit Berthold Brauchs Einstand niemand mehr gehalten hatte. Seine Kirschaugen waren feucht.
Karl sagte: Das mit der Haftung mit dem gesamten Vermögen ist Einschüchterungstheater. Ich freue mich auf Ihre Uraufführungen.
Da wird ein Bund geschlossen, sagte von der Tür her Theodor Strabanzer.
Benedikt Loibl verneigte sich und sagte: Buenas tardes, señor Resischör. Dann wandte er sich der jungen Begleiterin zu: Mein Haus freut sich, wenn Sie eintreten. Und ich mich auch.
Da schau her, sagte Herr Strabanzer.
An der Tür drehte sich Benedikt Loibl noch einmal um, zeigte ein lachendes Gesicht, ohne daß er lachte, deutete auf Karl von Kahn und sagte eher leise: Mein Retter.
Jetzt ging er.
Süß, sagte die junge Frau. Und meinte Loibl.
Sie hatte recht. Von den dunkelbraunen, ein wenig gewellten Haaren bis zum sanft gerundeten Kinn ein Kind, das immer ein Kind sein wird. Dachte Karl. Wieder für Benedikt Loibl tätig werden, das belebte ihn.
Joni, das ist Herr von Kahn, der laut Amadeus Stengl noch nie etwas Falsches finanziert hat. Oder hat er gesagt: Noch nie etwas falsch finanziert hat. Ich bin immun gegen das, worauf es ankommt. Hahaha.
Diese Lachimitation war erstaunlich leise.
Sie hieß also Joni. Karl dachte: Das ist die Fortsetzung Benedikts mit anderen Mitteln. Zehn Jahre jünger. Das blondeste Blond so ums Gesicht verschleudert, daß Karl Helens immer den Kopf genau nachzeichnendes Blond einfiel. Angesichts dieses Haarzerwürfnisses fragte man sich, da Kamm und Bürste das nicht bewirkt haben konnten, wie diese schöne Unordnung zustande gekommen sein mochte. Auf das Gesicht kam es vorerst nicht an. In hellstem Champagnergold ein Kleid, nein, kein Kleid, ein feiner, gleißender Fetzen, der schwang sich von der rechten Hüfte als rüschenbesetzter Bogen zum linken Knie hinab, darunter dasselbe Kleid, überall in Rüschen endend. Zuerst soll man also denken: Schaut her, ich hab mir einen Fetzen übergeworfen. Dann begreift man, da ist alle Kunst aufgewendet, einen schludrigen Eindruck zu produzieren. Aber dieser am Körper haftende Fetzen war nicht die Hauptsache. Die Hauptsache wurde offen, halboffen ausgestellt. Die Brüste. Halb standen sie dem Kleid zur Verfügung, halb der Öffentlichkeit. Nichts konnte diesen ansehnlichen Brüsten fremder sein als ein Büstenhalter. Halb zwischen, halb unter diesen einander so gut wie nicht und doch fast berührenden Brüsten fand das Kleid zusammen, tat, als sei dazu eine dünne Schleife nötig, und unter der Schleife drei Nähte, die den Eindruck erwecken sollten, da werde ein Körper eng zusammengehalten. Karl verbarg nicht, daß er zuerst einmal alles anschauen mußte.
Joni sagte: Was mir um den Hals und an den Ohren hängt, dürfen Sie nicht auslassen. Heißt Mondstein. Ein Halbedelstein. Schauen Sie. Und drehte den Stein zwischen den halboffen ausgestellten Brüsten. Der Stein wurde zum Champagnertropfen.
Eben ein Opportunist, sagte Herr Strabanzer.
Oder ein Chamäleon, sagte Joni. Wäre Ihnen die Kronprinzen-Stube lieber gewesen, fragte sie.
Weil das die größte ist, wird Joni da von mehr Leuten angestarrt und ausgezogen als hier in der Karl-Theodor-Stube, die die kleinste ist, sagte Herr Strabanzer.
Joni kümmerte sich nicht um ihren Herrn und sagte zu Karl, der Ludwig-Text in der Kronprinzen-Stube sei ihr der liebste Ludwig-Text. Und sagte ihn auf:
Das Glück ist wirklich, wo ich es empfinde.
Im Denken findt der Mensch des Wissens Leere.
Um glücklich seyn zu können, muß er fühlen.
Danke, sagte Herr Strabanzer, als sage er: Jetzt reicht’s aber.
Und redete weiter. Auch als an den anderen vier Tischen Gäste saßen, redete er weiter, als sei man allein. Er hatte ein bei den Mundwinkeln endendes Bärtchen, dirigierte, was er sagte, mit übermäßig langen Händen und hatte nicht nur eine schnarrende Stimme, sondern auch eine schnarrende Art zu reden. Hände, Stimme, Wortart, alles zusammen ergab einen Offizier, wie ihn kein Militär ertrüge.
Er ist ein Feind Amerikas. So fing er an. Er hätte auch sagen können: Auf der Marsoberfläche wurden Gänseblümchen gesichtet. Wenn er so anfing, konnte man so anfangen. Er war der Dirigent und das Orchester. Vielleicht waren die Ärmel seiner gelbgrünen Seidenjacke extra kurz gehalten, damit seine nie ruhenden Hände lang herauskamen. Er war insgesamt lang, hoch. Steil, dachte Karl noch dazu. Den zwischen Grün und Braun irrlichternden Strohhut hatte er wie ein Artist durch die Luft auf einen Kleiderhaken segeln lassen. Eine Wegwerfbewegung, die zur Unform dieses Huts paßte. Die zu breite Krempe links und rechts so hinaufgebogen, daß es aussah, als könne das nicht beabsichtigt sein. Genau wie die Unfrisur der jungen Frau. Und das Hemd wollte keine Farbe haben, wohl aber eine historisch wirkende, an Film-Ritter erinnernde Tiefsilbertönung. Und eine grell violette Fliege. Immerhin eine Art Gruß für Karl von Kahns Krawatte.
Strabanzer sprach auch hier zu laut. Im Stimmengewirr der Stube war das Karl angenehmer als am Telefon. Karls rechtes Ohr hörte nicht mehr so gut. Das wußte außer ihm niemand. Nicht einmal Helen. Er drehte seinen Kopf immer um ein Winziges nach links, kam sich dabei vor wie ein Schlachtschiff, das einen Strich auf Backbord dreht, um seine Kanonen in Schußrichtung zu bringen. Strabanzer will also nicht ein Feind Wallstreet-Amerikas oder Washington-Amerikas sein. Er ist, obwohl gebürtig in Tirol und erzogen in Barcelona, ein Verehrer des Mittleren Westens und ein Texas-Anbeter sowieso, er ist ein Feind Hollywoods, ein Feind Hollywood-Amerikas. Hollywood macht uns platt. Europa, mein paisaje del alma, platt wird’s gemacht.
Jetzt wurde eingeschenkt. Den Wein hatte Strabanzer befohlen. Das Lammcarré muß geritzt werden durch den gefährlichsten Rioja, den Benedikt auffahren kann.
Weiter ging’s.
Hollywood rasiert Europas Kulturflor, die Europeoples ziehen sich Hollywood-Fast-Food rein, Europa hißt die Flagge: Hollywoods Geschmackskolonie. In den antecedentes dorados hat es doch italienische Filme gegeben, und spanische und französische und englische und dänische und auch deutsche. Sogar amerikanische. Es wird geben nur noch Hollywood. Aber was wären wir für blöde Bären, wenn wir trauerten, bloß weil wir auf der Aussterbeliste stehen. Wir drehen weiter. Zuerst haben wir zwanzig Jahre lang das Zahnarztgeld verfilmt. Jetzt mußt du durch die Dramaturgie-Passion, das Drehbuch geschultert, ein paar Stationen mehr, als unser Herr Jesus durchwankte. Dann die Finanzierungspassion der Länder: Filmstiftung NRW, MFGBW, BBF, MBBB. Jedes Land ringt sich ein Schärflein ab, wenn du in Köln drehst, in Hamburg schneidest, in Stuttgart synchronisierst und in München pinkelst. Betteln macht böse. Sobald die Finanzierung steht, nimmt dir der DVD-Wichser noch schnell die Hälfte ab für nichts als eine Zukunftsgaukelei. Aber es gibt doch Medien-Fonds, nicht wahr! Wir kommen zur Sache. Wenn man dem Bundesfinanzministerium vormacht, der Kapitalist dürfe ins Buch dreinreden, dann darf der seinen Obolus von der Steuer abziehen. Das ist die Zahnarztvariante à la mode. Die Fonds-Haie schnappen Geld natürlich am liebsten für Hollywood. Beispiel Monster. Billig-Thriller. In USA zweieinhalb Millionen DVDs. In Deutschland zweihundertsechsundsechzigtausend! Charlize Theron greift zur Pistole, als wär’s ein Stück von mir. Oder von dir. Bär, Globe, Oscar! Beute! Weltweit einhundertfünfzig Millionen. Was Hollywood kassiert, nennt man den Löwenanteil. Frage: Wollen Sie meinen nächsten Film finanzieren? Die Materie muß klingen, meine mit Ihrer. Ich bitte Sie, mich samuraimäßig zu mustern und ja zu sagen oder nein. Aus mir tönt, das sage ich unverlangt dazu, das größte Instinktdesaster meiner Laufbahn. Nach neun Jahren Intimstkooperation haut Partner Patrick ab. Hat zwei Millionen ins schönste Südfrankreich geschafft, dort sind sie verschwunden. Patrick kommt zurück, sitzt in seinem Rollstuhl, unansprechbar. Ich schalte um auf Humanfrequenz, fange an mit ganz lieben Fragen, wie ist das Klima in Saint-Tropez. Da sagt Patrick, ohne daß er aufhörte, aus dem Fenster zu starren, deutlich nur zu seinem Anwalt: Wie kann man mir, der ich gerade einen Selbstmordversuch hinter mir habe, solche Fragen stellen.
Sein Anwalt erklärte, Patrick sei mit dem Messer auf seine Frau losgegangen, weil sie das von ihm gekochte Linsengericht abgelehnt hat. Drei Monate Klapsmühle. Ob er Strabanzer noch kennt, ist unklar. Sein Anwalt: Er will alles wiedergutmachen. Wurde erpreßt. Er hat Zungenkrebs. Die Beule an seiner Stirn stammt nicht von einem Streit mit seiner Frau, er ist von diesem Scheißrollstuhl gekippt. Die Rollstühle werden jedes Jahr riskanter. Strabanzers Anwalt winkt ab. Keine Chance. Wenn Patrick sich auf die Zunge beißt, hat er nachher Zungenkrebs. Aufgeben. Wenn wir das neue Jahr ohne die zwei Millionen erreichen, haben wir’s geschafft … So läuft das, lief das. Strabanzer ging hin zu dem, der nur noch aus dem Fenster starrte, streichelte ihn und sagte: Armes Schwein. Als Patrick auch darauf nicht reagierte, drehte sich Strabanzer um und verließ das Zimmer wie Napoleon das Schlachtfeld von Waterloo. Wird gebucht unter Instinktdesaster. Ende.
Jetzt wurde einträchtig geschwiegen.
Strabanzer sagte: Daß im nächsten Projekt Joni die Großfigur abgibt, versteht sich. Als beste Nebenfigur nominiert, lechzt sie jetzt nach der Hauptfigur. Wie sie von mir entdeckt worden ist, das erzählt der Film, den wir, wenn Sie mitmachen, drehen wollen. Womit meine Ästhetik auf dem Tisch liegt. Immer am Leben entlang. Also. Erste Einstellung auf dem … was ist Ihre Necropolis favorita?
Karl war selber überrascht, daß er blitzschnell Nordfriedhof sagen konnte.
Rein jahrgangsmäßig, sagte Strabanzer ungerührt, seh ich Sie ruhige Lagen suchen, also nehmen wir, daß Sie mitdenken können, Ihren Lieblings-Cementerio, da wird Benno Brauer beerdigt. Da, wo er wirklich beerdigt wurde, können wir sowieso nicht drehen. Hat bei mir bedeutend mitgewirkt in meinem nicht unbedeutenden Frühwerk Der Tod des Fotografen. Gesehen?
Das fragte er so jäh, so scharf, daß Karl von Kahn unwillkürlich nickte.
Gut, sagte Strabanzer, der offenbar, wenn eine Mitteilung ihm lieb war, nicht so genau prüfte, wieviel Wahrheit sie enthielt. Daß er sich jetzt an sein Frühwerk erinnerte, riß ihn hin. Sein erster Film. Karl von Kahn möge, bitte, von diesem Frühwerk nicht die hinterfotzigen Feinheiten der späteren Strabanzerfilme erwarten. Der substanzreichste Krimi aller Zeiten sei dieser Film trotz aller Tollpatschigkeiten. Bitte, die normalen Krimikonstruktionen dienen doch immer nur dem banalen Spannungseffekt. An sich sind sie wertlos. Auch bei Herrn Hitchcock. Von ein paar eher haarsträubenden Politikanleihen abgesehen. Dagegen sein Krimi. Kein Kommissar kann dem Mörder des Fotografen auf die Spur kommen. Kein Motiv ist vorstellbar. Dann meldet sich endlich das Mädchen, das dem Fotografen das Archivieren besorgte. Sagt, daß sie erschrocken ist, als sie diese Bilder sah, die einzigen Bilder eines toten Menschen im ganzen Archiv, die Bilder einer toten Frau, einer toten Mutter. Der Rest ist simple Einfühlung. Es mußte der Sohn sein, der furchtbar an seiner Mutter hing, der es sich übelnahm, nicht dabeigewesen zu sein, als sie starb, der auf Curaçao an einem Taucherlehrgang teilnahm, unerreichbar, und der Fotograf glaubte, er tue dem Sohn einen großen Liebesdienst, wenn er ihm die tote Mutter abbilde. Aber der war schockiert. Nur schockiert. Rannte hin und erstach den. Ich meine, das ist doch eine Krimisubstanz, deren ich mich nicht schämen muß, oder?
Karl sagte heftig: Aber wirklich nicht!
Eben, sagte Strabanzer. Wenn ihr das Foto meiner toten Mutter gesehen hättet, würdet ihr verstehen, warum ich diesen Film habe so grob und eckig drehen müssen. Also in diesem Film spielte Benno Brauer einen komplizierten Neffen des unglücklichen Sohns, der ja auf Curaçao nur tauchen lernen wollte, um seine immer kränker werdende Mutter zu vergessen.
Also ich zu Bennos Beerdigung. Schön fade Reden, nichts schöner als schön fade Beerdigungsreden. Mehrere Witwen mehr oder weniger gefaßt. Eine aber totalmente ungefaßt, eine Blondblonde, unterm Wollhelm das frechste Näschen der Welt, und heulte so, daß ihr nachher mehr kondoliert wurde als den Witwen. War ja traurig, Selbsttötung per Pistole. Ich, neugierig, kondoliere ihr auch, halte das Händchen so lange, bis ich erfahre, sie ist keine Hinterbliebene, aber diesen unfaßbaren Schwellmund hätte ich, auch wenn er einer trauernden Hinterbliebenen gehört hätte, rücksichtslos vom Cementerio weg ins Café geladen, soviel Richard der Dritte gehört zur Normalausstattung, wir schleichen uns also fort. Hat Benno Brauer, den notorischen Kammerspielkomplizierten, nie gesehen, aber von einer Schauspielerbeerdigung hat sie was lispeln gehört in ihrer Privatschulklitsche, sie nichts wie hin, dann die Reden, dann die Tränen, dann das Händchen, dann der Kaffee, dann war sie mein beziehungsweise ich ihr. Aber so unvollkommen, wie ich jetzt den Mund dieser unterm Wollhelm so blondblond herausquellenden Blondine abgehakt habe, darf ich nicht mit dem Leben, an dem ich entlangfilme, umgehen. Die Sensation war, daß dieser Mund, jedesmal wenn ich wieder hinschaute, ein anderer war. Dieser Mund tat, was er wollte, beziehungsweise der war ganz unwillkürlich ein Ausdruck dessen, was in dieser Person gerade vorging. Die denkt mit dem Mund, schoß es mir durch den Kopf. Oder sie fühlt mit dem Mund. Dann ist sie auch noch Schauspielschülerin. Also keimte der Plan, wenn du den und den Film hinter dir hast, filmst du an ihrem Leben entlang. Jetzt ist es so weit.
Das pochierte Ei, die Involtini von der Äsche und das Lammcarré mit Thymianpolenta kamen nicht zu kurz.
Wie heißt er nun, sein nächster Film? Sein nächster Film, werte Anwesende, heißt: Das Othello-Projekt. Das Budget stimmt schon fast, aber es fehlen eben die zwei Patrick-Millionen. Da läßt er noch einen, mit dem er’s gut meint, mitmachen. Er gesteht, wundgeschossen, aus mehreren Finanzwunden blutend, ist auch er desertiert, Astrion Pictures New York, für die laufen dort fast viertausend Videoläden, die sind mit einem Credit Letter fünfzigprozentig im Boot. Also kein Zahnarzt an Bord. Die sind ja jetzt allesamt hochseeschiffsgeil. Hahaha. Also zwei, zweieinhalb räumt er Herrn von Kahn ein, das Kleingedruckte macht Rudi-Rudij. Das ist sein Schlattenschammes alias Dramaturg alias Secretario. Rendite nicht unter zehn Prozent. Und das bei Lebzeiten. Mausi, hat dein Rodrigo etwas vergessen.
Mich, sagte sie.
Stimmt, sagte er, so lange wie in den letzten neunundvierzig Minuten hat Joni-Mausi in ihrem ganzen Leben noch nicht geschwiegen.
Du sollst mich vor Zeugen nicht Mausi nennen, sonst sag ich Theo zu dir, sagte Joni.
Dann seid ihr allein, rief er.
Und sie: Wenn ich Herrn von Kahn anschaue, muß ich sagen, Manieren, das hat auch was.
Haben Sie Alles paletti gesehen, fragte Strabanzer und ergänzte, weil Karl zögerte, mein Gott, meinen letzten Film.
Immer noch nicht, sagte Karl, als habe er sich längst vorgenommen, diesen Film anzuschauen.
Da hast du’s, sagte Joni.
Und er: Was?
Und sie: Was ich gesagt habe, Manieren.
Ach ja, Manieren, rief er, lackierte Leere. Sie sind nicht gemeint, mein Herr, nur Mau … Joni. Also Alles paletti. Los, Darstellerin, was spielen wir da.
Joni: Ich spiele Irina.
Strabanzer: Das Kußmäulchen. Mir hätte Kußmäulchen gereicht, aber nein, das Fräulein wollte auch noch einen Vornamen.
Joni: Einen, der mit I oder J anfängt.
Strabanzer: Sie spielt nur Rollen, die mit I oder J anfangen. Ganz schöne Allüren, die junge Ruhrgebieterin.
Alles paletti, sagte Joni, ein Sechzigjähriger jagt Irina …
Strabanzer: Jagt Kußmäulchen.
Joni: Jagt Irina Kußmäulchen einem Siebzigjährigen ab. Kaum hat er Irina, wird sie ihm von einem Fünfzigjährigen abgejagt. Alle drei sind Künstler, alle drei produzieren eine Kunst, an die sie selber nicht glauben, aber ihr Leben hängt davon ab, daß sie der Welt einreden, sie glaubten an ihre Kunst. Ihre Angst, entlarvt zu werden, ist die Quelle ihrer Energie und ihrer Phantasie. Bei Irina ist jeder der drei ein großer Macher. Dafür hat sie zu sorgen. Sie muß die großreden. Ihnen ein Selbstbewußtsein einflößen, das sie selber nicht hat. Die Frauen der drei Herren sind die guten Rollen, ich bin Kußmäulchen.
Strabanzer: Undankbarkeit, dein Name ist Joni. Immerhin nominiert für die beste weibliche Nebenrolle.
Joni sagte: Sie kriegen eine DVD.
Aber Strabanzer: Kriegt er nicht. Der Film ist Kino. Wenn Herr von Kahn sich dafür interessiert, geht er ins Kino, wenn nicht, dann nicht. Pasing, Lichtburg. Ende.
Das war einmal, sagte Joni, abgesetzt.
Strabanzer, höhnisch, also weniger schnarrend als beißend: Ich wette das Nachtgeschirr meiner Großmutter gegen die Krone der englischen Königin, daß da jetzt der Apokalypsen-Kitsch à la Hollywood läuft. Und läuft und läuft. Immer randvoll, hahaha.
Sie kriegen die DVD, sagte Joni.
Gibt es Lieblingsfilme, fragte Strabanzer.
Film war bei mir dran bis zum Dreißigsten, sagte Karl.
Oh, sagte Strabanzer, bis zum Dreißigsten!
Fernsehen aber schon, fragte Joni.
Zu Gast bei Gundi, sagte Karl und war froh, endlich etwas bieten zu können.
Oh, sagte Strabanzer, die Edelschnulze selbst. Die verlogenste Schnulze hasta la fecha.
Theodor, sagte Joni, schone unseren Gast.
Wo simmer denn, rief Strabanzer, daß ich nicht sagen darf, was ich weiß. Verlogen, sage ich. Echtes Art déco, ja! Im Fernsehen! Auf dem Bildschirm ist das echte Supersofa genauso echt, wie der, der auf dem Bildschirm ermordet wird, tot ist.
Ich liebe das Nachgemachte, sagte Karl und tat so bescheiden, wie man tut, wenn man das, was man sagt, einfach für unwiderlegbar hält.
Strabanzer nickte und blieb so lange stumm, wie er es am ganzen Abend noch nicht gewesen war. Und sagte: Dann sind Sie beim Fernsehen richtig. Joni, zahlen wir, gehen wir, hier sind wir falsch.
Joni sagte: Du tickst falsch, das ist alles. Hör auf mit deinem Missionarismus.
Sie gibt’s mir, sagte er zu Karl von Kahn.
Der spürte, daß er jetzt einen Beitrag zur Fortsetzbarkeit des Gesprächs zu leisten hatte.
Also sagte er, sein letztes Filmerlebnis sei Dinner at Eight gewesen.
Na endlich, rief Strabanzer. Das war noch ein amerikanischer Film. Feinster George Cukor.
Jean Harlow, sagte Joni, die Göttin pur.
Strabanzer sagte: Und erzählt radikal Ihre Branche.
Wirtschaft als Handlung, sagte Karl. Bei uns nicht denkbar.
Joni: Warten Sie’s ab.
Wenn es sich macht, sagte Strabanzer, kassiert Amadeus eine schicke Provision.
Karl wußte nicht, ob das eine witzige Bemerkung war oder der Hinweis auf eine Abmachung. Zu fragen wagte er nicht. Das war die kulturelle Fraktion! Da wußte er nie, ob er, was er nicht wußte, erfragen konnte.
Aber Strabanzer redete schon weiter. Der schönste Spruch unseres sprüchereichen Amadeus ist und bleibt: I mecht bloß wissen, vo wos i leb! Eine philosophistische Satzperle.
Karl fragte höflichkeitshalber, ob er das Othello-Projekt noch näher kennenlernen könne. Er fragte nicht Strabanzer, sondern Joni.
Aber Strabanzer antwortete: Herr von Kahn müsse sich aufgefordert fühlen mitzuwirken. Nur dann seien seine Investitionen und Renditen steuerbegünstigt. Sein Rudi-Rudij werde, wenn Herr von Kahn anbeiße, einen fiktionalrealen Film-Entwurf hinlegen, der die Fiskuswichser blende wie die G-9-Blendgranate die RAF-Buben in Mogadischu.
Ich bin gespannt, sagte Karl von Kahn.
Ich auch, sagte Joni und sah Karl von Kahn direkt und länger als nötig ins Gesicht. War das ein forschender Blick?
Strabanzer sagte deutlich zu Joni: Es reicht.
In diesem Stadium, sagte Joni, teilt Theodor Strabanzer immer mit, Rossini habe den Barbier von Sevilla in vierzehn Tagen geschrieben.
Stimmt, sagte Strabanzer, dann zu Karl hin: Sobald das Othello-Projekt im Kasten ist, kommt das Projekt der Projekte, Die Eisgreis-Geschichte! Jeden Tag in der Zeitung, Rentner rammt sechs Autos. Wieso der Rentner seinen Porsche nicht mehr im Griff hatte, ist völlig unklar! Mehr als fünfzig Prozent aller Porschefahrer sind älter als sechzig. Ja, wo simmer denn! Noch lassen wir die toten Saurier für uns arbeiten. Aber dann? Dann die Eiszeit. Nur noch Greise, nur noch Eis. Die Eisgreis-Geschichte. Unsterblichkeit am Stiel. Wie soll einer, der das noch nicht gedreht hat, schlafen! Unsere für immer aufblühende Joni fragt, warum Theodor Strabanzer, gebürtig aus Tirol, erzogen in Barcelona, ein Diener der europäischen Vielfältigkeitsruine, warum der täglich fünfundzwanzig Stunden malocht! Weil ihm, was er erlebt, seinen nicht unbeträchtlichen Hals schnürt. Soll er denn als Hauptwerk einen Projekte-Friedhof hinterlassen? Wer, wenn nicht er, muß das Tabu brechen, das schärfste, absoluteste Tabu, das heute alle Darsteller beherrscht, dem sie alle bis zur Bewußtlosigkeit dienen! Die Eisgreis-Geschichte wird der erste Film, in dem nicht gefickt wird. Das Tabu kommandiert: Wo Menschen miteinander zu tun haben, muß gefickt werden. Wer nicht ficken läßt, kommt nicht in Frage. Theodor Strabanzer wird das Tabu brechen. In der Eisgreis-Geschichte wird nicht gefickt. Der Zwang, Fickende darzustellen, ist der gemeinste Zwang überhaupt. Sobald im Studio Ficken imitiert wird, wird es Theodor Strabanzer jedesmal schlecht. Sogar Kubrick macht am Ende den Kniefall vor dem Tabu und läßt ficken. Eyes Wide Shut. Stutenpornographie. Man stelle sich vor, was Buñuel gesagt hätte, wenn er diesen Gestütsfick en gros gesehen hätte. Sexualmilitarismus. Wie das Tabu es befiehlt. Diese Verlogenheit wird nur noch übertroffen, wenn das Sterben imitiert wird. Er möchte Filme machen, in denen nicht gefickt und nicht gestorben wird. Daß er damit sich selber erledigt, weiß er. Im Othello-Projekt wird noch gefickt und gestorben, wie das Tabu es befiehlt. Ihn kotzt es heute schon an, dieses Imitat zu inszenieren. Das Othello-Projekt ist nichts als die Verhinderung des uns Aufgegebenen. Heiliger Buñuel, sei uns gnädig! Ich scheiß auf das Othello-Projekt.
Jetzt weinte er. Karl von Kahn und Joni hatten zusammen höchstens eine Flasche Rioja getrunken.
Strabanzer flüsterte: Kennt ihr das? Wie wenn du im Atlantik einen Mittschiffstorpedo kriegst. Mich nicht falsch verstehen. Der tabugeschützte Fickbefehl ist eine Kunstsünde. Moral ist mir so egal wie Mode. Obszön ist nicht, was da vorgeführt wird. Die tun ja nicht wirklich was. Aber wir, christlich verkrüppelt, machen daraus die Saumäßigkeit.
Karl von Kahn: Das hat auch was.
Strabanzer: Nachmache. Das ist die Todsünde. Kunst macht nicht nach. Kunst macht.
Karl von Kahn: Ich liebe das Nachgemachte.
Joni: Ich auch.
Strabanzer: Hollywood, die Glücksschmiede!
Joni: Wenn’s doch sonst keins gibt.
Strabanzer: Das Unglück gibt es. Obwohl es kein Glück gibt.
Joni: Den Teufel gibt es, obwohl es Gott nicht gibt.
Karl von Kahn: Es gibt den Verlust, obwohl es keinen Gewinn gibt.
Strabanzer: Den Tod gibt es. Obwohl es kein Leben gibt.
Joni: Ach.
Karl von Kahn: Oh.
Strabanzer: Ich trinke nur noch auf den Rioja.
Joni: Ich trinke nur noch auf den, der auf den Rioja trinkt.
Karl von Kahn: Ich trinke nur noch auf die, die auf den trinkt, der nur noch auf den Rioja trinkt.
Joni: Ich liebe euch.
Strabanzer: Othello wird ein Scheißfilm.
Joni: Darauf trinken wir auch. Und zu Karl von Kahn sagte sie: Das ist normal. Der nächste Film, der, der jetzt gedreht werden muß, ist nichts als der letzte Dreck. Nachher, wenn der Film in der Welt ist, bringt Theodor jeden um, der in diesem Film auch nur eine einzige schwache Einstellung entdeckt.
Ich bin Tiroler, sagte Strabanzer wieder vor sich hin. Vergeßt das nie.
Ich bin keine Tirolerin, sagte Joni, bitte vergeßt das schnell.
Ich bin Tiroler und Katalane, sagte Strabanzer.
Du bist alles, sagte Joni.
Ausgenommen Hollywood, sagte Strabanzer. Los, Joni-Mausi, blättere unserem Finanzminister mein Hauptwerk hin, den Film aller Filme.
Joni sagte, eine Gehorsame parodierend, aber doch gehorsam: Randvoll. Theodor Strabanzers Spät-, Schluß- und Gipfelwerk. Ein Mann muß, um sich vollends zu entfalten, seine Frau töten. Das mißlingt ihm. Ihn kostet es ein Bein, die Frau eine verbrannte Gesichtshälfte. Also verläßt ihn die junge Geliebte, um derentwillen alles geschah. Sie heiratet den Gynäkologen. Der Mann und die Frau live happily ever after. Das zeigt der Film ausführlich: Wie die zusammenleben. Idylle.
Und was wird das dann für ein Film, sagte Strabanzer, los, sag’s dazu, was du mir über das Projekt aller Projekte Tag und Nacht bösartig ins Ohr raunst.
Tragikschnulze, sagte Joni.
So geht’s zu bei uns, sagte stolz Strabanzer.
Ein Handy meldete sich. Joni sprang auf, ging so weit wie möglich vom Tisch weg. Strabanzer sagte: Immer diese Umweltverschmutzungen.
Joni kam zurück. Der Mund zog sich weit nach rechts, die Augenbrauen bogen sich hoch in die Stirn. Eine Grimasse des Ekels und der versuchten Abwehr des Ekels.
Miriam, sagte sie.
Was ist denn mit Miriam, sagte Strabanzer in einem weichen, fürsorglichen Ton, der bei diesem Dauerschnarrer sensationell wirkte.
Miriam hat Pocken in der Scheide, sagte Joni.
Windpocken, sagte Strabanzer begütigend.
Sie wendete sich Karl zu. Er merkte, daß er jetzt etwas sagen mußte, was ihr mehr half als das von Strabanzer gespendete Wort.
Er sagte: Schrecklich.
Sie sah ihn intensiv an und sagte: Genau. Und lächelte schon wieder.
Zum Wohl, sagte Joni, die Herren erwiderten.
Es wurden dann drei Flaschen Rioja. Karl von Kahn gestattete nicht, daß Strabanzer bezahle. Der wehrte sich nicht lange.
Karl sagte: Immer bezahlt der Ältere.
Schon wieder ein Spruch, sagte Strabanzer. Ganz unphilosophistisch ist der auch nicht.
Vielleicht bezahlt immer der Ältere, aber der Jüngere zahlt immer drauf, sagte Joni.
Das Leben ist zu kurz für Kalauer, sagte Strabanzer.
Karl sagte: Das Leben ist überhaupt zu kurz.
Und Strabanzer: A la vejez viruelas.
Joni faßte zusammen: Wir bedanken uns für die Einladung.
Shit, sagte Strabanzer. Können Sie mir sagen, warum wir statt Scheiße jetzt shit sagen.
Karl von Kahn sagte, im Deutschen sei uns alles zu nah. Das tut doch weh, sagte er, wenn alles so nah ist. Ich bin für Distanz. Das sagte er nur noch zu Joni hin.
Sie sah ihn an, ihr linker Mundwinkel zuckte, dann brachte sie wieder Ruhe ins Mundwerk, sah aber Karl an, als staune sie. Oder war es nur Neugier? Nein, sie staunte. Ein bißchen.
Wo wirst du sein, wenn es schneit, dachte er.
Und schaute weg, bevor sie wegschauen konnte. Mein Gott, diese Sorte Blickgeplänkel gehört zum Vergehendsten schlechthin. Nichts wirkt weniger nach, von nichts bleibt weniger als von dieser Sorte Blickgeplänkel.
Und Strabanzer wieder: Jetzt reicht’s. Karl stand auf und sagte: Gut gesagt.
Er behielt Jonis Hand nicht zu lang in seiner Hand und zeigte ein Lächeln, das er konnte. Es hieß, daß alles bestens sei. Joni lächelte jetzt so nachsichtig wie eine Buddhabüste. Karl versprach Herrn Strabanzer, er werde sich melden, sobald er sich über eine Beteiligung im klaren sei.
Ach, stimmt ja, sagte Strabanzer, wir wollten etwas finanzieren, was war das wieder? Hahaha.
Theodor Strabanzer wollte Karl in den leichten Sommermantel helfen. Der lehnte ab.
Darauf Theodor Strabanzer tönend laut: Klar, Sie wollen nicht für einen alten Mann gehalten werden, schon gar nicht, wenn unsere Ruhrgebieterin dabei ist.
Karl war froh, daß sie ihm nicht angeboten hatten, ihn im Auto mitzunehmen. Er brauchte jetzt die durch Wiesen und Wälder gleitende S-Bahn-Einsamkeit.
Helen gegenüber blieb nichts anderes übrig, als noch einmal Ereweins Tod auszubeuten. Er muß jetzt allein sein. Am liebsten wäre er nirgends gewesen. Dazu braucht man Geld. Geld absolut. Nicht diese oder jene Summe. Diese oder jene Summe kann sich immer wieder als zu gering erweisen. Gegen Joni Jetter gab es nichts als Geld. Alles Geld der Welt. Beziehungsweise Geld überhaupt. So radebrechte er sich unter den auf ihn niederschauenden Astaugen vorwärts.
Auf der Suche nach einer Empfindung, bei der er bleiben konnte, stieß er auf Strabanzers Haltung ihm gegenüber, auf diese unausgesprochene, aber in jedem Wort, in jeder Geste, in jedem Ton spürbare Überheblichkeit gegenüber dem Älteren. Warum hatte er sich das gefallen lassen? Warum konnte er diesem Strabanzer nichts übelnehmen? Nicht einmal diese andauernd spürbare Überheblichkeit. In jeder Nuance wird ausgedrückt, daß von dir nicht wirklich etwas erwartet werden kann. Mildernde Umstände. Das kennst du. Von früher. Genauso hast du dich Älteren gegenüber benommen.
Strabanzer war nicht anders als alle anderen. Dem war das so wenig bewußt wie allen anderen, die einen Älteren immer behandeln, als müßten sie dem etwas nachsehen. Wenn Joni Jetter nicht dagewesen wäre, wenn sie nicht durch Blicke, Gesten und noch mal Blicke, überhaupt durch demonstrative Anwesenheit ihm deutlich gemacht hätte, daß sie ihn bemerkt habe, dann hätte er wohl nicht so lange dort ausgehalten. Aber weil sie da war und so da war, war jede Sekunde hell, voll, wenn nicht gar toll.
Am nächsten Vormittag, noch vor zehn Uhr, verband Frau Lenneweit. Es war Joni Jetter.
Joni sagte: Ich möchte deine Eier lecken.
Da er nie wußte, ob Frau Lenneweit aus geschäftlichem Eifer, um über alles auf dem laufenden zu sein, mithörte, sagte er: Ich bitte, mich auf dem Handy anzurufen.
Joni sagte: Flasche. Rief aber sofort auf dem Handy an und sagte: Ich möchte deine Eier lecken.
Karl wußte auch jetzt noch nicht, was er dazu sagen sollte. Also sagte er: Da mir dergleichen selten, wahrscheinlich noch nie angeboten wurde, frage ich, was auf solche Angebote gewöhnlich geantwortet wird.
Und Joni: Da ich das noch nie angeboten habe, weiß ich nicht, wie gewöhnlich auf ein solches Angebot geantwortet wird.
Karl sagte: Eins zu eins. Da es sich also um Neuland für uns beide handelt, sollten wir einander die Hände reichen und von jetzt an jeden Schritt gemeinsam tun. Keiner führt.
Einspruch, sagte sie, ich will verführt werden.
Das trifft sich ausgezeichnet, sagte Karl, ich verführe fürs Leben gern. Am liebsten mich selbst.
Oje, sagte Joni. Schon wieder so einer.
Und Karl: Man kann sich’s ja aussuchen.
Joni sagte, die Unterschiede seien am Anfang größer als am Ende.
Ja, sagte Karl, dem Leben fällt nichts Neues ein.
Du bist doch was Neues, sagte sie, für mich. Wenn es nicht meinen Vater gegeben hätte, würde ich sagen, du seist ein Solitär.
So neu wie Sie für mich, sagte Karl, kann ich für Sie nicht sein. Das ist sicher, Frau Joni Jetter.
Darüber reden wir, sagte sie und sprach, daß er nicht antworten konnte, gleich weiter: Wenn du jetzt sagst, du müssest deinen Terminkalender befragen, dann lassen wir’s. Also paß auf, was du jetzt sagst.
Karl sagte: Ich kann, wenn es um Joni Jetter geht, immer.
Heute abend, halb neun, im Kronprinz Ludwig, in der Kronprinzen-Stube.
Bis dann, liebe Joni Jetter.
Ciao, Herr von Kahn.
Karl saß eine Zeit lang reglos. Er sah zum Fenster hinaus. Es regnete. Die Vereinsbank-Fassade gegenüber hatte Glanz durch Nässe.
Shit statt Scheiße, im Deutschen alles zu nah, ich bin für Distanz, Joni schaute ihn an, das war der Berührungsmoment gewesen. Der ist kein bißchen vergangen. Wie sie ihn angeschaut hatte! Wenn er wissen will, warum er Joni Jetter liebt, dann holt er diesen Augenblick zurück. Daß dieser Augenblick auffällig war, wurde durch Strabanzers Jetztreicht’s-Reaktion bewiesen. Sein genervtestes Jetzt-reicht’s des ganzen Abends. Karl hätte diesen Augenblick gefeiert, auch wenn sie jetzt nicht so direkt angerufen hätte. Amadeus Stengl würde sagen: So ein Anruf, das ist der Hammer. Konnte Karl diese Sprache noch lernen? Eine Fremdsprache, ohne Zweifel. Und schön wie jede Fremdsprache.
Jetzt erlebte Joni Jetter in seinen Gedanken eine Vergegenwärtigung, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Eine Anwesenheitssteigerung! Wehr dich gegen die Lächerlichkeit der Wörter, aber sag dir, daß nur die Wörter lächerlich sind. Traumfrau. Was Frauen in seinen Träumen für ihn tun! Und keine dieser Frauen kennt er. Jedesmal wenn er aus einem solchen Traum aufwacht, lebt er zuerst in der Einbildung, die Frau gebe es. Diese Einbildung wirkt sich auf sein Benehmen Frauen gegenüber aus. Er erwartet bei jeder Frau, auf die er aufmerksam wird, daß sie eine der Erträumten sei. Dann möchte er am liebsten jeder der Frauen die Gelegenheit geben, so zu ihm zu sein, wie sie im Traum zu ihm war. Da diese Frauen in seinen Träumen nie viel anhaben, bleiben zur Identifizierung nur das Gesicht und die Haare. Und gerade da sind die Traumfrauen eher allgemein als genau. Genau sind sie in dem, was sie tun. Aber an das, was sie in den Träumen für ihn tun, wagt er sie in der Wirklichkeit am wenigsten zu erinnern. Hatte je eine Frau, die ihm begegnete, eine Traumqualität wie Joni Jetter?
Er fischte aus der Kofferkammer die feinste Tasche. Produziert in Mailand, gekauft in Kopenhagen, seit über zwanzig Jahren im Gebrauch.
Von Helen konnte er sich sorglos und heiter verabschieden. Die Leute vom Film wollen noch einen Abend und eine Nacht dranhängen, weil sie gemerkt haben, daß er noch nicht gewonnen ist. Sie werden ihn auch heute nicht gewinnen, das hat er ihnen gesagt. Aber Herr Strabanzer, der in anderen Zeiten Segelschiffkapitän geworden wäre und Amerika entdeckt hätte, ist nicht ohne Grund von seiner Unwiderstehlichkeit überzeugt und will dazu noch seinen Rudi-Rudij mitbringen, der ein Dramaturg und ein Genie sein soll.
Weil er so locker war, kam er ohne jene auch noch den virtuosesten Lügner antastende Verklemmtheit aus dem Haus. Und so locker war er, weil nichts passiert war und auch nichts passieren würde.
Joni Jetter, Traumfrucht.
In Wirklichkeit gibt es keine Joni Jetter, dreiunddreißig, nominiert für die beste Nebenrolle, die ihn zuerst so anschaut und dann so anruft. Sommerfieber, sonst nichts. Also konnte er aus dem Haus, als habe er einen Termin beim Steuerberater. Aber als er in der S-Bahn saß, hielt sich diese Stimmung nicht. Immerhin hatte er noch Benedikt Loibl angerufen und zuerst von der kanadischen Immobilie gesprochen. Er hatte gestern vergessen, sich Loibls Urkunde zeigen zu lassen. War er als Kommanditist dabei oder als Anteilseigner nach bürgerlichem Recht? Wenn letzteres, dann könnte daraus schlimmstenfalls eine Haftung mit dem Gesamtvermögen folgen. Loibl sagte, das wisse er nicht aus dem Kopf, wie er da dabei sei. Gut, Karl von Kahn kommt heute noch einmal hinaus und schaut sich das an. Kann sein, er übernachtet dort. Die Kronprinzen-Suite wäre erwünscht.
Wenn sie nicht frei ist, wird sie freigemacht, sagte Loibl. Vermutlich dachte er, Karl komme mit Daniela.
Karl von Kahn war immer zu früh auf dem Bahnsteig. Besetzt waren die Drahtkörbe von Leuten seines Alters. Alle reglos geradeaus starrend. Die Kästen, die anzeigen sollten, wann und wohin der nächste Zug fahre, waren zeichenlos weiß. Es war ja auch klar, daß diese alten Leute nirgends mehr hinfahren wollten. Er setzte sich auf die Steinfassung eines Blumenrechtecks. Dann kam ein Zug, der angezeigt wurde, und noch ein Zug. Die Alten rührten sich nicht. Die ließen die Züge halten und wieder abfahren. Erst als die S-Bahn nach Herrsching einfuhr, lösten sie sich aus ihren Sitzen und stiegen ein. Offenbar fuhren nach Herrsching nur Leute, die so alt waren wie er. Jünger war keiner. In der Bahn saßen sie so stumm wie vorher draußen. Er konnte sich sorglos zwischen diese Leute setzen, die würden ihn nicht fragen, wie spät es sei, oder gar, ob er wisse, warum es aufgehört habe zu regnen. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte gesagt: Liebe Brüder und Schwestern, von mir könnt ihr alles erfahren. Vor allem aber sage ich euch: Ich bin guter Dinge.
