Diego sagt angeblich dem, dem er gerade gegenübersitzt, die Interessenlage unverfälscht ins Gesicht. Und hat durch diese unübliche Offenheit immer einen Vorsprung. Karl von Kahn machte das gelegentlich nach.
Als er Markus Luzius Babenberg im Konferenzraum gegenübersaß, nicht am Konferenztisch, sondern in den zierlichen Sesseln in der Sitzecke, da beschrieb er, sicher zu ausführlich, wie überrascht er gewesen sei, einem Besuch von Markus Luzius Babenberg entgegensehen zu dürfen. Schließlich denke, wer an Markus Luzius Babenberg denke, an alles eher als an Geld und Geschäft. Er, Karl von Kahn, habe sich nicht dagegen wehren können, daß er alle Menschen der Welt, egal, ob er sie persönlich kenne oder von ihnen gehört oder gelesen habe, in zwei Kategorien scheide. Die einen nennen den Profit Gewinn, die anderen nennen den Gewinn Profit.
Und mich, sagte Babenberg, haben Sie zu denen gesteckt, die zum Gewinn Profit sagen.
Karl nickte. Gab aber zu, dieser Einteilungszwang sei die Folge einer berufsbedingten Verkrüppelung. Er wisse so gut wie mancher Professor und jeder Pfarrer, daß, was als Gewinn erscheint, stornierter Verlust sei. Aber das Als-ob-Spiel ist der einzige Zeitvertreib.
Babenberg lachte lautlos, lachte nur mit seinem etwas zu kleinen Mund. Klar, sagte er, Sie müssen es allen recht machen.
Nur mir selber nicht, sagte Karl von Kahn.
Und Babenberg: Auch was mich betrifft, sind Sie dispensiert.
Karl von Kahn: Ich freue mich auf unser Gespräch.
Babenberg: Ich komme natürlich wegen Geld zu Ihnen. Und ich war links. Ich war fasziniert von der Gerechtigkeitsillusion. Bitte, denken Sie nicht, daß ich mich vor dem linken Eo-ipso-Bessersein ekle. Ich sympathisiere damit. Ich gebe aber zu: nicht ohne Hochmut. So wie man mit einem unvorteilhaften Aussehen sympathisiert, das man selber nicht hat. Ich werfe es mir durchaus vor, daß ich bei der öffentlichen Politmoralshow inzwischen fehle. Es gibt hinreißende Exemplare unter den Eo-ipso-Guten, aber eben auch solche, die das Kotzen, zu dem sie reizen, nicht wert sind. Entschuldigung. Und noch nachgefügt: Seit jeder Halbbedarfte in Kassandras Kleider schlüpft.
Das war zum Schluß ein Ausbruch. Es klang, als habe sich Babenberg beim Tolerantseinwollen überanstrengt. Es war Haß. Dem galt die Entschuldigung. Babenbergs Mund zog sich auf sich selbst zurück. Die vorsichtig, aber sehr bestimmt mitarbeitenden eher zarten Hände fielen wie erschöpft auf die jetzt lang ausgestreckten Beine und reichten bis zu den Knien. Pepita. In Cashmere. Vier Knöpfe. Alle zu. Das können sich nur wirklich Schlanke leisten. Also ganz kurze Revers. Und darunter ein T-Shirt. Schwarz.
Da der frischverschneite Wintertag jetzt sein Sonnenlicht auch in die Faulhaber-Straße strahlte, paßte diese scharfe Schwarzweißkleidung unheimlich gut.
Karl von Kahn mußte sagen: Ich hoffe, Sie sind nicht jeden Tag genauso gekleidet, wie es das Klimatheater empfiehlt.
Babenberg ließ den gerade noch festen kleinen Mund richtig zerfließen und sagte: Gefallsucht ist keine tödliche Krankheit.
Babenberg drückte mit einem viel kleineren Mund soviel aus wie Joni mit ihrem Übermund. Was Babenberg hatte, hätte man Kußmäulchen nennen können. Das durfte Karl nicht sagen. Also doch Zensur. Dieser kleine Mund war nie wirklich offen. Eigentlich sprach Babenberg mit geschlossenem Mund. Dieser Mund war reine Dispizlin. Winzige Verschiebungen produzierten viel Ausdruck. Babenberg sprach nie laut. Fast immer zu leise. Selbstherrlich leise, dachte Karl von Kahn. Und er hatte Grund dazu. Er drehte den Kopf ein wenig, daß das rechte Ohr bevorzugt wurde.
Wie immer, wenn einer schätzungsweise fünf bis zehn Jahre jünger war als Karl von Kahn, ließ er den zuerst fünf, dann sieben Jahre jünger sein. Dann zehn. Das war seine Lebensmathematik.
Markus Luzius Babenberg war mindestens einssechsundachtzig, Schuhgröße sicher sechsundvierzig. Karl nahm unwillkürlich das Joni-Maß. Von den zarten Händen würde Joni zwei Finger bestellen. Eine enge Haube blonder, grau durchmischter Haare. Helens Mischung. Weil Babenberg, solange Frau Lenneweit den Tee und die italienischen Leckereien servierte, nichts sagte, mußte Karl von Kahn etwas sagen, weil nicht der Eindruck entstehen durfte, in Gegenwart von Angestellten sage man hier besser nichts. Karl von Kahn sagte also — und er wußte und genoß es, daß Frau Lenneweit diesen Text kannte —: Ihnen gegenüber kann ich aussprechen, was ich im gewöhnlichen Kundengespräch strikt vermeide. Benjamin Graham, der an der Columbia lehrte, dessen berühmtester Schüler Warren Buffett ist, von dem Sie ja sicher gehört haben …
Never heard, sagte Herr Babenberg.
Na ja, sagte Karl von Kahn jetzt sanft triumphierend, nämlich über die Kulturfraktion, Warren Buffett ist unter den Wirtschaftsmenschen des 20. Jahrhunderts das, was Picasso unter den Malern ist. Und er ist mein Vorbild, mein Hausheiliger, meine Herzensikone, er ist mir, was Voltaire für unseren Freund Diego ist. Eine Aktie von Berkshire Hathaway, so heißt seine Firma in Omaha, Nebraska, das dürfen Sie zur Kenntnis nehmen, eine Aktie dieser Firma kostet zur Zeit 85 000 Dollar. Ich habe vor zehn Jahren, als sie noch bei fünfunddreißig standen, zwei davon gekauft. Am 30. 11. 1987 kostete eine Hathaway-Aktie 2000 Dollar. Benjamin Graham also, Warren Buffetts Lehrer, hat, ich glaube 1934, geschrieben: Das größte Problem der Anleger — und ihr schlimmster Feind — sind sicher sie selbst. Ich biete mich an, in diesem Kampf auf Ihrer Seite zu kämpfen. Oder, um zivil zu bleiben: auf Ihrer Seite zu sein.
Was er nicht sagte, war, daß das seine Routine-Eröffnung war. Allerdings nur bei Kunden, bei denen er Ansprüche vermuten durfte. Und größere Summen.
Das war der Moment, in dem das Professionelle, wenn irgend möglich, mit einer privaten Farbe versehen werden mußte. Er habe, sagte er, Herrn Babenbergs Wortmeldungen im Sängersaal immer sehr genossen. Daß in Wortmeldungen eine Kritik an Diegos Monologen enthalten sein konnte, erkannte Babenberg und machte gleich weiter.
Erst vorgestern habe er im Sängersaal wirklich fast die Geduld verloren, leider sei Herr von Kahn verhindert gewesen, aber vorgestern habe Diego von den Anwesenden praktisch verlangt, auf Candide wie auf die Bibel zu schwören. Gut, Mitternacht war vorbei, alle, die noch da waren, hätten allenfalls auf den La Tâche geschworen, den Diego ausgeschenkt hatte, tatsächlich der reichste Burgunder, der im Sängersaal je in die Gläser kam. Dem Candide-Schwur waren Diego-Arien über den Zerfall des Marktes vorausgegangen, besonders des Marktes für das einzig Wertvolle, nämlich das, was er anbietet: alte Kostbarkeiten. Einige hatten noch gar nicht mitgekriegt, daß er die Brienner Straße verlassen hat, zurückgekehrt ist in die Theresienstraße.
Jetzt mußte Karl von Kahn doch dazwischensagen, daß ihm das neu sei.