Die S-Bahn schob ihn dann doch richtig auf Joni Jetter zu. Was durfte er als Vorstellung zulassen, was mußte er sich verbieten? Verbieten? Was ist denn das für ein Wort? Er wußte nicht mehr, was das heißt, verbieten. Ein Fremdwort. Er merkte, wie sich in der unteren Mitte Wärme sammelte, wie da Wärme zusammenfloß, wie das Geschlechtsteil anfing, sich von seinem Umfeld zu unterscheiden.
Geschlechtsteil. Schon wieder so ein sinnloses Wort. Wenn es wenigstens der Geschlechtsteil hieße. Das Teil! Über manche Wörter durfte man nicht nachdenken. Das bekam denen nicht. Wenn das das Geschlechtsteil ist, was ist dann das Ganze? Ein Wort, als wäre es bei einer Aufsichtsratsitzung entstanden. Am liebsten hätte er sich an seine Brüder und Schwestern gewendet. Wie findet ihr das: Geschlechtsteil? Eine S-Bahn voller siebzig- bis achtzigjähriger Männer und Frauen macht sich lustig über das Wort Geschlechtsteil.
Heute kein Spaziergang vom Bahnhof hinaus und hinauf zum Kronprinz, sondern mit einem Taxi. Da Loibl die Küche regieren mußte, brachte ihn Graf Josef in die Suite. Graf Josef ließ sich so nennen, wurde von Loibl so vorgestellt, war dabei von Anfang an und hatte bei Loibl offenbar jede familiäre Funktion übernommen. Ein schmaler, leiser, alles wahrnehmender und alles Wahrgenommene andauernd kommentierender Chefportier. Die goldenen Schlüssel an seinem sattgrünen Revers waren so theatralisch wie der ganze Mensch. Wäre er laut gewesen, hätte man ihn nicht ertragen. Er hat wohl bemerkt, daß er nur durchkommt, wenn er seinem Redezwang auf die leiseste Art nachgibt. Von heute aus gesehen, dachte Karl, ist Graf Josef ein Rapper. Vielleicht reimte sich sogar, was er andauernd von sich gab. Einem deutlichen Rhythmus folgte es auf jeden Fall. Und klang melancholisch. Sogar Josefs Augen und Mund standen im Dienst der Melancholie, dazwischen allerdings eine ordinäre Nase mit riesigen Nasenlöchern. Zu Karl von Kahn hatte er in seinen leisen Textstrom einmal eingefügt, und das wahrscheinlich wegen Karls «von»: Herkunft österreichisch, unehelich, hoch droben, unbelangbar hoch, von Schwarzburg zu Schwarzburg, nicht zu verwechseln mit dem Opportunistenclan von Schwarzenberg.
Als Karl das erste Mal von Graf Josef in die Suite gebracht worden war, hatte er entschieden, diesem Herrn nie ein Trinkgeld in die Hand zu drücken. Der hätte es ihm vor die Füße werfen müssen. Benedikt Loibl nannte Graf Josef, wenn er ihn erwähnte: Meine Sprechanlage. Tatsächlich war Loibl ein stiller Mensch. Auch leise. Aber dazu noch still.
Karl war schon vor acht eingetroffen, weil er sich umziehen wollte, bevor Joni Jetter, falls es sie gab, ankäme. Den Anzug, den er an diesem Abend tragen wollte, hätte Helen nicht sehen dürfen. Sie hätte gefragt: Warum jetzt auf einmal dieser Anzug? Er hätte nicht antworten können, seine ganze Sorglosigkeitsschau wäre gescheitert. Er hatte diesen Anzug seit Jahren im Schrank. In Zürich gekauft. Mit Diego in Zürich. Zur Cézanne-Ausstellung. Diego im Zweireihigen. Fast weiß, aber noch gestreift, ein bißchen zu sehr. Das war eben Diego. Karl sah sofort, daß er versagt hatte. Diego, Zürich, Cézanne, und er im faden Hellgrau, uni, wenn auch mit einer Krawatte, auf der sich Schwarz und Weiß in einem verzehrenden Kampf befanden. Also lieh er sich von Diego zweitausend Franken, bat um einen einstündigen Urlaub und kam zurück mit diesem Anzug: Leinen und Seide im lichtesten Blau, darin ahnbar weiße Linien, ein Hemd, in dem, wer wollte, einen Hauch von Rosa entdecken konnte, und die Krawatte ein Ausbruch von kleinsten Farbteilchen. Sie kamen alle aus einer zentralen Stelle und flogen einem in vielen Farben entgegen. Er hätte das mit einer Scheckkarte zahlen können, aber es war ihm plötzlich so eingefallen: Er wollte sich das von Diego zahlen lassen, er wollte Diego Geld schuldig sein. Es war ein Gefühlsüberfall gewesen. Als er nachher ins Pfauen-Café kam, wo Diego saß und las, sprang der nicht auf und rief etwas, sondern schaute auf die Uhr und sagte: Fast pünktlich. Das war so enttäuschend, daß Karl, was er da gekauft hatte, nicht mehr anziehen konnte. Heute wollte er genau das tragen, was für Diego zu fein gewesen war.
Er hielt sich unten auf, er wollte, wenn sie ankam, auf sie zugehen. Gewissermaßen ganz unverlegen. Vielleicht konnte er ihr gegenüber die Irrealitätsfrequenz durchhalten. Immer so tun, als sei sie es nicht wirklich oder als sei es wirklich nicht sie. Zumindest: Als glaube er einfach, daß es nicht sie sei beziehungsweise daß sie es nicht sei.
Als er sie herkurven sah, warf er sich vor, daß er hätte voraussagen müssen, sie werde in einem solchen Cabriospielzeug von BMW ankommen. Das gehörte doch zu seinem Beruf, Menschen immer über das hinaus, was sie gerade als Erscheinung boten, fortzusetzen. Jemandes Automarke und — modell vorauszusagen war das mindeste.
Da es jetzt nicht nur regnete, sondern schüttete, stand Graf Josef schon neben ihm, reichte ihm einen Schirm und war mit seinem Schirm vor ihm am Auto, um Joni trocken unters Vordach zu bringen. Dann holte er ihre zwei Gepäckstücke, ging voraus. Joni sagte, mehr lippenpantomimisch als hörbar: Ein Schatz. Karl nickte.
Als sich Graf Josef mit dem zu ihm gehörenden Gestenaufwand verabschiedet hatte, sah sich Joni belustigt um. Karl distanzierte sich aber nicht von diesem zwischen Orange, Gelb und Braun spielenden Hotelbarock. All die Quasten, Schnüre, Troddeln, die Vorhanglasten, die Appliquen und die vom edlen Stilwillen verkrümmten Stuhl- und Tischlinien. Karl liebte das Nachgemachte. Wie es aus dem Wohnteil in den Schlafteil hinübergeht, das macht das Bett zur Bühne und das Ganze zum Theater.
Karl sagte, sie passe gut in diese Suite.
Das könnte, sagte sie, eine Beleidigung sein.
Du so echt, das so nachgemacht, das knistert, sagte er.
Routinier, sagte sie.
Anfänger, sagte er.
Sie packte aus, hängte mehrere Kleidungen in den Schrank, ging ins Klo, streifte, was nötig war, hinunter, setzte sich und pinkelte laut. Dann kam sie zu ihm an die Fensterfront, stellte sich neben ihn, lehnte ein bißchen den Kopf herüber und sagte: Schön. Das konnte nur heißen, daß sie den heftigen Regenguß mochte, weil er und sie zuschauten.
Was du jetzt nicht siehst, ist der See, sagte er.
Zum Glück hatte er sich umgezogen, als sie noch nicht zuschauen konnte. Daß er ihr beim Umkleiden zuschaute, schien sie zu genießen. Er betonte sein Zuschauen. Sie sollte bemerken, wie gern er ihr zuschaute. Dann war sie so weit. In ernstem Ochsenblutrot. Ein für ihre Verhältnisse legerer Kragen. Der Mondstein verschwand. Das, worauf es diesmal ankam, war der breite schwarze Lackgürtel, der lose auf ihren Hüften saß und nichts hielt als sich selbst. Das dunkle Rot, der glatte, feste Stoff, der Gürtel und auf den Schultern zwei spielerische Schulterstücke machten aus Joni eine Offizierin der schönsten Armee der Welt.
Sie saßen dann so, daß sie den Ludwig-Spruch lesen konnten, den Joni gestern auswendig gewußt hatte. Sie sagte ihn noch einmal, ohne hinzuschauen:
Das Glück ist wirklich, wo ich es empfinde.
Im Denken findt der Mensch des Wissens Leere.
Um glücklich seyn zu können, muß er fühlen.
Karl fragte: Könnte man das so sagen, daß hörbar wird, seyn steht da mit Ypsilon?
Wie soll ich das machen, fragte Joni.
Daran denken, sagte Karl.
Du Resischör, du, sagte sie.
Sie hatte Benedikt Loibl imitiert, weil der schon dastand und Brunnenkresserahmsuppe empfahl, Lammgigot aus dem Ofen an Thymianjus, dazu Rahmpolenta und Ratatouille. Zum Trinken seinen besten Zweigelt. Zum Lammgigot sei der Pflicht.
Durch nichts verriet er, daß Joni Jetter und Karl von Kahn am Abend zuvor auch schon dagewesen waren. Allenfalls, wie sehr er den Zweigelt empfahl, hätte als eine überaus zarte Kritik an der gestrigen Rioja-Orgie verstanden werden können.
Karl fragte Joni, ob man das so deuten könne.
Und sie: Überinterpretiert.
Er sagte: Etwas Friedlicheres als uns zwei kann es in der ganzen Welt nicht geben.
Und sie: Und etwas Unschuldigeres auch nicht.
Ich gestehe, sagte er, …
Bitte nicht, sagte sie.
Du hast recht, sagte er.
Was tust du, wenn du arbeitest, fragte sie.
Finanzdienstleister, sagte er.
Mein Großonkel war Fahrdienstleiter, sagte sie, in Ennepetal.
Da bin ich, sagte er, als ich in Bonn studierte, immer ausgestiegen zum Wandern.
Warum in Ennepetal, fragte sie.
Da habe er, sagte er, zum ersten Mal das Gefühl gehabt, im historischen Germanien zu sein. Und mußte noch dazusagen, er sei kein Leiter, sondern ein Leister.
Was tust du, wenn du leistest, fragte sie.
Weißt du noch, was du im Sommer 1992 gemacht hast, fragte er.
Leider, sagte Joni. Der Sommer fing an mit dem Abschlußball. Sie in Angelas eisgrünem Missoni-Jersey. Angela, ihre ältere Schwester, Cutterin, verdiente schon richtiges Geld. Angelas Missoni-Jersey habe sie noch dicker gemacht, als sie damals gewesen sei.
Du und dick, sagte Karl.
Und sie: So groß wie breit. Marga und Ulla tanzten zwei selbsterdachte Nummern, Strandleben und Ganz alte Männer. Beide blond, schön, locker, total sexy. Die wurden nachher natürlich geholt und geholt. Bei ihr kam höchstens mal schnell ein Dürrer oder ein schüchterner Zitterer vorbei. Sie hatte mitgeprobt für die Tanznummern. Lief dann nicht. Das war der Abschlußball, dann das Leben. Ging grad so weiter. Gleich der erste hatte, ohne ihr etwas zu sagen, nach vier Wochen der reinen Verliebtheit ihre Freundin auf dem Motorrad, und wenn die ihr, der Radfahrerin, begegneten, gab er Gas. Immerhin, hat sie gedacht, er hat ein schlechtes Gewissen. Sie also nächtelang: Warum-warum! Dann schleimt sich einer an, daß sie geglaubt hat, glauben mußte, es handle sich um Schicksal. Jungkomponist. Die Haare auf Beethoven gemacht. Überhaupt à la Beethoven. Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre jubelte der in der ersten Nacht in seiner ärmlichen Bude. Er werde über ihre Brüste ein Konzert für vier Saxophone und sechs Schlagzeuge schreiben, und sie werde sich mit ihm und mit ihren Brüsten vor dem Uraufführungspublikum verbeugen. Er rief, wenn sie bei ihm war, seine Mutter an und sagte: Mutti, endlich! Endlich bin ich angekommen. Bei ihr! Und ihr, Joni Jetter, werden alle seine Kompositionen gewidmet sein. Du wirst sie mögen, Mutti! Gute Nacht, liebste Mutti, je t’embrasse. Nach vier Monaten ein Brief: Mutti sei plötzlich krank geworden, Mutti brauche ihn jetzt, er wisse nicht, wann er, ob er überhaupt zurückkomme, je t’embrasse, Hector! Immer mit — c-. Sogar wenn er sich vorstellte, sagte er immer: Hector mit — c-.
Dann eben Uni, Ruhr-Uni. Vier Semester Geschichte und Englisch. Surrealistisches Kasperltheater. Im Mittelalter war der Mensch am freiesten, und was die Offiziere im Punischen Krieg für Hosen anhatten. Sie rennt, weil sie immer zu spät dran ist, in den falschen Seminarraum, statt bei Shakespeares Sonetten landet sie bei der Museumspädagogik, setzt sich, weil sie nicht zugeben will, daß sie sich getäuscht hat, in die letzte Reihe, der Museumspädagoge hat ihren Eintritt mit einer großen Geste gutgeheißen, redet weiter, kommt nachher auf sie zu, sie sagt immer noch nicht, daß sie hier falsch sei, alle anderen sind schon fort, sie kann, wenn sie will, in seine Sprechstunde kommen, er berät sie gern, sie geht hin, er berührt sie am Oberarm. Es war seine Stimme, nicht das, was er sagte. Durch ihre Ohren ist sie noch zugänglicher als durch ihre Augen. Das muß ein Konstruktionsfehler sein bei ihr, diese Zugänglichkeit durch die Ohren. Zwei Wochen später lag sie in seinem Bett. Sorgfältigster Beischlaf. Endlich Zukunft. Sobald die Frau zuverlässig aus dem Haus ist, ruft er sie. Zum Vögeln. Sie hat, so gut es ging, mitgevögelt. Immer mit Frikadellen und Mumm extra dry. So lange nichts, und jetzt diese Aufmerksamkeit! So willkommen hat sie sich noch nie fühlen dürfen. Jedesmal entdeckten sie aneinander etwas Neues. Sie konnte endlich reden. Dem gefielen ihre Rücksichtslosigkeiten. Angeblich habe ihn vor ihr noch keine Frau so zum Lachen gebracht. Er stellte immer einen Spiegel vors Regal, gerade groß genug, daß sie die entscheidenden Partien mitkriegten. Das mußte doch überhaupt nicht mehr aufhören. Echt, sie sah sich schon als Gattin. Natürlich unter aufklärerischer Flagge gesegelt. Beziehungsweise gevögelt. So dumm muß man sein können. In den Ferien gab es ihn nicht. Und nach den Ferien auch nicht mehr. Sie sah, welche er jetzt am Oberarm berührt hatte. Das sah man der an. Die Lehre: Es gibt immer eine Nachfolgerin.
Also abgehauen. Geflohen. Kotzunglücklich. Und nichts gelernt, womit auch nur eine Mark zu verdienen war. Zuerst im Etikette gejobbt, dann im Raus, Frühschicht sechs bis dreizehn, Nachtschicht siebzehn bis drei. Wird dann immer vier. Jetzt also Dostojewskij. Der muß gerochen haben, daß sie es jetzt düster brauchte, schwermütig, tragisch. Vater Finne, Mutter aus Sibirien. Der sagte: Mit mir nur ganz oder gar nicht. Aber ja, rief es in ihr, ihm entgegen, aber ja! Der kam auf sie zu, als wate er tief im Schnee, machte dicht vor ihr halt, zog etwas Pelziges aus der Tasche seines fast bis zu den Knien reichenden dunkelgrünen Kittels, hielt ihr das Pelzige hin und sagte: Diesen Nerzschal von meiner Großmutter kann niemand tragen außer Ihnen. Er habe Joni lange beobachtet, deshalb wisse er, nur sie kann den Großmutternerzschal tragen. Bühnenbildner mit Regieambition. Wenn er nachts redete, war er der Intendant oder würde es doch gleich werden. Sie sollte glücklich sein, daß er noch rechtzeitig gekommen sei, sie aus ihrer verpfuschten Kindheit und Jugend zu erlösen. Das gehe nur sexuell. Sie müsse ihre Identität in der Sexualität entdecken und entwickeln. Von da aus dann zur Schauspielkunst. Die Schauspielkunst sei nichts anderes als angewandte Sexualität. Zuerst aber die Zertrümmerung der katholischen Kleinbürgerin. Besonders die Kirche war ihm verhaßt. Was die sich herausnimmt, so ein schönes Mädchen bis ins Innerste zu verbiegen, bis zur Lebens- und Liebesunfähigkeit zu verkorksen.
Sie mußte dem Dienste leisten, physische und verbale, die zu nichts dienten als zu ihrer Erniedrigung. Zuerst hielt sie alles, was er mit ihr machte, für Hingabe seinerseits. Sie fühlte sich entdeckt. Als sie in der Theaterkantine eine vom Ballett mit Nerzschal sah, ging sie zu der hin und fragte, ob sie das Nerzding von Dostojewskij habe. Dostojewskij war sein Spitzname, den er selber pflegte. Das Ballettmädchen sagte schlicht: Von seiner Großmutter.
Wieder geflohen. Show Service in der Westfalen-Halle, acht Mark die Stunde, Catering, Verkaufsveranstaltungen von Müller-Meerkatz, Amway USA, Auszeichnung der erfolgreichsten Vertreter mit Diamantnadeln erster, zweiter und dritter Klasse, die hasteten dann selber ans Mikro und kamen auf die Großleinwand, fünfhunderttausend kostet die Veranstaltung, fünfundzwanzig Eintritt für die zwölftausend Kleinverkäufer von Seife, Elektro-Artikeln und so weiter. Am Mikro und auf der Leinwand die großen Bekenntnisse, die Erfolgsrezepte, eine heult selber vor Ergriffenheit, weil sie nicht in die Disco gegangen ist.
Weiter geflohen. Zu den Johannitern, Rettungsflugwacht, von Tür zu Tür, keine Scheu, der Oma, die dreihundertzwanzig im Monat hat, eine Unterschrift abzupressen, die muß ein Jahr zahlen, dann kann sie weg, der Werber kassiert den Monatsbeitrag mal vier, das Schlimmste war die Johanniter-Tracht, die war Vorschrift.
Geflohen. Zum Arbeitsamt, Woche für Woche, obwohl sie sofort gesehen hat: Das wird nichts. Ein Büro, so unmäßig niedlich und nett, daß sie gleich wußte: Die sind vor allem an der Pflege der Büroausstattung interessiert. Sie hat gehört: Ausbildungsförderung. Fürs Sprachenlernen. Die Sachbearbeiterin: Das gibt’s nur in Ausnahmefällen. Ja, was sind das denn für welche? Na ja, das kann sie jetzt auch nicht so aus der Lameng heraus konstruieren, eben Ausnahmefälle. Ja, aber was für welche denn? Also nicht die Regel, das läßt sich nicht so leicht eingrenzen, nicht wahr. Und sie: Wenn die Nichte des Kultusministers käme, wär das dann so ein Ausnahmefall? Da wird die aber barsch.
Wieder geflohen. Schwester Angela sagte: Geh nach München. München, das ist Film, Fernsehen, Theater. Also hin. Private Schauspielschule. Der Schulchef heißt Oliver Keller-Scheel. Aus über sechzig Bewerbungen, sagt er, hat er neun genommen, sieben Mädchen, zwei Jungs. Und sagt gleich dazu: Unter seinem jetzigen Namen ist er in keinem Lexikon zu finden. Das sagte er, als lebe er mit einem gefährlichen Geheimnis. Nazi wahrscheinlich. Den Nazi erkennst du am besten an seinen Widerstands-Anekdoten. Seine Lieblingsanekdote: Marianne Hoppe sollte einem Schauspielerkollegen, der mit einer Jüdin verheiratet war und deshalb an Nazifeiertagen nicht flaggen durfte, im Namen von Gustaf Gründgens einen Brief schreiben, in dem Gründgens dem Kollegen empfahl, trotzdem zu flaggen. Als Gründgens den Brief durchlas, lachte er auf: Da schau her! Beim Schlußgruß hatte sie statt Heil Hitler Heil Hiller geschrieben, hahaha. Oliver machte Sprache und Körper, seine Schwester Isolde, die aber wahrscheinlich seine Frau war, Gesang. Die sofort zu Joni: Deine Stimme ist erledigt. Zuviel geraucht. Joni ist vorerst nicht mehr geflohen. Das Geld verdiente sie sich hinter den Kulissen, Kabelträgerin, Statistin. Drei Jahre lang. Dann eine Art Prüfung und ein Diplom ohne Status.
Der genaueste Ausdruck dieser biographischen Durststrecke war der pausbäckige Regieassistent, der einen etwas belebteren Beischlaf als zu Hause brauchte. Das hätte ein Einnächter bleiben müssen, zog sich aber hin, weil der wirklich gut weinte, sie mußte mit heim zu dem, seine Susanne mußte ihr das Zweijährige in die Arme legen, aber als der dann von einem Dreier schwärmte, floh sie. Ließ sogar ihren Schirm bei denen, den kriegte sie nie wieder. Erstaunlich, daß die genauso pausbäckige Susanne den Dreier mitgemacht hätte.
Es folgte der zweite Akademiker. Bertram Fürst, der sich in allem Ernst als Fürst Bertram vorstellte und in der Betonung mit beiden Bedeutungen spielte. An der Bar, in der Pause, im Prinzregententheater, sagte er zu ihr, ihr Mund sei zu schön, um so etwas zu trinken, und bestellte ihr ein Glas Champagner. Tat so, als wolle er nicht mehr als ihr Mineralwasser durch Champagner ersetzen. Keine Konversation mehr bis zum Pausenschluß. Aber er beobachtete, ob sie den Champagner trinke. Als sie das Glas an ihren Mund hob, hob er sein Glas auch. Ein unausgesprochenes Zum Wohl. Dann fügte es sich, daß er eine Reihe hinter ihr saß. Später sagte er, er habe sie schon vor der Pause beobachtet, nur deshalb habe er sie angesprochen und so weiter. Eine mit historischen Möbeln ausgestattete Fünfzimmerwohnung in der Franz-Josef-Straße, im obersten Stock, plus Dachgarten, und das war nur seine Stadtwohnung, Frau und Kinder, zwei, wohnten, lebten draußen im feineren Grünwald. Er war Herr von hundert Leiterplatten für jede Art Elektronik, Folientastaturen, Bediensystemen, die ließ er produzieren und verkaufen von weltweit renommierten Firmen. In jedem Haushalt Europas war er mit seinen Leiterplatten vertreten und in allen großen Häusern sowieso. Das alles sein Nebenberuf, Brotberuf. Mit ganzer Leidenschaft schrieb er Fernsehserien. Sieben hatte er, als er sie für sich gewann, schon geschrieben. Alle noch in der Schublade. Noch nie hatte ein Medienmensch reagiert auf sein Geschriebenes. Sie las, mußte lesen, alle seine Fernsehserien. Schnell genug merkte sie, daß er nur Zustimmung ertrug. Alles, was in Film und Fernsehen lief, war ebenso dumm wie verlogen, und eben weil das so war, wurden seine Bücher keiner Antwort gewürdigt. Aber das wird sich ändern, das wußte er. Die Menschheit macht einen Unfug immer nur eine Zeit lang mit, dann befreit sie sich. Der Fernseh-Unfug hat lange genug für Verdummung gesorgt. Die Geschmacksrevolution steht bevor. Dann werden die unmusikalischen Deppen aus den Büros verjagt, und es werden Männer und Frauen einziehen, die nicht, wenn sie den Sender betreten, den Verstand beim Pförtner abgeben. Er war von ihren Männern der ansehnlichste. Einsvierundachtzig. Das ist die Größe, die sie am meisten schätzt. Ein Unterhalter. Wenn es ihm gelang, von einer Premierenfeier oder von einer Vernissage fünf oder zehn Leute abzuschleppen in die Franz-Josef-Straße, explodierten ihm die lustigsten und frechsten Sätze stundenlang aus dem Mund. Waren die Leute weg, sackte er zusammen, fluchte nur noch, verfluchte die gerade Gegangenen, von denen keiner nach seinen Serien auch nur gefragt habe, obwohl, daß er dergleichen fabriziere, doch deutlich genug geworden sei. Dann weinte er. Dann schlief er mit ihr. Er nannte es mausen. So wurde sie Mausi. Strabanzer, dem sie das einmal gestanden hatte, beutete das aus. Sie bildete sich wieder eine Zukunft ein. Man spürt, wie wenig einem diese eingebildete Zukunft entspricht, und trotzdem oder deswegen lebt man mit aller Gefühlskraft darauf zu. Was einem widersteht, wird geglättet, umgebogen oder einfach geschluckt. Der wollte immer gebadet werden von ihr mit Schwamm und Schaum, in seiner Spezialmischung aus Moschus und Lavendel, dann wurde geföhnt, dann geölt … Von heute aus gesehen muß sie gemütskrank gewesen sein. Als sie ihn irgendwann im Kino in einer Nachmittagsvorstellung ein paar Reihen schräg vor sich mit einer Schwarzmähnigen schmusen sah und ihn beim nächsten Termin in der Franz-Josef-Straße zur Rede stellte, rief er, das sei ungeheuer, sie, die er nahezu ernähre, regelmäßig beschenke und auch noch mause, sie, die immer nichts mitzubringen habe als sich selbst, die stelle jetzt auch noch Exklusivansprüche. Mit der Schwarzmähnigen sei es ihm siebenmal gekommen. In einer Nacht, bitte. Sie war hinausgerannt und davon. Das war Fürst Bertram, der Herr der Leiterplatten. Dann zur Beerdigung von Benno Brauer. Nur weil Oliver Keller-Scheel sagte, daß der sich erschossen hat, daß er den seit langem gekannt hat, daß er geglaubt hat, der erschießt sonstwen, aber doch nicht sich selbst. Und, sagte er, nirgends kann ein Schauspieler soviel lernen wie auf einer Beerdigung. Dann war dort tatsächlich Theodor Strabanzer. Reicht’s?
Ich bewundere dich, sagte er.
Das kannst du gar nicht oft genug sagen, sagte sie.
Und nominiert für die beste Nebenrolle, sagte Karl. Dabei siehst du aus wie die Hauptrolle persönlich.
Find ich auch, sagte sie.
Es dürfte keine Nebenrollen geben, sagte er.
Dann gäbe es keine Hauptrollen, sagte sie.
Das Essen war vorbei. Joni rauchte weiter.
Sie sagte: Eines ist sicher, ich stecke das Rauchen. Mein Vater ist mit neunundfünfzig gestorben. Kehlkopfkrebs.
Karl sagte, dann rauche er eine mit.
Und sie: Was die auf der Uni an Geschichte geboten haben, das langt noch nicht mal fürs Kreuzworträtsel. Entschuldige, ich habe zu lange geredet. Sommer 92, du hast mich nach dem Sommer 92 gefragt. Wer mich nach dem Sommer 92 fragt, tritt eine Lawine los. Warum hast du gefragt?
Und er: Weil du gefragt hast, was ich tu, wenn ich arbeite. Aber das kann ich dir jetzt nicht auftischen.
Sie gab nicht nach. Die Elendspartie ihres Lebens liege hinter ihr. Keine Flucht mehr nirgendwohin, sondern brav beim lieben und durchaus auch grauenhaften Theodor Rodrigo Strabanzer bleiben.
Warum Rodrigo, fragte Karl.
Barcelona, die katalanische Großmutter. Ein Großmamakind. Ende. Her mit deinem Sommer 92.
Karl bestellte die nächste Flasche Zweigelt.
Du betrinkst dich absichtlich, sagte sie.
Ich trinke mich davon, sagte er.
Feigling, sagte sie.
Mindestens, sagte er.
Also, sagte sie, Sommer 92.
Das sei eben sein Sommer gewesen, sagte er. Er setze jetzt alles, was zwischen ihnen an Annäherung passiert sei, aufs Spiel. Nach ihrer vom Ruhrgebiet bis München rasenden Biographie sei, was er mit dem Sommer 92 zu bieten habe, nicht mehr anbietbar. Allerdings, er ist der, der im Sommer 92 das und das geleistet hat. Er verleugnet sich nicht. Ende. Würde Strabanzer sagen.
Fang an, sagte Joni Jetter.
Ja, gut, in diesem Sommer hat er gekämpft, kein Blutvergießen, ein Nervenkrieg, lebendiger kann er nicht sein, als er war im Sommer 92. Der Markt ist etwas Unvergleichliches. Am ähnlichsten ist noch das Wetter. Aber die Beobachtung des Wetters ist leichter als die des Marktes. Am Marktgeschehen sind unzählbar viele beteiligt. Im Sommer 92 hat jeder sehen können, daß das britische Pfund und die italienische Lira schwächelten. Sie galten im täglichen Marktgeschehen nicht so viel, wie sie nach dem Willen ihrer Regierungen hätten gelten sollen. Es sind die Regierungen, die Finanzverwaltungen, die Notenbanken, die glauben, sie könnten die Kurse ihres nationalen Geldes auf einem Niveau halten, das der heimischen Wirtschaft nützt. Es gibt aber nichts Internationaleres als den Markt. Im Sommer 92 hat er, haben viele gegen die politischen Machenschaften agiert. Die in London wurden nervös, der Markt merkt das und reagiert. Die Herren Premierminister, Finanzminister und deren Stäbe haben nicht zugeben können, daß der Markt das Pfund anders bewertet, als sie das gern gehabt hätten. Also hat er gleich mal einen Kredit von fast drei Millionen Pfund aufgenommen und diese Pfunde eingetauscht gegen Mark. Fast sechs Millionen Mark wurden ihm dafür gutgeschrieben. Dann zugeschaut, wie die Herrn in London durch ihre Rettungsmanöver dem Pfund den Rest geben. Sie haben es schließlich vom Markt nehmen müssen. Er bezahlt Ende September seine geliehenen Pfunde zurück, aber jetzt ist das Pfund viel weniger wert als im Hochsommer. Von den fast sechs Millionen Mark, die ihm für die geliehenen drei Millionen Pfund gutgeschrieben worden waren, braucht er für die Rückzahlung nur noch fünfeinhalb, also mit knapp fünfhunderttausend wird er belohnt dafür, daß er sich daran beteiligt hat, hochmögenden Politikern eine Markterfahrung zu verschaffen. Das war sein Sommer 92.
Und warum machen das nicht alle, fragte Joni.
Das frage ich mich auch, sagte Karl. Wieviel du einsetzen kannst, hängt allerdings davon ab, wieviel Kredit du hast. Aber ein bißchen Kredit hat jeder. Und wer dem Markt angehört, der geht immer über seine Kreditwürdigkeit hinaus. Wenn die Politik sich durchgesetzt hätte, wäre er ruiniert, teilruiniert, fast ruiniert gewesen. Aber die Politik kann sich gegen den Markt so wenig durchsetzen wie gegen das Wetter. Im Chinesischen gibt es für Risiko und Chance nur ein Wort. Das ist die Weisheit Chinas. Im Englischen nennt man, was er getan hat, nicht Spekulieren, sondern Wetten. They bet that the pound was overpriced against the D-Mark. Wetten klingt sportlicher als Spekulieren. Aber beide Wörter wollen nichts wissen von der Natur des Geldes, des Geldwerts. Das Geld hat ja an sich keinen Wert. Du mußt es in ein gewinnbringendes Verhältnis bringen.
Klingt philosophistisch, sagte Joni.
Da wußte er, daß er ihre Neugier falsch bedient hatte. Sie hatte ein Strabanzer-Wort benutzt. Bis jetzt waren sie hier gesessen, als wären sie beide zum ersten Mal hier. Benedikt Loibl hatte das Lammgigot mit Rahmpolenta so angeboten, daß nicht an die Thymianpolenta zum Lammcarré gedacht werden mußte. Auf dem Teller erinnerte die weiße, fast breihafte Rahmpolenta kein bißchen an die massiv gelbe Polenta von gestern. Ich bin ein Südtiroler, vergeßt das nie. Dann zweimal Polenta. Aber Joni schien von dergleichen nicht heimgesucht zu werden. Karl wußte, das war wieder der Augenblick, in dem nur die Angst ihn unwiderstehlich machen konnte.
Joni fragte flüsternd, ob er den am Tisch direkt unter dem Ludwig-Spruch kenne.
Karl schaute hin.
Joni bat sofort, er möge nicht so auffällig hinschauen. Das ist doch der … dieser Moderator, der von Sat 1, der immer die Leute ausquetscht.
Karl mußte gestehen, daß er den nicht kenne. Er probierte eine andere Nummer. Geld, Joni, sagte er, was ist es für dich, Geld.
Das, was mir immer fehlt, sagte sie.
Also vermehren wir’s, sagte er.
Ja, bitte, sagte sie.
Wir tun nichts anderes mehr als Geld vermehren, sagte er, einverstanden?
Prima, sagte Joni.
Geld ausgeben wird uninteressant, sagte er. Wir vermehren es. Ob sie darauf vorerst einmal mit ihm trinke.
Sie tranken auf die Geldvermehrung.
Geldausgeben ist nur wichtig, wenn du zu wenig Geld hast. Wenn du Geld vermehrst und vermehrst, mußt du überhaupt keins mehr ausgeben. Joni, jetzt fange ich auch an zu vergleichen. Joni Jetter, Künstlerin. Hör zu. Was ist der Erfolg in der Kunst?
Ankommen, sagte sie.
Wenn der Erfolg, egal wodurch, gesichert ist, zugesagt ist, garantiert ist, sagte er, was ist dann?
Da der Erfolg nie garantiert ist, erübrigt sich die Frage, sagte sie.
Joni Jetter, wenn der Erfolg garantiert wäre, wäre er dann für den Künstler noch genauso wichtig, wie wenn er ewig unsicher ist?
Wahrscheinlich nicht, sagte sie.
Und Karl: Was könnte dann das Wichtigste werden für den Künstler?
Die Kunst, sagte sie prompt.
Ja, jubelte Karl, die Kunst. Die Sache selbst. Und so ist es beim Geldvermehren, wenn nicht mehr gefragt werden muß, wozu. Wozu Geld? Die Wozu-Frage trivialisiert Geld. Bitte, nicht sagen: das Geld. Einfach: Geld. Aber — und jetzt lohnt sich der Vergleich mit der Kunst — wenn in der Kunst der Erfolg garantiert ist, wird die Kunst selbst das Wichtigste. L’art pour l’art heißt das, glaube ich. Der Erfolg wird sekundär. Aber beim Geldvermehren wird das Geldvermehren, auch wenn Geld ausgeben uninteressant geworden ist, kein l’art pour l’art, weil ja doch vermehrt und vermehrt wird. Das ist das Einzigartige, also Unvergleichliche des Geldes. Kunst um der Kunst willen weiß nicht mehr, ob sie noch Kunst ist oder schon Wahn. Politik um der Politik willen wäre asozial, zynisch, absurd oder verbrecherisch. Wissenschaft um der Wissenschaft willen wäre menschenfeindlich. Geld vermehren um des Geldvermehrens willen entgeht diesen Gefahren. Es produziert. Es produziert Wert. Und da ist keine philosophische Diskussion nötig, was das für ein Wert sei. Dafür steht die Zahl. Die Zahl ist die Hauptsache. Die Zahl ist der einzig gültige Ausdruck des Geldes. Die Zahl ist der Sinn des Geldes. Die Zahl ist das Geistigste, was die Menschen haben, was über jede Willkür erhaben ist. Die Zahl ist kein Menschenwerk. Die Menschen haben die Zahl nicht geschaffen, sondern entdeckt. Also sage ich dir zum Schluß: Das Absahnen, Gewinnmitnehmen samt Geldausgeben ist die triviale Dimension. Ich sage verständnisvoll: die irdische Dimension. Wer aber Geld spart und verzinst, erlebt den ersten Schauer der Vermehrung. Ich sage: der Vergeistigung. Der Zins ist die Vergeistigung des Geldes. Wenn der Zins dann wieder verzinst wird, wenn also der Zinseszins erlebt wird, steigert sich die Vergeistigung ins Musikgemäße. Das ist kein Bild, kein Vergleich, das ist so. Die Zinseszinszahlen sind Noten. Wenn wir aber den Zinseszins-Zins erleben, erleben wir Religion. Der Wirklichkeitsgrad, Vergeistigungsgrad des Zinseszins-Zins-Effekts macht die Zahl zum Religionstext. Und der drückt sich aus in der Zahl. Spürbar wird Gott. Auf jeden Fall entspricht ihm nichts so sehr wie die Zahl. Zum Schluß, Joni Jetter, kein Lammgigot ohne Utopie: Die Menschheit muß es so weit bringen, daß jeder eine Arbeit tut, die er um ihrer selbst willen tut. Dann hört das Entfremdungsgejammer auf. So weit wird es kommen. Dann entfallen alle vorläufigen Ersatzreligionen mit ihren uneinlösbaren Versprechungen. Das wird die absolute Erhabenheit des Geldes erst erweisen. Geld vermehren, um seiner selbst willen betrieben, ist nämlich die einzige menschliche Tätigkeit, die, auch wenn sie um ihrer selbst willen betrieben wird, unanzweifelbare Werte schafft. Bei allen anderen Tätigkeiten liegt der Wert darin, daß die Arbeit schon um ihrer selbst willen getan wird, egal, was dabei herauskommt. Nur bei Geldvermehrung um ihrer selbst willen entsteht, ausgedrückt durch die Zahl, Wert für alle.
Warum heißt das dann Wucherzins und gilt als unanständig, sagte Joni.
Usura heißt’s in Italien, wo wir das Geldvermehren gelernt haben. Wucher, entschuldige, wenn ich dir etwas sage, was vor lauter Museumspädagogik zu kurz kommen mußte, Wucher, das war der Zins, den der, der sich Geld geliehen hatte, dem schuldig war, von dem er sich das Geld geliehen hatte. Moment! Wenn er den Zins nicht zahlen konnte, wurde der Zins der Schuld zugeschlagen, und er mußte jetzt Zins für den nichtbezahlten Zins zahlen. Das war usura renovo. Geld war das Symbol des Mangels. Es gab zu wenig Geld. Geld war an sich etwas wert. Als Münze. Seit dem 7. Jahrhundert vor Christus kennen wir geprägte Münzen. Unser Zinseszins ist das historische Gegenteil, nämlich der Zins, den unsere Zinsen erbringen. Also Multiplikation schlechthin. Jetzt gibt es zuviel Geld. Es kommt schon mal vor, daß einer vierundvierzig Milliarden Dollar hat und nicht weiß, wohin damit. Das ist unsere Welt. Wohin mit dem Geld? Capito.
Und jetzt, sagte Joni, sagst du mir noch, was du tust, wenn du arbeitest.
Morgen, sagte Karl.
Und sie: Oh, morgen, schön.
Was jetzt passieren würde, war nicht ernst zu nehmen. Alles in die Luft werfen, als wärst du ein Berufsjongleur in einem Weltklasse-Zirkus. Schon wenn der erste Wurf aus der Höhe zurückkommt und du nicht ein Zehntel dessen, was du hochgeworfen hast, wieder zu fassen kriegst, bist du ein als Hochstapler entlarvter Jongleur. Das ist gut so. Bitte, kein Clown. Lieber ein Hochstapler. Hochstapler haben gelegentlich eine Chance.
Wie konnte er Joni seine Liebe zeigen? Und zwar so, daß sie zugeben müßte, sie sei noch nie so geliebt worden?
Beim Ausziehen hatte er keinen Fehler gemacht, er war ins Bett gelangt, ohne von Joni gesehen zu werden. Hoffte er. Da lag er jetzt und wußte sicher, daß in zweitausend Jahren noch nie ein Mann die Frau, die neben ihm liegt, so geliebt hat, wie er Joni liebt. Es mögen Milliarden Arten von Liebe vorgekommen sein. Wie er diese ihm eher unbekannte Joni liebte, das war eben noch nicht vorgekommen. Sie haben sich den Abend lang auseinandergeredet. Rücksichtslos hat jeder sich dargestellt. Die zwei, die sich da exponierten, passen nicht zusammen. Ihre Exponate passen nicht zusammen. Das reißt ihn so hin zu ihr, daß sie nicht zusammenpassen. Je größer der Unterschied zwischen einem Mann und einer Frau, desto größer die Liebe. Diesen Satz sagte er einmal probeweise in die Luft.
Dann sagte er: Joni, ich erlebe eine Selbständigkeit. Ich liebe dich so sehr, daß es gleichgültig ist, ob du zu mir etwas sagen könntest, das derselben Sprache angehört. Ich könnte zehn Minuten oder zehn Stunden reden, du würdest nichts Neues mehr erfahren. Meine Liebe zu dir …
Jetzt kam ihre Hand herüber, legte sich auf seinen Mund, er öffnete seinen Mund und fing an, an ihren Fingern zu nagen und zu lutschen. Eine Zeit lang beschäftigte er sich mit ihrer Hand, als gebe es bei ihr, von ihr nichts als diese kleine Hand. Wie weiter? Von seinem bersten wollenden Gefühl mußte jetzt der Übergang gefunden werden zur Haupthandlung. Die mußte seinem Gefühl entsprechen. Und das mußte so vor sich gehen, daß nicht nach seinem Alter gefragt werden konnte. Sollte Joni nach seinem Alter fragen, würde er seine Routineantwort geben. Siebzig plus. Seit seinem siebzigsten Geburtstag, der noch kein Jahr her war, war er siebzig plus und würde bis zum achtzigsten siebzig plus sein, so wie er zehn Jahre lang sechzig plus gewesen war. Also Schluß jetzt mit der Fingerlutscherei. Er mußte sich der ganzen Joni zuwenden. Dieser ungeheuren Frau.
Als er sie an sich ziehen wollte, merkte er, sah er, daß sie eingeschlafen war. Ein zartes Schnarchen sogar. Wecken durfte er sie keinesfalls. Er rührte an ihre Brüste. Sie war weit weg. Sie schlief tief. Sie war entrückt. Entsetzlich.
Er warf sich mit aller möglichen Wucht an den äußersten Rand seiner Betthälfte, drehte sich so deutlich wie möglich weg und jaulte leise in sich hinein. Wie ein verlassener Hund. Keine Wörter mehr, nur noch Töne. Töne des Erledigtseins. Elendstöne. Töne der Wut, Töne der Finsternis. Diese Frau, und dann das. Dafür entrangen sich ihm Töne. Eingeschläfert hatte er sie. Einfach weiterjaulen.
Als es ihm gelungen war, die sorgfältig arrangierte Beleuchtung zurückzunehmen, ohne daß Joni davon erwacht wäre, bezog er im Bett wieder die Stelle mit der größtmöglichen Entfernung zu ihr. Allmählich wollten Gedanken kommen. Er mußte hier weg. Raus aus diesem Bett. Diese Frau, und dann das. Wie aus dem Hotel hinauskommen? Einen Nachtportier gab es im Kronprinz nicht. Die Zimmerschlüssel paßten zum Hintereingang. Gib’s auf. Gib’s nicht auf. Nicht abhauen jetzt. Bloß nicht. Es darauf ankommen lassen. Entweder wird die Pleite total, dann war’s das, dann finanzierst du den Film, daß es nicht heißt, bloß weil er nichts vermochte, springt er jetzt ab.