Babenberg staunte, gab aber zu, daß er aus einem Nebensatz, mit dem Diego Herrn von Kahns Abwesenheit mehr verrätselt als erklärt hatte, auf irgendwelche Beziehungsveränderungen geschlossen habe. Diegos Bewegungsaufwand sei allerdings so übermäßig gewesen wie immer. Die edle Chaiselongue wird da zum Trampolin, wenn er seine siebzehn Haltungen exekutiert, vom Schlangenbeschwörer bis zum Parlamentspräsidenten. Mit dunklem Humor und heiterer Verachtung gedachte er der Kunden, die seit neuestem glaubten, ohne ihn auszukommen. Es waren die bei ihm üblichen Handelsdramen, bloß gingen sie jetzt alle eher schlecht aus, führten zu keinem Kauf. Toutes les ventes de l’hiver sind im Eimer. Le bilan de la saison: katastrophal. Beispiel Leonie von Beulwitzen, die nicht da war. Für deren aus ihrer Lebenserfahrung stammende Vorliebe, nämlich Landschaftliches ohne Menschen, hatte er ein schlechterdings fabelhaftes Bild gefunden, von Courbet die Grotte humide. Diese sich so sinnlich ins Dunkle und Dunkelste biegende Höhle sei für Leonie von Beulwitzens Sammlung das Programmbild überhaupt. Aber nein, die Magistra Leonie investiere jetzt alles in ökologische Spekulation, wohl bekomm’s. Und es wurde La Tâche auf Leonie von Beulwitzens simples Glück getrunken. Als Konversationsgewürz wurde hinzugefügt, die Magistra, die ja kaum sechzig sei, sei gerade dabei, wieder einmal zu heiraten, um sich wieder scheiden lassen zu können. Dann der Sprung zu Voltaire. Bitte, dachte man, warum nicht. Aber dann Candide. Und nur noch Candide. Eine Bekehrungsgeschichte mit Candide. Erst jetzt gelesen. Erst jetzt sei er durch Erfahrung reif geworden für dieses Buch der Bücher. Ja, weniger sei es nicht. Er habe bisher vorbeigelebt an der Welt. Dann, plötzlich, zerfällt das Verklärungskonstrukt, das er lebenslänglich gebaut und gepflegt hat. Plötzlich zeigt sich die Welt, wie sie ist. Und da trifft er auf Candide: das Vernichtungsevangelium schlechthin. Dann schwärmte dieser erfahrene Mensch von den Bilderbuchorgien des 18. Jahrhunderts. Und die Herumsitzenden sollten nicht nur zustimmen, sondern durch eigene Erfahrung bestätigen, daß Voltaires Schauerskizzen das Wahrste seien, was man je über diese Welt geschrieben habe. Da sei ihm, Babenberg, der Geduldsfaden gerissen. Vielleicht war’s auch der vortreffliche Burgunder. Wenn man gezwungen werde, sich Geschichtchen über Fabergés Rolle in der Geschichte der Romanows anzuhören, wisse man zwar auch nicht in jedem Augenblick, warum man sich das anhören solle, aber dem Fabergé-Reiz verfalle man dann doch ganz gern. Daß man aber diese Vereidigung auf das langweiligste Voltaire-Buch mitmachen soll, geht zu weit. Jeder hat natürlich einmal Candide gelesen. Diesen sinnlosen Kulturzwang gibt es eben. Und die krisengeschüttelte Diego-Situation bringt vielleicht die insgeheim längst erwünschte Sekunde, in der man es diesem Langweiler heimzahlen kann. Tatsächlich ist Candide nichts als ein aufgedonnerter Schreckensschwulst, ein ganz unattraktives Grausamkeitsprogramm. Nichts zu Herzen oder auf die Nerven Gehendes. Die krassen Schicksale der damaligen Trivialliteratur werden einer edlen Lehrtendenz dienstbar gemacht. Eine einzige Ausnahme. Und die zeigt, wie öde der Rest ist. Die Begegnung mit dem Neger im Hafen in Surinam. Die linke Hand und das rechte Bein fehlen dem. Und wir erfahren, welcher Kolonialismus daran schuld ist. Das hat Biß. Hat humane Wucht. Alles andere ist Oper ohne Musik. Ach, unser Diego! Aber jetzt kommt es erst. Kruzitürken, sagt Diego, als ich meine Candide-Schelte beende, als wolle er sagen: Das gibt es doch nicht, mir meinen Voltaire so zuzurichten. Und hat kaum Kruzitürken gesagt, da fährt ihm Gundi dazwischen. Sie sitzt wie immer neuerdings im Fauteuil à la Sirène, aber sie sitzt da ja nicht, sie ist ein Teil, und nicht der schlechteste, dieses Fauteuils. Spitz-scharf-jäh ruft sie: Diego! Der hört den Ton, weiß noch nicht, wodurch er sich den zugezogen hat, schaut also nur ergeben zu ihr hin und kriegt zu hören: Du weißt, daß ich fluchende Männer so gräßlich finde wie Männer, die ihre Muskeln für Geld zeigen. Das war nun wieder meine Sekunde. Es hätte meine Selbstbeherrschungskräfte überfordert, die so dazwischenfahrende Gundi nicht zu belehren, daß Kruzitürken alles andere als ein Fluch ist. Mit Quellenangabe: Ein Cousin in Wien hat ein Buch über die Belagerungen durch die Türken geschrieben, darin berichtet er, daß Wien sowohl von den Kurruzzen als auch von den Türken belagert worden sei. Aus dieser Kriegserfahrung mit Kurruzzen und Türken stamme der Ausruf. Gundi wollte überhaupt nicht hören, daß sie sich eingemischt hatte ohne Grund. Sie stand auf und ging. Keiner wagte, sie aufzuhalten. Am fassungslosesten war Diego. Sie flieht, sagte er strafend zu mir hin. Ich wollte noch um zivilere Wörter bitten, aber er war und blieb fassungslos. Sie flieht, sagte er noch einmal. Sie hat doch recht. In diesem Raum, in dem alles vermieden ist, was nicht beanspruchen darf, schön zu sein, da fluche ich wie eine Trachtenbedienung auf dem Oktoberfest. Also blieb ihr nur die Flucht. Diego ließ uns jetzt spüren, daß die dreißigtausend Erdbebentoten von Lissabon, die bei Voltaire den Candide ausgelöst hatten, und Gundis Flucht zwei gleichermaßen weltbelehrende Ereignisse sind.
Und Karl von Kahn: Man kann sich, was einen lehrt, nicht aussuchen.
Er habe es, sagte Babenberg, immer attraktiv gefunden, daß Diego von seinen Gästen beneidet werden wollte. Wie er das als Lust verkaufte, von seinesgleichen beneidet zu werden, das sei immer großartig gewesen. Jetzt aber die Nötigung, ihn zu bedauern, mit ihm zu trauern. Also peinlicher sei ihm, Babenberg, noch nie etwas Gesellschaftliches gewesen. Deshalb sei er, als Gundi geflohen war, aufgestanden, habe, was jetzt nicht paßte, à la Jérôme Morgen wieder lustig gesagt und sei gegangen. Im Hinausgehen habe er gedacht, er, wie Diego zum dritten Mal verheiratet, müßte den eigentlich verstehen. Allerdings, wenn seine Dritte fliehen, das heißt den Vertrag kündigen würde, wäre er ruiniert. Womit er angelangt sei bei dem Grund seines Besuchs. Geld sei bis jetzt immer die einfachste Form der Bestätigung gewesen. Jetzt bleibt es aus. Sein Vater hat Geld verachtet. Als bayerischer Beamter konnte er sich das leisten. Beamte sind Engel ohne Flügel, hat er behauptet. Zum Schluß Parkinson, und Daumen und Zeigefinger der rechten Hand machten dann ununterbrochen und ununterbrechbar die Geldzählbewegung. Wenn er sah, daß man hinschaute, deckte er diese Hand mit der anderen zu. Er, Babenberg junior, hat auf seinen Konten zwar Geld, aber plötzlich wird ihm klar, uralt darfst du nicht werden. Und die drei Frauen plus Kinder! Und alle reden auf einmal vom Geldanlegen. Der Börsenbericht abends will wichtiger sein als der Wetterbericht. Ob sich Herr von Kahn vorstellen könne, wie einem zumute sei, der trotz aller biologisch verordneten Resignationen im Innersten immer noch glaubt, Geld müsse man selber verdienen und nicht andere für sich verdienen lassen. Bitte, er möchte nicht mit den Kollegen verwechselt werden, die ihr Leben in einer Moralerstarrung verbracht haben, aus der sie durch keine Erfahrung erlöst werden wollen. Diese Kollegen könne er in all ihren Hervorbringungen schätzen oder auch bewundern, nur eben nicht in ihrem linken Eo-ipso-Bessersein. Loben und preisen wir doch die katholische Kirche. Ganz bescheiden hat sie die Unfehlbarkeit auf eine Person beschränkt, und auch dann noch auf das Spezialthema Glaubens- und Sittenfragen. Die Linken, und zwar vom feinsten Marx über den weltweiten Professor bis zum gröbsten Ortsverein, sie kennen den Zweifel nicht. Den Papst macht der Heilige Geist unfehlbar, den Linken seine Moral. Wer sehnte sich da nicht nach dem Heiligen Geist. Nun trainiert er das Nicht-eo-ipso-Besserseinwollen schon ziemlich lange. Aber sobald es ums Geld geht, melde sich diese Altmahnung: Geld muß man selber verdienen. Aber jetzt verdiene er eben keins mehr. Soll er jetzt Angst haben, daß er länger lebt, als er finanzieren kann? Soll er lernen, sich zu freuen, wenn der Doktor sagt, eine melanomöse Entartung im epidermal-korialen Grenzbereich ist nicht auszuschließen? Da ihn Herrn von Kahns Zuhörfähigkeit geradezu verführe, gestehe er auch noch, daß ein Cousin von ihm ein hohes Tier in einer Wiener Bank sei, den habe er, wann immer der mit seinen unerbetenen Belehrungen angetanzt kam, merken lassen, daß er Geldleute nicht so ernst nehmen könne wie sie sich selbst. Und jetzt sitze er vor einem Geldmenschen und lege Geständnisse ab.