Zwei Millionen fehlen denen. Karl wird die Puma-Aktien, die er mit dem Diego-Geld gekauft hat, wieder verkaufen. Die mußten inzwischen mehr wert sein als vor ein paar Wochen, weil zwei der vier Tchibo-Geschwister sich mit fünfhundert Millionen Euro aus der zerstrittenen Familie hinauszahlen ließen und eben diesen Betrag bei Puma einbringen wollten. Gewinnmitnahme, Herr von Kahn. Auch du. Einmal. Joni zuliebe. Sie sollte ihr Othello-Projekt haben. Daß durch ihn der Film zustande käme und er nicht Joni dafür kriegte, war eine wohltuende Vorstellung. So eine Vorstellung brauchte man ab und zu. Das war genau die Art Vorstellung, mit deren Hilfe man sich als anständiger Mensch fühlen konnte. Nicht überhaupt und immerzu. Aber im Gesamtselbstgefühl war dann die Anstandsfrequenz wieder einmal vertreten.
Du finanzierst. Und nichts sonst.
Joni war, als er aufwachte, noch nicht wach. Sie lag so, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte. Ihr schlafendes Gesicht sah persönlicher aus als ihr Tagesgesicht. Offenbar mußte dieses Joni-Gesicht weggeschminkt werden. Ihr ungeschminkter Mund war eine Landschaft. Eine Flußlandschaft. Zwei Ufer, die zueinander wollten.
Sie griff, ohne die Augen zu öffnen, herüber, kam herüber, umschlang ihn mit Armen und Beinen und sagte: Du hast ’ne Latte, woll.
Er hätte gern so getan, als verstehe er nicht, was sie meine. Aber er sagte: Tatsächlich! Er suchte ihren Mund, küßte sie und gab ihr durch Laute zu verstehen, daß er wahrscheinlich nie mehr von ihrem Mund loskomme. Diese Frau, und dann das. Das noch einmal!? Bergauf beschleunigen.
Seine Hände hatten sich schon ohne sein Zutun selbständig gemacht und behandelten ihre Brüste wie ein Kunstwerk, das sie selbst geschaffen hatten. Leider hatte er nur einen Mund und nur zwei Hände. Er konnte nur tun, was sich von selbst tat.
Sie sagte: Jaa. Fick mich ruhig. Jetzt bist du gut drauf, sagte sie.
Er stieß einfach zu, so gut er konnte. Er hoffte, sie jammere, bettle um Schonung, aber sie beantwortete jeden Stoß, ihm, wenn er schon landete, entgegenkommend. Immer genau diese Zehntelsekunde vor seiner Innenankunft nutzte sie, um ihn, seinen Stoß, zu unterlaufen! Sie schickte ihn dadurch jedesmal mindestens genauso stark zurück, wie er ankam. Und sprach dazu.
Bist du jetzt dabei, sagte sie.
Und er im Erstkläßlerton: Ich bin jetzt dabei.
Bist du drin in mir.
Ich bin drin in dir.
Fickst du mich richtig durch.
Ich ficke dich richtig durch.
Besorgst du’s mir wirklich.
Ich besorg es dir wirklich. Und übernahm: Spürst du’s, daß ich’s dir besorg.
Ich spür es, daß du’s mir besorgst.
Hast du den Steifen drin.
Ich habe den Steifen drin.
Ist deine Fotze scharf auf meinen Schwanz.
Meine Fotze ist scharf auf deinen Schwanz.
Bist du nichts als eine geile Fotze.
Ich bin nichts als eine geile Fotze.
Soll der Schwanz dir die Fotze vollspritzen.
Der Schwanz soll mir die Fotze vollspritzen.
Zuerst hatte er ihr nachgesprochen wie der Schüler, der der Lehrerin nachspricht. Dann hatte er der Lehrerin gezeigt, was er bei ihr gelernt hatte.
Aus ihrem halboffenen Mund drangen Laute, die in einem fast rasselnden Kehlton erstickten, begleitet von einem noch einmal heraufstoßenden Unterleib. Ihr Gesicht drückte einen nicht nur willkommenen Schmerz aus. Ihr Mund hatte die ganze Entwicklung erlebt, als finde alles nur seinetwegen statt. Die Lippen waren immer voller geworden. Der Mund bebte und schwankte wie ein Schiff bei immer höherem Wellengang und zerriß, verlor alle Form, war nur noch eine Verzerrung.
Sie lagen stumm.
Karl dachte an Helen. Wenn sie so gesprochen hätte, wäre er erschrocken. Wörter sind offenbar wie Kleider. Wenn sie passen, steigern sie die, die sie tragen. Wenn sie nicht passen, ruinieren sie die, die sie tragen.
Irgendwann sagte Joni, sie wisse nicht mehr, wie sie heute nacht eingeschlafen sei.
Er sagte, sie habe schlafend so schön ausgesehen, daß er sie nur anbeten, aber nicht mehr stören konnte.
Ach Karl von Kahn, sagte sie.
Karl sagte, er sei nicht der Schiedsrichter, aber er finde, das vorher sei ein gutes Spiel gewesen.
Deine Steilvorlagen, sagte sie.
Karl sagte, ohne sie sei er nicht.
Sie sagte, das sei der erste Orgasmus ihres Lebens gewesen.
Oh, sagte er.
In seinem Gesicht, sagte sie, habe sie gesehen, wie alles zunahm und daß nicht mehr lange alles so zunehmen könne, das habe sie mitgenommen.
Er sagte, sie habe den Zeitpunkt bestimmt.
Das nennt man Dialektik, sagte sie.
Der schönste Ringkampf der Welt, sagte er.
Die Gegner kämpfen füreinander statt gegeneinander, sagte sie. Und weinte. Richtig. Mit Tränen.
Er wußte nicht, was tun. Sie half sich selbst, griff aus dem Bett hinaus, hatte, ohne hinzuschauen, ihren schwarzen, fast aus nichts bestehenden Schlüpfer in der Hand. Mit dem trocknete sie ihre Tränen.
Ich bewundere dich, sagte er.
Das liegt an dir, sagte sie. Und weil er fragend schaute, sagte sie: Du bist ein Bewunderer.
Er sagte: Du, der reine Überfluß.
Und sie: Du, barfuß bis zum Schluß.
Und er: Du bist alles, was ich muß.
Und sie: Der liebe Gott liebt Zungenkuß.
Beide lachten. Karl sagte: Was war denn das?
Und Joni: Wenn mein Vater einen Satz hinsagte, der mir reimwürdig vorkam, habe ich weitergemacht.
Sie zog seinen Kopf zu sich hin und küßte ihn. Also küßte er auch. Dabei tat er, als küsse er sie zum ersten Mal. Sein Mund führte sich erkundigend auf. Sie machte mit. Die zwei Münder verselbständigten sich. Sie gerieten in einen Dialog, bei dem Joni und Karl Publikum wurden. Jonis Mund beendete den Dialog. Dann sagte sie: Du lernst es noch. So erfuhr er, daß sie mit seiner Art zu küssen nicht einverstanden sei, daß sie ihn aber für belehrbar halte.
Danke, sagte er. Und wollte wissen, wer ihr Kuß-Lehrer gewesen sei.
Der Dostojewskij, sagte sie.
Wie hat er das gemacht, fragte Karl.
Er war ein Künstler, sagte sie.
Wie hat er das gemacht, sagte Karl.
Laß es, sagte sie, du bist kein Künstler.
Als sie dann nebeneinander die Zähne putzten, beide in den zur Suite gehörenden hellstgrünen Morgenmänteln, sagte sie, am meisten Pech habe sie mit ihren kleinen Zähnen. Jetzt sei ihr doch wieder der Zahnarzt gestorben. Der vierte Zahnarzt stirbt ihr einfach weg. Autounfall, Herzinfarkt, Gehirntumor, Leberzirrhose. Sie traut sich nicht mehr, zu einem Zahnarzt zu gehen. Das ist für den doch das Todesurteil.
Karl sagte, ihre Zähne kämen ihr nur klein vor, weil sie einen so unanständig großen Mund habe. Es seien schlechterdings keine Zähne vorstellbar, die für diesen Mund groß genug wären. Und rannte aus dem Bad, um sich anzuziehen, bevor sie zuschauen konnte. Nie mehr mit ihr gleichzeitig ins Bad! Nie mehr mit ihr vor einen Spiegel! Er mußte damit rechnen, daß dieser Optik-Schock alles beendete, was gerade anzufangen schien. Noch nie hatte er so verwüstet ausgesehen wie gerade jetzt im Spiegel neben ihr. Sein Gesicht war kein Gesicht mehr, sondern eine Verschwörung.
Joni kam aus dem Bad mit hochgesteckten Haaren zurück.
Er sagte sofort: Oh!
Und sie: Theodor, zum Beispiel, merke das nie, wenn sie die Haare anders habe. Dann umschlang sie ihn und sagte, er habe ihr einen schönen Sumpf angerichtet da drunten.
In seiner Branche heiße, was am Ende herauskomme, die Ausschüttung, sagte er.
Daß sie vielleicht schwanger werde, sagte sie, interessiere ihn nicht.
Er habe ihr, sagte er, gestern vorsorglich mitgeteilt, daß er dafür sei, die Ausschüttung drin zu lassen, damit sie sich verzinse.
Sie gehe nicht mehr so schnell ins Bett mit einem, sagte sie.
Eigentlich wollte er fragen, ob das heiße, sonst sei sie immer ganz schnell wieder mit einem ins Bett gegangen. Und wagte es nicht.
Als sie bei geöffneten Fenstern den Ammersee begrüßt hatten, fragte er, wo Theodor sei.
In den Pyrenäen, sagte sie, angeln mit Rudi-Rudij. Aber Rudi-Rudij sei nur dabei, weil Theodor die Fische, die er gefangen habe, nicht töten könne. Dem Rudi-Rudij gönne sie ein paar ruhige Tage, der habe so viel an der Backe. Echt. Theodor spiele bei Rudi-Rudij immer die Diva. Wahrscheinlich ist er eine. Halbschwul sicher.
Ob sie darunter leide, fragte Karl.
Das geht mir am Arsch vorbei, sagte sie.
Theodor würde das, sagte Karl, einen Kalauer nennen.
Sogar einen rein seidenen, sagte sie. Er teile Kalauer nach Textilsorten ein.
Sie lehnte sich, weil sie nebeneinander am offenen Fenster standen, an ihn und sagte in einem Ton, den er von ihr noch nicht kannte: Mir ist wieder der Kopf so von Gedichten voll.
Er wußte nicht, was er darauf sagen sollte.
Sie sagte, daß sie lieber als sonst etwas eine Lyrikerin wäre. Er sei der erste Mensch, dem sie das gestehe. Wahrscheinlich weil er nicht wisse, wovon sie rede, wenn sie sage, daß sie am liebsten eine Lyrikerin wäre. Dazu brauche sie einen Menschen, der keine Ahnung habe, aber Gründe, ihr zuzuhören, und eine Fähigkeit, an sie zu glauben.
Und er: Ich habe die Fähigkeit, an dich zu glauben.
Also, sagte sie.
Mädchenpsalm. Frauenpsalm. Psalm.
Sehnsucht geht barfuß durch jede Wüste. In meiner
Achselhöhle stirbt der Schwan. Kopfputz
bin ich des Wahns. Das Wutpferd ist gesattelt.
Ich bin der Sommerschnee, mich gibt es nicht.
Auf meinen Bäumen nehmen schwarze Herren
Platz, Gericht wird zum Märchen, sie singen: Zum Glück
gibt es dich nicht. Meine Bäume rauschen vor Zustimmung.
Zum Glück weiß der Spiegel nichts von meinem Bild.
Mich zu vergessen, solang ich noch vor ihm steh,
hab ich ihn gelehrt. Nichts Schöneres, als vor
dem Spiegel zu stehen und mich nicht zu sehen.
Göttliche Gegenwart. Adieu, mein Tag.
Der Schmerz fährt neue Reifen. Ich lege die Brille
ab und pflanze die Antenne auf mein Grab.
Ja, sagte er.
Das klang weder fragend noch verlegen, noch unbestimmt. Es war ein festes, ein bekräftigendes, ein zweifelfreies Ja.
Dann noch, ebenso fest: Schön.
Er hatte das Gefühl, er dürfe jetzt nicht anders reagieren, als wenn sie ihm einen Traum erzählt hätte.
Sie stellte sich zwischen ihn und das Fenster und sagte: Danke. Dieses Danke bog schon ein bißchen zur Konversation zurück.
Jetzt mußte er ihr doch noch sagen, was er gestern abend an sie hingeredet habe über Zins, Zinseszins, Zahlen, Musik, Religion, das sei so aus ihm herausgekommen durch sie. Jetzt, nachdem er ihren Psalm gehört habe, würde er am liebsten sagen, das sei sein Psalm gewesen.
Sie küßte ihn leicht und sagte: Komm.
Sie gingen hinunter. Graf Josef empfing sie mit einer Geste, als habe er ein Leben lang auf niemanden als auf sie gewartet. Hören ließ er: Wünsche, wohl geruht zu haben. Und ging vor ihnen her, in die Kronprinzen-Stube, die größte der fünf Stuben.
Überfüllt der Raum, überfüllt von Leuten, die zusammengehörten, ein Verein, Jahrgänger, fast nur Paare, Karl wußte: alle so alt wie er. Eine Reisegruppe. Rheinische Laute. Er hatte das Gefühl, er müsse Joni vor diesen Blicken schützen. Was sie über ihn dachten, sollten sie denken.
Graf Josef führte zu einem Tisch am Fenster, auf dem Tisch das Schild: Reserviert für Exz. von Kahn. Geschrieben mit rotem, dünnem Filzstift. In Graf Josefs steiler, Bogen meidender Handschrift.
Graf Josef verbeugte sich vor Joni, daß sie sich setze, sagte Madame. Und zu Karl: Herr Baron.
Zuerst mußten Karl und Joni einfach zuschauen. Am Buffet bedienten sich die Alten so eifrig, daß Karl dachte: Sie blamieren das Alter. Es war ihm nicht recht, daß Joni hemmungslos zuschaute. Er hätte sie lieber abgelenkt, aber sie konnte sich nicht losreißen von diesem grauköpfigen Gemenge, das gemeinsam einen Laut produzierte, der rein rheinisch war. Wenn einer vorbeiging und trug einen Teller und auf dem Teller nichts als ein Glas Apfelsaft und ein Brötchen, dann wirkte das so feierlich, als gehe der zu seiner Hinrichtung. Die meisten hatten schon gefrühstückt, einige verabschiedeten sich bereits, also eine Busgesellschaft war das nicht. Ich freue mich wieder auf die schönen Fotos, sagte eine zu dem, der offenbar immer alles knipste. Immer wieder sagte jemand, er freue sich schon auf das nächste Jahr. Mehr als einmal wurde geantwortet, ob man das noch erlebe. Am verständlichsten war die alte Frau, die allein an einem Tischchen saß und ausdruckslos in den Raum starrte. Sie wirkte so abweisend, daß keine der Bedienungen in Versuchung war, sie zu fragen, ob sie lieber Kaffee oder Tee wolle.
Karl hätte gern zum Ausdruck gebracht, daß er diese Alten, die er gern eine Herde genannt hätte, sympathisch finde, aber er, obwohl gleich alt, habe nicht das Gefühl, er gehöre zu denen. Er wußte nicht, wie er das sagen sollte.
Vorerst holten sie sich nur Säfte. Erst als alle Rheinländer gegangen waren, bedienten sie sich. Joni wollte von allem.
Karl wußte, daß er zu dieser Alters-Lawine Stellung nehmen mußte. Er sagte, solche Gruppen, egal woraus sie bestünden, wirkten immer komisch.
Joni sagte, Karl gehöre überhaupt nicht zu einer solchen Truppe. Das waren doch Greise, sagte Joni.
Karl sagte, es sei vielleicht angebracht, endlich über das Wetter zu reden.
O ja, rief Joni und bot ihm eine Zigarette an.
Er schüttelte den Kopf.
Aber er habe doch gestern abend auch.
Er erklärte, er sei weder Raucher noch Nichtraucher.
Das ist praktisch, sagte sie. Te deseo. Das sage Theodor. Zu ihr. Manchmal.
Karl sagte: Ich will dich ganz.
Bis jetzt, sagte sie, hat jeder, der mich wollte, aus mir etwas machen wollen, was ich nicht wollte.
Wie viele waren das, sagte Karl.
Da geht es schon mal los, sagte sie. Könnte sein, ich will das nicht sagen und du willst es trotzdem wissen.
Ja, sagte er, unbedingt. Weil ich dich ganz will. Ohne Vergangenheit bist du ein Fragment. Ich liebe dich, vergiß das nicht.
Und sie: Ich weiß, Liebe darf alles. Themenwechsel! Du sagst nie: Hör auf zu rauchen. Das finde ich toll. Wenn du mir das Rauchen abgewöhnst, heirate ich dich. Ich schwör’s.
Karl: Und wenn wir verheiratet sind, fängst du wieder an.
Joni: Dann verbietest du’s mir.
Karl: Ich hasse jeden Zwang.
Joni: Meine Mutter hat jahrelang versucht, meinem Vater das Rauchen abzugewöhnen. Du hast gesagt, du möchtest mit mir etwas, was du mit keinem teilen mußt.
Karl: Ja.
Joni: Ich sage dir etwas, was ich noch nie einem Mann gesagt habe. Auch keiner Frau.
Karl: Wie heißt er?
Joni: Kurt.
Karl: Du weißt, daß ich weiß, was du jetzt bringst, ist nichts als ein Ablenkmanöver.
Joni: Wart’s ab.
Karl: Kurt …?
Joni: Kurt Jetter.
Karl: Oh! Verwandtschaft.
Joni: Der Vater.
Karl: Sogar.
Joni: Kurt Jetter hat sich nicht zu Tode gesoffen, aber zu Tode geraucht. Wenn du mir das Rauchen abgewöhnst, heirate ich dich. Kurt war Polizeireporter. Im Ruhrpott. Wenn du das, was ich dir sage, weitersagst, kriegt meine Mutter keine Rente mehr. Er wollte nie Vater genannt werden. Immer Kurt. Er ist Polizeireporter geworden, hat er gesagt, weil er nichts mit Politik zu tun haben wollte. Politik, hat er immer gesagt, bah, was ist das langweilig! Journalist sei er geworden, um Geld zu verdienen, er wollte nicht die Welt verbessern. Und war beliebt und eifrig, in die Kantine immer im Laufschritt. Dann ein neuer Chef. Kurt nannte ihn: Der Erlöser. Zuerst ging alles gut. Dann die Reportage über eine Polin, die in einer Unterführung von drei Schwarzafrikanern belästigt wurde, sich wehrte, dann blutend am Boden lag. Der Erlöser strich Schwarzafrikaner, Männer reicht. Er war Altachtundsechziger. Ziemlich fett für einen Erlöser, fand der magere Kurt. Der Erlöser war Nichtraucher. Das Klima änderte sich. Man wußte jetzt, was man nicht sagen sollte. Dann erhängt sich ein Asylbewerber im Asylantenheim. Der Vorfall wird zuerst als ein Vorfall gehandelt gegen die Asyl-Politik der Christdemokraten. Dann recherchiert Kurt, entdeckt im Büro der Anwältin dieses Asylanten, daß sie dem irrtümlich eine Mitteilung gemacht hat, die gar nicht für ihn bestimmt war, darauf erhängte sich der. Das Büro der Anwältin, ein totales Chaos. Die Anwältin, eine Grüne. Das nimmt der Erlöser Kurt übel. Dann ersticht ein Inder seine deutsche Gefährtin. Sie ist schwanger, auf einer Fete sagt sie, sie habe abgetrieben. Es stellt sich heraus, daß sie nicht abgetrieben hat. Der Inder hat ihr keine Chance gegeben, das zu sagen. Dann wird ein türkisches Mädchen von ihrem Vater erschossen, weil sie einen deutschen Jungen gebeten hat, ihr beim Tapezieren ihres Zimmers zu helfen. Der Erlöser hat die Redaktion inzwischen so umgestimmt, daß eine Liste produziert wird, aus der sich ergibt, daß in Kurts Berichten die Täter häufig Ausländer sind. Kurt wird zum Erlöser bestellt, der hat auf seinem Schreibtisch einen Papierstapel, alles Beschwerdebriefe über Kurts Artikel, zeigen darf er ihm die nicht. Kurt erfährt, er werde für einen Rechtsextremisten gehalten. Er fragt den Erlöser, ob der ihn auch für so etwas halte. Nein, aber Kurt schreibe eben ziemlich schlecht. Von jetzt an werden Volontäre beauftragt, Kurts Artikel zu verbessern. Oft genug wird er von denen nachts angerufen, weil sie nicht wissen, was sie verbessern sollen. Schließlich die Versetzung in die Reiseredaktion. Aber er darf nicht reisen, nur Meldungen redigieren. Er prozessiert. Und gewinnt. Er ist laut Gerichtsurteil wieder als Polizeireporter zu beschäftigen. Ein halbes Dutzend Prozesse vor dem Arbeitsgericht gewinnt er. Sie müssen ihn schreiben lassen, aber kein Gerichtsurteil kann erzwingen, daß sie drucken, was er schreibt. Ein Freund aus der Sportredaktion warnt ihn. Die wollen ihn loswerden. Er soll sich als Kandidat für die Betriebsratswahl aufstellen lassen. Tut er. Damit ist er sofort für ein Jahr unkündbar. Und hält eine große Rede über die Neigung hochentwickelter Gesellschaften, zurückzufallen in vorzivilisatorische Stadien. Wird gewählt. Hört, der Erlöser habe ihn rechtsextrem genannt, schreibt dem einen Brief. Und erhält wegen Beleidigung die fristlose Kündigung und Hausverbot. Die Kündigung müssen sie zurücknehmen. Das Hausverbot bleibt. Jetzt dreht er hohl. Er verdächtigt seinen Freund in der Sportredaktion, ihn beim Erlöser denunziert zu haben, um selber in dessen Redaktion zu kommen. Je mehr sie ihm zusetzen, desto mehr raucht er. Die Mutter weint und schreit und flucht, weiß sich nicht mehr zu helfen. Er schlägt sie. Sie ruft die Psychiatrie an. Er kommt in die Anstalt. Geschlossene Abteilung. Selbstmordgefährdet. Er kann Feind und Freund nicht mehr unterscheiden. Eines Tages legt sich dort eine Hand auf seine Schulter. Der Erlöser. Er ist auch in dieser Abteilung untergebracht. Oh, sagt Kurt. Aber als er erfährt, daß der Erlöser hier ist, weil er sich selbstmordgefährdet aufführte, um nicht gefeuert zu werden, versöhnt er sich mit ihm. Der Erlöser war bei der obersten Konzernspitze denunziert worden, denunziert von einem Mitarbeiter, dessen Talente er nicht erkannt hatte, denunziert als Ex-Maoist, Auto-Anzünder, Polizisten-Verletzer und Haß-Prediger, als einer, der damals nur nicht vor Gericht gestellt worden sei, weil er sich ins Ausland abgesetzt habe. Als Kurt entlassen wurde, weil sich der Krebs meldete, war der Erlöser immer noch drin. Der Krebs besorgte dann in einem Vierteljahr den Rest. Und wenn du das irgendeinem Menschen erzählst, streicht der Konzern meiner Mutter die Rente. Ach ja, in der Anstalt hat er noch geschrieben, sollte ein Buch werden, Titel: Viktimologie.
Nachdem er Joni eine Zeit lang stumm gestreichelt hatte, sagte Karl, gestern morgen, bevor er das Haus in der Osterwaldstraße verlassen habe, habe er sich eine Yoga-Übung auferlegt. Er sei drei Jahre lang in eine gute Yoga-Schule gegangen. Zweimal wöchentlich von acht bis zehn. Eine Meditationsübung sei gewesen, einen Satz, ein Wort entstehen zu lassen, in dem man enthalten sei. Dieser Satz, dieses Wort müsse so lange in einer Meditation geläutert werden, bis nichts mehr darin enthalten sei als man selbst. Also gestern morgen Yoga Nidra zur Herausbildung eines einzigen Satzes. Das darf dauern, so lange es will. Er trainierte, hatte den Satz nach einer knappen Stunde. Zuerst mußte er die Sätze, in denen das Positive nur durch die Verneinung des Negativen vorgekommen war, überwinden. Er wollte keinen Satz ertragen, in dem Negationspartikel vorkamen. Dann stellte sich der Satz ein, in dem er sich ganz ausgedrückt sah: Ich will lieben dürfen.
Sie machte ein Naja-Gesicht.
Er, der im Augenblick nichts dazulernen konnte, sagte: Wie viele?
Sie sagte: Wie viele bei dir?
Er: Ich habe zuerst gefragt. So wurde ein Kinderspiel daraus. Er merkte, man mußte leicht bleiben, und sagte, ihre Erzählung vom Abschlußball bis zu Oliver Keller-Scheel und Theodor Strabanzer sei für ihn spannend gewesen. Was man sich darunter vorzustellen habe, halbschwul.
Das sei, sagte sie, ein verfehltes Wort. Sowohl als auch ist ja nicht halb. Rudi-Rudij sei Herr Sowohl und sie sei Frau Als-auch. Zum Glück sei Rudi-Rudij ein Goldstück, ein Engel, ein Prachtskerl. Eins habe sie gründlich gelernt, Sexualität sei ein Fremdwort und solle es bleiben. Das Gehoppse könne besser oder schlechter verlaufen, vorhin sei es bestens verlaufen.
Karl sagte, er wolle an der Erotik-Firma Joni Jetter eine Schachtelbeteiligung erwerben. So nenne man es, wenn man mindestens fünfundzwanzig Prozent am Grund- oder Stammkapital einer Firma erwirbt.
Die Firma Joni Jetter, sagte sie, wird Herrn von Kahn über mögliche Beteiligungen fair informieren.
Da es nicht gleich wieder regnen will, sagte Karl, sollten wir nach Andechs pilgern.
Auf ins Kloster, sagte sie.
Hin auf dem Hörndlweg, zurück durch das Kienbachtal, sagte Karl.
Ja, mein Verführer, sagte sie.
Seit Karl Benedikt Loibls Berater war, ersetzte er oft den Gang auf den Wank durch die Wanderung von Herrsching nach Andechs. Das warf er sich durchaus vor als nachlassenden Leistungswillen. Droben in Andechs ging er jedesmal in die Kirche, setzte sich jedesmal dem Zuviel dieser Ausstattungspracht aus, ließ sich beregnen von den Gold- und Gnadengaben der Wallfahrtsmaria. Er hatte nie einen Grund gesehen, sich diesem frommen Aufwand zu verschließen. Im Gegenteil, er hatte das religiöse Angebot als brauchbaren Segen akzeptiert.
Joni redete, auch als der Hörndlweg steiler wurde, als spazierten sie durch eine Wiese. Immerhin hatte sie Stiefelchen mitgebracht. Nicht ins Hotel, aber aus dem Kofferraum ihres Z3-Spielzeugs holte sie, was Karl nie bei ihr vermutet hätte: Wanderschuhe mit eingearbeiteten Söckchen. Ein Jeans-Minirock und das eine Handbreite Bauch freilassende Oberteil produzierten eine andere Joni.
Es habe sich noch keiner für das interessiert, was sie hinter sich habe. Noch keiner, sagte sie, als kämen dafür ohnehin nur Männer in Frage. Daß sie jetzt, mit dreiunddreißig, und dreiundddreißig sei ja schon näher bei fünfunddreißig als bei dreißig, daß sie jetzt herumhänge und darauf warte, für die beste Nebenrolle nominiert zu werden, sage doch schon alles. Theodor behaupte immer, sie sei schon nominiert. Ist sie nicht. Theodor kennt einen, der dafür sorgen will. Einer der Obereunuchen, sagt er. Das Kußmäulchen in Alles paletti. Sie, zum zweiten Mal bei Theodor, die Blondine, die ältere Herren einander abjagen. Künstler. Heroen. Die Ehefassaden makellos. Alles paletti. Zuerst hat sie geglaubt, Theodor wolle ihre Sackgassen-Biographie wirklich aufnehmen in diesen Film. Fanden die nicht spannend. Weder Rudi-Rudij noch Theodor. Sie ist doch jedem Mann, der einen Abend lang ernsthaft auf sie einredete, entgegengestürzt. Jedesmal hat sie geglaubt, das ist es. Das ist er. Das muß er sein. Deshalb hat sie nie weniger gegeben als alles. Jedesmal. Und jedesmal Essig. Das sollte einen doch vorsichtig machen. Und was tu ich? Ich marschier mit dir nach Andechs. Und schütte mich dir hin. Das mit den Pocken in Miriams Scheide sei ihr Einfall gewesen.
Karl von Kahn blieb stehen, schaute fragend.
Ja, ihre Schwester habe angerufen, weinend, weil Miriam sich neuerdings weigere, in den Kindergarten zu gehen.
Und, fragte Karl.
Daraus sei bei ihr entstanden, sagte Joni, daß Miriam Pocken in der Scheide habe.
Logisch, sagte Karl.
Ich wollte wissen, wie du auf so was reagierst, sagte sie.
Weil er nicht noch einmal logisch sagen konnte, sagte er: Und, wie habe ich darauf reagiert?
Schrecklich, hast du gesagt, aber du hast nicht Miriam und ihre Scheide gemeint, sondern daß mich das so mitnimmt. Das ist mir sehr einfühlbereit vorgekommen.
Stimmt, sagte er. Und fügte ein riskantes vielleicht dazu.
Als der Weg richtig steil wurde, beschleunigte Karl. Je mehr er beschleunigte, desto leichter wurde er. Wieder dieses Gefühl zu schweben. Aufwärts zu schweben. Natürlich durfte er die Beschleunigung nur so weit steigern, wie der Atem es zuließ. Aber er mußte mehr zulassen, als er wollte. Von den wulstigen, den Weg kreuzenden Wurzelsträngen federte er sich richtig hoch. Und hoffte, daß Joni jetzt bald einmal um Tempo-Ermäßigung bitte. Er würde dieses Tempo durchhalten. Erstens liebte er Joni, zweitens war er trainiert. Daß sie nicht endlich rief, sie komme nicht mehr mit, erbitterte ihn fast. Wenigstens das Reden war ihr vergangen. Dann, als sie aus dem Wald traten, vor sich die weite Wiese bis zum Ortsrand, da erlosch bei Karl die Geh-Energie. Sobald es flach dahinging, empfand er keinen Grund mehr zu gehen. Er hätte sich am liebsten in die Wiese gelegt, aber die war vom Regen noch naß. Er mußte jetzt langsam gehen. Jetzt merkte er, daß er für seine Kondition zu schnell gegangen war.
Du hast ein ganz schönes Tempo drauf, sagte Joni.
Wart’s ab, sagte er, das Finale kommt noch.
Vor dem Kirchengipfel der Abstieg fast in eine Schlucht, dann der Aufstieg zur Kirche über die vielen Stufen, die er immer schon zählen wollte und heute wieder nicht zählen konnte. Droben merkte er, daß Joni an der Kirche vorbei gleich auf die Bräustüberl-Tür zusteuerte. Es tat ihm gut, ihr das zu verwehren. Drinnen ging er ihr so voraus, daß sie folgen mußte, wies ihr einen Platz in einer Bank, den Rest überließ er dem frommen Sturm dieser Kirche. Er merkte, daß Joni sich nicht wehren konnte.
Irgendwann sagte sie ihm ins Ohr: Hier darf man nicht rauchen, das ist gut. Und wieder nach einer Weile: Wenn du mir das Rauchen abgewöhnst, heiraten wir hier.
Er nickte heftig.
Nachher, in der Wirtschaft, als sie zusammen die Schweinshax’n-Portion aßen und dazu die Gläser stemmten, er einen Liter, sie einen halben, sagte sie, daß die mitten im Goldgestrahle thronende Maria auf ihrem zarten Kopf eine gewaltige Goldkrone trage, bitte, sei’s drum, aber daß dem lieben Jesuskind auf ihrem Knie auch schon eine kopfgroße Krone aufgesetzt worden sei, komme ihr vor wie Kindsmißbrauch.
Karl sagte: Laß doch.
Und sie: Was?
Er: Alles. Weil sie immer noch kritisch schaute, sagte er mit großer Handbewegung: Hier ist alles gut. Er brach ein großes Stück von der Riesenbrezen, an der sie beide aßen, hielt es ihr hin, daß sie zubeißen mußte, und sagte: Der Unterschied zwischen Benedikt Loibl und hier ist der Unterschied zwischen einer geschminkten Frau und einer ungeschminkten.
Prosit, Karl, sagte Joni.
Prosit, Joni, sagte er. Auf Kurt.
Auf Kurt, sagte sie.
Längeres, ununterbrechbares Schweigen. Dann mußte er sagen, daß es jetzt Zeit sei, zu Hause anzurufen. Und in der Firma werde er sicher seit zwei Stunden als vermißt gemeldet.
Bitte, sagte Joni.
Karl spürte, daß er für diese zwei Gespräche nicht aufspringen und fünf Meter ins Abseits rennen durfte.
Frau Lenneweit nahm entgegen, daß er erst morgen und morgen erst gegen elf zurück sein werde. Er wunderte sich selbst darüber, daß er Frau Lenneweit das mitteilte, ohne ihr zu sagen, warum erst morgen und morgen erst um elf. Es tat ihm gut, daß er Frau Lenneweits hemmungslose Neugier, die sie als beruflichen Eifer tarnte, brutal ignorierte.
Heute nur per Handy, sagte er. Und, bitte, den heutigen Puma-Kurs auf die Mobilbox.
Joni lächelte. Sie begriff, daß Karl angeben wollte. Vor ihr. Und daß er zeigen wollte, er wisse, jetzt gebe er an. Ihretwegen.
Jetzt also Helen. Er würde, solange er mit Helen sprach, Joni anschauen. Er würde Joni dieses Gespräch zum Opfer bringen. Er konnte jetzt nichts anderes wollen, als Joni zu gefallen, sie durch alles, was er tat und sagte, von seinem Liebesernst zu überzeugen. So hat dich noch keiner geliebt. Das sollte sie ununterbrochen erleben.
Bevor er Helens Handynummer abrief, mußte er Joni noch sagen, er, als Drehbuchautor von Alles paletti, hätte die Altersunterschiede anders bestimmt. Der, der dem Siebzigjährigen Kußmäulchen abnimmt, müßte neunundsechzig sein und sich gewaltig jünger fühlen als der Siebzigjährige. Und ihm wird Kußmäulchen von einem Achtundsechzigjährigen abgenommen, der sich geradezu naturgesetzlich legitimiert fühlt, dem Neunundsechzigjährigen das Mädchen wegzunehmen. Ob Joni ihm da zustimmen könne.
Joni sagte, das wäre unsinnlich, kopflastig, konfliktlos, undramatisch. Das wäre nichts als ein Selbstgespräch in einem Altersheim.
Da zog Karl seine Version zurück. Jetzt hatte er einmal gewagt, der kulturellen Fraktion eine Idee zu offerieren, dann das!
Um so wichtiger war es, Joni vorzuführen, wie er Helen behandelte. Er wollte etwas verlangen. Von sich. Von Joni. Von Helen. Er fühlte sich Helen nichts als nah. Und Joni genauso. Auf einmal hielt er alles für möglich. Er weigert sich zu begreifen, daß jemand weniger für möglich hält als er. Er muß sich jetzt nur noch Helen verständlich machen, dann gibt es keine Schwierigkeit mehr. Keinen Streit. Er ist Helen so nah wie seit langem nicht. Und das durch Joni. Durch diese Ergriffenheit. Er ist lebendiger, als er je war. Deshalb empfindet er auch Helen heftiger als gewöhnlich. Das muß sie verstehen, dann ist alles gut. Dieser enorme Zustand darf nicht kaputtgehen an irgendeines Menschen Unfähigkeit, diesen Zustand zu begreifen. Wenn er Helen jetzt näher ist als je zuvor — und das ist er, und er ist es durch Joni — , dann kann sie doch nicht dagegen sein, daß er bei Joni ist! Er will seinen Zustand nicht herunterlügen müssen. Darum ruft er dich jetzt an, Helen, jetzt sofort.
Aber Helen war schon in der Ottostraße, um Ehepaaren, die sich auseinandergelebt hatten, einen Weg zurück zu zeigen. Das, was er jetzt zu sagen hatte, in die Mobilbox zu sprechen, wäre ihm erbärmlich vorgekommen. Also sagte er nur: Liebe Helen, bis später.
Er sah, daß Jonis Mund schon ganz klein geworden war. Er mußte ihr erklären, er habe vorgehabt, von Helen zu verlangen, daß sie ihn bei Joni sein lasse. Und zwar ohne Krach und Quatsch. Weil er nämlich noch nie von etwas so eingenommen gewesen sei wie von seiner Liebe zu Joni. Da bleibe nichts anderes übrig als die volle Einverstandenheit. Er kenne Helen gut genug, er dürfe sicher sein, daß sie die Höhe und die Stärke seines Gefühls zu ermessen wisse und daß sie, was ihm jetzt vom Leben selbst empfohlen worden sei, nicht in ordinären Eheszenen banalisieren wolle. Dieser Drang, dieser Zwang, rücksichtslos zu sein. Jenseits aller Diesseitigkeit ist gleich Berechenbarkeit ist gleich Abhängigkeit ist gleich Beherrschbarkeit.
Kein Weg ohne Rückweg, sagte er und deutete pantomimisch das Aufstehen an. Er stemmte sich hoch, ohne merken zu lassen, welche Knochen ihm jetzt weh taten. Aber immerhin, nach dem harten Hörndlweg jetzt die sanfte Partie hinab durchs schmiegsame Kienbachtal.
Der rauscht tatsächlich, sagte Joni. Das sei der erste Bach, den sie rauschen höre.
Karl zog sie an sich, drehte ihr Gesicht nach oben und sagte: Dieser Regen ist nur für uns bestimmt.
Ein seidenweicher Regen aus dünnsten Fäden, ein Sprühregen eigentlich, in dem keine Tropfen vorkamen. Eine überirdische Erfrischung. Joni erlebte es genauso wie er.
Daß es dich geben muß, habe ich immer gehofft, sagte er. Wenn es dich nicht gäbe, wäre alles sinnlos gewesen. Weil es dich gibt, ist jetzt alles voller Sinn. Sogar Geschlechtsverkehr, das Unwort aller Unwörter, wird durch dich sinnvoll. Es gibt nichts als Geschlechtsverkehr. Alles andere ist Umweg, Ablenkung, Täuscherei, Betrug. Beim Geschlechtsverkehr mit dir erfahre ich, warum ich da bin.
Irgendwann sagte Joni: Halt. Sie sagte es zweisilbig. Dann stellte sie sich vor ihn hin und sagte: Du bist durchgeknallt.
Und du?
Ich bin die, die einen Durchgeknallten hat.
Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich, zog sie nach rechts vom Weg weg. Sie waren gerade über eine kleine Brücke gegangen, die über einen Bach führte, der in den größeren Kienbach wollte. Es ging steil hinab. Karl war voraus, fing Joni auf und zog sie unter die Brücke. Sie wehrte sich nicht. Aber auch wenn sie sich gewehrt hätte, er hätte nicht nachgeben können. Sie war eingeschlafen. Mit ihm im Bett, dann eingeschlafen. Das mußte er ihr heimzahlen. Ihn beherrschte eine fröhliche Wut. Komm, Schuhe ausziehen, alles ausziehen, nicht überlegen, glaub deinem Mann, solche namenlosen Bäche, die genau wissen, wohin, wirken Wunder. Bis über die Knie ging ihnen das Wasser. Er stellte sich hinter sie, zärtelte an ihr herum, wichtig war, daß sie ihn dabei nicht sah, nur spürte. Dann riß er sie spielerisch an sich und stellte sie so hin, wie es sich gehörte. Sie streckte sich ihm so entgegen, daß es keine Kunst war. Die Innenwände noch passabel vom Vormittag. Ihn begeisterte es, Joni nahm’s spielerisch, zuerst summte sie, dann sang sie sogar. Und er verstand, was sie sang.
Under the boardwalk out of the sun
Under the boardwalk we’ll be having some fun
Under the boardwalk people walking above
Under the boardwalk we’ll be making love
Under the boardwalk …
Es wurde deutlich genug, daß das ihr Beitrag zur Szene war. Mochten Leute über ihnen die Brücke überqueren, sie waren unerreichbar für den Rest der Welt.
Droben auf dem Weg erreichte ihn wieder alles. Er fing wieder an. Ob sie nicht begreife, daß er wissen müsse, von welchen Männern sie unter welchen Umständen die Geschlechtsteile in ihren Mund, in ihren doch unbestreitbar ungeheuren Mund genommen habe.
Für sie kein Thema, sagte sie.
Bitte, sagte er, es gehe nicht um Eifersucht, sondern um Aufklärung.
Im weitesten Sinne, sagte sie und lachte.
Er habe gelesen, bei de Sade stehe, männliches Sperma schmecke wie Eßkastanien.
Das finde ich nicht, sagte sie spontan. Lachte dann, weil sie merkte, daß sie gesagt hatte, was sie nicht hatte sagen wollen.
Das ist mein Testtext, sagte er, um seinerseits eine leichte Tonart anzubieten. Stamme alles aus dem Feuilleton.
Und sie: Daß er das Feuilleton lese, wundere sie.
Wer war es, sagte er.
Sie: Wer war was?
Von dem du’s getrunken hast, sagte er.
Getrunken, sagte sie und machte aus dem Wort einen kreischenden Unlaut.
Geschluckt, sagte er.
Sie sagte: Schluß.
Karl sagte: Den zeige ich an.
Joni sagte: Wen jetzt schon wieder?
Den Museumspädagogen in Duisburg, sagte Karl. Er hat dich, als er dich in der Sprechstunde zur Tür brachte, am Oberarm berührt. Das ist sexual harassment. Was hast du angehabt?
Weiß sie nicht mehr.
In welcher Jahreszeit?
Ende Sommersemester.
Also leicht bekleidet. Hat er beim Blusenärmel hineingelangt? Er stellte sich vor sie hin, legte ihr seine Hände auf die Schultern. Ich muß es wissen, sagte er.
Was, sagte sie.
Und er: Alles.
Ham wir noch nicht gehabt, sagte sie.
Und er: Was?
Sie: Du solltest eine Auswahl bestellen. Sagen wir: Die dreizehn besten Ficks. Wär das ein Angebot? Weißt du, alles, das könnte sich hinziehen.
Und er: Du nimmst mich nicht ernst. Dann: Ich bin zwei Zentimeter kleiner als Fürst Bertram.
Hab ich registriert, sagte sie.
Sein Handy meldete sich. Es war ihm jetzt doch lieber, daß es nicht Helen war, sondern Daniela. Sie sagte: Wieder die ganze Nacht nicht geschlafen, weil du mich nicht genug liebst.