Und streckte und dehnte sich ein bißchen, machte also deutlich, daß er dieses Gestehen durchaus genieße. Lange Arme, lange Beine. Die Stiefel, die jetzt unter den Hosen hervorschauten, kamen aus England.
Wissen Sie, sagte er dann fröhlich, über Sexualität reden wir inzwischen, aber über Geld immer noch nicht. Wer von Geld oder Sexualität spricht, gibt entweder an oder will Mitleid. Beides gleich peinlich. Schuld daran: das Bank und das Beichtgeheimnis. Für Geheimhaltung ist er nicht. Und nicht, obwohl er, sondern weil er bi ist. Er hat sich unerpreßbar gemacht. Gut, Geschlechtlichkeit macht einsam. Und das unter der Illusion größtmöglicher Gemeinsamkeit. Er ist durch seine Bi-Struktur erfahrungsreicher in diesem Alleinseins-Zirkus, er ahnt, daß wir im Geschlechtlichen alle Geheimniskrämer sind. Und das Wort Krämer wähle er dafür ganz bewußt. Wenn seine Frau wochenlang ausbrütet, daß sie den Vertrag kündigen will, sieht er ihr das nicht an, merkt er nicht, was sich da tut, bis sie’s ausspricht. Dann ist er ruiniert. Gewinnmitnahme, in Herrn von Kahns Jargon. Bis jetzt lebt der Vertrag davon, daß er die männlichen Partner häufig wechselt, seiner Frau aber absolut treu ist. Sein Trick: Man darf aus verschiedenen Ängsten nicht EINE Angst werden lassen. Als Angst-Jongleur ist er eher virtuos. Ja, er gibt zu, das Jonglieren der Ängste steigert sein Lebensgefühl. Ganz ohne Angst würde er wahrscheinlich einer Daseinsbewegungslosigkeit verfallen, einem tödlichen Schwere-Erlebnis.
Bravo, rief Karl von Kahn. Diese Arie passe in seine Oper. Angst-Jongleur, das werde er einbauen in seinen täglichen Gesang.
Das war die Ouvertüre, sagte Babenberg. Er ist unter vielem anderen auch der Cousin von Josepha Sidonia Gräfin Kotulinsky und erbt im neuen EU-Osten Ländereien und das Schloß, in dem Beethoven seine Lieder An die ferne Geliebte komponiert haben soll; ob auch die Mondscheinsonate, wird gerade untersucht. Er will da nicht hin. Er will verkaufen. Bisher hat er das Geld, das er verdient hat, verdient. Er hat sich sogar daran gewöhnt, daß er gelegentlich mehr verdient hat, als er verdient hätte. In den sagenhaften zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts schrieb Lion Feuchtwanger in einem Brief, er habe in Rußland so viel Geld, daß er dort bis an sein Lebensende von Kaviar leben könnte. Das waren noch Zeiten.
Was für Zeiten, fragte Karl von Kahn.
Unschuld gewährende, sagte Babenberg. Ein linker Sohn reicher Leute hat im unglücklichsten Land der Welt Geld, das er in Kaviar ausdrückt. Heute ist Genuß wieder eine Sünde. Er hat so viel gearbeitet, daß ihn die sentimentalmoralischen Attacken nicht kleinkriegen. Die Freundlichkeitstonarten der Gutmenschen haben ihn belehrt: Er ist kein Wärmeleiter. Im Gegenteil. Seine Wut sucht immer noch nach einem Anlaß, der ihr entspräche. Er ist längst ausgetreten aus allen Verbesserungsvereinen dieser Welt. Er lebt von der Angst, es könnte einer kommen, der die globale Unordnung überwindet. Man stelle sich vor, alles ginge plötzlich mit rechten Dingen zu. Wir wären sofort verloren. Wir leben im Schutz verhindernder Umstände. Und in der Angst, sie könnten entfallen. In dieser Angst und von ihr leben wir. Bisher hat sein Spruch ausgereicht: Laß alles weg, was du nicht kannst, dann bist du gut. Aber — und damit wolle er’s vorerst genug sein lassen — trotz seiner nahezu prinzipiell illegitimen Lebensart fehle ihm der Mut, etwas Unrechtes zu tun. Je illegitimer, desto legalistischer. Wie soll er Geld verdienen mit Geld, das er nicht verdient hat. Bitte schön. Was soll er tun?
Karl von Kahn sagte, wer wolle, könne an das Geld glauben, wie man daran glauben konnte, als die Münzen noch etwas wert waren. Georg Simmel habe das vor mehr als hundert Jahren beschrieben, wie beim Geld aus der Substanz die Funktion wurde. In mir sehen Sie einen Funktionär des Geldes, sagte Karl von Kahn. Und der bietet Ihnen, wenn Sie gestatten, Aufklärung an. Auch Geld betreffend darf Aufklärung sein. Für Geld ETWAS kaufen, ein Haus, eine Zahnbürste, das ist immer noch Tauschhandel. Erst wenn keine Gegenstände mehr stören, wenn Geld ganz bei sich selbst bleibt, wenn man durch richtige Fügung die Geldvermehrung bewirkt und das vermehrte Geld wieder dazu bringt, sich zu vermehren, erst da beginnt das Reich der Freiheit beziehungsweise die Kunst oder, was das gleiche ist, die Religion, die keinen reineren Ausdruck kennt als die Zahl, das Geistige schlechthin. Wenn sie nicht dazu mißbraucht wird, Dinge zu addieren. Aber bevor sie den Zahlen die Regie überlassen, muß er Herrn Babenberg eine Version der Rechtfertigung anbieten. Es gibt Kunden, da genügt es, eine Ethikpalette vorzulegen. In Rüstungsfirmen nicht, aber in Solartechnik schon. Herrn Babenberg muß er eine feinere Formel der Rechtfertigung anbieten. Nämlich seine eigene. Die lautet: Da alle Menschen, durch welche Umstände auch immer, so sind, wie sie sind, gibt es, will man leben, kein anderes Ziel, als von ihnen unabhängig zu sein. Unabhängig von der Zustimmung anderer.
Babenberg: Dafür nehmen Sie die bewußtloseste, willkürlichste, geistloseste Diktatur in Kauf, die denkbar ist, den Markt. Oder wollen Sie sagen, dieser alles entscheidende Markt habe einen Wert an sich oder in sich oder für sich?
Karl von Kahn: Stellen wir an den Markt Ihre Lieblingsfrage, die nach der Gerechtigkeit. Der Markt ist nicht ungerechter als alles andere, was Menschen veranstalten. Der Markt ist nicht ungerechter als irgendein Richter, ein Lehrer, ein Vater, als irgendeine sonstige Autorität. Es kann einer vorübergehend den Markt erobern. Er kann eine Marktmacht so gebrauchen, daß man’s Mißbrauch nennen kann. Einhundert Sekunden lang. Wie die zwei Herren von der Citigroup, immerhin der größten Bank der Welt. Da werfen zwei Herren per Computer Staatsanleihen für 12,9 Milliarden Dollar auf den Markt. Das reißt den Wert dieser Anleihen sofort in die Tiefe. In weniger als einhundert Sekunden kaufen sie 4 Milliarden der jetzt billiger notierten Anleihen zurück und haben in diesen hundert Sekunden eine Million Dollar verdient. Auf beiden Seiten des Atlantiks sanfte Empörung. Die Financial Services Authority schweigt. Was sagt Ihr Gerechtigkeitsgefühl?
Babenberg: Sie machen mich wieder zum Linken.
Karl von Kahn: Einmal links, immer links.
Babenberg: Aber Sie wollen mich so weit bringen, daß ich sage: Alle Achtung.
Karl von Kahn: Die dreihunderttausend Citigrouper around the globe haben ein Ethiktraining absolvieren müssen.
Babenberg: Die Wirklichkeit ist immer selbst ihre beste Darstellerin.
Karl von Kahn: Ich stimme zu. Aber der Markt hat ein Zeitmaß für seine Gerechtigkeit, das sich dem simplen Bedürfnis, daß die Strafe der Tat miterlebbar folge, entzieht. Wer den Markt moralisch fassen will, faßt immer nur sich selbst.Babenberg: Faust.Karl von Kahn: Wortkostümverleih.Babenberg: Eins zu null für Sie.
Karl von Kahn: Brauchen wir schon Schiedsrichter? Ich habe noch Beispiele. Marktblüten, Anlagebeispiele. Low Five-Strategie, zum Beispiel.
Am Jahresanfang werden aus den zehn Dow-Jones-Titeln, Sie wissen, das sind die, die jeden Abend mit dem Dax im Fernsehen gezeigt werden, da werden aus den zehn Aktien mit der höchsten Dividende die fünf Aktien mit dem niedrigsten Kurswert gewählt, und die sollen gekauft werden. In dreißig Jahren wurden so jährlich 17,7 Prozent verdient. Oder: Die Deutsche Börse gibt alle fünfzehn Sekunden den iNAV bekannt. Das ist der indicative Net Asset Value, also der Nettoinventarwert von börsennotierten Indexfonds. Ohne mich! Ich messe nicht. Ich bastle weder Paradiese noch Katastrophen. Ich beobachte den Markt. Ich bin dem Markt ausgesetzt. Ich habe das Messen meinen Mitarbeitern überlassen. Am Ende des Quartals kontrollieren wir, wer die besseren Zahlen hat. Kein Profi will heute auskommen ohne das tägliche Befragen der Benchmark, das sind eben die den Vergleich erlaubenden Datenlieferungen von Bloomberg, Reuters und so weiter. Dr. Herzig, mein jüngster Mitarbeiter, sagt, arbeiten ohne Benchmark, das ist wie Hochsprung ohne Latte. Jeden Morgen kommt er ins Büro und meldet, wieviel Prozent wir überm Dax sind. Ich weiß ohne Vergleich, ob mein Portfolio-Management funktioniert oder nicht.
Babenberg: Sie panzern sich mit Instinkten gegen den Panikhorizont von dreihundertsechzig Grad, gegen das fleißigste Gerücht des Jahrzehnts, das ausschreit, daß die Armen ärmer und die Reichen reicher werden.
Karl von Kahn: Jetzt sind Sie auf der guten alten Schiene gelandet. Aristoteles, Thomas von Aquin und Karl Marx singen unter Ihrer Stabführung im Chor die Antikapitalistenarie vom bösen Zins. Wucher, dröhnt es durch die Jahrhunderte.
Babenberg: Ich wiederhole, daß die Reichen reicher werden und die Armen ärmer.
Karl von Kahn: Matthäus 25, 26: Denn wer hat, dem wird gegeben; und wird im Überfluß haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.
Babenberg: Genau! Heute nennt man’s Globalisierung.
Karl von Kahn: Weil Sie kein Kunde sind bei mir, lesen Sie nicht meine Kunden-Post. Vor zwei Wochen war da zu lesen Matthäus für Anleger. Es ist hörenswert, wie Matthäus den von der Reise zurückgekehrten Herrn seine Diener prüfen läßt. Einem hat er, bevor er verreisen mußte, fünf Talente Silbergeld gegeben, dem anderen zwei Talente, wieder einem anderen ein Talent. Jedem nach seinen Fähigkeiten, sagt Matthäus. Sobald der Herr weg war, begann, sagt Matthäus, der Diener, der fünf Talente erhalten hatte, mit ihnen zu wirtschaften, und er gewann noch fünf dazu. Der mit den zwei Talenten gewann zwei dazu. Der, der ein Talent bekommen hatte, grub ein Loch in die Erde, darin versteckte er das Geld seines Herrn. Luther schrieb nicht, der mit den fünf Talenten begann zu wirtschaften, Luther schrieb: und händelte mit den selbigen. Dann kommt der Herr zurück und lobt die, die mit fünf beziehungsweise zwei Talenten einhundert Prozent Gewinn gemacht haben. Er wird beiden, sagt er, in Zukunft größere Aufgaben übertragen. Der, dem er ein Talent anvertraut hat, sagt jetzt: Herr, ich wußte, daß du ein strenger Mann bist; du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst, wo du nicht ausgestreut hast; weil ich Angst hatte, habe ich das Geld in der Erde versteckt. Hier hast du es wieder. Der Herr beschimpft ihn. In der heutigen Übersetzung liest sich das so: Hättest du mein Geld wenigstens auf die Bank gebracht, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten. Bei Luther hieß es noch: So soltestu mein geld zu den Wechslern gethan haben, und wenn ich kommen were, hette ich das meine zu mir genomen mit wucher. Jetzt die Moral von der Geschichte, und es ist eine rein wirtschaftliche Moral: Darumb nemet von jm den Centner und gebets dem, der zehen Centner hat. Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und wird die fülle haben. Wer aber nicht hat, Dem wird auch das er hat genomen werden. Das ist Klartext: Gebt Geld denen, die’s vermehren können. Was heute Talente genannt wird, hieß bei Luther Centner. Bei Matthäus folgt darauf, daß man auch mildtätig sein soll. Kein Wort gegen die so ins Recht gesetzte Geldvermehrung.
Herr von Kahn überreichte Herrn Babenberg das Exemplar der Kunden-Post, aus dem er vorgelesen hatte.
Babenberg: Eine hübsche Auslegung haben Sie sich da zurechtgemacht.