Es tut mir leid, sagte er.
Mehr, sagte sie, bitte, viel mehr.
Ich wollte sagen, es tut mir leid, daß ich jetzt nicht sprechen kann. Also, bis später. Und beendete die Verbindung.
Joni sagte: Tut mir auch leid. Meinetwegen hättest du sagen können, was du willst. Lügen, Wahrheit, ist doch alles dasselbe.
Alter Vogel singt nicht mehr, sagte er.
Schaut nur noch durchs Nadelöhr, sagte sie.
Soll da durch als ein Kamel, sagte er.
Samt seiner aufgeblasnen Seel, sagte sie.
Beide lachten.
Jetzt wollte Karl wenigstens wissen, wie der Museumspädagoge, der auch kein Künstler ist, den sorgfältigen Beischlaf gemacht hat, der weiter führte als bei jedem anderen.
Aber nicht bis zum springenden Punkt, sagte sie.
Aber fast, sagte er.
Aber eben nicht ganz, sagte sie.
Aber was hat er getan, womit hat er sich das verdient: sorgfältiger Beischlaf.
Minimum eine Stunde Vorbereitung, sagte sie.
Frikadellen und Mumm extra dry, sagte Karl.
Wenn man liebt, wird aus Mumm Dom Pérignon.
Den bring ich um, sagte Karl. Dann den Pseudo-Dostojewskij. Aber dann auch den Schaum-Schwamm-Moschus-Lavendel-Fürsten. Warum, bitte, hat sie den Museumspädagogen so geliebt?
Das ist ein Thema, sagte sie. Seine Stimme, ihre Ungeschütztheit gegen alles Akustische, seine neugierigen Hände.
Neugierige Hände, was ist jetzt das schon wieder, sagte er.
Und sie: Du nix verstehn.
Karl sagte, er werde jeden dieser Herren in ein Gespräch ziehen. Als Finanzdienstleister. Er habe ein paar Offerten-Nummern drauf, deren Betörungspotenz unwiderstehlich sei. Zwanzig Prozent Gewinn, steuerfrei, bei abgefedertem Risiko. Schiffsbeteiligungen von bequemster Sicherheit. Jedem dieser Herren werde er sagen, daß die Geldkunst eine jüngere Schwester der Theaterkunst sei. Geld macht noch beliebter als Theater. Er werde den Herren Angebote machen, die für ihn selber riskanter seien als für diese Herren. Aber da er die betören wolle, sei ihm das das Risiko wert. Und wenn die betört seien, werde er ihnen ins Private folgen, so lange folgen, so gezielt reden mit denen, daß Joni vorkommen müsse. Dann werde er die zum Reden bringen. Den Mundentdecker, den Erniedriger, den Heuler, den Schaum-Schwamm-Moschus-Lavendel-Fürsten.
Und dann, sagte Joni.
Dann werde er sich als Joni-Bewunderer zu erkennen geben.
Das wirst du nicht, sagte sie.
Dann werde er einen nach dem anderen umbringen. Entweder erledige er das selber oder lasse es von einem der dafür in München jederzeit abrufbaren Russen besorgen.
Und Joni: Jetzt noch dein Motiv, bitte.
Er liebe Joni, sagte er, und ertrage es nicht, daß da Herren herumliefen, die behaupten könnten, von Joni geliebt worden zu sein. Bis zum Exzeß. Mit jedem wollte sie’s für immer.
Nur mit vieren, sagte Joni.
Um diese vier gehe es, sagte Karl, daß die weiterlebten, peinige ihn. Joni hätte jeden dieser vier Herren geheiratet. Für immer. Joni sei eine Liebende, für die die Liebe sofort zum Schicksal werde. Ein Mann, der das nicht spüre, der aus Joni eine Affäre mache, der habe sein Leben verwirkt.
Lustig, sagte Joni, klingt wie Marquis Posa.
Und als Karl fragend schaute, sagte sie nachhaltig: Schiller! Don Carlos!
Ach der, sagte Karl. Und fügte hinzu: Bei mir um die Ecke steht er im Park. Friedrich von Schiller. Daß er ungebildet sei, wisse er. Das schmerze ihn weniger, als es müßte. Sein Bruder Erewein sei gebildet. Gewesen. Und habe sich umgebracht.
Obwohl er gebildet war, sagte Joni.
Es könne damit zusammenhängen, sagte Karl. Ihm selber sei Selbstmord fremd.
Du bringst lieber andere um, sagte Joni.
Daß diese vier Herren belangt werden müssen, ist sicher, sagte Karl. Er könnte natürlich auch Joni umbringen, dann könnten die vier ruhig weiterleben. Was er nicht ertrage, sei, daß Joni andauernd an alles denke, was sie mit denen gemacht habe, was die mit ihr gemacht haben.
Andauernd nicht, sagte Joni.
Erst wenn du nicht mehr daran denken kannst, ist die Peinlichkeit aus der Welt geschafft.
Also, weg mit mir, sagte Joni.
Ich bin froh, daß du mich nicht ernst nimmst, sagte Karl. Das wird mir die Ausführung dessen, was unerläßlich ist, erleichtern. Dich zu töten kann ich keinem Kriminaldienstleister überlassen, das muß ich selber tun. Und riß sie an sich, umklammerte ihren Hals mit beiden Händen und drückte ein bißchen zu.
Jetzt, sagte Joni, mußt du sagen: Hast du zur Nacht gebetet, Desdemona. Und erklärte ihm, so habe Shakespeares Othello seine Desdemona gefragt, bevor er sie erwürgte.
Hast du zur Nacht gebetet, Joni Jetter, sagte Karl und drückte zu.
Erst als Joni aufschrie, ließ er los. Hatte sie nur theatralisch aufgeschrien, oder hatte sie doch eine Minisekunde lang Angst gehabt?
Komm jetzt, sagte er und zog sie weiter. Aber nicht mehr so schnell wie vorher.
Joni rief: Durch die Wälder gehen.
Karl übernahm schnell: Keinen mehr sehen. Stehen bleiben.
Und Joni: Bei Eiben und Schlehen.
Sie schauten einander an.
Schluß jetzt, sagte Karl.
Kuß jetzt, sagte Joni.
Es folgte ein weiterer Unterricht, wie mit ihrem Mund umzugehen sei.
Aber Karl konnte nicht aufhören. Ob es Joni nicht störe, daß Strabanzer schiele.
Sie sagte, Theodor schiele nicht. Wenn er erregt sei, bleibe sein linkes Auge stehen.
Er sei aber oft erregt, sagte Karl.
Immer, sagte Joni.
Ob sie Strabanzer sage, was in der letzten Nacht passiert sei, fragte Karl.
Es ist doch nichts passiert, sagte sie und ließ ihren Mund nach links und nach rechts auswandern.
Wenn du bloß nicht so raffiniert wärst, sagte Karl.
Es wird mir nichts nützen, sagte sie.
Da waren sie an ihrem Z 3. Karl wäre gern noch eine Nacht geblieben, Joni nicht.
Morgen drehe sie in Berlin. Sein Handy und ihr Handy seien ein Paar. Bis bald, sagte sie.
Und er: Bis gleich.
Und wegkurvte sie.
Er sah ihr nach, bis er sie nicht mehr sah.
Hatte er, weil Daniela es nicht anders tat, einen Zwei-Nächte-Termin zustande kommen lassen, war er jedesmal nach der ersten Nacht schlechter Laune, weil er jetzt, anstatt heimfahren zu können zu seiner Helen, noch einmal vierundzwanzig Stunden Liebesdienst liefern mußte. Ihm hätte immer eine Nacht gereicht. Man darf Menschen nicht miteinander vergleichen. Jetzt Joni, sonst nichts. Jetzt und immer Joni. Daß sie so wegfahren konnte. Wegsprinten. Joni ist echt. Auch wenn sie ihn anlügen würde, könnte er sie nicht anders empfinden, als er sie jetzt empfand. Wenn sie ihn belog, dann aus guten Gründen. Aber sie lügt ihn nicht an. Das hat sie nicht nötig. Sie ist zum Glück rücksichtslos. Sonst hätte sie nicht so abbrausen können. Rücksichtslosigkeit ist die höchste Qualität in einer Beziehung. Wenn eine Beziehung trotz Rücksichtslosigkeit bei beiden besteht, ist es die ideale Beziehung. Das Gegenteil: Die von beiderseitiger Rücksichtnahme und Schonung lebende Beziehung. Wenn Joni fünfundsechzig sein wird und er einhundertzwei, dann werden sie einander näher sein als jetzt. Das einzige, was gegen Joni spricht, ist, daß sie ihn liebt. Falls sie ihn liebt. Das will er erreichen, daß sie ihn liebt. Er wäre jetzt, wenn sie hätte dableiben können, bei ihr geblieben. Hier im Kronprinz Ludwig in der Kronprinzen-Suite. Die Firma wird, soweit sie ihn braucht, von Herrsching aus dirigiert. Nichts erklären. Tatsachen sprechen lassen. Aber Joni ist noch nicht soweit. Ihm schwebt ein jedes Maß hinter sich lassender Aufwand vor. Sie aus allen Gewohnheitshalterungen reißen. Sie darf noch nie so bestürmt worden sein. Sie muß vor Erregungsfreude zittern können.
Als er in der S-Bahn saß, beherrschte ihn sofort die Aussichtslosigkeit. Wohin auch immer er jetzt dachte, er begegnete der Aussichtslosigkeit. Wehr dich doch. Die Alten im Frühstücksraum. A One Issue Group, würde Dr. Dirk so etwas nennen. Sollte ihn die Aussichtlosigkeit beherrschen, bitte. Er antwortete mit dem Gefühl, unwichtig zu sein. So unwichtig, wie er war, durfte er sein, wie er wollte. Die Wichtigen stehen jeden Tag in der Zeitung. Von denen kann verlangt werden, das und das zu sein, das und das zu tun. Er gehörte nicht dazu. Also kann er tun, was er will. Seine Unwichtigkeit ist seine Freiheit. Älter werden ist schwächer werden, keine Kraft mehr haben zum Beispiel für jede Art Anstand … Er mußte sich mit ihren Männern beschäftigen. Der mit dem Motorrad tat ihm nicht weh. Hector mit — c auch nicht. Strabanzer? Von dem hatte sie keine Bettgesten geliefert. Den konnte er stornieren. Vorläufig. Joni mußte Fotos liefern. Andererseits waren ihm die Herren deutlich genug. Am deutlichsten der Museumspädagoge. Mit Frikadellen und Mumm extra dry, Geschlechtsverkehr vor Kunstdruckbänden plus Spiegel. Und bohrt Joni mit dem berühmten Mittelfinger an. Der Herr ist ein Frühkommer, klar. Wie alle Narzisse, die andere nur brauchen, um sich selber zu genießen. Wie dem schaden? Wie den beschädigen? Er konnte nicht zum Pseudo-Dostojewskij, nicht zum pausbäckigen Dreier-Visionär und nicht zum Schwamm-Schaum-Moschus-Lavendel-Fürsten wechseln, bevor er nicht wußte, wie er den Herrn der Neugier-Hände hinrichten konnte. Daß er ihn nicht hinrichten würde, wußte er auch. Trotzdem stellte sich für seinen Abrechnungswillen kein anderes Wort ein.
Der Mann ihm gegenüber las in einem Buch, dessen Seiten mit mehr Zahlen und Zeichen als Buchstaben bedeckt waren. Seine Frau rief ihn zu Hilfe. Sie kommt mit dem Kreuzworträtsel nicht weiter. Der Mann überprüfte das Kreuzworträtsel, das seine Frau zu lösen versuchte. Seine Ratschläge verrieten, daß er die Rätselfragen hätte lösen können. Er wollte aber, daß seine Frau selber auf die Lösungen komme. Offenbar ein Pädagoge. Die Frau hatte aber plötzlich keine Lust mehr auf Kreuzworträtsel. Ihr Mann las weiter, sie saß und schaute hinaus in die vorbeifliegende Welt. Karl hätte gewettet, daß sie nichts sah. Sie war erfüllt von Gedanken, von sie beherrschenden Gedanken. Diese Frau kämpfte gegen Aussichtslosigkeit. Am liebsten hätte er zu dieser Frau gesagt: Je älter man wird, desto mehr muß man lügen. Es gibt nichts mehr, was von diesem Zwang zur Lüge verschont bleibt. Das Alter, das ist der Zwang zur Lüge schlechthin. Diese Frau hatte eine Art Freudebereitschaft im Gesicht. Ihre dunklen Augen drückten Erlebnishunger aus. Ihr Mund war ein Strich der Entschlossenheit. Und dieser Mann merkte nichts. Vielleicht ein berühmter Chemiker. Wenn der Mann nicht dabeigewesen wäre, hätte er mit dieser Frau plaudern können, hätte sagen können: Sie haben vier Semester in Duisburg studiert, Englisch und Geschichte, und jetzt reicht’s nicht einmal für ein Kreuzworträtsel, das kenn ich, oh, wie ich das kenne. Ein Akademiker, der zur Tür begleitet, am Oberarm berührt und zwei Wochen später Geschlechtsverkehr vor Kunstdruckbänden, o Joni. Es ging um nicht weniger als um Jungfräulichkeit. Wenn er alles erfuhr, alles, was getan und gesagt worden war, wußte er, was noch nicht getan und gesagt worden war. Das würde er dann tun und sagen. Wenn es überhaupt noch Ungetanes, Ungesagtes gab. Ohne diese Hoffnung wollte er nicht leben.
Karls Blick wurde angezogen von einem jungen Paar auf der übernächsten Bank. Die küßten einander so, daß es aussah, als würden sie einander trinken, einander austrinken. Offenbar ein nicht zu löschender Durst. Und auch das, was sie tranken, ging nicht aus. Sie saugten aus einander heraus, was herauszusaugen war. Sie saugten einander aus. Das hätte er gern Joni und ihrem Kußpädagogen vorgeführt. Aber da gab es auch noch zwei Alte. Klaffende Münder, hängende Bäuche, todschwer auf ihren Sitzen. Ovid soll geschrieben haben, gleich scheußlich seien alte Liebende und alte Soldaten.
Er mußte sich vorbereiten auf Helen. Er stieg schon an der Dietlindenstraße aus, um länger gehen zu können, um vom Gehen belebt zu sein, wenn er Helen gegenüberträte. Er würde nichts von dem sagen, was er hätte sagen wollen, wenn er sie telefonisch erreicht hätte. Er würde eine vollkommene Erfindung präsentieren. So vollkommen, daß Helen überhaupt keinen Grund haben würde, nachzufragen, mißtrauisch zu sein und so weiter. Perfekt. Das schwebte ihm vor: perfekt zu sein. Heimzukommen von nichts als einem Geschäft. Allerdings von einem nicht alltäglichen Geschäft. Erstens Film, zweitens zwei Millionen. Das durfte er doch in einem anderen Ton vortragen, als wenn er nur von der Kardinal-Faulhaber-Straße zurückkam und zu melden hatte, daß es Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel gelungen war, den Präsidenten der Deutschen Diabetesfuß-Gesellschaft für ihren Fuß zu interessieren, was zur Folge hatte, daß ihr nicht der Fuß, sondern nur zwei Zehen amputiert worden sind. Er wußte, mit welchen Details er eine Geschichte würzen mußte, um Helens Interesse sofort erlöschen zu lassen. Finanzierungsgeschichten langweilten sie. Je genauer er die erzählte, desto mehr mußte Helen ihr Gähnen verbergen. Darauf konnte er sich verlassen. Und wo war jetzt sein Übermut? Joni fehlte. Also fehlte sein Übermut.
Wenn er beim Lodenfrey-Haus in die Osterwaldstraße einbog, empfand er die Straße immer als besonders heimelig, weil sie von dieser Seite aus für Autos mit amtlich wirkenden Pfählen gesperrt war. Aber heute wurde die Heimeligkeit für den Eintretenden zur Prüfung. Bist du noch würdig, in dieser grün überwölbten Heimeligkeit zu wohnen? Bäume auf jeder Seite, und jeder Baum fragte: Wo kommst du her? Was hast du getan? Uns machst du nichts vor, riefen sie ihm nach. Du kannst zwar so tun, als gebe es uns nicht, aber wir sehen doch, daß du schwächer wirst mit jedem Schritt. Wahrscheinlich reicht dein vorgetäuschter Mut gar nicht bis zum Haus 106 A. Du kehrst vorher um, rennst zurück, hinaus aus der Osterwaldstraße, die ein Boulevard der Sittlichkeit ist. Keiner und keine von denen, die jetzt abendlich zurückkehren aus der Stadt, kommt mit einer solchen Scheußlichkeitslast zurück wie du. Schau, drüben der Herr Professor, der immer schon aus großer Entfernung grüßt, lachend grüßt, der kann jetzt gleich hineingleiten in die Willkommensmusik seines Hauses, seiner Frau, seiner lebensstarken Frau. Wie du bei Hertha an der offenen Ladentür vorbeikommen willst, wo die Nachbarn wie Bienen aus- und einströmen und das Gesumm des Anstands und des Einvernehmens senden und empfangen! Du störst, du bist gestört, du bist eine Katastrophe für diese Straße des friedlichen Wohnens.
Karl rannte fast. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als sehe er niemanden, und sich dann selber einzubilden, unsichtbar zu sein. Die frühabendlich trauliche Osterwaldstraße war die Generalprobe für den Eintritt ins Haus. Karl grüßte und wurde gegrüßt. Aber zum Stehenbleiben und Plaudern ließ er sich nicht verführen. Ein bißchen eilig durfte er es schon haben.
Das Haus. Helens Haus. Streng und steil das Dach. Das steilste Dach in der ganzen Straße. Helens Vater hatte das so gewollt. Bloß keine Gemütlichkeit. Und gegen die Straße abgeschirmt durch gewaltige Thujen. Der Weg vom Gartentor führt nicht auf die Haustür zu. Dann sähe man ja von draußen, wenn die Haustür aufginge, gar ins Haus hinein. Das hat Herr Doktor Wieland nicht gewollt. Dieses Haus hat seine Vorderseite zur Seite hin.
Er mußte die Tür aufschließen und in der Halle so laut grüßen, daß Helen, egal wo sie gerade war, hörte, er sei da. Und sei froh, daß er da sei. Endlich wieder da. Bei seiner lieben, sanft fröhlichen Frau.
Helen stand sofort in der Tür zu ihrem Arbeitszimmer, die goldene Brille hing wie ein Schmuck auf ihrer meergrünen Bluse. Dem Pfeifenraucher Gammertinger, sagte sie, sind drei Zehen amputiert worden.
Karl hätte bald gesagt: Gratuliere. So freute ihn diese Nachricht. So willkommen war sie ihm.
Und wer ist Herr Gammertinger, fragte er.
Er wußte natürlich, Herr Gammertinger, das war der Herr, der sich täglich auf dem die Straße begleitenden Fußweg sehen ließ, der so tat, als meditiere er unter inspirierenden Bäumen gehend, der aber, wie Helen wußte, von seiner Frau hinausgeschickt wurde, damit er seine romantisch gebogene Pfeife im Freien rauche. Und Helen wußte, daß Karl das wußte, daß also die Frage, wer Herr Gammertinger sei, typisch Karl sei. Er wollte damit sagen: Wer ist schon Herr Gammertinger beziehungsweise: Was gehen mich die drei Zehen des Herrn Gammertinger an. Und durch seine flapsige Gegenfrage schaffte er es, daß Helen sich weiter mit der bis ans Zynische oder Bösartige reichenden Flapsigkeit ihres Mannes beschäftigte. Das tat sie heftig, indem sie an die letzten sieben Begegnungen mit Herrn Gammertinger erinnerte. Helen wußte noch, worüber gesprochen wurde. Die Osterwaldstraße mit ihren Gehwegen ist eine Gesprächsstraße. Und Helen hat das von früher Kindheit an erlebt.
Karl mußte ihr doch noch hinsagen, daß er auch hätte eintreten können mit den neuesten Nachrichten über Amei Varnbühler-Bülow-Wachtels Fuß, den die Nichtsalschirurgen amputieren wollten und der gerettet worden ist in der Nußbaumerstraße durch den Präsidenten der Diabetesfuß-Gesellschaft, der von der Seite reingegangen ist und ein Stück Knochen rausgenommen hat, so daß ihr jetzt nur zwei Zehen fehlen. Gut, drei Gammertinger-Zehen gegen zwei Amei-Zehen. Das Match steht drei zu zwei für Helen.
Helen wechselte ins Seriöse. Frau Biselski habe acht Tage im Bett liegen müssen, nachdem sie einen Tag bei von Kahns geputzt habe. Nicht selber habe sie das sagen können, sondern durch ihren Mann sagen lassen. Der von Kahnsche Haushalt sei zu ungepflegt. Und der Mann habe auch noch gesagt, er sei dagegen, daß seine Frau putzen gehe und nachher daheim herumliege.
Weil die Putzfrauenjeremiade Helens nie endendes Elend war, mußte Karl Helen jetzt streicheln. Das war Sitte, daß er an diesem Elend streichelnd teilnahm. So kam es, daß Helen sich ihm anschmiegte. Der Putzfrauenkummer quälte Helen. Sie litt darunter, daß keine Putzfrau bei ihr blieb. Sie hielt sich nicht für pedantisch. Sie sagte jeder neuen Putzfrau, hier im Haus könne jeder seine Arbeit einteilen, wie er es für richtig halte. Alles vergebens. Keine blieb. Und wenn eine blieb, war es eine asthmatisch um Luft ringende, sich weder bücken noch strecken könnende zuckerkranke Zweizentnerfrau. Karl begegnete den aufeinander folgenden Frauen kaum. Er kriegte nur Helens Jammer mit. Und mußte dann eben trösten.
Er zog Helen an sich, küßte sie, schob sie, ohne sie loszulassen, von sich, sah ihr ins Gesicht, zog sie wieder her, dann führte er sie eher heftig als gelinde ins Schlafzimmer, löste ihr die Kleider vom Leib und trug sie zum Bett und warf sie ein bißchen ins Weiche. Helens Überraschtsein beantwortete er mit wohldosierter Rücksichtslosigkeit. Es kam darauf an, daß kein Gespräch möglich wurde. Helen färbte ihr Überraschtsein mit Komik. Sie suchte nach einer Rolle in diesem Vorgang. Er mußte ihr aber vermitteln, daß er hier kein Theater mache. Ihm war es ernst. Sie zog ein Gesicht wie die Frau, deren Mann schon am Donnerstagabend zudringlich wird anstatt, wie es sich gehört, am Freitag. Aber Karl konnte sich nicht mehr fortschicken lassen. Er erlebte sich moralisch. Es war das Moralische, was ihm diesen Geschlechtsverkehr befahl und nicht nur befahl, sondern ihn dazu mit einer Deutlichkeit ausstattete, die sich aufführen konnte wie Liebe.
Es wurde ein grotesker Geschlechtsverkehr, weil Karl seinen Ernst nicht auf Helen übertragen konnte. Sie lispelte nicht, und das Vergißmeinnichtblaßblau ihrer Augen gewann nicht die leuchtende Wegwartenbläue. So blieb er bis zum Schluß ernst, heftig und allein. Um Helen das spüren zu lassen, bedankte er sich, als alles vorbei war.
Helen sagte: So eine schöne Überraschung.
Das so war vielleicht doch ein bißchen gelispelt. Hoffte Karl. Nein, Helen hatte mitgemacht wie eine Sprechstundenhilfe. Unerweckt ist geblieben der Herzenshauptsatz Ich will ein Kind von dir. Und ohne den ist immer nichts.
Daß Karl von Kahn gleich von Joni träumte, war schon erstaunlich. Der Traum hätte ja Seelenfiguren mobilisieren können, die längst in ihm heimisch waren, hätte sie mit Jonifrequenzen und — stimmungen aktuell aufplustern können, aber nein, Joni trat gleich in der ersten Nacht persönlich auf. Sie absolvierte ihren Auftritt sitzend. An einem Tisch saß sie rechts neben Karl. Links neben ihm saß Diego. Der spricht an Karls Gesicht vorbei heftig zu Joni hinüber. Und beleidigt sie. Joni reagiert so: Sie reißt ihren Kaugummi in der Mitte auseinander und schiebt Diego die Hälfte davon in den Mund. An Karl vorbei streckt sie ihre Hand bis zu Diegos Mund. Der schnappt richtig nach der Kaugummihälfte. Und hat sofort auch eine Kaugummihälfte in der Hand und schiebt die an Karls Gesicht vorbei ihr in den nur zu bereitwillig geöffneten Mund. Karl muß es hilflos geschehen lassen. Er will aufspringen, abhauen, aber da bemerkt er, daß er an seinen Stuhl gefesselt ist.
Das Frühstück wurde wie immer eröffnet mit Wielands Trunk. An diesem Morgen spürte Karl, daß er den Trunk ablehnen müßte. Daß er ihm trotzdem schmeckte, nahm er sich übel. Zur Zeit fragten Helen und Karl einander öfter nach ihren Träumen. Helen war eingeladen, im September auf einem Kongreß über das Thema Der Traum in der Paartherapie ein Referat zu halten, also war sie zur Zeit besonders daran interessiert, die Träume ihres Mannes zu erfahren.
Nein, sagte er auf die Routinefrage, er könne sich nicht erinnern, in der letzten Nacht irgend etwas geträumt zu haben.
Schlamper, sagte Helen, man träumt immer etwas, man muß nur rechtzeitig aufpassen, daß der Traum nicht versinkt.
Rechtzeitig, sagte Karl, wann ist das?
Wenn der Traum aufzuhören beginnt, sagte Helen. Die Traumenergie läßt nach, das spürt man auch im Traum. Was geträumt werden mußte, ist geträumt. Wenn man zum Beispiel eine peinliche oder schmerzliche Erfahrung macht im Traum, wenn es, das erlebt man doch heftig, ungut enden will, enden muß, wenn man dieses ungute Ende kommen sieht, man kann nicht fliehen, ist ins Desaster gebannt, dann ist der Moment gekommen, wo man sich bewußt werden muß, daß das ein Traum ist, und sei es ein böser. Ein Traum hört immer dann auf, wenn er seine schlimmste oder seine schönste Stelle erreicht hat. Und je böser die Träume, desto deutlicher prägen sie sich ein.
Um auch etwas beizusteuern, sagte er, daß Gundi neuerdings ihre Gäste nach ihren Träumen frage und sogar eigene Träume ziemlich kraß anbiete. Vielleicht sollte sich Helen da bedienen.
Träume im Fernsehen, sagte Helen, das sei absurd. Das ist, wie wenn du einen unentwickelten Film der grellen Sonne aussetzt. Träume müssen wie Filme in der Dunkelkammer entwickelt werden. Sie werde beim Traum-Kongreß im Herbst vorschlagen, im nächsten Jahr das Thema Träume, wie erzählt man sie zu behandeln. Ihr Referatthema wäre dann, wie Bettina Brentano und Achim von Arnim einander in Briefen ihre Träume erzählen …
Karl mußte jetzt wirklich gehen. Helen war beleidigt. Er versuchte, glimpflich davonzukommen.
Heute bräuchte ich dich so, sagte sie.
Heute abend, sagte er. Ich komme früh, nein, früher, nein, am frühesten.
Zu Frau Lenneweit konnte er sagen, seine Frau habe ihn heute nicht gehen lassen wollen.
Recht hat sie, sagte Frau Lenneweit.
Die Puma-Charts lagen auf seinem Tisch. Im Mai hatte Severin Seethaler für die 1,2 Millionen von Diego Puma-Aktien für ihn gekauft. Aus Sentimentalität. Puma hatte seine Schläger gekauft, Karl wollte wieder bei seinen Schlägern sein. Inzwischen hatte sich Mayfair, die Verwaltung der Tchibo-Geschwister, mit 17 Prozent bei Puma hineingekauft, und Puma selber war immer noch mit Aktienrückkauf beschäftigt. Bis 2011 sollen eigene Aktien für 200 oder 300 Millionen zurückgekauft werden. Weil Puma so im Steigen war und weil er bei steigenden Kursen kaufte, wie er bergauf beschleunigte, hatte er im Mai nicht nur für die 1,2 Millionen von Diego Puma gekauft, sondern noch achthunderttausend dazugelegt. Daß Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel damals den Verkauf ihrer Puma-Werte so temperamentvoll abgelehnt hatte, kann eine Rolle gespielt haben. Er empfing von seinen Kunden soviel Botschaften wie sie von ihm. Jetzt hatte er auf dem Tisch das Puma-52-Wochen-Hoch: 238,80, das Tief: 171,50. Tageskurs: 217,00 Er würde ordern: Verkauf bei 220. Nein, bitte nicht! Bei 225. Gekauft für 193. Das hieß ein 32Plus pro Aktie, ist gleich sechzehn Komma soundsoviel Prozent! Und um die 10 000 Stücke hatte er gekauft. Also ein Plus von 320 000. Also würde ihn sein Zwei-Millionen-Einsatz beim Film nur 1,68 Millionen kosten. Herr Seethaler würde ein solches Quantum ohnehin nicht auf einmal auf den Markt werfen, sondern Stück für Stück einstellen.
Bis Strabanzer das Geld braucht, wird es dasein.
Sollte Karl wirklich so tun, als wolle er das Drehbuch lesen, bevor er einstieg? Nein. Er wollte das Drehbuch allenfalls lesen, weil Strabanzer als seine Ästhetik angekündigt hatte: Am Leben entlang. Da durfte man gespannt sein. Theodor Strabanzer war kein Luftikus, kein Hochstapler, schon gar kein Betrüger. Erstaunlich genug, daß er Strabanzer aushielt, obwohl der doch offensichtlich Jonis Liebhaber war. Gegen Strabanzer mußte er nichts unternehmen. Noch nicht. Joni hatte bis jetzt noch keine Strabanzerschen Bettgesten geliefert. Karl konnte sich mit Strabanzer nichts vorstellen, was ihn so gepeinigt hätte wie der Meister des sorgfältigen Beischlafs, wie der Kußpädagoge und Erniedrigungsspezialist Pseudo-Dostojewskij und der Schaum-Schwamm-Moschus-Lavendel-Fürst. Den pausbäckigen Dreier-Propagandisten nicht zu vergessen. Vielleicht hat so eine Troika stattgefunden, und Joni hat es nicht gestehen können. Zu dritt, das konnte er sich nur als eine Service-Groteske vorstellen. Besser gar nicht. Zu Strabanzer mußte Joni noch Material liefern, damit eine Art Vorstellbarkeit möglich wurde. Karl würde gegen Strabanzer vorerst nichts unternehmen. Strabanzer war ein Leidensvirtuose, basta.
Über das Tagesgeschäft hinausgehende Entscheidungen hatte Karl von Kahn immer von seinem Gefühl abhängig gemacht. Dieser Strabanzer war durch Verletzungen geworden, wie er jetzt war. An diesem Tiroler-Katalanen kam Karl einiges verwandt vor. Je bedrohlicher der Horizont sich näherte, um so heftiger blühte die Illusion, unbesiegbar zu sein. Und von dieser Illusion konnte man zehren. Von ihr lebte man. Sie ist die Kraftquelle schlechthin. Außer ihr ist nichts …
Er rief Joni an. Per Handy. Er wollte nichts wissen, nicht stören, nicht einmal hören, ob sie gut gelandet sei in Berlin, er wollte nur sagen: Ich liebe dich. Sie sollte, da sie sicher in einer beruflichen Situation eingeklemmt war, nichts sagen. Er rief einfach an.
Sie sagte: Jaa.
Er meldete sich, sagte seinen Satz und daß er nichts wolle als diesen Satz sagen.
Sie sagte: Du wirst immer anrufen, wenn es am wenigsten paßt.
Er entschuldigte sich.
Sie sagte: Bis später.
Das war eine Verabredung. Damit konnte man doch leben, den Tag verbringen. Dr. Dirks Bericht über die Med-Tech-Tagung lesen, sich von Berthold Brauch über die neuesten Bloomberg-Nachrichten informieren lassen und die guten alten Zeitungen studieren.
Er hatte Joni gestört. Aber wenn sie in einer Situation mit Frauen gewesen wäre, hätte sie anders reagiert. Schon ihr erstes Ja hieß: Was soll denn das! Sie mußte den Männern, mit denen sie zusammen war, beweisen, daß dieses Zusammensein mit ihnen ihr wichtiger war als jeder überhaupt denkbare Anruf. Kein Mann der Welt war ihr wichtiger als die Herren, mit denen sie da zusammensaß. Sicher beruflich. Und trotzdem waren das Männer.
Kann etwas, was unmöglich ist, noch unmöglicher werden? Karl wollte sich hinüberretten in etwas Sprachliches. Wenn er spürt, daß er sich unmöglich gemacht hat, daß er unmöglich ist, jetzt, dann kann er durch nichts, was er tut, noch unmöglicher werden. Alles, was du tust und denkst, ist schon vernichtet, bevor du es tust und denkst. Alles, was du willst, ist vorvernichtet. Alles, was du zu Joni gesagt hast, ist nichts wert. Und da hörst du den Satz, den dein Vater, wenn er in Nürnberg von der Flakstellung auf einen Halbtagsurlaub heimkam, sagte: ’s hat alles kein’ Wert. Und die Mutter hat dann gesagt: Furchtbar.
Karl hatte das Gefühl, wie er jetzt da sitze, sei er ein Buddha aus Blei.
Daß sie jetzt nicht ansprechbar ist, kann auch heißen, ein alles beanspruchender Mann ist erschienen und hat sie mit sich ins endgültig Unerreichbare fortgerissen. Karl sah das Paar über weiße Wolken ins schwarze Licht reiten.
Dr. Dirk trank Tee, Berthold Brauch stilles Mineralwasser, Karl von Kahn, Frau Lenneweit und Frau Leuthold tranken Kaffee. Karl von Kahn hatte ins Konferenzzimmer gebeten. Sein Puma-Verkauf betraf zwar nur sein Privatportfolio, trotzdem wollte er zum besten geben, was er vorhatte: Zwei Millionen für einen Film.
Berthold Brauch sagte, er wisse, daß Herr von Kahn wisse, daß die Staatsanwaltschaft gerade bei mehreren Medien-Anbietern kistenweise Akten abgeschleppt habe, daß VIP 5 und VIP 6 gerade vom Markt genommen worden seien und daß der alles Wissende Stefan Loipfinger vorausgesagt habe, alle filmfinanzierenden Häuser müßten mit dem Staatsanwalt rechnen. Auf jeden Fall stünden Rückabwicklungen noch nicht dagewesenen Ausmaßes bevor, und wenn dergleichen beim führenden Medienanbieter VIP passiere, warte man besser ab, bis das Beben verebbt sei. Aber da Herr von Kahn das alles selber wisse, sei nur noch interessant, warum er sich gerade diesen Augenblick der größten Unsicherheit für einen Zwei-Millionen-Einsatz ins Mediengewerbe ausgesucht habe.
Karl von Kahn dankte. Dankte herzlich und lachend. Und entschuldigte sich, weil er nicht zuerst mitgeteilt habe, daß er die zwei Millionen nicht investiere, um Steuern zu sparen. Das ganze Branchenbeben der Medienanbieter sei ja nur eine Affäre, weil die Staatsanwälte die Verlustzuweisungen anfechten. Also, er investiert zwei Millionen in einen Film, einfach weil er das Gefühl hat, diese Gesellschaft, sie heiße Bocca di Leone, ist es wert, daß man einspringe, wenn da aus ehrbaren Gründen gerade zwei Millionen ausgefallen sind und dadurch ein unbezweifelbar großartiger Film, nämlich Das Othello-Projekt, nicht zustande käme.
D’accord, sagte Berthold Brauch. Meine Warnung bezog sich nur auf das hier übliche Motiv der steuerbegünstigten Verlustzuweisung. Da wäre im Augenblick Vorsicht geboten, der Fiskus rast.
Dr. Dirk sagte, wahrscheinlich sei der Lustfaktor bei einer Filmfinanzierung wichtiger als bei jedem anderen Geschäft, deshalb wäre es töricht, den Lustfaktor in den Spiegel einer schlichten Kalkulation sehen zu lassen oder aufzuzählen, wie viele Filme ihr Geld nicht eingespielt hätten. Er ziehe es vor, Herrn von Kahn zu diesem freudigen Ereignis zu gratulieren.
Karl bedankte sich. Daß sein Verstand trotz des unbezweifelbaren Lustfaktors noch nicht ganz getrübt sei, hoffe er dadurch zu beweisen, daß er die für 193 gekauften Puma-Stücke erst bei 225 verkaufe, die dann verdienten 16 Prozent minderten den riskierten Posten um dreihundertzwanzigtausend.
Auguri, sagte Dr. Dirk. Und es könne sein, daß Herr von Kahn schon ein bißchen Glück brauche, bis Puma wieder auf 225 klettere, das könne, so wie das Papier jetzt flattere, noch etwas dauern.
Karl nickte und sagte triumphierend: Der Regisseur ist übrigens Theodor Strabanzer.
Alles paletti, sagte Frau Leuthold sofort. So ein schöner Film. Wie sie einander das schöne Mädchen abjagen.
Frau Lenneweit, die offenbar keine Strabanzer-Filme gesehen hatte, nickte zu dem, was Frau Leuthold sagte, als habe sie Frau Leuthold das Wort erteilt und sei zufrieden mit dem, was Frau Leuthold aus ihrem Wortbeitrag mache.
Der Strabanzer-Film Tod des Fotografen, sagte Berthold Brauch, sei eine Zeit lang sein Lieblingsfilm gewesen, weil er noch nie einen Kriminalfilm gesehen habe, dessen Handlung so sinnvoll sei. Die Liebe zur Mutter als Krimi-Motiv! Großartig!
Und Dr. Dirk: Dieses Mädchen in Alles paletti, diese nur erratbare Traurigkeit eines Mädchens, das nie Gelegenheit hat zu sagen, was sie denkt über das, was mit ihr da passiert.
Karl von Kahn stand auf und sagte, diese Sitzung habe ihn gestärkt. Er gestehe, daß er kein Kinogänger sei, aber Theodor Strabanzer, halb Tiroler, halb Katalane und Verehrer Buñuels, habe ihn für sich gewonnen.
Hatte Joni gesagt: Bis später oder Bis bald oder Bis nachher? In Zukunft jedes Telefonwort von ihr mitschreiben. Das war überhaupt seine Gewohnheit, jedes Telefongespräch mitzuschreiben. Und bei Joni tut er das nicht! Wahnsinn.
Er ließ alle gehen, sogar Frau Lenneweit. Er würde erst gehen, wenn er mit Joni gesprochen haben würde.
Frau Lenneweit sagte zum Schluß: Sie würden’s mir schon sagen, wenn Sie mich noch brauchen täten, gell.
Und ob, Frau Lenneweit, und ob, sagte er und schüttelte ihr die Hand, als sei’s für länger. Diese Frau merkt alles. Und nützt es nicht aus. Frau Lenneweit, rief er noch.
Sie drehte sich schnell um und sagte: Ja? Dieses Ja hieß: Lassen Sie mich doch jetzt nicht gehen. Brauchen Sie mich doch noch, bitte.
Karl von Kahn sagte: Wir müssen jetzt nicht darüber sprechen, aber ich weiß, daß Sie mich hier jederzeit ersetzen könnten. Das zu wissen tut gut. Ich wünsch einen schönen Abend.
Frau Lenneweit neigte ihren Kopf, ihre nicht ganz bis auf die Schultern reichenden, dunkelrotbraun getönten Haare fielen ihr links und rechts nach vorne, dann richtete sie sich wieder auf und zeigte, daß sie gefaßt sei. Es hat mich gefreut, das zu hören, sagte sie. Und ging.
Karl von Kahn überließ sich den Säulen und Gesimsen und Kapitellen der Vereinsbank-Fassade. Joni rief tatsächlich noch an.
Morgen und übermorgen Textarbeit, dann sieben Drehtage. Natürlich eine Rolle unter aller Sau. Ein Hausmädchen, das von der Herrin gequält wird, weil der Hausherr zu freundlich ist zu ihr. Die Herrin legt Geld da und dort hin, in der Hoffnung, das Mädchen stehle, dann könnte sie sie feuern undsoweiter. Haupthandlung: Der Mann will, daß seine Frau sich von ihm scheiden läßt, die Schuld auf sich nimmt, seinem Ruf würde es schaden, wenn er der Schuldige wäre, es würde ihm aber nützen, das Opfer einer von ihm nicht zu verantwortenden Scheidungsaffäre zu sein. Eben Vorabendprogramm, sagte Joni. Aber sieben Drehtage in Berlin, das kann sie doch nicht sausen lassen.
Karl von Kahn wollte Vorstellbares über Strabanzer wissen, wagte aber nicht, direkt zu fragen. Also fing er an, von Strabanzer zu schwärmen. So erfuhr er, Theodor komme zurück, während sie in Berlin sei. Ob sie sich nach Strabanzer sehne.
Das sei nicht ihre Sprache.
Er ist doch dein …
Mein Einundallesundobenunduntenundhintenundvorn! Dann rief sie noch: Reicht’s?
Schade, sagte Karl.
Du willst nur wissen, sagte sie, ob Theodor mich vernascht, wenn wir beide wieder in der Stadt sind.
Genau das, sagte Karl. Er wollte sagen, das klinge, als bedauere Joni, daß Strabanzer sie nicht vernasche.
Aber sie sagte gleich, sie müsse jetzt auspacken. Für eine Neuntagereise brauche sie soviel Klamotten wie andere für ein ganzes Jahr.
Sie legte auf. Er starrte noch eine Zeit lang auf die Fassadenwildnis der Vereinsbank, dann verließ er, obwohl er der letzte war, die Firma so leise, als wolle er niemanden stören.
Als er zu Hause eintrat, merkte er, daß er sich nicht vorbereitet hatte. Nur mit Joni hatte er sich beschäftigt. Helen begrüßte ihn gleich mit Vorwürfen. Früh, früher, am frühesten habe er kommen wollen …
Und, sagte Karl, alle Heftigkeit abwiegelnd, wo ist er? Da!
Helen war begierig, ihm vorzulesen, was sie heute geschrieben hatte. Der erfolgreiche Patient kommt in die Warteschleife, ihr Referat für den Traum-Kongreß im September ist jetzt wichtiger als alles. Erstens wimmelt’s da von Koryphäen, zweitens jede Menge Medienmenschen, drittens weiß sie, daß sie etwas zu sagen hat, was außer ihr keiner und keine sagen kann.
Gekocht hat sie schon, Broccoli mit Karottenwürfeln und gerösteten Pinienkernen, durchwirkt vom Zitronensaft, dazu Kurkuma-Nudeln mit gartenfrischem Salbei und ebenso gartenfrischen Kapuzinerkresseblüten. Das alles wartet im Garer bis acht. Aber daß ihr das Vorlesen so leichtfalle wie ihrem Süßen das Zuhören, tunken sie und er vorerst ihre Röstbrote in die Schale, gefüllt mit Helens Basilikum-Pesto. Zum Trinken einen Quittenmost, von ihr selbst gepreßt.