Karl von Kahn: Ich bin Matthäus gefolgt, Wort für Wort. Auch unsere Gescheitesten haben nur so simpel denken können: Einer leiht sich Geld, gibt es aus und soll mehr zurückzahlen, als er sich geliehen hat, pfui! Aber schon bei Matthäus wird Geld nicht ausgegeben, sondern angelegt. Einhundert Prozent Gewinn. Er habe gerade in Genua seinen italienischen Geschäftsfreund, der arbeite bei der ehrwürdigen Carige, gefragt, wie Zinseszins auf italienisch heiße. Zins, italienisch: l’interesse, wie kann daraus Zinseszins werden? Und siehe da, drei Wörter, sagt ihm Federico, gibt es für Zinseszins im Italienischen, wo wir ja das Geldwesen gelernt haben: usura, anatocismo und l’interesse composto. Usura ist dann die der Moral dienende Variante, Wucherzins. Anatocismo komme als griechisches Importwort schon bei Cicero vor: Anatocismo anniversario stehe bei Cicero. Wenn ich meinen schlanken Federico richtig verstanden habe, ist tókos der Zins im Griechischen und anatokós wäre der Zins auf den Zins. Das war also immer schon so. Aber jetzt wie noch nie. Und das wird Ihnen in Genua erklärt, während Sie an der Oper vorbeischlendern, wo die Komponistenfahnen wehen, die schönsten Musiknamen überhaupt, hinüber zum Matteotti-Platz, an Fassaden entlang, an denen sich die Augen erholen können von dem, was bei uns aus dergleichen wurde. Er ist noch nie von Genua zurückgeflogen nach München. Hingeflogen immer. Zurück nie. Wegen Turin. Immer mit dem Zug noch nach Turin. Turin, die städtisch gebändigte Pracht. Weil die Palazzi so fensterreich sind, sind sie, obwohl sie so groß wie schön sind, Stadthäuser. Sein Lieblingsbau unter diesen Prachtsbauten, der Palazzo Carignano. Gebaut von Guarino Guarini. Er hat große, gewaltige Gebäude bauen müssen, hat aber offenbar keine leeren Flächen ertragen, eine bloße Wand, eine nackte Wand muß für ihn der reine Schrecken gewesen sein, darum Fenster an Fenster, und oft genug werden die Fenster noch überworfen mit steinernen Schals, und überall wuchert der Stein in ein Muster, wie unsereins kritzelt, wenn er kein leeres Papier aushält. Ich muß Ihnen jetzt, daß Sie ihn noch ein bißchen ernst nehmen können, die Wörter aufsagen, die aufgeboten werden, um Guarino Guarini vorstellbar zu machen: eccentricità, eccezione, eccesso, singolarità, estrosità, bizzarria, cappriccio, stravaganza, esagerazione, kurz una superbissima vista. Das Wort Fassade hat bei uns mit Recht keinen ungetrübten Ruf. Unsere Fenster sind leblose Öffnungen in zweckdienlicher Verteilung. In Turin sind die Fenster die Fassade, diese mit steinernen Schals überworfenen Fenster. Ohne diese Schals frören sie. Mit ihnen träumen sie. Da schauen Sie bei mir hinaus. Die Vereinsbank-Fassade. Eine Fassadenvisitenkarte nach dem Prinzip Zuviel ist nicht zuviel. War ja auch hundert Jahre nach dem Turiner Baurausch. Alle Paläste, Kirchen, Kastelle, 1640 bis 1680, in nicht mehr als vierzig Jahren gebaut. Liberare gli scenari. Da darf’s einem doch ganz anders werden. Daß er jetzt so ins Schöne abgeschweift ist, überrascht ihn mindestens so wie wahrscheinlich auch Herrn Babenberg. Und da ihm am Anfang dieses Gesprächs danach war, möglichst wenig Zensur auszuüben über sich selbst, ist ihm diese Kurve ins Großitalienische passiert. Er entschuldigt sich nicht. Sagt lieber dazu, daß das Motiv dieser Abweichung gewesen sein könnte, in Markus Luzius Babenberg eine Neugier auf Turin zu wecken und sich dann gar als Reiseführer anzubieten. So etwas muß nicht, darf aber durchaus folgenlos bleiben. Wenn Geldvermehren nicht zu einer Pflicht geworden wäre, zu einer Pflicht seinen Kunden gegenüber, wäre er längst nach Turin gezogen. Zurück zum interesse composto …
Momentino, rief Herr Babenberg, sprang auf und ging hin und her, als wolle er vermeiden, unbeherrscht zu reagieren. Dafür, daß er so groß und langbeinig war, machte er recht kleine Schritte. Er bremste sich. Also bitte, sagte er dann und sagte es nicht zu Karl von Kahn hin, sondern in den Raum hinein, also bitte, Pathos darf sein. Jeder ist auf einer Wallfahrt zu einem, zu seinem Heiligen. Unser Diego zu seinem gelenkigen Voltaire, Sie zu Ihrem findigen Warren Buffett und Markus Luzius Babenberg ist, solange er noch beten konnte, Friedrich Nietzsche nachgereist, hat fromm alle seine Adressen abgeklappert, die Türklinken in der Hand behalten, weil sie aussahen, als seien sie’s noch. Ihn berührt, was er berührt. Er ist ein Berührer. Er läßt jedem seinen Hausheiligen. Für ihn war möglich nur Dostojewskij oder Nietzsche. Die Sprache hat’s entschieden. Aber er war nicht in Turin. Glücksfund, hat Nietzsche Turin genannt. Er, Babenberg, hat die letzte Adresse, Via Carlo Alberto 6, dritter Stock, nicht geschafft, und von da aus hat Nietzsche den Palazzo Carignano gesehen, und er, Markus Luzius Babenberg, hat es nicht geschafft, die Piazza Carlo Alberto zu betreten, das Pflaster der Katastrophe, das Nietzsche-Golgatha, der Gekreuzigte war ja dann er, aber jetzt …
Herr Babenberg wandte sich Karl von Kahn zu.
… daß Herr von Kahn ihm Turin offeriere, sei eine biographische Pointe. Vielleicht könnten sie einander führen. Zurück zu usura, anatocismo und interesse composto.
Das, sagte Karl von Kahn, seien eben die Maßnahmen, den Geldwert dem gesellschaftlich verfügten Verfall zu entziehen. Seine Geschäftsphilosophie sei empfindlich für jede Schreckensmeldung. Dann aber, je krasser die Meldung, desto spürbarer die Selbstbetörungskraft seiner Philosophie. Was ihm Angst einjagen soll, beflügelt ihn. Immer wenn er zusammenbrechen sollte, blüht er auf.
Dann geht es Ihnen wie den Erbsenblattläusen, sagte Herr Babenberg. Die schütten in Gefahrensituationen einen Geruchsstoff aus, der ihrem Nachwuchs Flügel verleiht. Wenn die Gefahren zum Dauerzustand werden wollen, dann schlüpfen aus den Eiern mehr und mehr Blattläuse, die schon mit Flügeln ausgerüstet sind. Ich hoffe, die Blattlaus-Parallele ist Ihnen nicht unangenehm.
Karl von Kahn: Für mich ist es immer das Wichtigste, daß ich nicht der einzige bin, der so ist, wie ich bin. Ich bin Ihnen dankbar für das Blattlaus-Beispiel. Je mehr Natur in einem Vorgang, desto weniger Willkür. In den Ahndungen des Marktes, die ich nicht Bestrafungen nenne, ist weniger Willkür enthalten als in allen anderen von Menschen produzierten Systemen. Der Markt hat Wirkungen, reagiert auf seine Wirkungen, hat dadurch wieder Wirkungen, auf die er wieder reagiert. So viele Kräfte der Vernunft und Unvernunft, der Hoffnung, der Angst, die zusammenwirken, auch im Gegeneinander noch zusammenwirken und im unbeherrschbaren Wechsel Hochstimmung und Panik produzieren, ein Prozeß, in dem nichts ohne Folge bleibt, aber keine Folge vorhersehbar und schon gar nicht determinierbar ist — und wenn, dann nur im zur pathologischen Anekdote abgeschnürten Extrareservat — , da darf man von einem Vorgang sprechen, der zur Natur gehört oder doch dahin tendiert. Die Wetterereignisse sind leichter zu beobachten und zu berechnen als die des Marktes, aber genausoschwer beeinflußbar. Die Moral schützt vor Verständnis. Sie konstruiert das Gute nur, um das Böse zu schaffen. Unter dem Vorwand, es zu beseitigen. Interessiert ist die Moral nur am Bösen. Der immer lebensfeindlichen Moral präsentiere ich die lebenspendende Kraft des Kontos. Sie prüfen es nicht jeden Tag, aber jeden fünften Tag schon und sehen, wie es anschwillt und anschwillt, nicht explodiert, sondern anschwillt. Sie spüren, daß Sie einen Naturvorgang erleben. Das ist Wachstum. Das geht auf Sie über, Sie wachsen mit, egal, wie alt Sie sind, das schwöre ich Ihnen. Und wenn es schwindet und schwindet, wenn es Sie leiden läßt, dann erleben Sie das auch als Leben. Verluste werden, sagt die idiotische Statistik, dreimal so stark erlebt wie Gewinne. Ja, da sage ich doch: Her mit den Verlusten. Aber es gibt natürlich keinen Gewinn, also auch keinen Verlust. Es gibt die Bewegung. Die Illusion. Ist gleich: das Leben. Übrigens, wenn Sie einmal in Ihren Kreisen Legitimierhilfe brauchen, Albert Einstein, die Zitier-Ikone schlechthin, hat gesagt, der Zinseszins sei die größte Erfindung des menschlichen Geistes.
Babenberg: Danke für die Predigt. Ist gespeichert. Warum aber der Spendierrausch Ihres George Soros? Dieser wahrhafte Weltmann! Ist das, was er uns vormacht, nicht von der Qualität einer Beichte in der Dorfkirche? Zuerst der Spekulations-Weltmeister, dann gleich der Weltmeister in der Philanthropie.
Karl von Kahn: Er ist nicht MEIN George Soros. Aber warum das moralisch messen? Was Sie Spendierrausch nennen, ist eine Wirkung der Wirkung. Soros hat den Markt mit Marktmitteln hochgereizt wie keiner vor ihm, hat irre verdient, hat gesagt: So irre darf nicht verdient werden, der Markt muß reguliert werden. Und um vor sich selber glaubhaft zu sein, spendiert er jetzt noch und noch. Allerdings wird er da doch ideologisch. Auf seiner Hundertmillionendollaruni in Ungarn sollen Menschen zu Kosmopoliten erzogen werden. Er selber sei auch einer. Merken Sie, wie da der Realismus hinkt? Kosmopolit kann man, glaube ich, nicht vor aller Erfahrung werden, sondern erst nach aller Erfahrung. Von mir aus auch umgekehrt. Das ist Ihr Fach. Andererseits: Daß Soros jetzt verkündet, es herrsche ein Mangel an echten Werten, sagt mir, daß sein Markterfolg ihn entwickelt hat. Der Markt ist von selbst das, was die Veranstaltungen der Politik und der Kunst sich zu sein bemühen: die Verbesserungskraft. Die Bankiersfamilie in Zürich, die sich zwei ununterscheidbare Superautos bauen ließ, von denen immer nur eins zu sehen sein durfte, weil die Leute nicht sehen sollten, daß man zwei solche Luxusdinger hat. Als ein Junior nach dem Motiv gefragt wurde, sagte er: Tiefstapelei und Angst. Jener Landgraf, dann Kurfürst, der seine Landeskinder verkaufte und der Reichste wurde, wollte ja auch für arm gehalten werden.
Babenberg: Sie reden von meinem nächsten Buch.
Karl von Kahn: Und schon schweig ich.
Babenberg: Zur Zeit kann ich nirgends länger als dreißig Minuten sein, ohne von meinem Buch zu reden. Ob es paßt oder nicht. Ich fang einfach davon an.
Karl von Kahn: Ich bitte darum.
Babenberg: Aber heute paßt es sogar.
Karl von Kahn: Und die halbe Stunde ist längst um.
Babenberg: Das Buch heißt Schuld und Sahne.
Karl von Kahn: Das klingt aber.
Babenberg: Und beschrieben wird die Schuldunfähigkeit des Menschen. Wer von Schuld spricht, spricht immer von den anderen, nicht von sich selbst. Schuld und Sahne. Inzwischen heißt Schuld und Sühne im Deutschen wieder, wie es dem Original entspricht: Verbrechen und Strafe. Prestuplenie i nakazanie. Die Gesellschaft hat das Recht, Handlungen Verbrechen zu nennen und Verbrecher zu bestrafen. Daß der Verbrecher sich schuldig fühlen soll, kann sie verlangen, aber nicht bewirken.
Karl von Kahn: Zur Schuldsprache in der Marktwelt: Der Hundertsekunden-Coup, the Citigroup’s notorious Dr. Evil trade, hat stattfinden müssen, weil the Citygroup was under pressure to deliver big profits in a hurry.
Frau Lenneweit hatte schon den pelzbesetzten Mantel in der Hand, die Pelzmütze reichte Karl von Kahn, es wurde ein herzlicher Abschied.
Als Herr Babenberg draußen war, sagte Frau Lenneweit, den bayerischen Volksmund variierend: Jeder Zoll ein Herr.
Karl von Kahn machte Frau Lenneweit die üblichen Vorwürfe, weil sie wieder so lange geblieben war; sie sah ihn mit abgrundtiefen Augen an. Seit Helen aus dem Haus war und Frau Lenneweit das gemerkt hatte, ohne daß es ihr gesagt worden war, wurde das allabendliche Auseinandergehen schwieriger.
Dieser Babenberg. Wenn man von Amadeus Stengl wegen seines Niveaus nicht das Allerschlimmste gewärtigen mußte — obwohl man inzwischen nichts mehr ausschließen sollte — , so galt das erst recht für Babenberg. Er war nicht der immer von sich Hingerissene wie Diego und nicht der Incasso-Beamte seiner Prominenz wie Amadeus, Babenberg war nicht … gewinnend, er warb nicht, er war nicht cool, sondern kühl. Er wirkte nicht freundlicher, als er möglicherweise war. Das war doch das Höchste.
Auf jeden Fall ein Kundengespräch der erträglichen Art. Geld ist das Apriori. Sagt schon Sohn-Rethel. Den zu zitieren hatte er vergessen. Sohn-Rethel, das war sicher ein Intellektueller nach Babenbergs Geschmack.
In der U-Bahn saß er einer braungebrannten Frau gegenüber, die den in ihren Schoß gebetteten Pudel so zärtlich behandelte, daß sie es mit Recht für angebracht hielt, die Leute um sie herum aufzuklären. Sie mache sonst kein solches Getue, aber ihr Hund, so alt wie Methusalem, sei heute operiert worden. Als sie das sagte, bemerkte Karl von Kahn die Narbe auf ihrer braungebrannten Stirn. Diese Narbe würde ihn, auch wenn die Frau nicht braungebrannt wäre, kein bißchen stören. Er war froh, daß er die Frau mit der Stirnnarbe anschauen konnte. Er würde mit dieser Frau, wenn sie es zuließe, hingehen, wohin sie wollte. Mit einer Frau, die eine Stirnnarbe hatte und einen heute operierten uralten Pudel so hätschelte, daß sie es selber für nötig hielt, das den Leuten in der U 6 zu erklären, mit einer solchen Frau könnte er sein Leben verbringen. Leider stieg sie schon an der Dietlindenstraße aus. Wenn sie am Nordfriedhof ausgestiegen wäre, hätte er ihr anbieten können, den Pudel zu tragen. Und warum war er nicht einfach auch an der Dietlindenstraße ausgestiegen? Weil er ein Idiot war.
Es fiel ihm auf, daß er, weil Joni weg war, kaum einer Frau begegnen konnte, mit der er nicht hätte sein Leben verbringen wollen. Offenbar war er jetzt haltlos.
Fremd war ihm jetzt der Hochmut, mit dem er auf die Zuschauer herabsah, die Fernsehzuschauer, die der Formulierer Amadeus Quotenfutter nannte. Jetzt saß er selber vor dem Apparat, reif fürs Programm. Er brauchte es. Er wollte nichts mit sich zu tun haben. Sein Vorwand: Sonntagabend und Zu Gast bei Gundi. Danach würde er noch einmal lesen, was Erewein ihm hinterlassen hatte.
Gundi fing ganz anders an. Kein schwarzer Schiffsbug mehr mit Inutile Precauzione, kein Fliegender Holländer mehr von Hindemith lustig heruntermusiziert, kein Ruhlmann-Sofa mehr, nichts, wie es war, dafür ein großes weißes Zelt, darin saßen Gundi und ihr Gast, saßen auf Barhockern, saßen an einem runden Bartischchen einander gegenüber. Gundi stützte ihre Ellbogen auf die runde Tischplatte, die silbern gleißte, ihr gegenüber saß Amadeus Stengl. Ihr Kinn lag auf ihren zwei kleinen Fäustchen, sie sah ihren Gast an, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Er hielt sich mit beiden Händen an der silbernen Tischplatte fest, als brauche er, wenn er Gundis Blicken standhalten wolle, diesen Halt. Plötzlich nahm sie seine Rechte in ihre Hände. Der Tisch war so bemessen, daß das leicht möglich war. Sie stieg vom Barhocker, löste ihn von seinem Hocker und führte ihn zu dem großen, breiten Zelteingang, schon fast eher ein Tor als ein Eingang. Das war kein Zelt, das von irgendeiner Organisation der Welt aufgestellt worden sein konnte. Das war ein Zelt, das man schon im Theater oder im Film gesehen hatte. Das war historisch. Shakespeare, dachte man, wenn man dieses Zelt sah. Und es stand im Sand, auch innen, der Boden Sand, nicht einmal festgetreten. Die beiden schauten hinaus auf den sonnenbeschienenen Strand und auf das Meer, das dem Strand mit langsamen Wellen flattierte.
Als habe sie Amadeus Stengl nur zeigen wollen, wo alles stattfinde, geleitete sie ihn jetzt wieder zurück zum Bartisch mit der Silberplatte, beide bestiegen ihre Stühle.
Gundi rief: Cécile.
Eine Frau, zirka fünfzig, kam aus der hinteren Zeltwand, die offenbar nur aus mehreren Vorhängen bestand. Cécile trug einen Herrenanzug in Grau.
Gundi: Das ist Cécile. Die alles für mich tut.
Cécile: Du hast noch nichts verlangt, was ich nicht gern getan hätte.
Gundi: Professor Amadeus Stengl.
Amadeus hüpft vom Stuhl, nimmt Céciles Hand, küßt sie.
Gundi: Champagner, bitte.
Cécile schenkt aus der bereitstehenden Flasche ein. Dann geht sie wieder durch die Rückwand ab.
Gundi sagt: Zum Wohl, Amadeus sagt: Prosit. Sie trinken.
Gundi in einem tomatenroten Leinenanzug, Amadeus in einem seidigen Hellviolett. Die Musik hört auf. Eine Frauenstimme hatte sich mit Jazztönen und — rhythmen gesteigert und war, als die Musik aufhörte, gerade auf dem Höhepunkt, der nur noch ein Schrei war, angekommen.
Herr Professor, sagt Gundi.
Amadeus: Muß das sein?