Er wurde in der Küche, die zehnmal so groß war, wie jetzt Küchen sind, auf die gepolsterte Bank bugsiert.
Ihr Referat werde, falls ihr Süßer, den Süßer zu nennen sie heute nicht mehr lassen könne, es ihr nicht verbiete, und selbst wenn, sei es nicht raus, ob sie, die ewig Folgsame, ihm dann gehorche, ihr Referat soll also heißen: Warum darf der Traum Klartext der Ehe genannt werden?
Und fing an: Daß ich in diesem Referat keinen großen Namen, keine Kapazität zitieren werde, ist Programm. Wer sich beim Verstehenwollen eigener Träume auf andere beruft, ist schon verloren. Kapazitäten sind meistens älter als der, der jetzt geträumt hat. Sind gar schon tot. Also von gestern. Und nichts muß mehr von heute sein als alles, was wir über unsere Träume sagen. Heinrich Heines Zeile Ich hab im Traum geweinet ist der einzige Import, den ich dulde, weil diese Zeile nichts ist als eine Stimmung. Man könnte sie zum Text meines Referates spielen wie Musik zu Filmszenen. Ich hab im Traum geweinet ist also die Musik zum Klartext der Ehe. Das heißt: 1. Träume sagen das, was wir am Tag nicht sagen können. Nicht mehr sagen können oder noch nicht. 2. Wenn Menschen anfangen, aus welchen Gründen auch immer, einander etwas zu verschweigen, liegt das Verschwiegene allem Gesagten zugrunde. 3. Je länger Menschen etwas voreinander verschweigen, desto unmöglicher wird es für sie, das Verschwiegene noch auszusprechen. 4. Das Verschwiegene kann sich dann nur noch im Traum aussprechen. 5. Wenn in einer Ehe auch der Traum verschwiegen werden muß, weil in ihm zuviel vom Verschwiegenen deutlich werden würde, ist die Ehe in allergrößter Gefahr. In der Therapie muß gelernt werden, den Traum dem Therapeuten, der Therapeutin zu erzählen. Das ist schwer genug, weil alle Menschen aufwachsen in einer Routine der Traum-Verfehlung, der Traum-Zerstörung. Die meisten können keinen Traum erzählen. Sie erzählen immer gleich das, was sie für die Bedeutung des Geträumten halten. Also eine strenge Schulung zur Wiedergabe des Traums, wie er war. Wenn das in der Therapie gelernt ist, muß gelernt werden, den Traum vor dem dann dazugeladenen Partner zu erzählen. Wenn das gelingt, gibt es die Hoffnung, das Verschwiegene zur Sprache zu bringen und das Verschweigen als alles bestimmende Umgangsart zu beenden.
Soweit ist sie jetzt. Diese fünf Punkte wird sie ausarbeiten. Was meint ihr Süßer zu diesem Programm? Und war aufgesprungen, um aus dem Garer die angesagten Köstlichkeiten zu holen.
Karl mußte zuerst den Quittenmost loben. Dann das Traum-Klartext-Programm. Wenn sie das schaffe, daß die Leute ihre Träume aus der herrschenden Deutungssklaverei befreien könnten, sei sie eine Revolutionärin.
Am wichtigsten sei ihr Programmpunkt sechs, sagte Helen, die jetzt die Speisen auftischte, die dank Helens Behandlung auf das natürlichste schimmerten. Programmpunkt sechs sei der letzte und entscheidende Programmpunkt. Als Träumer sei jeder Mensch unschuldig. Die Träume, sagte Helen, sorgen für höchste Gerechtigkeit. Gerechter als alle Moral, Ethik und so weiter! Die Träume gleichen aus. Gleichen alles aus. Aber was die Träume von selbst leisten, zerstören die Menschen, wenn sie die Träume nachher ihrer Tagesmoral unterwerfen, sie durch Verschweigen, Verdrehen, Verfälschen, Verharmlosen einordnen in die Seelenlandschaft, aus der auszubrechen geträumt worden war.
Karl war beeindruckt. Wenn du das schaffst, Schatz, sagte er.
Das schaff ich, sagte sie.
Und nebenbei revolutionierst du noch die Essenskultur, sagte Karl.
Das schaffe sie leider nicht, sagte sie. Wenn’s gutgeht, dann hier im Hause, aber draußen?! Schau dich selber an. Bei mir bist du selig von Avocado bis Zucchini. Und draußen frißt du ein Hähnchen nach dem anderen.
Hähnchen, sagte Karl, das weißt du, kommt bei mir nicht vor.
Nur weil dir durch Fanny die Züchtungsgreuel vorstellbar geworden sind, sagte Helen. Sie habe bei ihm nichts erreicht. Nichts, nirgends. Und wenn sie nicht einmal bei ihm, bei ihrem eigenen Mann, dem Nächsten, was sie habe, wenn sie nicht einmal den um einen Hauch weiterbringe, dann wisse sie, daß sie, was die Esserei angehe, zum Mißerfolg verurteilt sei. Die Frauen seien verloren in ihrem feministischen Gezappel. Vegetarier zu sein gelte ihnen als hübsche Marotte. Daß Frauen Tiere töten lassen können, begreife sie nicht. Sie verlange von Frauen nicht mehr als von Männern, aber anderes. In hundert Jahren noch nicht, aber in fünfhundert Jahren wird es ganz sicher dämmern, daß wir Tiere nicht töten dürfen. Daß man Tiere produzierte, um sie zu töten, wird dann immer unverständlicher werden. Es wird als Kannibalismus verstanden werden. Über die heute als stumm verschriene Tierwelt wird soviel bekannt geworden sein, daß es unmöglich sein wird, Wesen, die uns so nahe sind, einfach zu töten und sie dann auch noch zu essen.
Da Karl wußte, Helen werde, wenn es um Tiere ging, von sich aus nicht aufhören, mußte er mit beiden Händen über den schmalen Tisch hinübergreifen, Helen streicheln und sagen, daß er sie bewundere. Und stieß damit natürlich an den Joni-Satz: Du bist ein Bewunderer.
Helen sagte das nicht. Sie sagte: Freut mich.
Liebe Frau, sagte er, ich habe viel nachzuholen, könnte sein, ich übernachte heute droben bei mir.
Sie erschrak, ihr Gesicht wurde förmlich dunkel. Von innen her. Sie hatte offenbar mit allem rechnen können, nur nicht damit, daß ihr Mann, den sie nun mit Feinstem gespeist, subtil belehrt und massiv beeindruckt hatte, sich ihr jetzt einfach entzog. Karl sah und spürte ihren Schmerz. Helen wollte ihn hindern, Joni anzurufen. Ohne etwas zu wissen, ging es ihr nur darum. Daß er und wie er jetzt ging, erlebte er selber als Brutalität. Die konnte er weder sich noch Helen ersparen. Zum Glück, dachte er, weiß sie nicht, warum sie jetzt leidet.
Hören Sie, die Dame ist momentan außer Haus. Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?
Bitte teilen Sie mit, Herr von Kahn habe angerufen und wünsche eine gute Nacht.
Auf ihrem Handy wollte er sie nicht anrufen. Das hätte stören können. Nach einiger Zeit würde er direkt ihre Zimmernummer wählen.
Helen wußte, daß er manchmal die halbe Nacht arbeitete und dann lieber auf seinem Sofa schlief. Helen hatte einen leichter störbaren Schlaf als er. Er konnte, wo er sich hinlegte, schlafen. Helen nannte das seinen Bauernschlaf.
Zehn vorbei. Er wählte sechshundertneun direkt und ließ lange läuten, legte auf, nahm sich vor, zehn Minuten zu warten. Dann wählte er wieder. Daß das Telefon so lange wirkungslos läutete, war unangenehm. Sobald er auflegte, konnte er wieder durchatmen. Als er nach nicht ganz zehn Minuten wieder wählte und dann dem Läuten des Telefons zuhörte, war es, als sei dieses Nichtabnehmen in Zimmer sechshundertneun eine gegen ihn gerichtete Bosheit. Er legte diesmal früher auf. Wenn sie im Zimmer wäre, würde sie sich gleich oder gar nicht melden. Immer nur kurz läuten lassen und auflegen, bevor er kurzatmig wurde. Einen Fünf-Minuten-Rhythmus würde er die ganze Nacht lang durchhalten. Diese fünf Minuten sind allerdings mit nichts zu füllen, das merkte er schnell. Lesen ging nicht. Musik hören auch nicht. Auch durfte er nicht von Mal zu Mal eine größere, intensivere Erwartung zulassen. Das würde in eine immer krasser spürbare Enttäuschung münden. Diese kleine Kralle in deiner linken Seite will als Schmerz bemerkt werden. Bitte, dann bemerkst du eben diese kleine Kralle als Schmerz. Dieser Schmerz ist eine Wiederholung von sehr wenig. Er ist bei jedem Anruf dasselbe noch einmal. Er nimmt nicht zu. Und weil es jetzt Viertel vor elf ist, mußt du dir nicht einbilden, du dürfest, wenn sie nicht abnimmt, enttäuschter sein, als wenn es Viertel nach neun wäre. Als wäre um Viertel nach neun nicht genausoviel möglich wie um Viertel vor elf. Lernen, was passiert, als Befreiung erleben. Bitte, nichts Hochtrabendes. Keine großen Gesten oder Wörter. Sogar weinen wäre möglich. Traurig sein. Das wäre man auch ohne diesen Verlauf. Sie dort, du hier, das darf traurig stimmen. Jetzt perfektioniert sie die Traurigkeit durch Unerreichbarkeit. Nachher wird sie die abgelaufene Leere mit Berufsdetails füllen. Du wirst wieder alles genau, zu genau wissen wollen. Du willst, selbst wenn es Lüge ist, die Lüge als Filigran, als Feinstgewebe.
Sie hat alles im voraus gewußt. Du kannst mich ruhig anrufen, hat sie gesagt, sie rufe dann zurück. Sie kenne einen auftretenden Musiker, hat sie, ohne jeden Zusammenhang, gesagt, der könne auf der Geige das Platzen eines Kondoms imitieren. Karl liebte das Nachgemachte. Zum Glück hatte er sie auf dem Rückweg von Andechs unter die Brücke bugsiert. Ohne diesen keineswegs rühmlichen Geschlechtsverkehr sähe die Bilanz nicht gut aus. Es würde genügen zu wissen, wo sie jetzt ist. Jetzt, das ist zehn vor elf.
Er rief wieder an. Warum denn nicht länger läuten lassen? Als er ihr angekündigt hatte, er werde, wenn es ihr recht sei, doch dann und wann anrufen, hatte sie sofort gesagt, wenn sie mit ihrer Schwester telefoniere, könne ohne weiteres eine Stunde lang besetzt sein. Seit Angela allein lebe, müsse sie von ihr praktisch ernährt werden, seelisch! Wenn sie nicht abnehme, föhne sie sich oder sei unter der Dusche. Duschen und Föhnen habe bei ihr Suchtcharakter. Karl von Kahn war froh gewesen, daß eventuelle Unerreichbarkeit harmlos begründet sein würde. Jetzt war nicht besetzt, Duschen und Föhnen kamen um diese Zeit nicht in Frage, sie war gar nicht im Haus, morgen wird sie ihm sagen, wo sie war, Textarbeit. Sich hineinleben in dieses von der Herrin des Hauses gequälte Dienstmädchen. Keine Feindschaftsnummer wolle sie abziehen, hatte Joni gesagt. Sie wolle mit der Herrin leiden unter diesem Mann, der draußen so übel dran war, daß er glaubte, als angeblich betrogener Ehemann eine Sympathie zu ernten, die ihm geschäftlich nützen könnte.
Er wußte nicht, wie er sich daran hindern sollte, an Joni zu denken. Das Abstraktwerden der Sehnsucht nach dem, was man Geschlechtsverkehr nannte, hatte nicht stattgefunden. Er konnte nicht an Joni denken, ohne bei ihr sein zu wollen. Und er wußte nicht, wie er das machen sollte, nicht an Joni zu denken. Er könnte allerdings von sich den Nachweis verlangen, daß es das, wonach er sich sehne, gar nicht gibt. Das müßte sich beweisen lassen. Und ihm wäre geholfen. Und indem er das denkt, schwillt auf dieses Gefühl der Angewiesenheit, dieser Richtungszwang, das, was er doch Sehnsucht nennen muß. Die ist unbelehrbar. Dir fehlt Joni. Fehlte sie nicht, fehlte dir nichts. Damit gibst du zu, daß sie dir alles ist. Du spürst gerade noch, daß du mehr riskierst, als du je riskiert hast. Bisher konntest du, falls sich das Risiko zu kraß anfühlte, immer zurückschrecken oder zurücklenken, hinaus aus dem Minenfeld. Im Chinesischen dasselbe Wort für Risiko und Chance. Je deutlicher die Verbote erscheinen, um so deutlicher weißt du, daß du dir nichts verbieten lassen kannst. Ein einziger gelungener Anruf, ihre Stimme meldete sich, nur die Stimme, kein Name, nur dieses gedehnte, zweisilbige, dann nach oben gebogene Jaa-a, und du spürtest in deinem Geschlechtsteil diesen Wärmeschwall. Das nennt man wohl Hörigkeit. Er hat nie gewußt, was dieses Wort soll. Jetzt weiß er es. Fünf vor elf. Bis jetzt hatte er vermeiden können, schon nach vier Minuten wieder anzurufen. Er mußte sich eine Art Kraft beweisen. Er mußte sich sagen: Volle fünf Minuten sind vorbei, ich kann wieder anrufen. Und tat’s. Hörte dem Läuten zu wie einem Text. Der Text ging gegen ihn. Den brauchte er sich nicht anzuhören. Und hörte doch viel zu lange zu. Andererseits durfte er sich nicht einreden, er müsse sich ablenken. Selbständigkeit. Unabhängigkeit. Seine Wörter. Seine Paläste. Seine Illusionen. Sturzgeräusche. Atemlosigkeit. Schwarzes Schleudern. So nicht. Er reckte sich, ging schnell auf und ab unter seinen schrägen Flächen, sah nicht hinauf zu den Astaugen. Er wußte, die würden jetzt böse herabschauen auf ihn. Er mußte seine Wörter, seine Illusionen in einen unbefristeten Urlaub schicken. Der höchste menschenmögliche Zustand: Unabhängigkeit. Zuerst Selbständigkeit, dann Unabhängigkeit. Bevor er die Wörter entfernte, sagte er noch, daß er jetzt wisse, es sei immer eine Unabhängigkeit gemeint gewesen, in der eine Joni und er Platz hätten. Lächerlicher konnte er sich nicht vorkommen als bei solchen Begriffsdrechseleien. Stell dich deinem Wörterzirkus. Panikverkauf, was! Unabhängigkeit — ein Scheinwert? Ein Unwert? Schnell memoriert: Geld vermehren nicht wegen Freiheit und so weiter. Geld vermehren nicht, um Macht zu haben über andere. Geld vermehren, daß kein anderer Macht hat über dich. Nie vergessen wirst du den Tag: Soros im Fernsehen, 11. Januar 1994, Soros sagt, Geld, um unabhängiger zu sein als andere, andere sind von mir abhängig, das ist Macht. Und Karl war glücklich. Im Gegensatz zum großen Soros wollte er nicht unabhängiger sein als andere, damit andere von ihm abhängig seien. Dieser Komparativ kam bei ihm nicht vor. Nur selber unabhängig sein, das ist es. Aus Mißtrauensroutine hatte er sich eine Zeit lang befohlen, Unabhängigkeit nicht endgültig und überhaupt als das Ziel aller Ziele zu sehen. Ein Erkenntnisstadium, dem andere Stadien folgen könnten. Er hatte sich sogar den Erkenntnisgenuß verbieten wollen. Er hatte sich darauf hingewiesen, daß das doch jedesmal so ging: zuerst der Genuß, ein So-ist-es-überhaupt-Gefühl erkannt und empfunden zu haben. Geld vermehren als Freiheitsbedingung, das hatte dieses So-ist-es-überhaupt-Gefühl produziert. Bis er merkte, daß das Wort Freiheit in eine Fakultät gehörte, die nicht seine Fakultät war. Aber Unabhängigkeit! Unabhängigkeit war ein Wort, das ihm im Vergleich zu Freiheit unmißbrauchbar vorkam. Als er die Bank suchte, die er brauchte, hatte er entdeckt, daß bei Metzler neben dem Namen stand: Unabhängig seit 1674. Das war sein Fall. Keiner hat Macht über dich.
Und jetzt? Stornier’s. Weigere dich. Laß dich von diesem Wort nicht tyrannisieren. Wenn die Sprache gegen das Leben spricht, soll sie schweigen. Basta. Du bist abhängig wie noch nie. Du hast von Unabhängigkeit geredet wie der Fisch vom Vogel. Sei hinaus über das, was dich nicht faßt.
Daß er sich außerhalb der gewöhnlichen Rechtszusammenhänge fühlte, mußte er nicht bedauern. Er hat sein Pflicht- und Anstands- und Zurechnungsfähigkeitssoll abgeliefert. Er hat es verdient, beurlaubt zu werden, und sei’s für immer. Sei, was er tut, ein Verbrechen. Man kann etwas auch als reines Verbrechen begehen. Man ist dann im reinen mit sich. Strabanzer müßte das als Kalauerfügung gelten lassen. Hülfe es, wenn er sich im Augenblick für unzurechnungsfähig hielte? Gut, sag, du seist jetzt unzurechnungsfähig. Das macht dich kein bißchen zurechnungsfähiger. Er hat auch nichts dagegen, krank zu sein. Deine Krankheit heißt Liebe. Keinen Blick mehr für irgendwas. In der Stirn ein Rad. Brennend. Du blühst. Und möchtest durch Drandenken sterben.
Als dreihundert Sekunden vorbei waren, rief er wieder an. Und ließ es noch länger läuten. Das hat etwas, dieses Telefonschrillen in einem leeren Zimmer. Der genaue Ausdruck dafür, daß du nichts zu verlangen hast. Null Anspruch. Null Anrecht. Null Legitimität. Lehne die Wörter ab. Beherrscht wirst du von ihnen. Du hoffst aber. Du erwartest ohne Grund und Recht und Sinn. Nein, du erwartest nicht. Du wartest. Das ist es. Das ist alles. Du wartest. Sonst ist nichts. Du investierst ins Nichts. Das ist es. Das ist alles. Du willst nur von Joni hören, wie die das gemacht hat, den sorgfältigen Beischlaf. Also eine Liste aller Bewegungen und aller Zeitabläufe und aller Kraftanwendungen. Was haben die wann, wie, wie lange, wie oft gemacht. O bitte, und mit welchen Wörtern, Sätzen, Lauten. Dann der Pseudo-Dostojewskij. Karl hatte vor Jahren Schuld und Sühne gelesen. Er hatte sich damals gewünscht, ein Untersuchungsrichter wie Porfirij Petrowitsch nehme sich seiner an und verhöre ihn so bis in den Grund hinein. So verhört zu werden, das hieße, es interessiert sich jemand ganz wahnsinnig für dich. Und durch dieses grenzenlose Gefragtwerden würdest du, weil du, um nicht verurteilt zu werden, antworten müßtest, deiner selbst inne werden wie nie zuvor. Daß Joni überhaupt Kontakt ertrug mit einem Kerl, der sich Dostojewskij nennen ließ! Bart und lange Haare, und so was darf einer Joni Jetter das Küssen beibringen. Als Kunst! Und sie kann bis heute noch nicht sagen, wie und was der gemacht hat. Er hat meinen Mund entdeckt! Na bitte. Aber erst danach, als sie sich die Verfügungshoheit für ihren Mund hat abnehmen lassen, hat er begonnen, das wachgeküßte Ding zu dem zu machen, was er brauchte. Da ging er dann los auf sein Täubchen, der große russische Leidenszampano, mit keinem anderen Ziel, als dieses Täubchen zum elendesten, erbärmlichsten Gurren zu bringen und es dann, wenn es durch Serien von Selbsterniedrigungsorgien nichts als gar war, unter Zuhilfenahme russisch-religiöser Verbrämungen genußvoll zu verspeisen. Und den ganzen Rummel und Rammel auszugeben als die einzig mögliche Vorbereitung auf die Schauspielkunst. Das werden Sie mir büßen, Herr Rasputinski. Dem Pausbackenheini wird er sagen, daß er ihm den jedesmal fünfundvierzig Sekunden dauernden Beischlaf verarge. Diese Frau, und dann das. Warum hat Joni das monatelang mitgemacht? So mitgemacht, daß es der dann wagte, sie zu sich ins Familiäre einzuladen, um seine Pausbäckigkeit von zwei Frauen betatschen zu lassen. Überhaupt: Viel mehr als über die Praktiken mit diesem und jenem mußte er erfahren, genau erfahren, wie es Joni jeweils dabei zumute war. Beim Pseudo-Dostojewskij auf dem Teppichboden, bei verzehrend leiser Musik, dann er über ihr, an ihr, als sei sie ein Uhrwerk und er der einzige Mensch auf dieser Welt, der dieses noch nie in Gang gekommene Uhrwerk zum Gehen bringen könne. Das tat dann weh, hat sie gesagt. Und je mehr es ihr weh tat, desto sicherer wußte der, daß er auf dem richtigen Weg war. Wenn ihr die Tränen kamen, jubelte der, war dann schnell fertig. Und ließ sie liegen. Und quatschte drauflos: Was jetzt in ihr vorgehe, mache sie zur großen Schauspielerin. Was jetzt in ihr tobe, dürfe nicht zerquatscht werden, das wirke, bilde die Kraft, die den Ausdruck will.
Aber sie hat nicht gesagt, wie sie das erlebt hat. Karl weiß viel zu wenig von ihr. Der Akademiker hat mit Joni nie ohne Kondom geschlafen. Eine angenehme Vorstellung. Wenn man wüßte, wie das vor sich ging. Hat sie ihm das Zeug feierlich-andächtig übergezogen, oder hat er … Wie soll man damit leben? Ob sie Karls linkes Bein entdeckt hatte? Das war zehn Jahre älter als er. Die Innenseite sah aus wie eine verwaschene weißblaue Bayernflagge. Ein Gorgonzolagelände. Er hoffte, es sei ihm gelungen, dieses Adernelend vor Joni zu verbergen. Ein Blick darauf, und sie würde schrill lachend davonrennen. Die One Issue Group hatte sie Krampfaderngeschwader genannt. Hätte sie das getan, wenn sie sein Blue-Cheese-Bein gesehen hätte?
Um fünf nach elf rief Karl von Kahn nicht mehr das Zimmer, sondern den Empfang an.
Moment. Dann: Die Dame ist im Haus, aber sie ist nicht auf ihrem Zimmer.
Danke.
Stundenlang haben sie heute Textarbeit gemacht. Jetzt also noch Quatschen. Klar. Aber ins Quatschen durfte er genausowenig hineinrufen wie in die Textarbeit. Ich rufe dich an. Die Sprache drückt vollkommen aus, was da passiert. Ich rufe dich an! Erhöre mich. Und so weiter. Daß sie im Hotel war und nicht zurückrief, hieß einiges … oder schon alles.
Karl öffnete eine Flasche Lafleur, Pomerol, 1983. Eine Gewohnheit. Wenn er sich zu nahe kam, trank er ein Glas oder drei Gläser Bordeaux.
Er sagte: Zum Wohl. Und trank sich zu. Und sagte: Sei nicht so aufdringlich, Mensch. Ja, du dir! Laß dich in Ruhe!
Wenn man später glaubt, es schwer gehabt zu haben, macht sich das angenehme Gefühl breit, der Welt nichts schuldig zu sein. Zum Wohl!
Als er Joni beim letzten Gespräch vor der Reise gefragt hatte, in welchem Hotel sie in Berlin wohne, hatte sie gesagt: Gute Frage. Er hatte den Eindruck, sie versuche die Antwort so hinauszuzögern, daß er vergesse, noch einmal zu fragen. Er hatte zwar nicht sofort, aber später im Gespräch noch einmal gefragt. Sie hatte das Interconti genannt, allerdings mit dem Zusatz: Nervensäge.
Wenn er sie um Mitternacht auf dem Handy anriefe, sie, mitten im entspannenden Gequatsche in der Bar, dann war er endgültig die Nervensäge. Aber sich selbst war er auch nichts anderes als eine Nervensäge. Er hätte, als sie ins Bad gegangen war, nicht im Bad auftauchen dürfen. Das war sein schlimmster Fehler überhaupt. Das Blue-Cheese-Bein hatte er weggeschummelt, den Körper im Morgenmantel geborgen, aber sein Gesicht neben ihrem Gesicht im Spiegel. Zerrissen, verformt, vergnomt, das war kein Gesicht mehr, das war eine Verschwörung. Dann sofort sein Versuch, aus der Visage ein Gesicht zu machen. Schicksalsblick, Trauerschmacht, Schmerztrotz, Heroenrotz. Und das neben ihrem erfahrungsfreien Gesicht, das am Morgen, ungeschminkt, so schön ist wie die Welt eine Sekunde vor ihrer Erschaffung. Daß er nicht im Religiösen vergehe, schiebt sie den kleinen Finger ihrer linken Hand ein wenig, nur ein kleines bißchen in ihren Mund, ziemlich weit links draußen. Aber nicht nur zwischen die Lippen, sondern zwischen die Zähne. Und ein Gesichtsausdruck, als beiße sie ein wenig auf diesen kleinen Finger. Das kam dir als Geste, als Ausdruck bekannt vor. Er war glücklich, daß er der Anlaß war für diese Geste. Karl liebte das Nachgemachte. Das Nachgemachte ist das Reichere. Du hast sowohl das Original als auch das Nachgemachte. Du kannst vergleichen. So wie jetzt bei Joni hatte er diese Geste noch nie gesehen.
Jetzt, in dieser Nacht, will sich in dir die irrsinnige Hoffnung bilden, Joni habe im Spiegel nur sich selber angeschaut, also den Schrat aller Schrate neben sich gar nicht bemerkt. So muß es gewesen sein, sonst wäre sie doch sofort davongerannt. Nie mehr mit ihr vor einen Spiegel. Was hatte sich in ihr über ihn gebildet? Bisher hatte er nie begriffen, wieso für den Geschlechtsverkehr eine besondere Wertschätzung nötig sein sollte. Eine hygienische, ja. Aber mehr nicht. Dann diese Art Spaß. Mußte man jemanden, mit dem man Tennis spielen wollte, lieben? Küssen gehört dazu. Er hätte es nicht gebraucht. Aber bitte. Man tut es, weil man weiß, es lohnt sich. Nachher. Eine Investition. Und Joni? Entsetzlich, wenn sie so dächte, wie er gedacht hatte.
Sollte er genau notieren, was alles Joni sich selber vorwirft? Sie macht sich sogar herunter. Männer haben sie gekriegt, weil sie nicht weiß, was sie wert ist. Und er kriegt sie, wenn er sie kriegt, auch nur deshalb. Als sie zum ersten Mal im Hotel im Ausland telefonisch Nadeln bestellte, auf englisch, da wurden ihr Nudeln gebracht. Nach vier Semestern Englisch. Ihre Selbstherabsetzungsroutine nutzen? Nein. Er ist von ihr nichts als begeistert. Wenn er sich in ihrer Sprache erklären wollte, mußte er sagen, er sei total durchgeknallt. Aber wenn er ihr nichts ist, dann ist alles nichts. Sie mit seinem Ernst erpressen, idiotisch. Und doch ist das bisher das einzige, was er einsetzt.
Und rief sie an. Auf ihrem Handy. Zweimal läutete es, dann wurde abgestellt. Abgeschmettert. Und wenn diese Nacht ewig dauerte, er konnte nicht mehr anrufen. Sie sah auf ihrem Handy, wer sie angerufen hatte. Rief sie in dieser Nacht, von jetzt bis, sagen wir, zehn Uhr vormittags nicht zurück, dann …
Ihm war nach Bewegung, aber wenn er jetzt hin- und herrennen würde, käme Helen herauf, Vorwand: Ich mach mir Sorgen. Jetzt auf den Wank, das wär’s. Langsam fahren. Hinaus und hinaus. Dich aus der Stadt schälen wie aus einem Alptraumgewand. Aufsteigen. Drunten noch Nacht, droben schon Licht. Vom Mühldörfl aus über den Hüttlsteig und den Jägersteig hinauf. Sein Aufwärtserlebnis. Bergauf beschleunigen. Gelbe Fingerhüte links und rechts, Königskerzen, Bergbach, Glockenblumen, Tollkirschen, für das meiste hat er keinen Namen, braucht er keinen Namen, alles, was blüht und rauscht, blüht und rauscht für ihn, weil er der ist, der immer hierherkommt, der, auch wenn das vielleicht nicht der Fall ist, das Gefühl hat, er beschleunige seinen Schritt andauernd. Dieses Gefühl, schneller zu werden, leichter zu werden, braucht er. Das ist seine Aufwärts-Illusion. Der Gipfelstürmer-Wahn. Mehr Kräfte haben, als er hat. Das ist doch sein Prinzip. Er muß sich übertreffen. Das ist sein Genuß. Und der Atem macht mit. Das Herz macht mit. Wenn er einmal stehenbleibt, dann nicht, um zu rasten, sondern weil er aus bergreligiösen Gründen sich umdrehen muß, um der Alpspitze fromme Reverenz zu erweisen. Wenn er zwischen den Latschen angekommen ist, ist er daheim. In diese Höhe gehört er. Jetzt rennt er wirklich. Glaubt, er renne. Renne hinüber zum Gipfel. Dem nähert er sich dann aber langsam. Schnauft schwer. Eigentlich japst er jetzt nach Luft. Sein Dr. Bartenschlager hat gesagt, Karl von Kahn werde sicher die begehrteste aller Todesarten erfahren: den Wachtmeistertod. Man steht, denkt an nichts, fällt um, ist tot. Bei ihm heißt das: gesund sterben. Wo, wenn nicht am Wankgipfel möchte er … Aber jetzt nicht. Nicht mehr. Erfüllt vom Erstiegenen abwärts dann, sanft, mit der Bahn, die Gondel eine Wiege des Wohlgefühls. Langsam zurückfahren in die Stadt, unverwundbar geworden. Durchblutet von der Bergreligion. Irgendwann Joni anrufen. So unbeschwert, als stochertest du mit den Zehen im karibischen Strandsand. Nicht den Hauch eines Vorwurfs.
Er hat sein ganzes Leben lang nicht richtig gelogen. Immer nur so ein bißchen an der Wahrheit herumgepfuscht. Jetzt bleibt nur die herzhafte Totallüge. Also. Guten Morgen, Joni, er hofft, sie habe so tief und traumschön geschlafen wie er. Den Traum, den dich selig umkreisenden und dann sogar noch mitten hinein treffenden, erzählt er dir beim nächsten Wiedersehen. Da oder dort oder sonstwo. Er ist eben ein Freizeitbaron. Er weiß nicht, ob das in ihrem bisherigen Zusammensein genügend deutlich geworden ist. Er muß nichts Bestimmtes arbeiten, um mehr Geld zu haben, als er braucht. Er tut nicht nichts. Dann und wann steigt er sogar ungeheuer ein. Aber nur, um das Gefühl zu genießen, er sei ein bedeutender Mann. Dann wieder Monate oder Jahre herumsitzen oder — fahren und guter Laune sein. Strände sind sein Hauptmilieu. An Stränden schreibt er. Er hat immer gern geschrieben. Aber nur an Stränden. Auch seine Frau schreibt gern. Sie, Lyrik. Er, Prosa. Essayistisch. Sie lebt am liebsten in Rom. Er in Paris. Zusammen sind sie am liebsten in München. Ein Paar, das Zwang verabscheut. Er darf sich zum Glück frei fühlen. Vielleicht ist er überhaupt der freieste Mensch auf der Erde …
So wird er ihr begegnen. Vorwurfsfrei. Er weiß doch schon ziemlich genau, wie Joni ihn will. Wenn sie ihn überhaupt will. Immerhin hat sie nachher im Bett geweint. Die Tränen getrocknet mit diesem Nichts von Schlüpfer.
In dieser Nacht lernt er, was er schon längst hätte lernen müssen: die reine Lüge. Die Lüge unter allen Umständen. Die allein hilfreiche Lüge. Schluß mit dem mühseligen, nie ganz gelingenden Vertuschen der Wahrheit. Schluß mit dem Jammer der Halbwahrheiten.
Irrsinn. Ein Feldherr ertüftelt die ultimative Strategie auf dem Schlachtfeld, auf dem er gerade den Krieg ein für allemal verloren hat. Du wirst keine Gelegenheit haben, als der große Lügentenor aufzutreten. Sie schmust nämlich gerade jetzt mit wem auch immer in der Bar. Sie schmusen und lecken sich vorwärts, bis sie aufstehen und eher schwebend als gehend ihr Zimmer erreichen.
Was dann abgeht, weiß er.
Wenn Helen auf dem seitlich vom Haus gelegenen Vorplatz die Blätter zusammengekehrt hat, kehrt sie am Schluß alles, was sie gehäuft hat, auf eine große breite Schaufel, die sie dann in die Tonne für natürlichen Abfall leert. So etwas brauchte er jetzt. Bloß müßte die Tonne, in die er seinen Kehricht leert, eine Tonne für Psychoschrott sein. Entsorgen. Und zwar sofort. Er hat Glück gehabt: das hat er jetzt geschnallt. Deine Liebe, die kannst du dir an die Glatze nageln. Die geht ihr am Arsch vorbei. Das ist echt ätzend. Durchgeknallt, das war einmal. Entsorgen ist auch nicht schlecht. Umweltschonend. Du mußt nicht so weit gehen, dir stundenlang vorzustellen, was sie jetzt gerade tut und sagt. Das ist kontraproduktiv. Du mußt eine riesige Decke über alles werfen. Eine tannengrüne Decke. Überhaupt Tannengrün über alles. Tannenzweige. So wie die Gräber im Winter, daß sie nicht frieren, mit Reisig zugedeckt werden. So die ganze Welt. Bis zu jedem Horizont. Und hingeschaut über diese dunkelgrüne, angenehm unglatte Unendlichkeit, hingeschaut, bis nichts Denkbares mehr bleibt. Du hast Glück gehabt. Das hätte furchtbar werden können. Alleinsein, das ist gelernt. Du brauchst keinen mehr und keine mehr. Nichts erlebst du, sobald du zwischen den Latschen bist, deutlicher als diese Fähigkeit, allein zu sein. Das fühlt sich an wie Glück. Ein Glück, das du, solange du noch andere brauchtest, nie empfunden hast. Auch der feinste Kontakt verlangte, um zu gelingen, einen Verzicht auf etwas, und genau dieser Verzicht hat den Kontakt wertlos gemacht. Die WG mit Helen ist die beste aller denkbaren Zweckgemeinschaften. Ist es eine Anmaßung, dich allein zu fühlen? Du weißt nicht, willst nicht wissen, wer außer dir noch allein ist. Du willst keinem dreinreden, etwa sagen, jeder sei allein. Dann hättest du ja wieder reichlich Gesellschaft. Über das Alleinsein kann jeder nur für sich sprechen.
Er holte aus der Schublade Ereweins Papiere, Bericht und Brief. Er suchte die Stelle, die er jetzt ganz wörtlich wissen wollte. Und fand die Stelle: Ich bin dran jetzt. Mir ist auf dem Kopfe das letzte Moos gewachsen. Mein Atem erreicht meine Lippen kaum noch. Stille, Leere, Ausgeräumtheit. Mit diesen Sätzen verband ihn, daß sie nicht gesagt, sondern geschrieben worden waren.
Er zwang sich zurück zum weltbedeckenden Reisig. Nichts als das. Aber daß er sich hatte durchgehen lassen, er werde jetzt endlich rückhaltlos lügen, ging ihm nach. Er hätte sich doch längst trennen müssen von dieser Moral-Linguistik, von dieser Bestrafungs-Philologie. Religionsfeudalismus ist das. Wenn er nicht mit sich übereinstimmte, war, was er sagte, nicht das, was er dachte. Und mußte doch gesagt werden. Wollte gesagt werden. Alles, was du sagst, ist wahr. Und zwar dadurch, daß du es sagst.
Ende, würde Strabanzer sagen.
Er wollte jetzt, zum Beispiel, nicht mehr denken, er sei froh, daß es mit Joni so schnell zu einem Schluß gekommen war. Aber das Gegenteil, daß es nicht zu Ende war, war genau so undenkbar. Alles war undenkbar. Bevor ihm das Atmen schwerfiel, sah er wieder über das zu allen Horizonten reichende, weltdeckende Reisig hin. Die Horizonte, eine scharf vom alles deckenden Reisig gezogene Linie. Über dieser Linie nichts als fahle Farblosigkeit. Das weltfüllende Reisig führte den Blick in diese Farblosigkeit. Er schlief ein. Träumte wohl auch. Kriegte keine Luft mehr. Die Kehle war dicht, war zu, er hatte keine Kraft mehr, irgend etwas zu bewirken. Er bemerkte, daß er jetzt ersticken werde und daß er dagegen nichts tun könne. Aber da, als er glaubte, es sei zu spät, riß die Kehle wieder auf, er japste, schnappte nach Luft, atmete wieder. Noch lange, sehr lange saß er aufrecht, wagte nicht mehr, sich hinzulegen. Er durfte nicht einschlafen. Er wollte nicht noch einmal ersticken. Links ein Stich. Die Zunge blieb gegen die Mundhöhle gepreßt, ließ sich nicht mehr lockern. Weil er sich oft als sein eigenes Gegenüber sah, mußte er jetzt im gewöhnlichen Konversationston sagen: Herz, stich nicht so, als wären wir in einem Kartenspiel. Und hoffte, Herr Strabanzer werde das als reinseidenen Kalauer akzeptieren.
Dann, es war schon neun, rief sie an. Zuerst ihr zweisilbiges, provozierend hoch endendes Ja. Dann sagte sie: Sei zufrieden mit mir.
Also sagte er: Ich bin zufrieden mit dir.
Und sie: Ich bin nicht zufrieden mit mir.
Er: Ich bin zufrieden mit dir.
Danke, sagte sie. Sie könne es brauchen. Sie habe echt eine Matschbirne. Der erste Tag sei schweineanstrengend gewesen, sie hätten geschuftet wie blöde, dann sei doch noch alles gutgegangen zwar, aber deshalb sei es unvermeidlich, daß der zweite Tag mies werde. Es sei nur noch die Frage, wie mies. Gestern mit Waltraud Walterspiel und Laura Broch, eine beängstigende Harmonie. Waltraud, die man nur Vorabendserien machen läßt, und Laura, die nur in Vorabendserien spielen darf, haben gestern mit ihr ein ätzendes Konzept für Liebe nicht ausgeschlossen entwickelt. Waltraud, die Resischörin, Benedikt läßt grüßen, ist eine Riesen-Rabenfrau. Und Laura, die die Hausherrin gibt, ist eine Edel-Elster. Und sie selbst ein Spatz-Spatz. Bis heute nacht um drei haben sie ihr Konzept-Komplott geschmiedet, das sie heute durchsetzen müssen gegen die Produktion und gegen Bert Breithaupt, der den leidenden Mann gibt, nach dem sich alles zu richten hat. Ob Nervensäge noch zuhöre.
Und wie, sagte er.
Du hast einen Ständer, sagte sie.
Stimmt, sagte er.
Dann bin ich schon zufrieden mit mir, sagte sie.
Ich bin zufrieden mit dir, sagte er.
Das ist gut, sagte sie. Jetzt müsse sie aber raus und rasen von hier bis Babelsberg. Adieu, mein Schatz.
Adieu, meine …
Da hatte sie schon aufgelegt. Er konnte nicht mehr sagen, was er wirklich sagen wollte: daß das mit dem Ständer höchstens eine Halbwahrheit war.
Das früchtereiche Frühstück stand auf dem Tisch. Helen saß schon am Computer. Aber sie kam herüber und fragte, was er geträumt habe.
Er zögerte.
Sie drängte. Zwischen ihm und ihr dürfe das Verschwiegene nicht wachsen.
Von ihr habe er geträumt. Ihr entgegengesehen habe er. Freudig. Weil er gewußt habe, wie schön sie sei. Dann, sagte er, tauchte sie deutlicher auf. Ohne daß er sich bewegte, kam sie näher. Eine Art Zoom-Effekt. Nicht ganz in Reichweite hörte die Annäherung auf. Jetzt sah er, was er sehen sollte. Ihre beiden Augen wurden, je näher sie kam, um so verschiedener. Ihr rechtes Auge wurde immer blasser, das linke immer dunkler. Beide behielten den Blauton, aber das eine war fast farblos blau, das andere grellblau. Von beiden Augen fühlte er sich angeschaut. Starr angeschaut. Das war kaum auszuhalten. Er rannte dann wohl weg. Irgendwie.
Helen sagte, seine Träume seien immer so deutlich. Wenn Freud solche Träume gehabt hätte, hätte er sich seine Traumtheorie ersparen können.
Ich, sagte Karl, möchte diesem Traum nicht zu nahe treten.
Da tust du gut daran, sagte sie.
Ich bewundere dich, sagte er.
Freut mich, sagte sie.
Sie verabschiedeten sich.
Auf dem Weg zum Nordfriedhof stellte sich in ihm eine Art Zufriedenheit her mit Jonis und Helens Antwort auf seinen Satz: Ich bewundere dich. Er hatte diesen Satz zu Joni und zu Helen sagen können. Joni und Helen fanden es sehr angenehm, von ihm bewundert zu werden. Keine der beiden hat geantwortet: Ich dich auch. Und genau das war ihm recht. Beide waren bewundernswert. Er war es nicht. Daß das so herausgekommen war, sprach für die Wahrnehmungsqualität, die zwischen ihnen herrschte. Das ließ ihn sich zufrieden fühlen. Schrecklich, wenn eine gesagt hätte: Ich dich auch. Das wäre zum Davonlaufen gewesen. Aber so war alles gut.
Eine Gesellschafterversammlung war für Karl von Kahn, was für einen Labor-Biologen der Ausflug auf die grüne Wiese ist. All den Blumen, den Farben und Stofflichkeiten, mit denen er sonst nur im Mikrobereich umgeht, begegnet er hier leibhaftig. Dieses Naturerlebnis vermitteln allerdings nur die Anleger. Die Anlageberater, die Finanzdienstleister, also die Karl von Kahns, tragen Krawatten. So war es auch im Méridien. Die krawattenlose Mehrzahl war eine zu Herzen gehende Versammlung. Menschen, hierhergekommen, um nur sich selber und ihren wahrscheinlich schwer verdienten und keinesfalls gewaltigen Einsatz zu vertreten. Und das eher schüchtern als heftig. Selten theatralisch. Kordanzüge, Lederwesten, Rucksackträger. Auch solche, die aus dem Rucksack, kaum, daß sie Platz gefunden hatten, ihren Laptop herauszogen und ihn sofort anspringen ließen. Grauköpfe mit kurzen, aber auch welche mit schulterlangen Haaren. Der mit den längsten Haaren hatte eine kleine Schwarze neben sich. Daß Karl von Kahn der Älteste im Raum war, sah er mit geschultem Blick. Aber unter fünfundfünfzig war von den sich selbst Vertretenden keiner. Unter den Profis gab es natürlich jede Menge Fünfunddreißigjähriger.
Vorne, vom Saal aus gesehen links, ein leicht schräg gestellter Tisch, an dem eine Management-Mischung aus Treuhand und Falk Capital Canada Platz nahm, dazu zwei Herren von Downing Street, einer kanadischen Firma, der in Toronto fünfzig Prozent des Objekts, um das es ging, gehörte. Rechts, genau so leicht schräg, der Tisch, an den sich die Insolvenzverwalter setzten. In der Mitte eine Leinwand mit Willkommensgruß. Wer vorne an der Leinwand vorbeiging, dem geisterte kurz die Schrift übers Gesicht.
Karl von Kahn hatte sich informiert, hatte eine Meinung, die würde er, sollte das nötig sein, vertreten. Er war dafür, das Immobilienobjekt an Blackstone, einen amerikanischen Anbieter, zu verkaufen. Die deutsche Falk-Gruppe war insolvent. Der Falk-Fonds in Toronto konnte überleben. Aber wie? Das war hier die Frage. Halb Parlament, halb Gerichtssaal. Herr Falk, mal in Haft, mal wieder draußen. Angeblich hatte er bei seiner Zürcher Firma Bilanzen geschönt, um sie für mehr, als sie wert war, nach London zu verkaufen. Für Karl von Kahn waren solche Verdächtigungen ein Produkt aus Mediengier und Staatsanwaltslust.
Es war eine außerordentliche Gesellschafterversammlung. Und weil die Einladungen nicht fristgerecht verschickt worden waren, würde es eine Informationsveranstaltung ohne Abstimmung sein.
Karl von Kahn und Graf Josef saßen in der vierten Tischreihe. Karl wies auf die Getränke und Knabbereien. Graf Josef zog das verächtlichste Gesicht, das er zur Verfügung hatte. Karl war froh, daß Benedikt Loibl nicht persönlich erschienen war. Der neigte zu Dramatisierungen. Graf Josef dagegen, im schwarzen Trachtenanzug, dessen Jacke oben durch ein silbernes Kettchen geschlossen war, wollte offensichtlich in hochmütiger Distanz zu allem hier Ablaufenden verharren. Mit an ihrem Fünfertisch saßen drei Berater, die sich kannten und einander, bis alles anfing, mit Berufsgeschichten unterhielten. Jetzt, glaub ich, sagte einer im Allgäuton, jetzt hab ich die Bank auf dem Eis.
Der Manager, der in Kanada die Falk-Fonds-Geschäfte führte, und die zwei Herren von Downing Street schilderten dann die Lage so, daß ein rascher Verkauf der Immobilie dringend empfohlen war. Im Gegensatz zu den deutschen Falk-Fonds sei der Kanada-Fonds in bester wirtschaftlicher Verfassung. Aber man müsse sensibel dafür sein, daß die Falk-Insolvenz, die Insolvenz des größten deutschen Verwalters geschlossener Immobilien-Fonds, in Kanada nicht unbemerkt geblieben sei. Gerüchte schwappten hinüber. Der Markt sei nun einmal das labilste aller labilen Gleichgewichte. Im Augenblick sei die Vermietung maximal, davon könne man jetzt profitieren. Die Partnerfirma Downing Street werde ihren Fünfzig-Prozent-Anteil, um die Gunst der Stunde zu nutzen, auf jeden Fall verkaufen. Der Manager aus Toronto warnte davor, dann in Toronto selber tätig zu werden. Die deutschen Anleger würden sich kaum wehren können gegen Corporate Raiders, die solche allein agierenden, relativ kleinen Firmen an sich reißen und ausweiden und dann fallen lassen würden.
Die in diesen Lageschilderungen spürbar gewordene Dringlichkeit weckte Gegenstimmen. Ein Großanleger beziehungsweise sein Vertreter sah nicht ein, eine Immobilie zu verkaufen, die in nicht ganz zwei Jahren einen Wertzuwachs von mehr als 20 Prozent aufwies, eine Vermietungsquote von 92 bis 95 Prozent, eine Rendite von 8 bis 12 Prozent. Kanadas Wirtschaft blühe wie sonst nur noch die Chinas. Man denke an das Ölwunder von Calgary. Keine Defizite im Staatshaushalt. Der 11. September habe nirgends so wenig geschadet wie in Kanada. Also sofort in Toronto eine Verwaltungsgesellschaft gründen, die Geschäfte selber weiterführen. Und er schloß effektsicher, er sei Hanseate, und unter Hanseaten gelte: Bangemachen gilt nicht.
Anhaltender Beifall.
Das verletzte den Manager aus Toronto sehr. Menschlich tief betroffen sei er. Alle, die jetzt hier in München an den Tischen säßen, säßen hier, weil er sich eingesetzt habe, Falk-Kanada aus der deutschen Insolvenz herauszumanövrieren. Und er kenne sich drüben aus. Wenn er sage, Verkauf sei jetzt angesagt, weil die Immobilie ihren höchsten Punkt erreicht habe und Blackstone nur jetzt biete, aber übermorgen vielleicht schon nicht mehr, dann möge man ihm, bitte, glauben, daß, was er sage, von nichts als von Sachkenntnis und einschlägiger Erfahrung motiviert sei.Auch anhaltender Beifall.
Noch einmal einer der zwei Herren von Downing Street, die beide so unerregt sprachen, als dächten sie beim Sprechen an etwas anderes. Das wirkte wie die reine, interesselose Sachlichkeit. Downing Street kann zwar jetzt seinen Fünfzig-Prozent-Anteil noch nicht verkaufen, aber, nach dem Co-Ownership Agreement, ab Dezember schon. Dann ist die Firma noch halb so groß, halb so potent, halb so sicher. Und warum sagt er das? We created value, we love our assets. Der return von 8,5 Prozent ist ein Signal. Wir überhören es nicht.
Der anhaltendste Beifall
Zum Schluß die formlose, nur der Information dienende Abstimmung. Dem Verkauf der Toronto-Immobilie zum Preis von 24,5 Millionen Kanada-Dollars stimmte eine überwältigende Mehrheit zu.
Karl von Kahn hatte rechtzeitig bemerkt, daß die Stimmung für Verkauf sich durchsetzte. Alle Kordanzüge, Lederwesten, Rucksackträger, die langhaarigen und die kurzgeschorenen Grauköpfe waren für den Verkauf, um ihren Anteil zurückzubekommen, plus 4,25 Prozent, eine Halbjahresausschüttung.
Im Hinausgehen sagte Graf Josef, das sei eine spannende Diskussion gewesen. Wie sie ausgegangen sei, habe er nicht ganz verstanden. Plötzlich habe er an seine Mutter denken müssen, die sei gerade gestürzt, Oberschenkelhalsbruch, und bei der Operation hätten sie ihr gleich auch noch eine neue Hüfte hineinmontiert, seine Mutter sei unbelehrbar, im Supermarkt, bücke sich nach einem Putzmittel und stürze, dabei sage er ihr doch bei jedem der täglichen Telefongespräche …
Karl merkte, daß Graf Josef wieder in seine Rapmodulation hineingeglitten war. Er ging neben ihm her, sah in der Halle noch die zwei Herren aus Toronto ihre edlen Aktenköfferchen zum Aufzug tragen. Was dem Priester die Monstranz, muß ihnen ihr sanft glänzendes Köfferchen sein. Wahrscheinlich fliegen sie jetzt gleich zurück nach Toronto. Er hätte gern mit diesen beiden den Abend verbracht. Mr. Tony Alberberga und Mr. Dan Ondorico. Und sie sahen genauso aus, wie sie hießen. Und sie gingen genauso, wie sie aussahen und wie sie hießen. Der Aufzug öffnete sich sofort für sie, weg waren sie. Der Falk-Manager aus Toronto hieß Borger. Für einen Anlage-Manager nicht schlecht, dachte Karl.
Er mußte neben Graf Josef die Bayerstraße überqueren, mit dem weiterrappenden Graf Josef bis zum Haupteingang des Bahnhofs gehen, dann versuchen, Graf Josef ohne weiteres loszuwerden. Ziemlich rücksichtslos sagte er in den rappenden Sprachstrom hinein: Bitte Herrn Loibl melden, das Geld ist gerettet, und für dieses Jahr gibt’s, weil die Firma nur ein halbes Jahr existiert, die Hälfte der Jahresrendite von 8,5 Prozent. Plus einen Kursgewinn. Der kanadische Dollar sei, seit Loibl investiert habe, um zehn Prozent gestiegen. Er werde, sagte Karl von Kahn, einen schriftlichen Bericht hinausschicken.
Das freut uns, sagte Graf Josef und stand Karl noch zugewandt, als der sich schon wegdrehte.
Frau Lenneweit hatte natürlich gewartet. Er warf ihr das vor. Sie wand sich zierlich unter seinen Vorwürfen. Eigentlich wand sie sich wie unter der Dusche. Er mußte sie heimschicken. Sie sagte, daß sie ihm noch etwas sagen müsse, was sie nur sagen könne, wenn die anderen nicht da seien.
Ja, sagte er so streng wie möglich.
Dr. Dirk will gehen, sagte sie.
Karl von Kahn war so überrascht, daß er nichts sagen konnte.
Sie erfahre immer mehr, als sie erfahren wolle, sagte sie. Sie habe es zu ihrem Prinzip gemacht, von allem, was sie, ohne es zu wollen, erfahre, nur den Gebrauch zu machen, der der Firma nütze. Erfahre sie etwas, was der Firma unnütz sei, behalte sie es für sich.
Donnerwetter, sagte Karl jetzt.
Sie glaube, sagte sie, daß Herrn von Kahn im Trubel der Ereignisse zwei Meldungen entgangen seien. Eine Ölbohrung an der Nordseeküste und vor allem Cars, der nächste Pixar-Film. Sie habe ihm das Material auf den Schreibtisch gelegt. Da Pixar ab 2007 allein Herr im Haus ist, also nicht mehr mit Disney teilen muß, wird Pixar ein steiler Wert. Und im Jahr vor einem neuen Pixar-Film ist die Aktie jedesmal halbwegs erschwinglich. Das war bei den Unglaublichen so und war bei Findet Nemo so. Pixar ist Zukunft. Filme komplett vom Computer. Cars soll 700 Millionen Dollar bringen, davon 225 Millionen für Pixar, die Aktie ist im Augenblick noch unterm Jahreshoch. Sie werde alles, was sie habe, auf Pixar umdirigieren. Bocca di Leone in Ehren, aber irgendwann sei eben auch im Film die Postkutschenzeit zu Ende.
Karl von Kahn suchte nach einer Ausflucht und sagte: Apropos Postkutschenzeit. Sein Großvater in Potsdam habe seiner Schwester im Jahr 1892 nach Stuttgart geschrieben, wenn der Pferdedroschkenverkehr in den Städten weiterhin so zunehme, seien die Städte wegen dieses Pferdedroschkenlärms bald nicht mehr bewohnbar.
Ein weiser Mann, sagte Frau Lenneweit.
Man hat ja dann, sagte Karl von Kahn, die Stärke der Motoren ganz schnell in Pferdestärken ausgedrückt.
Sie habe ihm eine Liste der Anleger hingelegt, die für Pixar in Frage kämen. Schade, daß Herr von Kahn gerade in diesem Augenblick in eine Studio-Produktion investiere. Zwei Millionen bei Pixar könnten in fünf Jahren vier Millionen sein. Oder mehr.
Zu spät, sagte Karl, versprochen ist versprochen.
Klar, sagte sie.
Karl sagte: Ich fürchte, wenn Sie die Firma endgültig übernehmen, werden hier keine Fehler mehr gemacht.
Einige, sagte sie, wirkten auf sie vermeidbar.
Der Abschied war wie immer herb. Frau Lenneweit wußte, daß er länger bleiben wollte als sie, um mit Joni zu telefonieren.
Bis morgen, sagte Karl.
Einen schönen Abend, sagte sie.
Karl fiel Diego ein. Der hatte, bis Gundi auftauchte, immer eine Sekretärin gehabt, die die Sekretärin schlechthin war. Gritt. Gundi hatte dann rasch dafür gesorgt, daß diese Allmitwisserin verschwand. Diego war ebenso traurig wie erlöst. Zu Karl hatte er, als sie einmal in einem Aufzug zwanzig Stockwerke hinauffuhren, gesagt, er sei mit Gritt in diesem Aufzug gestanden, beide Aug in Auge und beide gleichermaßen angetan vom schönen Erhobenwerden, da habe er zu Gritt gesagt: Gritt, wir müssen jetzt endlich einmal miteinander schlafen. Da habe sie gesagt: Sie wollen es hinter sich bringen. Und er: Ja. Darauf sie: Ich nicht. Also sei das unterblieben. Und das sei ein nicht mehr gutzumachender Fehler gewesen.
Karl von Kahn hatte keine Kraft, keine Lust mehr durchzuarbeiten, was ihm Frau Lenneweit hingelegt hatte. Sie würde ihn morgen fragen, wie eine Lehrerin den Schüler nach den Hausaufgaben fragt.
Er hatte Helen schon am Morgen gesagt, daß er heute mit Rudi-Rudij verabredet sei. Rudi-Rudij sei, laut Theodor Strabanzer, genial. Nachkomme eines illegitimen Zarensprößlings, deshalb von Strabanzer Zarensohn genannt. Helen hatte nur den Kopf geschüttelt. Also, rechne nicht zu früh mit mir, hatte er gesagt. Ich rechne überhaupt nicht mit dir, sagte sie. Das ist wunderbar, sagte er. Wie du meinst, sagte sie. Ihr Ton hatte deutlich genug gesagt, daß das Gespräch nicht zu Ende war. Er hatte gesagt: Frau Lenneweit. Das war die Formel, wenn er Frühstücksgespräche beenden mußte oder wollte.
Karl rief Joni an. Der Teilnehmer ist momentan nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal. Wie hätte Richard Wagner seine Nornen komponiert, wenn ihm in schicksalshaften Stunden solche Auskünfte erteilt worden wären?
Er schrieb noch schnell von Hand an Frau Carla Lenneweit, im Hause. Daß sie auch noch Carla heißen mußte. Bei einer heiter gewordenen Weihnachtsfeier hatte sie zu ihm gesagt, sie finde, ein — C- könnte seinen Vornamen feiner machen.
Liebe Frau Lenneweit, schrieb er, noch bewegt von Ihrer Mitteilung, auch von der Art, wie Sie sie vorbrachten und natürlich auch von Ihrer dadurch zum Ausdruck kommenden Einstellung zu unserem Geschäft, muß ich jetzt doch schnell und sozusagen der Ordnung halber anmerken, daß ich den Inhalt Ihrer Mitteilung privat zur Kenntnis genommen habe, aber im Alltag der Firma davon nichts wissen will. Was ich nicht auf dem dafür üblichen Weg erfahre, habe ich nicht erfahren. Daß ich Ihnen trotzdem dankbar bin, sollen Sie wissen. Es grüßt Sie herzlich, Ihr Karl von Kahn.
Rudi-Rudij trat pünktlich auf und war trotz allem, was über ihn gesagt worden war, eine Überraschung. Man kann eben keinen Menschen in eine Sprache fassen, die ihn so enthält, daß man, wenn man ihn persönlich sieht, nur noch nickt und sagt: Ja, genauso habe ich ihn mir vorgestellt.
Rudi-Rudij war außer dem, was Strabanzer und Joni gemeldet hatten, ein Kerlchen, ein Teufelchen, ein Tänzer mit einem schlingernden Knie. Er war beweglich wie Quecksilber, und das strengte ihn offenbar selber an. Er keuchte andauernd ein bißchen. Hatte den Mund nie ganz geschlossen. Das kann daran liegen, daß seine Oberlippe für die zu großen Zähne nicht ganz ausreichte. Aber das Wichtigste: Er sah aus wie die Shakespeare-Ikone. Blank wölbte sich der Schädel, von dem die schwarzen Haare bis auf die Jeans-Schultern fielen. Und dunkle Augenkugeln, die natürlich noch beweglicher waren als der ganze Rudi-Rudij. Das mit dem Knie merkte Karl erst, als sie miteinander ins Spaten-Bräu hinübergingen. Das linke Knie schlingerte bei jedem Schritt samt Bein und Fuß aus der Richtung, war aber dann für den fälligen Tritt schon wieder da. Ein Hinaus-aus-der-Gehrichtung und ein Gleich-wieder-zurück.
Karl hatte im ersten Stock einen Tisch in einer der kleinen Stuben bestellt. Da waren sie ungestört. Als er fragte, was Rudi-Rudij esse, sagte der fröhlich: Ich schließe mich Ihnen an.
Weißbier auch, fragte Karl.
Mit Vergnügen, sagte Rudi-Rudij.
Wenn er sprach, spielten seine Hände eine große Rolle. Als sie schon aßen, legte er oft Messer und Gabel kurz auf den Teller, um seine Hände, die Händchen waren, miteinander zu verknäulen und zu verhaken und wieder voneinander zu lösen und dann die zarten Finger jedes Händchens, wenn es gerade nötig war, zu spreizen.
Das war also der Mann — aber der war nichts so wenig wie ein Mann — , der mit in die Pyrenäen mußte, um die Fische zu töten, die Theodor Strabanzer gefangen hatte. Das Halbliterglas führte er beim Trinken mit beiden Händchen zum Mund. Und wie er sprach! Das war kein Dialekt, das war ganz allein seine Sprache, sein Klang. Vielleicht ein Familienerbstück. Einfach ein rundum angekratztes Hochdeutsch. Fast ein bißchen kabarettistisch.
Karl wußte noch nicht, worüber er mit dieser quirligen Shakespeare-Ikone sprechen sollte. Das Treffen war von Rudi-Rudij gewünscht worden.
Wir kommen gut voran, sagte der. Die Strabanzer-Ästhetik bewährt sich wieder einmal. Wir bleiben ganz nah beim Leben. Deshalb könne er fragen, ob die zwei Millionen jetzt abrufbar seien. Er möchte aber dazu bemerken, daß alles sofort als beendet angesehen werden könne, wenn Herr von Kahn jetzt anderen Sinnes sei und sich für Filmfinanzierung nicht mehr interessiere. Strabanzer und er seien nur arbeitsfähig, wenn sie mehrere Menschen ganz mit sich eins wüßten. Zuerst müßten Strabanzer und er eines Sinnes sein, dann allmählich alle, die zum jeweiligen Projekt gehörten. Er sei ganz sicher, daß nur aus der Einmütigkeit aller Beteiligten die Kraft kommen könne, die nötig sei, so ein Ausdruckswerk unwiderstehlich zu machen. Sie müssen uns nicht nur Geld geben, sagte er, sondern auch Ihre Seel. Immer nur auf Zeit. Da aber ganz.
Karl sagte, er sei gespannt.
Wir auch, sagte Rudi-Rudij.
Karl dachte an Joni.
Rudi-Rudij sagte: Ich find es richtig, daß Sie jetzt an Joni Jetter denken. Weil Karl nicht gleich reagieren konnte, sagte die Shakespeare-Ikone noch: Das kommt vom Gespinst. Netzwerk heißt’s heut. Sobald wir verbunden sind, strömen die Botschaften. Bloß nicht zu früh bremsen. Das Schönste in der Welt kommt nicht vor oder geht kaputt, weil zu früh gebremst wird. Stellen Sie sich vor, wie die Leut’ fahren müßten, fahren würden, fahren könnten, wenn’s keine Bremse nicht gäb. Ich bin ein Bremsfeind, müssen S’ wissen. Jetzt aber meine vampirige participation. Das Leben ist immer unübertrefflich. Aber als solches ist es nichts. Oder bloß das, was genossen oder erlitten wird und vergeht. Zu nichts und wieder nichts. Wenn man’s aber fassen kann, ohne es dadurch kaputtzumachen, dann ist das Leben die Kunst. Sind wir da eines Sinnes?
Karl sagte, auf jeden Fall fiele es ihm schwer zu widersprechen.
Und er: Sie machen mich glücklich, lieber Herr von Kahn, sehr glücklich. Ich skizzier Ihnen das Problem. Das Leben zieht, wenn es für die Kunst gebraucht wird, immer den kürzeren. Die Kunst macht, was ihr das Leben liefert, kaputt. Das ist die Verselbständigung der Kunst auf Kosten des Lebens. Das ist das Problem. Es ist wie beim Träumen. Die Menschen sind verführt, ihre Träume mißzuverstehen. Und die Künstler sind verführt, das Leben kaputtzumachen, wenn sie daraus Kunst machen. Theodor-Rodrigo Strabanzer und ich sind Jünger des Paradoxons. Wir können das Schnitzel essen und es doch noch haben. Wir machen aus dem Leben Kunst, und es lebt noch. Als Kunst. In der Kunst. Verstehen Sie. Schluß mit dem Schwindel, Kunst und Leben seien Gegensätze. Quatsch und Schwindel war’s. ’s Beste, was dem Leben passieren kann, ist, daß es Kunst wird. Oder noch eine Anwendung. Zwei Männer lieben die gleiche Frau, die Frau liebt beide gleich, was soll passieren?
Das, sagte Karl in einem Ton, der zeigen sollte, daß er da mitreden könne, das muß die Frau entscheiden.
Überaus verständlich, wie Sie reden, rief der Quirlige. Meine Urgroßmutter war bis zur Revolution Primaballerina in Petersburg. Meine Großmutter hat gesagt, ihre Mutter hätte kein Bein bewegen können, wenn sie gewußt hätte, was sie tut. Der Kopf hat kein Privileg. In der Kunst schon gar nicht.
Also, wie wird das entschieden, sagte Karl von Kahn, zwei Männer, eine Frau.
Wir müssen sehen, wie das ausgeht, sagte Rudi-Rudij. Es ist ein Experiment. Mein Gefühl sagt mir, das Gefühl machen lassen. Das Gefühl will nichts entscheiden. Das Gefühl ist eine Rose, die ihre Blätter nicht zählen läßt. Das Leben ist gegen Entweder-Oder. Die Kunst muß das respektieren. Sie muß dem Leben folgen, so folgen, daß das Leben es aushält. Das Leben kann nur dann in Kunst übergehen, wenn es zu nichts gezwungen wird. Die Kunst ist eine Liebeserklärung an das Leben. So wird das Leben betört. So wird es Kunst.
Zum Wohl, sagte Karl von Kahn.
Sie tranken aus, Karl zahlte, sie gingen zum Taxistand hinüber.
Als sie sich mit Händedruck verabschiedeten, sagte Rudi-Rudij: Grüßen Sie Joni von ihrem Vampir. Zu diesem Satz schüttelte er kurz den Kopf und zog eine Grimasse. Das konnte nur heißen: Nehmen Sie mich nicht ernst. Seine Oberlippe war aber für seine Zähne wirklich zu klein. Das wiederum sah im Laternenlicht des Opern-Platzes filmmäßig aus. Ganz zuletzt hob er noch sein rechtes Händchen an die Schläfe und ließ es winken.
Karl konnte das nicht erwidern, aber er nickte, als wolle er sagen: Alles gut, alles wunderbar.
Rudi-Rudij fuhr vor ihm ab.
Diese Szene hätte, um Karl zu beeindrucken, nicht auch noch auf dem Opern-Platz stattfinden müssen. Über die breite Freitreppe strömten gerade die Leute herunter, die aus der Oper kamen. Das waren keine einzelnen mehr. Das war ein Wesen. Auch wenn es sich, unten angekommen, zerteilte. Es blieb ein weitläufiges, unzerstörbares Wesen. Das Opernwesen. Daß er sich von Helen hatte aus der Oper vertreiben lassen! Er mußte zurück in die Oper. Irdische Zusammenhänge, gesungen! Es gab doch keine andere Möglichkeit, Wirkliches zu ertragen, als gesungen, Orchester inklusive. Wie er jetzt jeden beneidete, der aus der Oper kam. Daß er das hatte geschehen lassen können, möchte er Helen gern übelnehmen. Mit Joni in die Oper, das wär’s. Das wäre die vollkommene Aufhebung.
Da spürte er eine Hand auf seiner Schulter und erschrak. Es war Rudi-Rudij. Der war also gar nicht weggefahren.
Mich freut’s, sagte er. In der Oper ist’s geglückt. Wir sind schon fast eines Sinnes. Ließ ein Händchen winken und schlingerte davon.
Karl von Kahn konnte jetzt nicht heimfahren. Er suchte rechts von der Maximilianstraße ein Lokal, vor dem man noch im Freien sitzen konnte. Er machte weiter mit Bier. Alle, die hier herumsaßen, die hier vorbeigingen, mehr schoben als gingen, sie waren zusammen genauso ein Wesen wie die, die aus der Oper herunterströmten. Er wollte überall dazugehören. Es gab hier noch genügend Krawattenträger. Und alle hier herum machten klar, daß es keine Wohnungen gibt, keine Schlafzimmer und so weiter. Da gehörte er dazu. Hätte er dazu gehört. Wenn. Wenn er nicht der Älteste gewesen wäre. Der einzige Alte überhaupt. Gut, das warf ihm hier keiner vor. Bis jetzt. Aber es war in jedem Augenblick möglich, daß einer, wie in der U-Bahn, sagte: Der alte Knacker … Was will denn der noch hier?
Man kann sich so setzen und so sitzen, daß respektiert wird: Der will für sich sein. Gerade nachts, gerade in solchen heißen Nächten. Aber er war ja nur hierhergekommen, weil er telefonieren mußte. Er hatte gemerkt, daß er zu Hause, auch wenn Helen weder stören noch lauschen würde, nicht frei sprechen konnte. Im Büro konnte er fast frei sprechen. Frau Lenneweit. Aber hier im Gewühl derer, die nicht ins Bett können, konnte er sprechen. So frei wie nirgends sonst. Und rief an. Besetzt. Es war nach elf. Duschen und Föhnen entfiel, also Schwester Angela. Oder Strabanzer. Oder? Sie war heute zurückgekommen. Wenn Strabanzer jetzt bei ihr wäre, würde sie nicht telefonieren. Sicher berichtete sie Strabanzer, daß es gutgelaufen ist, daß sie jetzt befreundet ist mit Laura Broch und Waltraud Walterspiel, Frau Walterspiel will sie und Laura Broch so schnell wie möglich wieder beschäftigen, vielleicht gelingt dem ätzenden Trio einmal der Einbruch ins Abendprogramm. Alles, was er ihr Nacht für Nacht abgerungen, abgezwungen hat, muß sie jetzt Strabanzer berichten. Klar. Und wenn sie nach zwölf auflegt und er ist nicht sofort da mit seinem Anruf, dann kann er, weil sie doch endlich wieder schlafen muß, nicht mehr anrufen. Also durfte er keine fünf Minuten ohne Anruf vergehen lassen. Besetzt, besetzt, besetzt. Da störte sein Anrufen nicht. Er legte beim ersten Besetztzeichen sofort auf.
Es hatte sich ein Mann an seinen Tisch gesetzt, hatte auch einen halben Liter bestellt. Er machte deutlich, daß er Karls Telefonversuche nicht wahrnehme. Der war mit nichts so sehr beschäftigt wie mit der Demonstration seines Nicht-auf-dieses-Telefonieren-Achtens. Der war wahrscheinlich betrunken. Bestellte gleich noch ein zweites Bier. Sein Hemd war offen bis zum Gürtel. Was man da sah, war eher schmächtig und weiß. Also daß er das sehen ließ, konnte nicht Absicht sein. Als Karl gerade wieder eine Anruf-Pause machte, kriegte der das sofort mit, drehte sich jetzt voll zu Karl hin und sagte: Ich bin ein Dichter, zweiundvierzig Jahre alt, dichte jeden Tag einen Satz, den ich dann abends hier verkaufe an Leute mit Sinn dafür. Sie wissen, der Thomas Mann hat davon gelebt, daß er keinen Tag hat vergehen lassen, ohne einen Satz zu schreiben. Darf ich Ihnen meine heutige Tagesproduktion anbieten?
Bitte, gern, sagte Karl.
Der Mann nahm einen Bierdeckel und schrieb mit einem nicht zu dicken Filzstift in violetter Farbe auf diesen Bierdeckel:
Armut ist eine Blume
Mit empfindlichen
Blättern.
Mögen Sie’s, fragte er.
Ja, sagte Karl, das ist ein schöner Satz.
Wenn Sie meine Zeche bezahlen, gehört er Ihnen, sagte der Mann.
Gern, sagte Karl.
Der Mann bestellte ein drittes Bier und sagte der Kellnerin, dieser Herr bezahle.
Karl bestätigte das und bestellte für sich auch noch eins. Dann fragte er den Mann, woher er komme.
Aus Duisburg, sagte der.
Das habe ich mir gedacht, sagte Karl.
Er trank sein zweites Bier nicht mehr ganz aus, zahlte, grüßte, wünschte alles Gute und ging.
Jetzt konnte er Joni nicht mehr anrufen. Das hatte der Dichter geschafft. Aber den Bierdeckel hatte er mitgenommen.
Zu Hause schlich er in sein Zimmer hinauf und lehnte den Bierdeckel so gegen das Körbchen mit den Kugelschreibern, daß er den Satz immer vor sich haben würde.
Armut ist eine Blume
Mit empfindlichen
Blättern.
Und dann ist der aus Duisburg. Karl kippte seinen Stuhl, sah zu den Astaugen hinauf, um zu sehen, wie die jetzt auf ihn herabschauten. Nicht nur skeptisch, fand er.
Er konnte jetzt nicht die siebzehn Stufen von seinem Stockwerk zum Schlafzimmerstockwerk hinuntergehen. Er mußte froh sein, daß er ohne zu überlegen an der Schlafzimmertür vorbeigegangen und die siebzehn Stufen hinaufgegangen war. Ob Helen schlief oder nicht schlief? Schreien täte gut. Bereite den Schrei vor. Denk so lange an den Schrei, bis er … Bereite den Verzicht vor. Als etwas Erlernbares. Dir wird, worauf du nicht verzichten lernst, ohnehin entrissen. Verzichten heißt so tun, als sei man einverstanden damit, daß einem etwas genommen wird, was einem auch genommen wird, ohne daß man einverstanden ist. Verzichten ist also nichts als Kulissenschieberei. Eine Kulturmache. Eine mehr. Schrei wenigstens. Visionen züchten bis zum Gehtnichtmehr. Sag: Ich bezahle in meiner Währung. Oder nicht. Bleib unbelehrbar. Wie viele Jonis gab es überhaupt? Es war unmöglich zu entscheiden, welche Joni die richtige-wichtige-entscheidende war. Ihr zuliebe willst du sein wie kein anderer. Aber ihretwegen bist du wie alle. Wissend, daß es keine Einzigartigkeit gibt. Es gibt Wörter, die gibt es, weil es, was sie sagen, nicht gibt. Durch deine Geschlechtshandlungen bist du das Massenhafte in Person. Wenn du durch etwas ein Massenmensch bist, dann dadurch, daß du Geschlechtsverkehr betreibst, als handle es sich um das Komponieren der Matthäus-Passion.
Er nahm sich vor, sich nicht an das zu halten, was er sich vorgenommen hatte. Legte sich auf sein Sofa, um zu überlegen, wie er die Nacht verbringen sollte. Und schlief ein. Und träumte. Träumte, er liege in einem Netz, im Gepäcknetz eines Zugwaggons, aber im Freien. Von unten kommen Hände, viele, sein Name wird gerufen, es geht gegen ihn. Die wollen nicht irgend jemanden, sondern nur ihn. Die Hände erreichen ihn, er kann sich nicht bewegen, gleich werden die Hände ihn haben, er versucht noch zu schreien, er erlebt, daß auch dazu die Kraft, die Luft nicht reicht, nur ein fast unhörbarer Ohnmachtsschrei gelingt noch. Den kriegt er, erwachend, mit. Die linke Seite sticht. Er hat keine Luft mehr. Er muß vorsichtig das Atmen anfangen. Das gelang. Er glaubte, er habe jetzt andere Träume verdient. Drehte sich um und schlief den freundlicheren Träumen entgegen.
Er ließ am Authariplatz halten. So gut wie nie fuhr er mit einem Taxi vor das Haus, in das er wollte, es sei denn, es war ein Krankenhaus. Joni hatte ihm das Haus genannt, die Lage beschrieben. Ein altgewordener Neubau, da, wo sich die Aretinstraße Grünes gönnt. Er hielt es für geboten, auch den zweiten Stock zu Fuß zu erreichen. Er ging langsam. Er wollte nicht schwitzend ankommen.
Affenschwül, sagte Joni.
Damit wollte sie vielleicht sagen: Besser keine Berührung.
Sie sorgte dafür, daß er in einem der kleinen hellgrünen Ledersessel landete. An dem eckigen und nach allen Seiten eckig verlängerbaren Tischchen sollte Kaffee getrunken werden. Zuerst mußte er die mit Frisbees gepflasterte Wand loben, das war klar. Wer eine Wand so auffällig macht, will Reaktion. Sie erklärte ihm, daß es sich um Kunstwerke handle. Und sofort spürte er einen erklärungsfeindlichen Respekt vor den bunten Dingern. Die Kulturfraktion weiß immer etwas, was du nicht wissen kannst. An einer Wand präsentierte sich ein zartes, von Farben befreites, rührendes Bauernbuffet, dessen Fensterchen mit durchbrochenen Vorhängen bespannt waren. Der Rest waren ein zimmerbreites Fenster zum Balkon und eine Wand, bewaffnet mit Regalen und Apparaten, die jetzt nötig sind. Aus der Regalwand herausgeklappt eine Art Schreibtisch. Und auf dem Boden ein Teppich. Türkisch vielleicht. Joni saß direkt vor ihm, auf einem fahlen Wulst von Schemel. Und hatte praktisch nichts an. Sie hätte so sofort mit ihm in die Stadt gehen können. Oben ärmellos, dann ihr Jeans-Mini, dann nichts mehr. In der U-Bahn wäre das die richtige Kleidung am schwülsten Tag des Jahres. Anders in einem Zimmer, wenn die so Angezogene beziehungsweise Entblößte einem praktisch zwischen den Knien sitzt und heraufschaut und sich freut an deiner Verlegenheit.
Ich bin in einer Gefahr, sagte er.
Und sie: Zahlst du mit Karte oder zahlst du bar.
Und er: Ich lasse mich ablenken von mir.
Und sie: Ich hab heut Geburtstag, gratulier!
Er sprang auf. Ich wünsch dir, daß du alles wirst, was du bist, sagte er.
Das klingt wie Nietzsche persönlich, sagte sie.
Soll mir recht sein, sagte er und kniete neben sie und zog ihren Kopf zu sich und küßte sie sozusagen feierlich. Und setzte sich zurück in sein schlankes Sesselchen.
Sie sagte: Bei uns hat immer Papa für Reime gesorgt.
Er: Und wo hat er die geborgt?
Sie: Bei Kästner und Konsorten.
Er: Also bei solchen, die am Volksmund schnorrten.
Sie: Bravo, Schatz, das stimmt.
Er: Ja, ich weiß, mein Feuerchen glimmt.
Sie: Soll ich dir einen blasen.
Da stieg er aus, sprang er auf, sagte, ihre Sprache sei ihm hochwillkommen, aber er werde sie wahrscheinlich nicht mehr lernen.
Du hast schon ganz schön dazugelernt, sagte sie.
Er: Du bist mein Wortschatz.
Sie: Den sag ich Theodor weiter, das ist ein Kalauer aus reiner Seide.
Er zog sie hoch.
Ja, sagte sie, es gibt noch andere Räume.
Im Schlafzimmer hatte sie die Vorhänge zugezogen, das fand er so rücksichtsvoll, daß er sich stürmisch dafür bedankte. Er schälte sie aus den paar Sachen, die sie anhatte, brachte sie so im blumigen Bett unter, daß sie nicht zuschauen konnte, wie er sich auszog. Sie intonierte, er fiel ein, übernahm! Ohne Verabredung kamen sie gemeinsam weiter, zweistimmig, ein Text, schließlich streckte sie ihre Arme aus nach links und nach rechts, als werde sie gefoltert, nein, gekreuzigt, weit draußen die Hände verbogen wie die auf dem Grünewald-Bild. Sie erfrischten sich.
Dann stellte sich Joni so an das zimmerbreite Fenster, daß er spürte, er mußte sich neben sie stellen. Als er neben ihr stand, sagte sie: Was man am liebsten tut, verheimlichen, wie findest du das?
Weil sie so heftig fragte, wußte er, daß sie sich als Dichterin meinte. Also konnte er sagen: Du mußt dein Leben ändern.
Das sagt Rilke auch, sagte sie.
Dann muß es ja stimmen, sagte er.
Und sie: Sie behandle, was ihr Liebstes sei, wie eine unanständige Krankheit oder ein peinliches Laster. Und erst die Vorwürfe. Zu feige zu gestehen, was sie wirklich wolle. Alle Achtung vor Fürst Bertram. Egal, wen der abgeschleppt hatte, er fing immer von seinen sieben Serien an. Und sie? Außer Karl wisse kein Mensch in der Welt, daß sie eine Lyrikerin sein möchte. Gedichte sind das Schönste, was es gibt.
Karl sagte, er habe bis jetzt geglaubt, das Schönste sei der anatocismo. Also, warum sind Gedichte das Schönste?
Sie sind die Sprache selbst. In jedem. Jeder hat sie. Nicht jeder bringt sie heraus. Sie wachsen in einem, ohne daß man das merkt. Dann plötzlich kommen sie heraus. Von da an paßt man auf. Es wird eine Arbeit. Die schönste Arbeit überhaupt. Töne fangen, ohne sie zu verletzen.
Er sagte, ob sie’s glaube oder nicht, ganz anders sei es mit dem Zinseszins auch nicht. Er sei das Geld des Geldes, also die Sprache der Sprache, also ist der Zinseszins ein Gedicht.
Also, sagte sie, paß auf.
Mädchenpsalm. Frauenpsalm. Psalm.
Aus einer Entfernung ohnegleichen schrei ich.
Einsamkeit wanzt sich an.
Wie weit es von dir zu mir ist, sagst du mit Wörtern,
die nichts von mir wissen. Du mußt über Klingen springen,
wenn sie in der Hitze blitzen, du bist, wo du bist, daheim,
deine Muskeln gehorchen dem Reim.
Tanz mit mir hinaus aus jedem Fest,
tanz mit mir in den Schmutz meiner Sprache.
Laß die Masse der Märtyrer glotzen,
laß Koloraturen das Spinnweb küssen, das Spiel ist vorbei,
wir träumen die Regeln und pfeifen auf unseren Untergang.
Unser Gefängnis hat tausend Türen,
die zu tausend Gefängnissen führen.
Im Traum reißt die Maschine mir den Kopf ab,
mit offenen Augen und singend schaukelt er
flußabwärts zum Meer. Und sieht zurück.
Zum Glück ist die Erde leer.
Als sie aufgehört hatte, sank ihr Kopf an ihn hin, dann sagte sie: Darf ich unbelehrbar sein?
Er sagte: Du mußt. Und wußte nicht, warum er das sagte. Ein längeres Schweigen. Er konnte nichts sagen. Aber so, wie sie sich an ihn lehnte, mußte ihr das Schweigen recht sein. Viel später fragte er: Bleibt es bei Haidhausen?
Aber gegessen wird hier, sagte sie.
Ich bin gespannt, sagte er.
Sie müßten dafür noch etwas einkaufen, sagte sie.
In Haidhausen, sagte er.
Sie sei dankbar für Vorschläge, sagte sie.
Er, entwerferisch: Broccoli mit Karottenwürfeln, gerösteten Pinienkernen, durchwirkt von Zitronensaft, dazu italienische Nudeln, frische Salbeiblätter und ebenso frische Kapuzinerkresseblüten, dazu Kurkuma.
Klingt idyllisch, sagte sie. Aber ob sie das hinkriege.
Er assistiere, sagte er. Übrigens, seine Beteiligung am Othello-Projekt sei überwiesen.
Das wird Rudi-Rudij freuen, sagte sie.
Der habe ihn beeindruckt, sagte Karl.
Du ihn auch, sagte sie.
Sie trug dann für den Ausflug nach Haidhausen hinüber tatsächlich nichts anderes als die Kleinigkeiten, in denen sie ihn empfangen hatte. Am Max-Weber-Platz ließ er halten. Joni sollte die Steinstraße erleben, bevor sie vor Ereweins Schaufenster ankamen. Er erzählte von Erewein auf eine Art, daß sie es nicht ablehnen konnte zuzuhören. Er erpreßte sie durch eine Art unwillkürlicher Teilnahme-Begeisterung, die ihn ergriff bei der Wiedergabe dessen, was Erewein passiert war. In welchem Zustand sie jetzt Ereweins Atelier-Fenster antreffen würden, wisse er nicht.
Dann staunte er. Das Schaufenster war jetzt ein Hutgeschäft und propagierte einen einzigen Hut, der Dennoch-Hut hieß und in vielen Formen und Farben ausgestellt war. Drei Basismodelle und ein Dutzend Variationen, Karl hatte zum Weitergehen gedrängt, als er das Basismodell Márfa entdeckt hatte. Alle Kopfbedeckungen waren aus Naturfasern, gedacht für Frauen, die durch Chemotherapie vorübergehend oder für immer ihre Haare verloren hatten. Das Wort Chemotherapie kam nicht vor. Es hieß, der Dennoch-Hut behüte, beschütze und belebe jede Frau in schwierigen Zeiten. Produziert und verkauft von Lieselotte von Kahn. Aus einem Mitnehmkästchen vor dem Schaufenster hatte Karl ein Faltblatt mitgenommen. Er las Joni vor, daß seine Schwägerin Lieselotte von Kahn zu einer sowohl kunstgeschichtlichen wie religiösen Wallfahrt ins Kloster Zwiefalten einlade, zu heilspendenden Reliquien: ein Gürtel Leos IX., Erde vom Grab der Märtyrer Marcellinus und Petrus und eine Hand des heiligen Stephanus. Die Hand des heiligen Stephanus, Joni. Und erzählte ihr, was Erewein erlebt hatte mit einer Hand.
Da fahren wir hin, sagte Joni.
Karl nahm sich vor, Frau Lotte zu besuchen. Hast du die Orgelmusik gehört, fragte er.
Ja, hatte sie.
Das sei die Schwägerin.
Er mußte abbiegen, zurück, zum Englischen Garten, er wollte Joni wenigstens die Gegend zeigen, in der er wohnte.
Joni sagte, sie müßten schneller gehen. Das sehe doch sehr nach Gewitter aus.
Jetzt sah er es auch. Gelbschwarz der Himmel.