Gundi: Ich gratuliere.
Und reicht ihm die Hand hinüber, und er springt vom Stuhl und küßt die Hand, gibt sie zurück und steigt wieder auf den Stuhl.
Gundi wendet sich jetzt an die Zuschauer, sagt noch schnell zu Amadeus hin: Sie kommen gleich dran. Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, Sie sind es inzwischen gewöhnt, daß ich Sie jedesmal in ein anderes Milieu, in eine andere Welt einlade. Und Sie erwarten mit Recht, daß das Milieu, in das ich Sie einlade, etwas zu tun habe mit dem Gast, den ich Ihnen vorstellen will. Das ist, weil ich gewöhnlich meine Gäste vor der Kamera zum ersten Mal sehe, immer riskant. Es finden vorher lange Briefwechsel statt. Sie wissen, darauf besteh ich. Und daß die Briefe dessen, der eingeladen werden will, und meine Briefe von Hand geschrieben werden, ist Bedingung. Und daß der Briefwechsel, der einer Einladung vorangeht, sich oft über viele Monate hinzieht, wissen Sie auch. Alles das ist heute anders. Zum ersten Mal habe ich einen Gast geladen, der sich prominent vorkommen darf. Ich habe einmal gesagt, daß ich es unanständig finde, Menschen einzuladen, die zu der andauernd diensttuenden Talk-Truppe der Fernsehsender gehören. Nichts ist, sage ich immer noch, so uninteressant wie jemand, den man hauptsächlich vom Fernsehen her kennt, dessen öffentliche Handlungen vor allem Fernsehauftritte sind. Der heutige Gast erfüllt so ziemlich alle Bedingungen, die ihn bisher für mich uneinladbar gemacht haben. Ich habe nachzählen lassen: Allein im vergangenen Jahr ist er in zweiunddreißig Talk-Sendungen zu sehen gewesen. Grauenhaft, Herr Professor.
Amadeus: Aber in diesem Jahr erst in sechs, und wir haben immerhin schon Mitte Februar.
Gundi: Sie sollen als Gundis Gast nichts sagen oder tun, was Sie schon irgendwo anders gesagt oder getan haben.
Amadeus: Ich sag oder tu nie etwas, was ich schon irgendwo anders gesagt oder getan habe.
Gundi: Sie sollen bei mir anders sein als überall sonst.
Amadeus: Ich bin immer anders als sonst.
Gundi: Ich möchte jetzt auch gern anders sein als sonst.
Amadeus: Wenn man nur wüßte, wie man sonst ist.
Gundi: Sind Sie sonst nicht der, der gerade sechzig geworden ist?
Amadeus: Ich wäre auch lieber etwas anderes geworden.
Gundi: Den der Ministerpräsident zum Professor ernannt hat?
Amadeus: Ja, aber warum?
Gundi: Ja, warum hat er?
Amadeus: Ich weiß es doch auch nicht.
Gundi: Sie haben ihn nicht gefragt?
Amadeus: Hab ich Sie gefragt, warum Sie mich einladen, Gast bei Gundi zu sein?
Gundi: Vielleicht hat der Ministerpräsident Angst vor Ihnen.
Amadeus: Er hat Macht.
Gundi: Wer Macht hat, hat Angst.
Amadeus: Wer keine hat, auch.
Gundi: Sie haben Macht. Sagen Sie jetzt bitte, wie Sie Ihre Macht ausüben.
Amadeus: Ich sage einem, der alles weitererzählt, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, was ich weitererzählt haben will.
Gundi: Jetzt komme ich Ihnen näher.
Amadeus: Kommen Sie. Bitte.
Gundi: Wollen Sie lieber geliebt oder gefürchtet werden?
Amadeus: Mir egal.
Gundi: Glaub ich Ihnen nicht.
Amadeus: Ich auch nicht.
Gundi: Also?
Amadeus: Das oder macht jede Antwort falsch. Kein Mensch ist das oder das.
Gundi: Also?
Amadeus: Gefürchtet und geliebt. Das will jeder.
Gundi: Aber nicht jede.
Amadeus: Sie werden frauenfeindlich.
Gundi: Jetzt breche ich eine Verabredung.
Amadeus: An Verabredungen halten sich nur Leute mit zwei Komma fünf Dioptrien.
Gundi: Und wenn ich jetzt sage, meine Kontaktlinsen haben zwei Komma sieben?
Amadeus: Ihre Augen sind so unmittelbar wie eine ungefaßte Quelle.
Gundi: Ich breche eine Verabredung.
Amadeus: Brechen Sie ruhig.
Gundi: Wir sind seit Jahren per du.
Amadeus: Ach.
Gundi: Ich habe dir gesagt, daß es besser wäre, wir sagten vor der Kamera Sie zueinander.
Amadeus: Ich hatte mir vorgenommen, Ihnen während der Sendung das Du anzubieten.
Gundi: Es gibt in München einen Professor, der fragt jedesmal, wenn er mich sieht: Sind wir eigentlich per du oder per Sie.
Amadeus: Und was sagst du dann?
Gundi: Manchmal sage ich: Wir sind per du. Oder ich sage: Herr Professor, wir sind per Sie.
Amadeus: Und er akzeptiert?
Gundi: Er ist siebzig.
Amadeus: Da kann ich ja froh sein, daß ich erst sechzig bin.
Gundi: Das kannst du wirklich. So, und jetzt lege ich hier den Schmuck ab, den mir ein Mann geschenkt hat, der sehr bald siebzig sein wird.
Amadeus: Und?
Gundi: Wart’s ab. Sie, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, kennen den Schmuck. Sie waren dabei, als ich zur Schmuckträgerin wurde. Ich glaube nicht, daß ich wieder zur schmucklosen Frau tendiere, aber diesen Schmuck darf ich nicht mehr tragen. Dieses Armband und diese gewaltige in Platin gefaßte Perle, beides von einem wahrhaft lieben Mann, der nicht mehr mein Mann ist. Wir werden uns nicht mit Gründen dekorieren. Was zählt, ist das Faktum. Cécile!
Cécile kommt durch die Rückwand.
Gundi: Die Versteigerung, bitte.
Cécile zieht einen Vorhang zurück, da sitzen vor einer weiteren Zeltwand zwei Sekretärinnen an Telefonen. An der Zeltwand erscheint die Nummer: 089 — 111222.
Gundi: Sie, liebe Zuschauer und Zuschauerinnen, können jetzt bei Cécile diesen Schmuck ersteigern. Der Erlös wird dem Hilfswerk für krebskranke Kinder überwiesen. Bitte, Cécile.
Cécile: Das Platin-Armband, besetzt mit Diamanten, Saphiren, Rubinen und Smaragden, und diese Perle in Platin gefaßt, 20 000 Euro.
Jetzt hört man wieder die Frauenstimme mit diesem aggressiv wehmütigen, sich dann von aller Wehmut befreienden Gesang.
Gundi: Ich bin gespannt.
Amadeus: Darf ich auch mitsteigern?
Gundi: Aber ja.
Amadeus: Dann biete ich 21 000.
Eine Telefonistin: 21 500.
Die zweite Telefonistin: 22 000.
Amadeus: 22 500.
Die zweite Telefonistin: 23 000.
Amadeus: 23 500.
Die erste Telefonistin: 24 000.
Amadeus: 25 000.
Cécile: 25 000 zum ersten, zum zweiten …
Die zweite Telefonistin: 30 000.
Amadeus: Der meint es ernst. 35 000.
Die zweite Telefonistin: 50 000.
Amadeus: Ich kapituliere.
Gundi: Fragen Sie, ob wir den Namen nennen dürfen.
Cécile nimmt den Hörer.
Cécile: Dürfen wir Ihren Namen hier mitteilen?
Sie erfährt den Namen.
Cécile: Lambert Trautmann.
Gundi: Diego!!
Amadeus: Das hätte ich mir denken können.
Gundi: Er bekommt den Schmuck. Nach der Bezahlung.
Die Frauenstimme hat wieder den Höhepunkt erreicht und bricht ab.
Gundi: Cécile, bitte.
Cécile hat versäumt nachzuschenken.
Gundi: Meine Damen und Herren, das ist das Risiko der Live-Sendung. Und Sie wissen, daß ich ohne dieses Risiko mit Fernsehen überhaupt nichts zu tun haben möchte. Entweder — oder. Ja, lieber Amadeus Stengl, es tut mir leid. Ich fasse mich jetzt gleich wieder. Zum Wohl.
Amadeus: Wir trinken auf den Herrn des Armbands und der Perle.
Gundi: Auf den trinken wir!