Als sie warteten, bis sie die Prinzregentenstraße überqueren konnten, kriegten sie die ersten Windstöße mit. Kein Mensch ging mehr ruhig seines Weges. Die rannten alle. Und in alle Richtungen. Die Windstöße nahmen zu, wurden zu Windwirbeln, die Papiere, sogar leere Dosen in die Luft warfen, dann schon die erste Ladung Regen. Also wieder zurück. Einfach irgendwo unter ein Dach. Das war in einer Seitenstraße eher zu finden als in der Prinzregentenstraße. Karl rannte los, Joni an der Hand. Er mußte beweisen, daß er rennen konnte. Bergauf beschleunigen. Joni stieß eine Art Schrei aus. Ein Jauchzen. Einen Wildlaut. Karl reagierte mit derselben Art Laut. Bei ihm fiel der simpler aus. Beim Rennen kontrollierte Karl alle Haustüren, ob irgendwo ein Vordach Schutz bieten könnte. Es regnete jetzt nicht nur, das war ein Wolkenbruch. Und eine Haustür nach der anderen ohne auch nur die Andeutung eines Vordachs. Was waren das für Häuser! Dann war das gleich nicht mehr nur Regen, sondern Hagel. Ein weißer Hagelvorhang rasselte herunter. Weiter als zwei, drei Meter sah man nicht mehr. Er hatte sofort seine Jacke heruntergerissen und sie über Joni gebreitet. Und war weitergerannt. Möglichst dicht an den Hauswänden entlang. Plötzlich machte Joni halt vor einer Tür, zu der eine einzige Stufe führte. Er las Polizei. Die Tür ging auf. Im Hausgang eine Treppe. Joni setzte ihn auf die Treppe. Er schnappte nach Luft. In den Armen, bis in die Finger zog ein Schmerz. Er atmete, aber es nützte nichts. Er hatte das Gefühl, er kriege keine Luft. Und nach Luft zu schnappen hatte er keine Kraft mehr. Joni kam mit einem jungen Mann in Polizeiuniform zurück. Der brachte eine Decke, die wurde untergeschoben. Karl verstand, der Notarztwagen sei unterwegs. Atmen konnte er wieder, aber jeder Atemzug produzierte links einen scharfen Stich. Er mußte flacher atmen. Am besten gar nicht mehr. Er sah zu Joni auf, die sich mit dem jungen Polizeimann herabbeugte und fragte, wie es gehe, der Notarzt könne in jeder Sekunde eintreffen. Der traf ein, ein richtiger Trupp. Der Notarzt war eine Ärztin, noch lange nicht dreißig. Ihre dunkle, aber kein bißchen schwarze Haarpracht hatte sie eng um ihr Gesicht organisiert. Und was für ein Gesicht. Wangen, so braun wie rosa. Lippen und Zähne und Augen und Nase, alles eine reklamehafte Übertreibung des weiblich Umfangenden. Einer hatte schon Karls Blutdruck und Puls gemessen und rief ihr zu: Einhundertneunzig-einhundertzehn-achtundsechzig. Ein anderer hatte Karl an einer Leitung zwei Röhrchen in die Nase gesteckt und dazu gesagt: Sauerstoff. Wieder ein anderer reichte ein rotes Fläschchen und sagte: Zweimal. Nitrospray. Zwei dieser sympathischen Buben hoben ihn auf eine Liege, die Liege auf ein Gefährt, das Gefährt wurde auf einer heruntergelassenen Brücke in den Notarztwagen geschoben. Er genierte sich für seine Hosenträger und für die Leitungen in seiner Nase. Er kriegte mit, daß es im Notarztwagen nur einen Sitzplatz gebe, nämlich für die Ärztin. Die junge Dame, hörte er eine ungeheuer männliche Stimme sagen, fährt mit mir. Ins Krankenhaus Bogenhausen, hieß es. Ob er noch Schmerzen habe, fragte die Ärztin.
Nachlassend, sagte er.
Sie frage nur, damit die bei der Aufnahme dann nicht sagten, sie habe ihn leiden lassen.
Im Krankenhaus wurde ein gründliches EKG geschrieben. Er hatte nicht wahrgenommen, daß die auf der Polizeitreppe auch schon eins geschrieben hatten. Und Blutabnahme und noch einmal Druck und Puls und die Sauerstoffversorgung des Blutes. Sechs Stunden später müßten sie diese Tests noch einmal machen, um ganz auf der sicheren Seite zu sein.
Als der Doktor kam und die Werte eintrafen und das neue EKG gelesen worden war, sagte Karl, daß er jetzt gehen könne und gehen wolle. Der Doktor war voller Verständnis. Karl mußte nur unterschreiben, daß er sein Gehen selber verantworte.
Im Warteraum saß, unter Angehörigen schwererer Fälle, Joni. Sprang auf, als sie ihn sah. Und hielt ihm seine Jacke entgegen. Wahrscheinlich genierte auch sie sich für seine Hosenträger. Die Jacke war naß. Karl bestellte ein Taxi. Draußen der Sommerabend über der frisch geduschten Stadt.
Joni sagte: Mensch, du.
Karl sagte: Entschuldige.
Joni sagte: Red kein’ Mist, Mensch.
Du hättest keinen Notarzt rufen dürfen, sagte Karl.
Das habe der Polizist getan, als sie bat, ein Taxi rufen zu dürfen, weil es ihrem Mann nicht gutgehe.
Hast du gesagt meinem Mann, fragte Karl.
Hab ich, sagte sie.
Zum Taxifahrer sagte Karl: Königshof, bitte. Und auf Jonis Blick: Das müssen wir feiern. Ja! Daß du gesagt hast meinem Mann.
Nicht erwähnen konnte er jetzt, wie oft er in den letzten drei Stunden gehört hatte: Die junge Dame. Und: Ihre Begleitung. Keiner hatte gesagt: Ihre Frau. Das war die Erfahrung dieses Tages. Die Lehre. Das war eine Volksabstimmung. Ergebnis: Die junge Dame, Ihre Begleitung.
Joni sagte: Der Wettersturz.
Karl nickte.
Der Taxifahrer sagte, in der Innenstadt habe es nicht gehagelt.
Er rief Helen an, um zu sagen, sie solle nicht warten auf ihn.
Wie immer, sagte sie.
Hat es dort gehagelt, fragte er.
Gehagelt, wo, sagte sie.
In der Straße, sagte er.
Hast du getrunken, sagte sie.
Ja, sagte er.
Bis nachher, sagte sie.
Der Ober führte Joni und ihn genau zu dem runden Tisch, an dem er mit Diego und Gundi gesessen hatte, als Diego ihn Gundi vorstellen wollte. Joni bestellte Hausgebeizten Lachs, Fasan mit Trüffeln und Polenta. Danach etwas mit Mango-Creme. Karl, Tafelspitz.
Joni sagte: Schau, wer da drüben sitzt, nicht hinschauen, nur hinschielen.
Karl tat’s. Erkannte niemanden.
Der Beckmann, sagte sie.
Karl tat, als wisse er, wer das sei. Er hatte keinen Appetit. Nur Durst.
Joni bedauerte, daß sie jetzt nicht Broccoli mit gerösteten Pinienkernen und Karottenwürfeln, durchwirkt von Zitronensaft, und Nudeln mit Kurkuma, Salbeiblättern und Kapuzinerkresseblüten aßen.
Karl nickte. Zum ersten Mal reagierte er auf Joni nicht wortreich. Nachher, drunten, sagte er: Gute Nacht, Joni.
Er ließ das Taxi zum Bogenhausener Krankenhaus fahren, meldete sich bei dem Arzt, bei dem er unterschrieben hatte, daß er nicht bleiben wolle, und sagte, er glaube jetzt, es sei besser zu bleiben.
Der Arzt sagte: Der Sieg der Vernunft.
Aber über was, sagte Karl.
Der Arzt: Über das Leben. Er glaube, sagte er, morgen sei eine Katheteruntersuchung angebracht, dann vielleicht übermorgen, wenn sich herausstelle, daß die Durchblutungsstörung an der linken Seitenwand anhalte, eine Dilatation. Ob Karl davon schon gehört habe.
Ja, ein kleiner Ballon wird hineingeschickt, daß er die Gefäße dehne, sagte Karl.
Richtig, sagte der Arzt. Und wenn sie wieder zusammenfallen wollen, schieben wir einen Stent hinein, der sorgt dafür, daß die Gefäße offenbleiben.
Karl hatte um ein Einbettzimmer gebeten. Das Zimmer war groß genug für zwei Betten, das zweite Bett schoben sie hinaus.
Er rief Joni an. Besetzt.
Er rief Helen an und sagte ihr auf die Box, daß er im Krankenhaus sei. Nur zur Sicherheit. Mehr zur Diagnose als zur Therapie.
Eine halbe Stunde später rief Helen zurück. Das habe ich kommen sehen, sagte sie.
Hellseherin, sagte er.
Du bist nicht mehr bei dir selbst, sagte sie.
Er sagte, er fühle sich jetzt so matt, er bitte, ihm jede Antwort zu erlassen. Zur Besorgnis gebe es keinen Grund. Bis morgen.
Joni war immer noch besetzt. Was ihn jetzt an Joni denken ließ, war immateriell. Er konnte es nicht anders benennen. Diego hätte es wahrscheinlich geistig genannt. Hatte er sie heute verloren? War das die Gelegenheit zu lernen, daß nichts möglich sei? Sollte er das in dieser Nacht lernen? Also die ganze Nacht das Handy kein einziges Mal mehr abhören. Wenn du das schaffst.
Um 1 Uhr 45 hörte er sein Handy ab. Joni hatte um 0 Uhr 45 draufgesprochen. Da waren gerade die Schwester und der Pfleger dagewesen, die das zweite EKG und die zweiten Puls- und Blutdruckwerte zu registrieren hatten.
Daß du keine Aussicht hast, weißt du. Die junge Dame. Ihre Begleitung. Du machst weiter, als hättest du eine Aussicht. Du drückst dich davor, die Aussichtslosigkeit bei dir selber durchzusetzen.
Um 0 Uhr 45 hatte sie gesagt: Gute Nacht, Schatz. Hier war heut die Kacke am Dampfen. Ich hoffe, du schläfst jetzt gut. Ich würde gern deinen Schlaf bewachen. Mein Bett riecht noch nach dir. Ich werde es nie mehr waschen lassen. Ich denke mit der Fotze an dich. Gute Nacht, Schatz.
Joni hatte Tränen in den Augen gehabt, als sie sich auf der Polizeitreppe über ihn gebeugt hatte.
Er merkte, daß der Druck sich in die Brustmitte verlagerte. Er durfte sich nicht bewegen. Er sollte an nichts denken. Schon Konzentration tat weh. Sich nicht wehren gegen dieses Zusammensinkenwollen. Ein gar nicht mehr aufhören könnendes Zusammensinken. Warum ließ der Druck in der Mitte nicht nach? Sollte er der Nachtschwester läuten? Er dachte: Ich gebe doch nach. Ich gebe doch nach. Und es nützt nichts. Ich hätte früher nachgeben sollen. Ohne Druck in der Brustmitte. Vorbeugend nachgeben, das wird verlangt, das hast du nicht gebracht.
Als es ihm trotz aller Entspannungsversuche nicht gelang, erfolgreich zu atmen, läutete er. Der Pfleger kam. Karl schilderte mit demonstrativ schwacher Stimme, daß er atme, aber das bringe nichts. Der Pfleger prüfte Puls und Blutdruck, dann ließ er Karl zwei Spraystöße Nitroglyzerin inhalieren. Das half. Karl schlief ein. Und träumte. Träumte, er habe gerade einen Brief geschrieben, an Joni, er will ihr den Brief geben, aber Joni ist unter Wasser, ihre Hand greift aus dem Wasser heraus nach dem Brief. In dem Brief steht, was sie wissen muß. Wenn sie den Brief liest, kommt sie zu ihm. Sie zieht den Brief hinunter ins Wasser. Aber unter Wasser kann sie doch nicht atmen, wie soll sie da seinen Brief lesen. Er weiß, daß er, solange sie nicht atmet, auch nicht atmen kann. Dann hat er keine Luft mehr und muß Joni an ihren Haaren aus dem Wasser ziehen. Sie wehrt sich, sträubt sich. Aber er würde ja ersticken, wenn er sie nicht aus dem Wasser zöge. Beim vergeblichen Ziehen und Reißen erwacht er. Ein elendes Erwachen. Keine Kraft mehr. Kein Atem mehr. Die linke Seite sticht. Er müßte vorsichtig zu atmen anfangen. Aber ihm fehlt zum Atmen der Mut. Er fühlt sich erledigt. Er nimmt von den Tabletten, die man ihm hingelegt hat. Er kann jetzt nicht schon wieder läuten. Es ist erst kurz vor drei. Er muß wach bleiben. Noch einmal einschlafen heißt, noch einmal das Ersticken träumen. Bleib bloß wach. Schau über die riesige Reisigebene hin. Aber dann dachte er doch rückfallhaft: Sehnsucht ist die einzige Empfindung, in der man sich nicht täuschen kann.
Helen war beim Kongreß für die Bedeutung der Träume bei der Paartherapie, also würde ihn niemand stören bei der Lektüre des Manuskripts Das Othello-Projekt. Ein Film-Entwurf von Rudi-Rudij. Er kippte seinen Stuhl und las.
I.
Patrick im Rollstuhl. Er schaut zum zimmerbreiten Fenster hinaus. Strabanzer und Rudi-Rudij werden vom Anwalt hereingeführt. Strabanzer deutet durch Gesten an, daß er allein zu Patrick hin will, die anderen sollen stehenbleiben.
Strabanzer, zärtlich, aber nicht sentimental, also glaubhaft: Patrick! Ich grüße dich.
Patrick: Muß das sein.
Der Anwalt: Die Herren haben sich nicht abhalten lassen.
Patrick: Ich habe einen Selbstmordversuch hinter mir.
Strabanzer: Patrick! Alter Freund.
Patrick: Ich habe drei Monate Klappsmühle hinter mir.
Strabanzer: Wir fangen einfach wieder von vorne an, du und ich …
Patrick, brüllt: Raus! Wozu bezahle ich einen Anwalt.
Strabanzer: Patrick, das glaube ich dir nicht. Tag und Nacht, zehn Jahre. Patrick …
Patrick, brüllt: Raus!
Der Anwalt drängt die Besucher hinaus.
Anwalt: Er hat die zwei Millionen nicht mehr. Er ist hereingelegt worden. In St. Tropez.
Strabanzer schafft es, am Anwalt vorbei noch einmal ins Zimmer zu kommen.
Strabanzer, dicht bei Patrick: Ich glaube an dich. Adieu.
Patrick weint, es ist ein jäher Weinausbruch. Strabanzer will stehenbleiben, aber der Anwalt, der der Figur nach auch ein Leibwächter sein könnte, läßt das nicht zu.
Im Auto, es ist ein alter Lancia. Strabanzer fährt. Sie reagieren auf Patrick.
Strabanzer: Tranfunzel.
Rudi-Rudij: Armleuchter.
Strabanzer: Schweinehund.
Rudi-Rudij: Dreckswichser.
Strabanzer: Keine Schmeicheleien.
Rudi-Rudij: Volldepp.
Strabanzer: Schon eher. Jetzt bleibt nur noch Stengl.
Rudi-Rudij: Exzellenz Stengl.
Strabanzer: Das Oberarschloch.
Rudi-Rudij: Eine Million.
Strabanzer: Zwei.
Im Bocca di Leone-Quartier am Frauenplatz 10. Ein langer Gang, an dem viele Zimmer liegen. Oft das Firmen-Wappen: Der Löwenzahn.
Strabanzer, am Telefon: Stengl! Alter Freund! Und Exzellenz! Verzeih, wenn ich dich wegen einer Bagatelle stör. Durch dümmliche Nachsichtigkeit, haarsträubende Gutmütigkeit und andere unverzeihliche Menschlichkeiten habe ich meinen Partner Patrick, du kennst ihn, dazu verführt, mich zu betrügen, hereinzulegen nach allen Regeln unserer Kunst. Und weil er ein Depp ist, hat er das Geld in Frankreich vertan. Ich steh da, kann nicht anfangen mit dem besten Film des neuen Jahrtausends, wegen lumpiger zwei Millionen. Und die werden sich so rentieren, daß ich nur einen hereinnehme, dem ein sattes Sümmchen zu gönnen ist. Also, bitte, empfiehl mir Würdige.
Strabanzer hört, was Stengl sagt.
Strabanzer: Ich hab’s gewußt, du, der Metternich des Finanzwesens, wirst es richten. An den unausbleiblichen Gewinnen dieses Films bist du mit zwei Prozent dabei. Genau. Du auch. Ich umarme dich. Servus.
Rudi-Rudij: Das reicht für heute.
Strabanzer: Sogar noch für morgen.
Rudi-Rudij: Jetzt brauchen wir nur noch einen Film.
Strabanzer: Immer noch ’nen Film und noch ’nen Film.
Rudi-Rudij: Die anderen tun so, als seien sie geil drauf, einen nach dem anderen zu drehen.
Strabanzer: Flaschen müssen filmen.
Rudi-Rudij: Wer bringt das Geld?
Strabanzer, hat es notiert: Karl von Kahn. Plus Nummer. Ruf an.
Rudi-Rudij: Du.
Strabanzer: Komm.
Sie knobeln. Strabanzer verliert.
Strabanzer: Das fängt gut an.
Rudi-Rudij: Als Verlierer bist du unschlagbar.
Strabanzer: Spiel mir Joni wird entdeckt vor, bitte!
Rudi-Rudij holt die Kassette, der kurze Film läuft.
II.
Es schneit in großen Flocken, die auf der Autoscheibe sofort vergehen und als Tränen verlaufen. Strabanzer kommt zu spät. Die Beerdigung ist schon im Gange. Er muß aber einen Platz haben, von dem aus er sieht, was passiert.
Der Pfarrer, liest gerade: Ich bin die Wahrheit und das Leben. Zum Vater kommt man nur durch mich. Amen.
Ein Freund: Liebe Ingrid, liebe Trauergemeinde. Bevor Benno sich erschossen hat, hat er aufgeschrieben: Und keine Reden am Sarg. Wir wissen, warum. Er war ein Feind der Phrase. Als Schauspieler genauso wie als Mensch. Wir respektieren seinen letzten Wunsch. Wir verharren in stummer Trauer. Musik.
Strabanzer hat die drei Witwen gesehen und in einigem Abstand die junge Frau, die deutlicher weint als die Witwen. Strabanzer drängt sich durch. Er kondoliert den Witwen. Und er ist nicht der einzige, der auch der jungen Frau kondoliert. Er gibt ihr die Hand.
Strabanzer: Kenn ich Sie?
Sie schüttelt den Kopf.
Strabanzer, mit einer Geste: Gehören Sie dazu?
Sie schüttelt den Kopf –
Strabanzer: Kommen Sie.
Er zieht sie mit sich hinaus zum Auto. Sie fahren, ohne zu sprechen, stadteinwärts. Daß sie nicht sprechen, wirkt pathetisch.
Im Café an der Leopoldstraße. Sie sind immer noch nicht im Gespräch.
Strabanzer: Sie sind Schauspielerin.
Joni: Schauspielschülerin.
Strabanzer: Wo?
Joni: Keller-Scheel.
Strabanzer: Klitsche.
Joni: Ja.
Sie sind wieder stumm.
Strabanzer: Haben Sie Benno Brauer gekannt?
Joni: Nein. Oliver Keller-Scheel hat gesagt, geh hin, da lernst du was.
Strabanzer: Auf Beerdigungen immer.
Pause.
Strabanzer: Benno hat in meinem ersten Film mitgespielt.
Joni: Sind Sie Regisseur?
Strabanzer: Ich habe alles probiert, um keine Filme drehen zu müssen. Holzspielzeug auf Bauernmärkten verkauft. Schließlich blieb nur noch Regisseur. Als niemand bemerkte, daß ich kein Regisseur bin, bin ich dabei geblieben. Zähneknirschend.
Sie sind wieder stumm. Aber er sieht, daß er den Ton getroffen hat, für den Joni empfänglich ist.
Strabanzer: Du hast toll geweint.
Joni: Ich weiß.
Strabanzer: Das freut mich.
Sie sind wieder stumm.
Joni: Die ist hübsch.
Strabanzer schaut fragend.
Joni: Die Fliege.
Strabanzer: Vorsicht, bitte. Das ist keine Fliege, sondern ein Schmetterling. Der Schmetterling der sexualreligiösen Gemeinschaft, deren Gründer und einziges Mitglied ich bin. Es handelt sich um den Einsamkeitsfalter der westlichen Welt.
Joni: Ich bin begeistert.
Strabanzer: Ich auch.
Strabanzer: Kennst du das Wort Literaturverfilmung?
Joni: Ja.
Strabanzer: Das Gegenteil ist Naturverfilmung. Ich werde deinen Mund verfilmen. Das ist eine Naturverfilmung. Einverstanden?
Joni: Klar.
Sie sind wieder auf der Leopoldstraße.
Strabanzer: Darf ich dich heimfahren?
Joni: Nein.
Sie gehen, ohne zu sprechen, bis zum Auto.
Joni: Ich habe noch eine Verabredung.
Strabanzer, schreit fast schmerzlich: Mit wem?
Joni, genauso: Mit dem Weltgeist.
Strabanzer: Gott sei Dank.
Strabanzer gibt ihr seine Karte.
Joni: Bocca di Leone.
Strabanzer: Zu deutsch Löwenzahn.
Joni: Du machst mich kühn.
Strabanzer: Das ist mein Job.
Joni: Ich verlasse die Konversation.
Strabanzer: Ich stelle die Sitzlehne senkrecht.
Joni: Meine Bescheidenheit ist eine Anmaßung.
Ich werde mich anpassen.
Ich werde nur willkommene Vorschläge machen. Ich werde allen Männern nach dem Mund reden.
Kein Mann wird von mir erfahren, was ich über ihn denke.
Wenn es mir gelingt, ein Rätsel zu werden, kann ich froh sein.
Ciao.
Sie geht.
Strabanzer: Grüß den Weltgeist von mir.
Sie bleibt stehen, nickt deutlich, dann geht sie.
III.
Strabanzer: Da machen wir weiter. Du schreibst ihr die Hauptrolle.
Rudi-Rudij: Wenn sie sie mir liefert.
Strabanzer: Sie wird. Zeig mir, bitte, noch schnell Strabanzer haut ab.
Rudi-Rudij legt die Kassette ein.
Rudi-Rudij: Diese Schwarzweiß-Masturbation mußt du allein anschauen. Ich habe zu arbeiten.
Strabanzer schaut sich sein Solo an. Den Text hat er selber gesprochen. Man sieht immer wieder, wie hingerissen er ist von dieser Solo-Nummer. Als Sprecher ist er hemmungslos pathetisch. Er kommentiert sich, als kommentiere er einen Weltstar, den er bei Höchstleistungen beobachtet und uneingeschränkt verehrt. Sein Pathos ist sich seiner selbst bewußt. Es ist also ein voll parodistisches Pathos. Aber kein denunziertes Pathos. Es genießt sich selbst. Es findet sich toll.
Strabanzer und Rudi-Rudij und Joni auf der Bühne eines Kinos. Vor der Leinwand. Auf der Leinwand steht in großer Schrift:
WER DIE LIEBE LIEBT
DEN WIRD DIE LIEBE LIEBEN.
Ein Film von Theodor Strabanzer.
Geschrieben von Rudi-Rudij.
Das Ende der Pressekonferenz. Strabanzer steht auf, nimmt Papiere an sich. Rudi-Rudij will nicht aufstehen. Offenbar beendet Strabanzer die Pressekonferenz überraschend schnell. Auch Joni schaut erstaunt.
Strabanzer: Sie sehen, meine Sympathisanten Joni Jetter und Rudi-Rudij wollen noch. Ich aber muß. Gehen. Hat mich gefreut, der Elite unserer Filmkritik ein paar Sätze zu sagen über mein geniales Machwerk WER DIE LIEBE LIEBT DEN WIRD DIE LIEBE LIEBEN. Auf Wiedersehen.
Strabanzer stopft die Papiere, die er an sich genommen hat, in eine Abfalltonne an der Leopoldstraße. Da sitzen Leute in Straßencafés und lesen die Zeitung. Strabanzer erlebt es als Schock. Er rennt. Immer wenn er wieder einen Zeitungsleser sieht, ändert er die Richtung. Jedesmal rennt er noch schneller. Und biegt ab, rennt in eine Seitenstraße hinein. Kein Café, keine Zeitungsleser. Er wird langsamer. Er ist entkommen. Man sieht jetzt, was er erzählt. Im großen Ton erzählt.
Strabanzer haut ab. Immer nach einem Film haut Strabanzer ab. Nach einem Film wäscht er sich kaum noch. Rasieren kommt nicht mehr in Frage. Bald kann er die Leopoldstraße rauf- und runterstolpern, auch alte Bekannte kennen ihn nicht mehr. Das ist Genuß pur. Dieses Verkommendürfen. Ohne Verneinung sein. Das heißt, Zeitungen meiden. Zeitungen, das ist der Erdteil der Verneinung. Strabanzer geht in allen Straßen auf alle zu, zwischen allen durch, jeden und jede schaut er so lange wie möglich an, er wartet darauf, daß sich etwas gegen die Angeschauten rühre. Nichts. Es ist eine Harmonie mit allen. Er hat gegen keine und keinen etwas. Und weil er für alle ist, sind alle für ihn. Es ist ein buntes Gewimmel, durch das Strabanzer geht. Wie durch den Wald geht er durch die Menschenmenge. Gleich hinterm Karlstor steht ein Mann vor einer bis zur Winzigkeit geschrumpften Frau. Die hockt auf der Brunnenfassung. Der Mann überlegt, was er tun könne für dieses geschrumpfte Wesen.
Sie ruft: Schaug, daß waida kimmst, Depp, greisliger.
Der Mann lächelt und geht glücklich weiter.
Ein Dritter, der die beiden beobachtet hat, offenbar ein Wiener, ruft der Geschrumpften zu: Hoid dia Babbn.
Alle sind miteinander verbunden. Keinem kann etwas passieren. Zwei Herren werden durch Entgegenkommende für zwei Sekunden getrennt, müssen ihr Gespräch lauter führen. Kriegszeiten, ruft der eine fröhlich dem anderen zu, sind immer schon Hoch-Zeiten für die Weizenbörse gewesen.
Im Hirschgarten setzt sich Strabanzer zu den anderen. Kriegt sein Bier und sagt: Zum Essen brauch i net vui, bloß zum Trinken.
Hier gibt es nur Sätze, denen man zustimmt.
Do hot mir mai Muatta scho den Rücken gestärkt, wenn mai Vota gschumpfn hot. Zua Suppn hob i Wassa drunkn. Zua Suppn Wassa, hot der Vota gschrien. Wos is nochher, hot dia Muatta g’sagt, des wird er scho brauchn.
Alle klopfen ihren Beifall auf die dicke hölzerne Tischplatte.
A sovui Hund wia hait hot’s no nia gem.
Das sagt eine. Alle klopfen ihre Zustimmung auf den Tisch.
Wann’s noch mir gengat, miaßt’s no vui mehr Hund gem.
Noch mehr Zustimmung.
Einer übernimmt: Mehr Hund ois Lait.
Geklopfter Beifall.
Ieberhaupt mehr Viacher ois Menschn.
Das ist der Höhepunkt. Die Zustimmung donnert auf den Tisch.
Seng ma uns am Hasenbergl, sagt einer und geht.
Bleibt’s mir troi, sagt Strabanzer zu seinen Trinkgenossen. Dann bleib i nämlich eich a troi. Ja, Freinderl und Freinderlinnen, glaabt’s es oder glaabt’s es net, i bin amoi Schultes gwen in ara Stodt.
Alle rufen bravo.
Drauf hom s’ mi g’schasst, weil i g’sogt hob, a jeda, wo ins Rathaus kimmt, muaß a Flascherl Bier mitbringa. Ohne Bier kimmt koaner net zu mir. Des war’s dann.
Alle klopfen den Beifall auf den Tisch. Plötzlich entdeckt Strabanzer, daß einer der Penner eine Zeitung liest. Er geht auf den zu, will dem die Zeitung aus den Händen schlagen, kann aber nicht. Er haut ab. Rennt wieder, bis er irgendwo ist, wo keiner Zeitung liest. Er setzt sich auf die Stufen eines Springbrunnens und hält seinen Hut hin. Fällt eine Münze hinein, nickt er und murmelt: Vergelt’s Gott, aber schaut nicht auf. Dann fällt statt einer Münze eine violette Fliege in den Hut. Strabanzer greift sich an den Hals. Er trägt immer noch eine Fliege, aber jetzt trägt er sie am bloßen Hals. Strabanzer schaut auf. Rudi-Rudij nimmt ihn an der Hand und führt ihn zum Liebfrauenplatz 10. Führt ihn nicht wie einen Gefangenen, sondern wie ein Kind oder wie einen sehr alten Mann.
Strabanzer wird gebadet, gewaschen, rasiert. Während Rudi-Rudij das macht, sagt er Koran-Suren und Bibelpsalmen auf. Er leiert bewußt Texte, die sich nicht auf die augenblickliche Lage beziehen lassen. Sie dienen dazu, Strabanzers Interesse zu wecken. Das gelingt. Strabanzer hört zu, als höre er einer Erzählung zu, die ihm endlich die Welt erklärt. Er ist begeistert und ruft manchmal seine Begeisterung in Rudi-Rudijs Vortrag hinein. Er hat einfach nicht gewußt, daß es Texte gibt, die so toll sind, ohne daß sie einen auch nur im geringsten etwas angehen oder einem etwas bedeuten. Er ist inzwischen wieder perfekt gekleidet. Rudi-Rudij führt ihn ganz vor ins Kaminzimmer. Im Kamin ist aus Zeitungen eine Pyramide errichtet. Rudi-Rudij setzt Strabanzer auf seinen Platz an, dann zündet er die Zeitungen an. Beide schauen zu.
War’s schlimm, fragt Strabanzer.
Rudi-Rudij: Wenn wir nicht wären wie alle, könnten wir einpacken.
Du bist ein bißchen weniger wie alle, sagt Strabanzer.
Und du erst, sagt Rudi-Rudij.
Und Strabanzer: Frag mich, wie’s bei mir war.
Rudi-Rudij: Wie war’s bei dir?
Strabanzer nickt. Er sieht, daß die Zeitungen verbrannt sind. Er reckt sich und streckt sich, er produziert sich neu. Und lächelt selig. Sein Bärtchen beginnt zu leuchten.
IV.
Joni tritt in verschiedenen Kostümierungen auf. Strabanzer will sie bürgerlicher. Nicht anständiger. Aber feiner. Nicht so direkt verrucht, sondern feinverrucht, edelverrucht, verlogen verrucht. Rudi-Rudij sagt nichts, er macht sich Notizen. Endlich, als Joni im fast goldfarbenen, rüschenbesetzten, asymmetrischen, weit ausgeschnittenen Edelfetzen kommt, ist Strabanzer zufrieden.
V.
Strabanzer kehrt zurück vom ersten Abend mit dem Finanzier. Er ist munter, fast verschmitzt und nicht so laut, wie er ist, wenn er mit Leuten draußen umgehen muß. Kaum sitzt er, kommt Rudi-Rudij.
Strabanzer: Das will ich doch hoffen.
Rudi-Rudij: Ich höre.
Strabanzer: Das Marne-Wunder, wie es im Buche steht.
Rudi-Rudij: Nix verstehn.
Strabanzer: Ach du lieber Zarensohn. 1914, Frankreich schon verloren, die Hunnen überrennen la douce France, da karren die Frenchies mit allen Taxen von tout Paris ihre Garçons hinaus und gebieten dem deutschen Überfall Halt. An der Marne. Es war ein Wunder.
Rudi-Rudij: Und?
Strabanzer: Die Hunnen waren nicht würdig, daß sie eindringen durften in die Vierge Française.
Rudi-Rudij, ungeduldig: Und!?
Strabanzer: Und wir kriegen zwei Millionen, wenn du dem Finanzbaron ein paar kitzlige Seiten vollschreibst mit was er für einen Film halten kann.
Rudi-Rudij: Betrug ist unproduktiv.
Strabanzer: Unterschätz mich nicht so, Herzchen. Ein paar Seiten voll des züngelndsten Inhalts. Das ist ja erst das Marne-Wunder. Dein Rodrigo erlebt dort sofort, auf den ersten Blick mit seinem zur Fixierung tendierenden Linksauge, wie der Finanzbaron Joni sieht, sie entdeckt und sich in einer Millionstelsekunde durch und durch klar wird über die grausame Konsequenz dieser Entdeckung. Er sieht, was ihm passiert, was ihm passieren wird, sein grandios grauenhaftes, unvermeidbares Schicksal sieht er und kann schon nichts mehr machen. Er ist verloren. Und weiß es.
Rudi-Rudij: Soll er mir leidtun?
Strabanzer: Privatisierst du jetzt oder was? Das ist der Film. Herzchen, das ist das Warne-Munder.
Rudi-Rudij: Marne-Wunder.
Strabanzer: Richtig. Und heißt: Othello-Projekt.
Rudi-Rudij: Othello mag ich.
Strabanzer: Durch deinen Rodrigo ging der Blitz so schnell und total hindurch und durch den Geldbaron auch. Im Nu ist die Idee, ist der Film da, ist das Projekt geboren und heißt: Das Othello-Projekt. Im Nu redet dein Rodrigo vom Othello-Projekt wie von einem reifen Plan, fehlt bloß noch ein Sümmchen. Und ich jammere natürlich, wie scheiße ich das finde, einen Fickfilm nach dem anderen, und schwärme vom Tabubruch-Film, dem Ohne-Fick-Film der Zukunft, aber zuerst Das Othello-Projekt, das sich seines Erfolgs nicht wird erwehren können. Und der Finanzmogul war von deinem Rodrigo angetan, von Joni erobert, eröffnet wurde ihm: Theodor Strabanzer filmt immer hart am Leben entlang.
Rudi-Rudij: O du mein Genie.
Strabanzer: Ich bin der Handwerker. Genie bist gefälligst du.
Rudi-Rudij: Ich schreibe mit. Alles.
Strabanzer: Er hat eine Bedingung gestellt. Sein Beruf darf nicht vorkommen. Rudi-Rudij: Kunsthändler.
Strabanzer: Statt Geldhändler! Genial!
Rudi-Rudij: Wenn mein Gehirn so feinfühlig wäre wie mein Schwanz, wär ich ein Genie.
Strabanzer: O Zarensohn! Joni hab ich auf dem Rückweg informiert. Sie nimmt sich den Geldfürsten zur Brust. Der Hauptrollenzwang macht sie unwiderstehlich.
Rudi-Rudij: Du setzt sie aufs Spiel.
Strabanzer: Mich, dich, sie. Alles, was ich nicht habe.
Rudi-Rudij, steht auf: Kommst du noch vorbei?
Strabanzer: Komm vorbei … doch … du.
Rudi-Rudij: Weiß ich, ob das Mäuschen zu Besuch ist?
Strabanzer: Zarensohn!
Rudi-Rudij: Sie spannt dich mir aus, das Luder.
Strabanzer: Wie macht sie das?
Rudi-Rudij: Sie hat etwas, das nichts ist. Die leere Stelle. In der sie dich unterbringt.
Strabanzer: Wenn es im Freien nicht mehr auszuhalten ist. Ich bin aber ununterbringbar.
Rudi-Rudij: Überlaß das Formulieren mir.
Strabanzer: Ich bin ein armer Hund. Und du nützt das aus.
Rudi-Rudij: Moment.
Er geht zu seiner Jacke am Kleiderständer, holt einen Bierdeckel heraus und legt ihn Strabanzer hin.
Rudi-Rudij: Das habe ich gestern nacht einem Pennerpoeten vor der Bar Central abgekauft.
Strabanzer, liest:
Armut ist eine Blume
Mit empfindlichen
Blättern.
Kauf ich dir ab.
Rudi-Rudij: Geschenkt.
Strabanzer: Das ist das Motto für das Othello-Projekt.
Rudi-Rudij küßt ihn leicht auf die Stirn.
Rudi-Rudij: Komm halt.
Strabanzer: Wenn ich schwul wäre, käm ich zu keinem lieber als zu dir.
Rudi-Rudij: Schwul ist man nicht, das wird man.
Strabanzer: Sobald ich’s bin, komm ich.
Rudi-Rudij: Wenn das Luder dich kassiert, bring ich sie um.
Strabanzer: Das kannst du mir überlassen.
Strabanzer sitzt und schaut den Bierdeckel an.
VI.
Die Kronprinzen-Suite in Herrsching, genau nachgebaut im Studio. Joni und Arthur Dreist, der den Kunsthändler darstellen wird, schon in hellgrünen Morgenmänteln. Strabanzer läßt das Studio-Personal wissen, daß er noch eine halbe Stunde mit den Schauspielern allein sein muß. Rudi-Rudij, der Mann für die Ausstattung, der Produktionsleiter und die Frau fürs Kostüm sitzen an einem Arbeitstisch. Strabanzer und die zwei Schauspieler sind in der Szene allein.
Strabanzer: Erste Frage: Wie stellt ihr euch den Beischlaf vor?
Arthur schaut Joni an.
Joni: Gar nicht.
Strabanzer: Findet nicht statt?
Joni: Laut Bocca di Leone-Ästhetik wird nichts vor der Kamera gemacht, was nicht wirklich gemacht wird. Nichts wird imitiert.
Strabanzer: Aber wenn ihr wirklich miteinander vor der Kamera schlafen würdet, das wäre keine Imitation.
Joni: Tun wir aber nicht.
Strabanzer: Arthur?
Arthur: Ja, was soll ich da sagen? In allen Filmen, in denen ich mitgemacht habe, hat man das irgendwie hingekriegt.
Strabanzer: Wie irgendwie?
Arthur: Daß es nachher aussah wie echt.
Strabanzer: Also imitiert?
Arthur: Gespielt. Dazu sind wir ja da.
Joni: Arthur, ich gebe dir heute abend Nachhilfeunterricht in Bocca di Leone-Ästhetik.
Arthur: Ich freue mich.
Strabanzer: Wir machen nichts nach. Das ist alles. Wenn ihr wirklich miteinander schlafen würdet, könnten wir das drehen.
Joni: Nein.
Arthur: Ich bin ihr zu alt. Klar.
Strabanzer: Du möchtest schon?
Arthur: Ich bin jetzt natürlich vorsichtig.
Joni: Arthur, ich habe dich in allen deinen Filmen bewundert …
Arthur: Ich werde dich in allen deinen Filmen bewundern, das weiß ich jetzt schon.
Strabanzer, klatscht in die Hände: Nicht schlecht.
VII.
Ina und Elmar in der nachgebauten Karl-Theodor-Stube im Kronprinz Ludwig. Auch Strabanzer sitzt am Tisch. Er ist der Zuschauer, der Beobachter dessen, was sich zwischen Ina und Elmar abspielt. Sie sehen sich zum ersten Mal. Auch an den anderen Tischen sitzen Gäste. Daß sich alles so ungeniert abspielt, wie es sich abspielt, zeigt die alle Umstände überwindende Schicksalhaftigkeit dessen, was sich da abspielt. Es steigert den Ausdruck, daß ihnen die anderen Gäste gleichgültig sind.
Elmar: Ich bin begeistert.
Ina: Schon.
Elmar: Ich sitze überhaupt nicht mit der Frau am Tisch, mit der ich aus irgendeiner Zweckmäßigkeit verabredet war. Ich habe keine Pläne mehr.
Ina: Was zu diesem Abend geführt hat …
Elmar: Ist vergessen. Anstand, Nichtanstand — weg.
Ina: Wir gehören keinem System mehr an.
Elmar: Hingerissen sein genügt.
Ina: Wenn das so weitergeht, kenn ich mich bald nicht mehr. So bin ich nämlich sonst nicht.
Elmar: Und ich erst! Als hochgetrimmtes Interessenbündel komm ich auf jedem Weg zum Ziel. Das hab ich doch nicht ahnen können, daß Sie diesen Oberpriester seines Ich-Altars von jedem Zwang erlösen.
Ina: Schön, wie Sie mich auffordern, mir zu mir selbst zu gratulieren. Geglückt zu sein ist das Höchste. Weil ich mir dessen durch Sie bewußt geworden bin, kann ich Sie nicht mehr entbehren. Sie müssen leider bei mir bleiben.
Elmar: Und Sie bei mir. Weil Sie aussehen, als habe ein Taifun Sie frisiert.
Ina: Sie sehen aus, als könnten Sie mit Ihren Blicken meine Zigarette anzünden.
Elmar: Sie sehen aus, als könnten Sie voraussagen, was ich heute nacht träume.
Ina lacht.
Elmar: Sie sehen mich an, als hielten Sie mich für den Weltmeister im Stabhochsprung.
Ina: Passen Sie auf, auf einmal bin ich Miss Grönland.
Elmar: Ich, Mister Klimax, bring Sie zum Schmelzen.
Ina: Wir werden in unseren Tränen ertrinken.
Elmar: Ich bin von allen Schwänen dein Schwan.
Ina: So fangen alle Tragödien an. Zum Wohl, Elmar.
Elmar: Ina, zum Wohl.
Sie trinken.
Strabanzer ist offenbar zufrieden mit dem Verlauf. Er nimmt eine Hand von Ina, eine von Elmar, wie der Pfarrer die Hände des Brautpaars nimmt.
Strabanzer: Am liebsten gleich noch mal.
Elmar: Ich bin begeistert.
Ina: Schon.
VIII.
Ina und Elmar wandern im Gebirge. Es geht auf den Wank. Elmar spricht und geht, als wolle er demonstrieren, daß er keine Atemprobleme hat. Ina in einer grünlichen Fallschirmjägerinnen-Kluft. Aufgenähte Taschen und Laschen überall. Elmar mit nicht so modischem Rucksack.
Elmar: Als ich sagte, ich will Kunsthändler werden, hat mein Vater gesagt, dann aber in einer Stadt, in der du Aussicht hast, der Erste am Platz zu sein. Ich habe gesagt: München, nur München, nichts als München. Und er: Du spinnst. Mein Vater wäre gern Kunsthändler geworden, hat dann ein Rahmengeschäft gehabt in Wutberlingen.
Elmar hält an, macht eine Pause. Schaut vor sich hin. Er denkt an seinen Vater.
Ina: Die Väter! Väter sind das Unglücklichste, was es gibt. Ich habe noch nie einen glücklichen Vater getroffen.
Elmar: Natürlich hast du. Ja!! Den Regieassistenten alias Barockengel, der immer nur vierzig Sekunden konnte und dich verführen wollte zu einem Ehedreier, der hat dir stolz sein zehn Monate Altes in den Arm gelegt. Daß du den Dreier abgelehnt hast, sagst du mir zuliebe. Seit ich weiß, daß du glaubst, du mußt mich schonen, bist du vollkommen unglaubwürdig.
Er geht noch schneller. Ina kann nicht mehr.
Ina: Ha-alt! Vor wem rennst du denn davon?
Elmar: Vor dir.
Er sieht sich um, ob man sich hier irgendwo hinlegen könnte.
Ina: Komm!
Und zieht ihn weiter.
Auf dem Gipfel. Vor einem pathetischen Panorama.
Ina: Wenn ich wüßte, warum du das alles wissen willst …
Elmar: Wissen mußt.
Ina: Noch schlimmer, wissen mußt. Wenn ich wüßte, warum, dann könnte ich es dir leichter sagen.
Elmar: Wenn ich wüßte, warum du es mir nicht einfach sagen kannst, könnte ich leichter darauf verzichten, es wissen zu müssen.
Ina: Und je mehr du erfährst, desto mehr willst du erfahren. Noch nie hat mich ein Mann so mit diesem Vergangenheitszeug gequält.
Elmar: Solange du mir verschweigst, was du mit dem und dem gehabt hast, das heißt: gesprochen hast, getan hast, solange hast du mit dem und dem etwas gemeinsam, wovon du mich ausschließt. Du begreifst immer noch nicht, daß ich dich ganz will oder gar nicht. Mir ist das auch neu. Die Männergeschichten der Frauen, mit denen ich zu tun hatte, waren mir gleichgültig. Wenn die Frauen davon anfingen, wie es mit dem und dem war, habe ich mich gelangweilt.
Ina: Und jetzt: Totalbesitz.
Elmar: Ja.
Ina: Zum Islam übertreten. Den Schleier nehmen.
Elmar: Das wär mein Ideal.
Ina, zeigt mit dem Finger auf sich selbst: Schauspielerin.
Ina zündet sich eine Zigarette an. Elmar streichelt sie. Sie begreift, daß er teilnimmt an ihrer Sucht.
Ina: Wenn du mir das Rauchen abgewöhnst, heirate ich dich.
Elmar: Und wenn wir verheiratet sind, fängst du wieder an.
Ina: Dann …
Sie schaut in die Weite.
Ina: Ich war noch nie auf einem Berg.
Sie macht die Zigarette aus.
Ina: Diese Berge … Deine Berge.
Elmar: Ich weiß von den Bergen weniger als sie von mir.
Sie küßt ihn noch schnell. Sie gehen abwärts. Leicht und flott, als wären sie übermütig.
IX.
Im Flugzeug einträchtig nebeneinander. Ina und Elmar. Als der Start sie in die Sitze drückt, beugt sich Ina herüber und flüstert ihm ins Ohr.
Ina: Wenn du in Berlin nicht sofort über mich herfällst, bin ich sauer.
Er macht ein Gesicht, als atme er einen köstlichen Duft, und drückt ihre Hand, bis sie einen Schmerzlaut ausstößt. Ihm fällt etwas ein.
Elmar: Moment.
Er bückt sich und holt aus seiner Tasche einen Brief. Eine Seite, in großer Schrift beschrieben.
Elmar: Da.
Er liest dann mit.
Ina, liest: Jetzt reicht es! Verschwinde! Das einzige, was Du noch tun kannst für mich: Verschwinden. Wenn Du am Samstag nicht verschwunden bist, fliegen Deine Sachen zum Fenster hinaus. Du bist ein Unmensch. Vielleicht krank. Unzurechnungsfähig. Auf jeden Fall ein Unmensch. Ich verachte mich, weil ich das nicht früher bemerkt habe. Schluß jetzt. Hau bloß ab. Sofort.
Marianne
Elmar: Mir tut sie leid.
Ina: Sie hat an deiner Unterhose gerochen. Das habe ich auch gemacht.
Elmar: Ich halte den Schmerz, den ich verursache, nicht aus.
Ina: Das versteh ich.
Elmar: Danke.
Der Kapitän meldet, daß jetzt der Sinkflug auf Berlin beginne, in 20 Minuten werde man in Tegel landen, das Wetter sei großartig, 22 Grad Celsius.
Sie genießen die Landung. Ina flüstert ihm ins Ohr.
Ina: Das ist das erste Mal, daß ich so nach Berlin komme, ohne Termin, keine Besprechung, kein Drehtag. Hoffentlich wird es mir nicht langweilig.
Elmar: Ich werde mich bemühen.
X.
In der Presidential Suite des Hotels Maritim proArte in der Friedrichstraße. Elmar ist dabei, eine seiner prächtigen Krawatten zu binden. Ina weiß noch nicht, welcher Rock heute der richtige wäre.
Ina: Wo ziehst du in München hin jetzt?
Elmar: In die Brienner Straße. Ich habe dort immer schon eine Bleibe gehabt.
Ina: Ich verstehe.
Elmar: Aber falsch.
Inas Handy läutet.
Ina: Ach du … ja … Moment …
Sie rennt mit dem Handy ins Bad. Elmar folgt sofort, versucht, den Kopf an der Tür, möglichst viel mitzukriegen.
Ina: … habe ich nicht … habe ich wirklich nicht … das kann ich, du weißt nicht, wie, weißt nicht, wie weit draußen wir wohnen. Zwei bis drei Nächte habe ich durchgearbeitet. Jahrelang … dir auch nicht mehr sagen … erst heute … Berlin ja … die Walterspiel nein … nein, natürlich nicht … Nervensäge … nein … übermorgen … ja … frühestens … aber ja … das weißt du doch … jetzt gleich … bitte, bitte … also … ja … natürlich … ich dich auch, ciao.
Elmar kommt nicht rechtzeitig weg von der Tür. Er lehnt an der Wand, da hängen zwei elegante Schirme, dazwischen lehnt er. Sie kommt heraus, schüttelt den Kopf.
Ina: Das gibt’s doch nicht. Genau wie du. Zwanzig Jahre jünger und dieselbe Tour.
Jetzt erst nimmt sie wahr, wie Elmar dasteht. Er greift sich schnell an die linke Seite. Stößt sich ab, rennt quer durch die Suite, durch Schlaf- und Wohnzimmer hinaus auf die Dachterrasse, die ist riesig. Er rennt vor bis ans Geländer, rennt, ohne in die Friedrichstraßenschlucht hinuntergeschaut zu haben, wieder zurück, nimmt auch da die Wahrzeichen von Berlin-Mitte nicht wahr, dreht wieder um und rennt und rennt. Man weiß nicht, rennt er, um Atem zu kriegen, oder rennt er einfach kopflos herum, auf jeden Fall ist das Panik. Ina rennt ihm nach, will ihn halten, sich ihm in den Weg stellen, er stößt sie zur Seite, einmal rennt er sie direkt um. Sie ist noch nicht angezogen. Er stößt Laute aus. Am ehesten ergibt, was er ausstößt, immer wieder Nei-nnn, nei-nnn … Ina stellt sich vor das Geländer, daß er sich nicht hinunterstürze. Das ist schon ein bißchen theatralisch und seinem Ernst keinesfalls entsprechend.
Ina: Ich habe dir gesagt, daß es einen gibt, einen Bewerber. Einen Musiker.
Elmar: Läßt mich die Vergangenheit abfieseln und treibt’s aktuell mit einem Musiker!
Ina: Einen Augenausdruck wie du. Hab ich gesagt. Das weiß ich. Die gleiche fröhliche Verwegenheit. Die gleiche Labilität. Diese sturzbachartige Verwandlung ins Traurige …
Elmar: Du hast mich geködert, ja geködert mit längst vergangenen Geschichten, alles vorbei, ich sollte glauben, jetzt, an diesem Tag, in dieser Nacht, gibt es nur noch dich und mich, du hast mich hereingelegt.
Ina: Ich habe gesagt, es gibt Bewerber.
Elmar: Besitzer, hättest du sagen müssen.
Ina: Elvis …
Elmar: Elvis! Warum nicht gleich Presley!
Ina: Wenn schon, dann doch Costello! Elvis ist Musiker. Jazzpianist, Gitarrist, Komponist. Für Filme. Ich habe dir erzählt, daß er eine Tochter hat, die entstellt ist von Akne.
Elmar: Mir kommen die Tränen.
Ina: Daß seine Frau Anfälle hat …
Elmar: Hör auf. Hör auf. Sonst …
Ina: Ich bin …
Elmar: Hör auf. Ich kann es nicht mehr hören. Nie mehr etwas. Schluß.
Er rennt weiter. Ina kann nur noch zuschauen. Sie geht zur Tür. Sie hält es für möglich, daß er sein Herumrennen mäßigt, wenn sie nicht mehr zuschaut. Sie geht hinein, kommt aber gleich wieder heraus. Sie hat Zigaretten geholt. Sie bietet ihm eine an. Tatsächlich nimmt er eine. Sie zündet seine und ihre Zigarette an.
Ina: Elvis hat die Musik gemacht für Alles Banane. Und selber gespielt. Gitarre.
Elmar wirft die Zigarette weg und rennt weiter.
Ina: Jetzt will ich dir einmal alles sagen, und du rennst weg.
Elmar zwingt sich, am Geländer stehenzubleiben. Er hält sich fest.
Ina: Elvis ist ein Indianer. Nicht per Abstammung. Geistig. Psychisch. Er hat zwei Jahre unter den Navajos gelebt. Eine Rothaut ohne Farbe.
Elmar: Wie oft?
Ina: Was?
Elmar: Schläft er mit dir?
Ina: So gut wie nie.
Elmar: So gut wie nie!! Fabelhaft. Was heißt das pro Woche?
Ina: Es war immer nur möglich, wenn seine Frau auswärts war. Oder wenn wir, er und ich, auswärts waren. Er hätte das nicht gekonnt, mit mir schlafen, dann heim. Sie hätte ihm angesehen, wo er herkommt.
Elmar: Hochsensibel. Erschütternd moralisch. Hinreißend tragisch. Gratuliere. Ich bestelle dir, wenn du in Berlin übernachten willst, ein Zimmer. Auf einer anderen Etage.
Ina: Frag doch, wie es war mit ihm.
Elmar: Ach nein.
Ina: Es war nichts. Ich habe fingiert und fingiert.
Elmar: Schauspielerin.
Ina: So ist es. Aber ich habe ihn geliebt. Wegen seiner Stimmungsumschwünge. Plötzlich keine Wolken mehr, grellste Sonne, und gleich wieder die schwärzeste Verhangenheit.
Elmar: Dann der rettende Coitus.
Ina: Er hat sich die zärtlichste Mühe gegeben. Eine volle Stunde Vorbereitung. Mit dem Finger.
Elmar: Ein Gitarrist!
Da sie merkt, daß das ein Weg zurück ist zu Elmar, fährt sie fort.
Ina: Da er zwar lange, aber sehr dünne Finger hat, habe ich ihm empfohlen, zwei zu nehmen.
Elmar schlägt ihr ins Gesicht. Reißt sie an sich und weint.
Ina schaut auf die Uhr.
Ina: In vier Minuten kommt Mrs. Fay.
Elmar: Willst du dabeisein?
Ina schüttelt den Kopf. Sie gehen rasch hinein. Ina legt sich in den zweiteiligen Sessel im Schlafzimmer. Er zieht seine Jacke an.
Elmar: Bis gleich.
XI.
Elmar kommt zurück von seiner Besprechung, Ina ist eingeschlafen, das Buch, ein Taschenbuch, in dem sie gelesen hat, ist ihr aus den Händen gerutscht und liegt auf ihren nackten Schenkeln. Elmar nimmt es vorsichtig auf und sieht, es ist ein Buch von C. S. Lewis, Der Ritt nach Narnia. Das begeistert ihn. Der fünfte Band der Narnia-Chroniken. Seine Mutter hat ihm alle sieben Bände vorgelesen. Er hat das, auch als er selber schon lesen konnte, von ihr verlangt. Er möchte Inas Vorleser sein.
Er kniet sich neben sie, küßt sie ein bißchen, streichelt sie, streichelt sie so, daß sie erwacht. Es folgt ein frommer Kuß. Er holt schnell eine Flasche Bier und zwei Gläser aus der Minibar, setzt sich auf das Fußteil des Liegesessels und stößt mit ihr an.
Ina: Und?
Er nickt.
Ina: Gut?
Elmar: Sehr.
Ina: Sag doch.
Elmar: Rein geschäftlich. Mrs. Fay ist keine Navajo, spielt nicht Gitarre, hat keine langen Finger …
Ina, gequält: Ich sage dir nie mehr etwas.
Elmar: Mrs. Fay, seit zwanzig Jahren Kundin, jedes Jahr mit wenigstens zwei Millionen Dollar dabei, verliebt in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, will jetzt einen Kirchner, den sie geerbt hat, aber nicht liebt, er ist ihr, sagt sie, zu teigig, den will sie einem Museum in Boston schenken. Wie und von wem soll sie den Kirchner-Wert feststellen lassen, wenn sie doch den Schenkwert von der Steuer absetzen kann?
Ina: Und? Was soll sie tun?
Elmar: Ganz einfach. Sie muß das Bild einem New Yorker Auktionator geben, ein Kollege von mir bietet mit, überbietet jeden anderen, kriegt fünftausend dafür, treibt den Preis auf siebzehn oder neunzehn Millionen, kriegt den Zuschlag, Mrs. Fay behält das Bild, schenkt es her und setzt, nach Abzug der Spesen, mindestens fünfzehn Millionen von der Steuer ab.
Ina: Und du?
Elmar: Bei mir kauft sie dieses Jahr statt eines Renoir zwei Renoir. Die Femme au col de dentelle und Quai Malaquais. Sie ist, darf ich sagen, Wachs in meinen Händen.
Ina springt auf und führt ihn hinaus auf die Dachterrasse. Draußen zündet sie sich eine Zigarette an. Sie will sich an ihn schmiegen, das erinnert ihn an den Streit. Er kann jetzt nicht mehr herumrennen, aber er kann von ihr keine Zärtlichkeit mehr ertragen. Er schiebt sie weg. Er erträgt keine Berührung mehr. Er starrt in die Friedrichstraße hinunter. Sie lehnt sich so vorsichtig an ihn, daß er es kaum bemerken muß. Das läßt er zu.
XII.
Elmar in seinem Zimmer über dem Geschäft in der Brienner Straße. Er wählt. Besetzt. Er wählt, bis der Angerufene sich meldet.
Kraile: Hier Elvis Kraile.
Elmar weiß nicht, was er sagen soll.
Kraile: Hallo! Hallo! Was soll das denn, anrufen und sich dann nicht melden. Sind Sie wahnsinnig. Brüllt: Sie tun mir leid!
Er legt auf. Elmar wählt noch einmal, Kraile meldet sich, Elmar murmelt, brummt völlig unartikuliert. Kraile wird nervös.
Kraile: Wenn Sie noch einmal anrufen, schneide ich mit und übergeb es der Polizei. Legt auf.
Elmar setzt sich an den Computer, sucht eine nicht alltägliche Type und schreibt hastig. Druckt aus, fünf Seiten, legt sie in eine Mappe. Dann zieht er seine älteste Jacke an und eine ebenso alte Mütze. Sein Schweizer Armeemesser muß auch mit. So in die Stadt. Im Bahnhof weiß er ein Geschäft, in dem es das Schweizer Messer gibt. Vier Stück kauft er. Nuschelt was von vier Söhnen. Jetzt braucht er einen Russen. Er spricht mehrere an, die begreifen nicht, was er will. Endlich ein Russe, der kapiert. Für jeden Brief, den der Russe ihm auf Band spricht, kriegt er einhundert Euro. Elmar hat eine Bank im Hofgarten gefunden, um die herum am späten Nachmittag nicht zuviel los ist. Der Russe liest die Briefe, schaut dann Elmar halb kritisch, halb belustigt an. Er will zuerst das Geld.
Elmar: In Deutschland zuerst die Arbeit, dann das Geld.
Der Russe: Gutt.
Elmar hat sein kleines Sony eingeschaltet, der Russe liest mit dem erwünschten Akzent, mit den erwünschten Sprachschwierigkeiten und mit dem erwünschten Männlichkeits-Ton.
Der Russe, liest: Herr Museumspädagoge Spiegelvögler. Ich kann deutsch nicht schreiben. Schick ich Ihnen hier das Armeemesser von der Schweiz. Mit diesem werden Sie erstochen. Von hinten. Tut also nicht weh. Ich mach von hinten, weil Zweikampf liegt mir nicht. Auf dem Parkplatz. Sie machen Autotür auf, ich stoß zu. Den Stoß kann ich …
Elmar: Moment. So geht das nicht. Sie lesen das ja wie den Wetterbericht. Sie müssen drohen. Verstehen Sie, drohen, bedrohen, Angst machen. Der Herr muß blaß werden, zittern, gar nicht mehr schnaufen können vor Angst. Ich zeig es Ihnen.
Er nimmt den Brief und liest, daß es drohend klinge. Es ist Laientheater, aber in seiner Übertriebenheit doch beeindruckend. Vor allem die Pausen, das Atemholen, das grimmige Weitermachen, das Nichtanderskönnen, der Ernst.
Elmar: Verstanden?!
Der Russe nickt. Elmar läßt das Band zurücklaufen. Der Russe liest den Text jetzt auch so. Imitiert den Drohton, mit seiner dafür geeigneteren Stimme geht es weiter.
Der Russe: Schauen Sie um, vor Sie Autotür öffnen, nichts zu sehen. Aber vor Sie sitzen, hab ich schon gestochen. Sie wissen, warum. Frauengeschichte. Wieviel Studentinnen haben Sie so behandelt. Sie wissen es. Mir geht um eine, die ich sehr liebe. Stich passiert, wenn Tage kürzer und früher Nacht. Noch dazu: Wenn ich Sie hingerichtet, ich kann auch nicht mehr leben dann, klar. Ich töte noch die Frau, dann mich. Nur daß Sie wissen, ich mache Ernst. Schluß.
Elmar: Nicht schlecht. Die erste Bezahlung, bitte schön. Jetzt, der zweite Brief. Lesen Sie mal.
Der Russe liest leise. Elmar wechselt das Band.
Der Russe, liest ins Mikro: An die Frau Museumspädagoge. Ihr Mann jetzt bald wird er gefunden an seinem Auto erstochen. Nicht klagen. Gerechtigkeit. Zu viele Studentinnen hat er auf die Couch gelegt und verlangt, die Beine breit, wenn Sie waren außer Haus. In die Bluse gegriffen. Mädchen glauben, eine Ehre und ein Vorteil, wenn der Pädagoge sie will. Haben alles gemacht, was er befohlen hat. Immer mit Spiegel. Und möchte ewig so weitermachen. Aber jetzt ist Schluß. Ein Stich, und Schluß. Muß sein. Grüßt ergebenst der Hinrichter.
Elmar bezahlt den zweiten Brief, wechselt das Band und läßt die Briefe an den Pseudo-Dostojewskij, den Dreier-Propagandisten und den Schaum-Schwamm-Moschus-Lavendel-Fürsten lesen. Jedesmal zahlt er einhundert Euro. Dann verabschiedet er sich freundlich und geht. Er begegnet gleich zwei Polizisten. Dreht sich, als die vorbei sind, um, er will sehen, ob der Russe zuverlässig ist. Der sitzt immer noch auf der Bank und schaut harmlos ins Grüne. Elmar ist beruhigt.
Auf der Post am Bahnhof holt er Kartons, auf seinem Computer hat er die Adressen geschrieben. Um nicht beobachtet zu werden, bringt er jetzt auf dem Ablagebrett eng an der Wand die Bänder und die Armeemesser in den Kartons unter und liefert die fünf Päckchen am Schalter ab. Daß er dafür in einer Schlange anstehen muß, ist schier nicht auszuhalten. Daß zuletzt noch eine Frau vor ihm ist, die nie mehr aufhören wird, der Schalterbeamtin Fragen zu stellen, deren Beantwortung nur mit Hilfe der nebenan arbeitenden Schalterbeamtinnen möglich ist, erbittert Elmar so, daß er glaubt, diese Unersättliche könnte er nun wirklich umbringen. Er ist diese gewöhnliche Mühsal nicht gewöhnt. Alle anderen, die in den fünf oder sieben Schlangen anstehen, bleiben ruhig und ergeben, bis sie drankommen. Es ist klar, wenn er jetzt zum Protest gegen die Unersättliche aufrufen würde, wären alle auf der Seite der Unersättlichen. Daß auch hier noch ein Polizist auftaucht, macht ihn vollends nervös. Die Mütze ins Gesicht ziehen und sich nicht mehr rühren, bis du drankommst.
XIII.
Elmar nachts in seinem Zimmer. Er ruft Ina an. Und hört: Die gewünschte Nummer ist zur Zeit nicht erreichbar. Versuchen Sie es später noch einmal. Er ruft Kraile an. Auf dem Anrufbeantworter Krailes Stimme: Wenn Sie etwas hinterlassen wollen, bitte sprechen Sie nach dem Signalton.
Er trinkt Whisky. Hat schon getrunken. Trinkt weiter. Eine edle Flasche. Er steht auf, möchte auf und ab gehen, lieber rennen als gehen. Er landet vor seinem Diktiergerät. Er nimmt das kabellose Mikro, schaltet das Gerät ein, probiert, das Gerät nimmt auf. Er trinkt weiter. Säuft nicht, trinkt.
Elmar: Liebe, ich erreiche dich nicht, ich bin bei dir. Ich bin bei dir, mein Schatz, ich bin nicht hier, mein Schatz, glaub doch mir, mein Schatz, daß ich nur bei dir bin und nicht hier bin, mein Schatz. Wenn du so bei mir wärst, wie ich bei dir bin, dann wär ich jetzt nicht hier, sondern bei dir. Aber du bist anderswo. Wo bist du? Jetzt! Wo? Anderswo. Wörter gibt’s, die sollte es nicht geben. Wenn’s anderswo nicht gäbe, wärst du jetzt hier bei mir.
Er verläßt das Zimmer, das Mikro in der Hand, rennt die Treppe hinunter und hinaus und vor zum Taxistand auf dem Odeonsplatz.
Elmar: Harlaching, Hochleite.
Läßt früh halten, geht an den Häusern entlang, bis er mit Hilfe der Taschenlampe die Nummer und den Namen sieht: Elvis Kraile. Eine Villa, Licht im ersten Stock, ein breites Fenster, dicht verhangen. Er sucht kleinere Steine, wirft sie hinauf, sobald er hört, daß er das Fenster getroffen hat, rennt er weg, kehrt zurück, wirft noch einmal, rennt weg, sucht einen Weg durch die Büsche, zur Isar hinab. Dort setzt er sich auf die Uferböschung. Er bemerkt, daß er das Mikro in der Hand hat. Spricht, als höre ihm Ina zu.
Elmar: Das weiß ich selber, daß es nichts bringt, diese Herren umzubringen. Du kannst jederzeit an alles denken. Und das ist schlimmer, als wenn die Herren an alles denken. Du kannst jederzeit alles in deiner Vorstellung ablaufen lassen. Und die ist überscharf und hochgenau. Beispiel: Der Pseudo-Dostojewskij trat sich auf einen Schuhbendel, der sich gelöst hatte, und wäre, wenn du ihn nicht gehalten hättest, glatt hingefallen. Vor zehn oder zwölf Jahren! Und du weißt noch auf den Zentimeter genau die Körpergröße, der Museumspädagoge einszweiundachtzig, der Pseudo-Dostojewskij einsachtundsiebzig, der Dreier-Propagandist einsvierundsiebzig und der Schaum-Schwamm-Moschus-Lavendel-Mann einsvierundachtzig. Und die Schuhgrößen hast du auch intus! Mich abschätzig anschauen und sagen: Du hast aber kleine Füße. Ich frage nach den Vorgängern: Keiner unter vierundvierzig.
Es kostete ihn Willenskraft, die jetzt möglichen Witze nicht zu bemühen.
Elmar: Du kannst jedes Geschlechtsverkehrsdetail abrufen und dich davon noch einmal und noch einmal durchströmen lassen. Als ich dich im leichtesten Ton gefragt habe, ob du schon mit einem Mann im Freien geschlafen hast, hattest du sofort präsent: Ja, mit dreien fünfmal in der Sonne. Und wenn ich dich heiraten könnte — sobald du raushättest, wie ich unter dem, was passiert ist, leide, würdest du nichts mehr mitteilen oder alles nur noch in abwiegelnder Verpackung. Ich habe dich gefragt: Wie war es bei dir beim ersten Mal. Und du noch unbesorgt: Das erste Mal war eine Pleite, nachher wurde es viel besser. Und ich, der Gefühlsidiot, der Dünnhäutigkeitsdepp, ich stöhne auf, du lachst, ich sage: Mit dem Satz kann ich nicht leben. Sagen hätte ich sollen: Gott sei Dank, erzähl! Aber du merktest meinen Schmerz und wurdest sofort pflegerisch: Nie so gut wie bei dir. Ich habe dich praktisch verdorben. Ich hätte nie merken lassen dürfen, daß mir, was du hinter dir hast, etwas ausmacht. Locker und lachend hätte ich die Vergangenheiten streifen müssen. Keine noch so peinigende Erörterung kann jetzt deine Glaubwürdigkeit wieder herstellen. Ich spüre es körperlich, daß in mir die Fähigkeit, dir etwas zu glauben, vernichtet ist. Ein paar Sekunden lang habe ich gehofft, du könntest rücksichtslos sein. Bist du nicht. Du bist pflegerisch. Wie alle. Die ganze Welt ein verlogenes Pflegegelände. Dann die Sprüche: Man kann doch Menschen nicht besitzen. Wörter, Wörter, Wörter. Man kann alles so sagen, daß es paßt. Bei manchen Sätzen sagst du dazu: Beim Leben meiner Mutter! Ja merkst du denn nicht, daß dadurch die Unglaubwürdigkeit aller anderen Sätze geradezu demonstriert wird. Und Schwüre! Lächerlich. Als ich auf einen deiner Schwursätze sagte: Warum soll man Schwüre halten, hast du gesagt: Man muß nicht fragen, warum, man hält sie. Oder hält sie nicht, habe ich gesagt. Nur wenn du nicht mehr bist, lebt, was passiert ist, nicht mehr. Du hast, was du zu mir gesagt hast, nicht nur hundertmal zu anderen gesagt, du wirst es auch noch viele hundertmal zu anderen sagen, das halt ich nicht aus. Könntest du morgen, bitte, gleich über mich herfallen, sonst geh ich dir einfach an die Wäsche. Deine Sätze! Nur wenn du nicht mehr bist, passiert das nicht mehr.
Er wirft das Mikro in die Isar. Er wirft mit aller Kraft. Jetzt erst ist er allein.
Elmar, murmelt: Aufstehen. Sie anrufen. Sie nicht erreichen. Deiner Schwäche einen Pullover stricken.
XIV.
Das Schlußbild der letzten Szene ist stehengeblieben. Im Vorführraum der Firma sitzen Joni, Arthur, Strabanzer und Rudi-Rudij. Jonis und Arthurs Hände lösen sich voneinander, sobald das Licht angeht.
Strabanzer: Und jetzt, Genie?
Rudi-Rudij: Schreibt Ina den Brief. Soll ich ihn vorlesen?
Strabanzer sieht, daß Joni und Arthur auch dafür sind. Er nickt.
Rudi-Rudij geht nach vorne, vor die Bühne mit Leinwand. Er liest nicht nur vor, er spielt den Text, als wäre es kein Brief, sondern ein Monolog von Ina, gesprochen für Elmar.
Rudi-Rudij: Lieber Elmar, ich habe bei dir gelernt, daß ich nicht pflegerisch mit dir, mit uns umgehen soll, sondern wahrhaftig beziehungsweise rücksichtslos. Als ich sagte: Dein zerfurchtes Gesicht, hast du wütend unterbrochen und befohlen: Deine Faltenvisage. Die so faltenreich gar nicht ist. Zerfurcht sei Verschönerungsvereinsstil. Wenn ich meine augenblickliche Situation bedenke, kann ich für diesen Rat, für diese Lizenz nur dankbar sein. Wenn ich mir vorstelle, wieviel Sätze ich sonst halbfertig und viertelwahr in der Luft hängenlassen müßte, um dir auf einem Umweg, gepflastert mit Lügen, eine einzige Achtelwahrheit anzudienen, hoffend, du quältest dich damit dann selbst durch zu einer Fastwahrheit, die heißt: Ich habe mich verliebt. Ich bin verliebt. Es tut mir leid. Das schon. Aber wer bin ich? Ich kenne mich ja selber nicht mehr. Die, die ich durch Arthur zu werden anfange, ist mir selber neu. Bestürzend neu, beglückend neu. Sie ist zum Beispiel, um an ein Thema anzuknüpfen, Nichtraucherin. Rücksichtslose Nichtraucherin. Nur weil du Rücksichtslosigkeit zu einem unanzweifelbaren Wert gemacht hast und ich dir da aus ganzem Herzen folge, bin ich imstande, mich dir so zu zeigen, wie ich mich jetzt fühle. Und mehr als ein Trost ist mir die Gewißheit, daß das, was von uns nicht ausgesprochen wurde, unser Fundament überhaupt war, unsere Generalbedingung sozusagen: Du hast sicher auch keine Sekunde lang geglaubt, wir, du und ich, könnten es unter den uns unabänderlich bedingenden Umständen zu mehr bringen als zu einem Austausch gefühlter und gekonnter Gesten. Und sind doch beide gewesen wie neu, jeder hervorgebracht vom anderen. Jeder hat dem anderen die Routine aufgerauht, dann poliert. Die Lyrikerin hat durch dich das Licht der Welt erblickt. Dafür danke ich dir immer. Ich habe unseren Glanz genossen, lieber Elmar. Du hast mich glänzen lassen. So war es eine gute Zeit. Ganz herzlich grüßt dich Ina.
Strabanzer: Einverstanden?
Joni: Doch. Sehr schön. Oder?
Sie schaut zu Arthur hin.
Arthur: Schatz, mich mußt du nicht fragen — ich finde leider alles gut, was du gut findest.
Joni küßt ihn noch schnell.
Strabanzer: Das drehen wir morgen. Danke.
Rudi-Rudij, im Hinausgehen, gewissermassen triumphierend Strabanzer ins Ohr: Die hast du verloren.
Strabanzer, mit parodistisch erhobenem Zeigefinger und in einem ebensolchen Ton, der zu diesem Text nicht passt: Armut ist eine Blume mit empfindlichen Blättern.
Joni und Arthur haben den Spruch noch mitgekriegt.
Arthur: Daß unser Film dieses Motto hat, macht mich einfach glücklich. Dich nicht auch, Joni?
Joni: Was dich glücklich macht, sollte mich überglücklich machen.
Strabanzer und Rudi-Rudij haben das gehört.
Rudi-Rudij: Prima!
Jetzt würden alle den Vorführraum verlassen. Aber Joni ruft.
Joni: Einen Augenblick, wenn ich bitten darf.
Sie geht auf die Bühne, stellt sich vor die Leinwand, breitet die Arme aus, als wären es Flügel. Weil es keine sind, läßt sie sie fallen.
Joni: Ich habe auch noch einen Text.
Sie hebt wieder die Arme, läßt sie wieder fallen. Dann spricht sie:
Mädchenpsalm. Frauenpsalm. Psalm.
Ich habe keinen, ihn anzusingen,
und ich mach mir auch keinen.
Ihr habt mich gelehrt, euch als Verschiedene zu sehen.
Mir zeigt ihr euch als eins.
Mich nicht zu kennen habt ihr mich gelehrt.
Die Autos werden besser, die Menschen nicht.
Ich wäre gern euer Paradebeispiel für Gelungenes,
erfände gern Farbvulkane aus Musik.
Zu singen ist alles, zu sein mit Wörtern,
für was es nicht gibt.
Strabanzer rennt zu Joni hinauf, umarmt sie und läßt sie nicht so schnell los. Sie sind, vor der Leinwand, ein Paar-Denkmal.
Rudi-Rudij: Moment!
Strabanzer: Das drehen wir. Das ist gekauft. Wir fliegen auf die Alpspitze. Dann sagt sie das. In die Welt. Und kein Mensch hört’s.
Rudi-Rudij, höhnisch: Auf der Alpspitze, klar.
Strabanzer: Also, auf dem Stachus. Und keiner hört’s. Komm, Kind.
Sie verlassen den Vorführraum, Joni zwischen Strabanzer und Arthur Dreist, Dreist zieht sie zu sich, sie geht mehr mit Dreist als mit Strabanzer. Strabanzer kriegt unversehens eine Art Haltung. Wird durch Alleinsein heroisch. Sein linkes Auge bleibt stehen. Starr.
VORLÄUFIGES FILM-ENDE.
Am Leben entlang, dachte Karl. Dir kann nichts passieren, dachte er, solange du dir nichts anmerken läßt. Wenn man dir etwas anmerkt, setzt die Teilnahme ein. Die ist ein Verstärker von allem. Auch der Demütigung. Ein Mensch ist, solange er allein ist, nicht zu demütigen. Gedemütigt wird er vor anderen. Das ist der Sinn der Demütigung. Zum Glück hast du keinen Freund.
Karl von Kahn hat noch versucht, Helen auf dem Hausapparat zu erreichen. Er wollte ihr sagen, daß er auf seinem Sofa übernachte.
Am nächsten Morgen war unübersehbar: Helen war von ihrem Kongreß nicht nach Hause gekommen. Auf dem Tisch lag ein Kuvert, DIN A4, an ihn adressiert. In Helens großen Buchstaben. Er rannte aber doch schnell hinauf ins Schlafzimmer. Unberührt. Helens Brief wollte er jetzt nicht lesen. Ihre Briefe waren immer umständliche Mitteilungen. Immer länger als nötig. Ihm fiel ein, was er geträumt hatte. Zum Glück konnte Helen jetzt nicht diesen Traum aus ihm herausfragen. Er hatte mit der Freundin eines Freundes schlafen müssen. Er tat das eifrig, stolz darauf, daß das so problemlos ablief. Dann wischte sie, die noch unter ihm lag, ihrem zuschauenden Freund schnell übers Gesicht, eine Art spielerischer Ohrfeige. Er glaubte, sie wolle ihrem Freund ihre Verachtung ausdrücken, weil der das, was ihr gerade geschehen war, nicht so gut gekonnt hätte. Aber sie sagte zu ihrem Freund: Jetzt zeig ihm dein Tagwerk. Gern, sagte der und trat dem jetzt schutzlos auf dem Rücken Liegenden mit aller Wucht in den Bauch. Daran war Karl erwacht. Atemnot.
So einen Traum muß man nicht übersetzen. Der ganze Traum kam ihm vor wie eine geballte Faust. Als stehe der Traum noch bevor. Er ging ins Freie. Ging draußen hin und her. Wahrscheinlich würde Helen gleich heimkommen. Sollte er das Frühstück organisieren, daß sie, wenn sie kam, sich nur noch hinsetzen mußte? Wahrscheinlich hatte sie schon gestern, bevor sie zum Kongreß fuhr, gewußt, daß sie im Kongreß-Hotel übernachten werde. Das hatte sie ihm sicher in ermüdender Umständlichkeit geschrieben. Sie erklärte immer jede Unwichtigkeit so ausführlich, daß man mitten in diesen Nichtigkeitsentfaltungen wie von der plötzlich spürbaren Wirkung einer Schlaftablette überfallen wurde. Der Grund dieser anstrengenden Ausführlichkeit: Sie ertrug es nicht, mißverstanden zu werden. Im Vorbeigehen nahm er noch die Post mit hinein. Ein Brief von Arthur Dreist. Den mußte er allerdings sofort lesen. Und las:
Sehr geehrter Herr von Kahn,
unverlangt, aber aus einer Art unvermeidlicher Teilnahme an allem, was um mich herum passiert, schreibe ich Ihnen diesen Brief. Die Fakten kennen Sie. Aber wenn die Fakten ein härteres Gesicht haben, als ihnen zukommt, dann darf unsereiner sich einmischen und dem Ganzen zum richtigeren Ausdruck verhelfen. Berufsethos, sozusagen. Deshalb also muß ich, glaube ich, mitteilen, daß Sie keinerlei negative Stimmung aufkommen lassen dürfen, wenn Sie an Joni denken. Es ist nichts passiert, was vorwurfswürdig wäre. Das Leben selbst hat geurteilt, also die Natur, und daß das, über alle Ansichtssachen hinaus, unsere höchste Instanz ist, wissen wir. Egal, ob wir es in jedem Augenblick gelten lassen können oder nicht. Es nicht gelten zu lassen führt nur zu Lug und Trug, Täuschung und Enttäuschung. Ein schlichter, aber bei aller Schlichtheit unwiderlegbarer Beleg: Joni hat, bevor sie mir gestattete, sie zu lieben, noch nie einen Orgasmus erlebt. Es war immer alles Schauspielerei gewesen. Und sie ist durch und durch eine vorzügliche Schauspielerin. Zu erleben, wie sie ist, wenn sie nicht mehr spielt, war etwas jenseits des Mitteilbaren. Und als Naturereignis unanzweifelbar. Das ist, bitte, nicht das Verdienst dessen, der das jetzt erleben durfte. Es ist das ungeheure Glück dessen, bei dem es endlich fällig war. Wir wollen das nicht aufdröseln. Ihnen sei nur gesagt: Sie versäumen nichts. Joni war nicht Ihre Frau. Jetzt ist sie meine.
Mit freundlichen Grüßen, auch von Joni, die diesen Brief sehr billigt,
Ihr
Arthur Dreist
Eine Zeit lang saß Karl reglos, dann griff er doch nach Helens Brief. Hatte er jetzt ein Bedürfnis nach ihrer gegenstandsarmen Ausführlichkeit?
Nein, er mußte weg. Weg, bevor Helen zurückkam. Helen würde ihn jetzt nicht aus dem Haus lassen. Sie war sicher die leiseste Frau der Welt. Aber auch die unerbittlichste. Daß sie ausgezogen war, bevor er auszog, war ihr Sieg, den sie als Niederlage verkaufte. Sie konnte tun, was sie wollte. Da sie ihn im Leiden schlug, schlug sie ihn überhaupt. Es blieb nur die Unterwerfung. Die Lüge als Lebensform.
Nach Herrsching! Ins Kronprinz Ludwig. Keinem etwas erklären müssen. Helens Brief hatte er noch in der Hand. Mitnehmen mußte er ihn. Noch nie hatte er, Geld zu haben, so wohltuend erlebt. Er brauchte keinen Koffer, keinen Mantel, keinen Rasierapparat, er hatte Geld. Er konnte hinfahren, hinfliegen, wohin er wollte. Das Kronprinz Ludwig war die falsche Adresse. Er mußte irgendwo landen, wo keiner fragen würde: Wie geht es Ihnen. Turin oder Genua? Sollte er den Dreist-Brief noch einmal lesen? Vielleicht war es ein Jux-Brief. Sie hatten getrunken, Joni hatte dem Kollegen aus Übermut diesen Brief diktiert. Er konnte ihn nicht noch einmal lesen. Vielleicht konnte er Helens inhaltsarme Umschweifigkeit jetzt ertragen. Vielleicht tat sie ihm sogar gut. Also las er Helens Brief.
Lieber Karl,
jetzt die Flucht. Vor Dir. Den Kongreß nutzen zur Flucht. Nach dem Kongreß in die Ottostraße. Du bist ein Nichtmehrmensch. Geworden. Ich bin ein Keinmenschmehr. Geworden. Durch Dich. Kann nicht mehr zurückschauen in die Vorzeit. Mir wollen nachkommen Wörter von Dir. Aus der Vorzeit. Du warst ein Liebender. Aus. Wenn ich tot wäre, müßtest Du nicht mehr lügen. Mein Tod, das wäre die Lösung. Ich spüre, ich bin schon zu schwach, in unseren Umständen noch etwas Rettendes zu entdecken. Lösung … solche Wörter jetzt. Wir können einander noch quälen. Ich Dich dadurch, daß ich noch lebe. Du mich dadurch, daß es mich nicht mehr gibt. Strecken verständlichen Gesprächs werden durch plötzlich aufwallenden Schmerz ganz zerschlagen. Der Schmerz ist der Dirigent. Dein Schmerz, weil es mich noch gibt. Mein Schmerz, weil es mich nicht mehr gibt. Schluß mit der Beschwichtigungsscheiße. Von Dir weg, zu Dir hin, eine Simultanbewegung. Ich könnte jetzt eure Wörter ausleihen und sagen: Ich möchte Tag und Nacht gefickt werden von Deinem relativ großen Schwanz. In der Hoffnung, sie habe diese Wendung dafür noch nicht gebraucht. Ich kann von Dir aber verlangen, mich nicht länger zu täuschen. Ich bin mir schuldig, mich nicht länger zu täuschen. Es gibt eine Menge Wörter, die darauf hinauslaufen, daß es eine Niederlage sei zu siegen. Ich schneide uns jetzt auseinander. Und gehe. Das schaff ich schon. Soviel muß ich mir noch wert sein. Selbst wenn ich Dich beschimpfte, gäbe ich zu viel preis von mir. Das verdienst Du nicht. Ich werde, was ich von meinen Klienten erwarte, in Zukunft mäßigen. Was Dir Deine Haltlosigkeit ist, ist mir meine Fassung. Es könnte sich das Gefühl bilden, Du glittest ab an mir wie nichts. Dieses Gefühl möchte ich willkommen heißen. Nie einen heiraten, den man liebt. Miquel war der Richtige. Das habe ich jetzt, um in Deiner neuen Sprache zu reden, geschnallt.
Es grüßt
Helen
Er saß, sah zu den Astaugen hinauf, es meldete sich die Mobilbox. Daniela. Der übliche Text: Ich verbrenne hier wie ’ne Kerze. Ich kann nicht schlafen, weil du mich nicht liebst. Ich möchte dich an die Wand klatschen. Du hast keine Ahnung, was Abhängigkeit ist. Wenn du mich verläßt, bring ich meinen mönchischen Mann um. Gute Nacht.
Er hatte das erste Mal das Gefühl, er verstehe, was Daniela sagte.
Hatte er das Aufhören nicht ernsthaft genug trainiert? Hatte er sich nicht mehr als einmal gesagt: Du lügst, du tust nur so, als wolltest du aufhören? Er hatte Schluß machen wollen mit dieser bösartigen Unterscheidung von Lüge und Wahrheit. Wenn er etwas sagte, was nicht so war, wie er es sagte, er aber wollte, daß es so wäre, wie er es sagte, dann ließ er das keine Lüge nennen. Und jetzt: Das ganze Aufhörtraining nichts als eine Lüge? Was tut sie gerade jetzt und mit wem? Du kannst da droben in allen Etagen den Aufhörfeldzug führen, uns geht das nichts an. Uns! Das war er. Die Majorität. Hatte sich in ihm, ohne daß er das wahrgenommen hatte, eine Verschmelzung vollzogen? Joni war das Leben? Auf Joni verzichten hieß, auf das Leben verzichten? War das sein Zustand?
Als er Joni über ihren Fürst Bertram ausfragte, sagte sie, der habe ein pubertäres Verhältnis zu seinem Schwanz. Ihm wäre es doch niemals in den Sinn gekommen, das Geschlecht einer Frau, über die er mit Joni sprach, Fotze zu nennen. Dieses Wort war für ihn nur brauchbar, wenn es um Joni ging. Als er ihr das erklärte, sah sie das Unziemliche ihres Sprachgebrauchs ein. Aber daß sie so hatte reden können, war nicht mehr rückgängig zu machen. Joni.
Obwohl sie nicht geschminkt ausgesehen hatte, sah man, wenn sie sich abgeschminkt hatte, daß sie vorher geschminkt gewesen war. Die Augen nützen nichts. Sie sind ein Sinn im Dienst der Täuschung. Er hat alles für etwas gehalten, was es nicht war. Nicht nur die Augen hatten sich als unbrauchbar erwiesen. Auch sein Gefühl. Nichts war so, wie er es empfunden hatte. Hoffentlich auch er selber nicht.