Sie trinken.
Gundi: Du weißt, die Sage meldet, Aphrodite sei aus dem Schaum entstanden, der sich bildete, als Kronos den Penis seines Vaters Uranos, den er mit der Sichel abgesäbelt hatte, ins Meer warf.
Amadeus: Ich weiß im Augenblick nicht, ob ich das gewußt habe. Ob ich das gewußt haben will.
Gundi: Natürlich willst du das nicht gewußt haben. Das sind die Schönheitskosten der Frau. Bei Apollon hat genügt, daß eine leidende Leto auf Delos die heilige Palme berührte, und der universale Junge war da.
Amadeus: Ja, gut, also, Frauen sind teurer.
Gundi: Auf so einen Kalauer gehört: Und Männer billiger. Ich entschuldige mich. Bei Ihnen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer. Ich muß Ihnen doch Professor Amadeus Stengl präsentieren. Und ich will ihn so präsentieren, wie er noch in keiner seiner unzähligen Talk-Shows präsentiert worden ist. Ich habe es bis zu diesem Augenblick geschafft, nicht ganz, aber fast geschafft, daß er keine Witze macht. Er ist berühmt für seine Witze. Seine Schlagfertigkeit. In seinen Kreisen heißt er: Der Formulierer. Also bitte, Amadeus.
Amadeus: Ja was, bitte, wird verlangt?
Gundi: Keine Witze!
Amadeus: Den lieb ich, der Unmögliches begehrt.
Gundi: Und keine Zitate.
Amadeus: Also ohne alles.
Gundi: Nackt.
Amadeus: Nackt und keine Witze, Gundi, das ist Porno total.
Gundi: Porno mental.
Amadeus: Ich bin schüchtern.
Gundi: Ich habe zu kleine Hände.
Amadeus: Du kannst mir ruhig sagen, ob du auch schüchtern bist.
Gundi: Kein Mensch ist glaubwürdig, wenn er sagt, er sei schüchtern oder er sei nicht schüchtern. Das zu beurteilen steht nur anderen zu.
Amadeus: Dann sag doch, ob ich schüchtern bin.
Gundi: Ich habe mein ganzes Leben lang darunter gelitten, daß ich zu kleine Hände habe.
Amadeus: Kein Mensch ist glaubwürdig, wenn er sagt, er habe zu kleine Hände.
Gundi: Eben doch. Das läßt sich nämlich schlicht sehen, da schau!
Amadeus: Eben nicht. Ob klein oder nicht klein, läßt sich sehen. Nicht aber, ob zu klein! Das zu beurteilen steht nur anderen zu.
Gundi: Gib mir deine Hand. Eine. Die rechte oder die linke, egal.
Amadeus: Beide!
Gundi: Eine!!
Amadeus: Was für eine Stimme!
Gundi: Was für eine Hand! Du hast so viel größere Hände.
Sie hat jetzt seine beiden Hände.
Gundi: Könntest du einmal etwas Lautes sagen? Wenn du jetzt sagst, dir fällt nichts ein, was laut, sehr laut gesagt werden kann, gesagt werden muß, dann hören wir auf, dann ist die Sendung gelaufen, und Professor Amadeus Stengl, der Formulierer, der informierteste Wirtschaftsjournalist der Republik, kann seines Weges ziehen, quer durch alle Talk-Shows der Welt.
Amadeus (sehr leise): Ich würde jetzt am liebsten eine rauchen.
Gundi holt unter dem Tisch ihr berühmtes Etui heraus, bietet ihm eine an. Sagt aber: Ich habe das Rauchen öffentlich aufgegeben. Vor einer Million Zeugen.
Amadeus: Dann kannst du es öffentlich, vor einer Million Zeugen, wieder anfangen.
Er nimmt ihr das Etui aus der Hand, hält es ihr hin. Er zündet ihre und seine Zigarette an. Sie gehorcht nicht.
Amadeus: Ohne dich rauch ich nicht.
Gundi: Ich ohne dich auch nicht.
Amadeus: Laß mich dein Verehrer sein.
Gundi: Du bist ein berühmter Wirtschaftsjournalist.
Amadeus: Das gebe ich zu.
Gundi: Das Wirtschaftliche hat jetzt eine Bedeutung wie im Mittelalter die Religion.
Amadeus: Das Wirtschaftliche ist jetzt die Religion.
Gundi: Wenn das der Bischof hört.
Amadeus: Der weiß das.
Gundi: Hast du keine Angst?
Amadeus: Doch. Als gemeldet wurde, daß die Robben im roten Algenschaum sterben, die Delphine auch schon, daß Venedig nach Algenfäulnis stinkt, das Ozonloch sich weitet, die Klimakatastrophe gedeiht, der Profit die Regenwälder vernichtet, da dämmerte in mir die Einsicht, daß nichts hilft. Und ich spürte wie noch nie mein Vertrauen. Mein Vertrauen in die Angst.
Gundi: Magst du lieber gerade oder ungerade Zahlen? Ich ziehe nämlich ungerade Zahlen vor. Gerade Zahlen meide ich, wo es geht. Die kommen mir öde vor, fast häßlich. Jede ungerade Zahl ist für mich ein Reiz. Und attraktiver als eine Primzahl ist für mich nichts. Und du?
Amadeus: Ich ahne, was ich jetzt anrichte. Aber mir sind gerade Zahlen viel lieber als ungerade.
Gundi: Endlich ein Streit.
Amadeus: Ungerade Zahlen kommen mir immer verbogen vor. Ich möchte sie immer aufrichten, trösten, daß sie ihre Ungeradheit nicht so schwernehmen sollen. Eines Tages, sage ich dann zu ihnen, werden alle Zahlen gerade sein. Dafür will ich sorgen.
Gundi: Du hast bestanden.
Amadeus: Dann hat mich mein Gefühl nicht getäuscht. Ich habe gespürt, es gehe eine Prüfung vor sich.
Gundi: Die du bestanden hast.
Amadeus: Aber du auch. Jaa! Ich habe dich auch geprüft. Als ich merkte, daß du mich prüfst, habe ich geprüft, was du für eine Prüferin bist.
Gundi: Und?
Amadeus: Toll.
Gundi: Aber du erst. Noch nie hat jemand den Test mit den geraden und ungeraden Zahlen so gut beantwortet. Den meisten genügt es, die Frage nicht ernst zu nehmen. Sie ist ja auch für die meisten nicht ernst zu nehmen. Für mich aber schon. Du hast dich behauptet. Frage: Stört es dich, wenn du merkst, daß du von jemandem mehr geliebt wirst, als du zurückliebst?
Amadeus: Stört es dich?
Gundi: Immer mehr. Ich will endlich die sein, die mehr liebt, als sie geliebt wird. Nur dann glüht doch das Dasein. Ich war haltlos. Prinzipiell haltlos. Ein Papierdrachen an der Kinderhand, jähe Abstürze, gerade noch abgefangen, bevor es zu spät war, und wieder aufwärtstaumelnd, sich wiegend wie ungefährdet. Bis zum nächsten Schwanken, Taumeln und Stürzen. Jetzt bin ich süchtig nach Halt, nach Fesselung. Ich will mich ausprobieren als Dienende. Wozu bin ich gut? Das will ich erfahren. Von dir, Amadeus. Ich halte um deine Hand an. Und ich gestehe ganz schnell noch, daß ich mich verliebt habe in dich, daß das nicht mehr aufgehört hat und daß ich dich deshalb eingeladen habe in dieses historische Zelt, um dir das, wie es sich für mein Fernsehleben gehört, öffentlich zu gestehen, live. Ich weiß, liebe Zuschauerinnen, das ist eine Zumutung. Aber für mich auch. Ich entschuldige mich für meine Unvorbildlichkeit. Und bin gespannt. Was aus den beiden wird. Ob etwas oder nichts, das, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, sehen Sie demnächst in: Zu Gast bei Gundi.
Sie springt vom hohen Hocker, Amadeus springt auch.
Gundi: Komm, Formulierer.
Amadeus: Wohin du willst.
Das Licht wechselt auf Arbeitslicht, das Zelt wird hochgezogen, verschwindet, das Meer findet nicht mehr statt, Amadeus und Gundi gehen Hand in Hand nach hinten, zwischen den Kameras und dem Studio-Team.
Karl von Kahn schaltete per Fernbedienung ab. Das Handy meldete sich. Er hörte Danielas Stimme und meldete sich nicht. Dann griff er in die Schublade mit Ereweins Hinterlassenschaft und las einen der Briefe, die Erewein schrieb, wenn man ihm zum Geburtstag gratuliert hatte.
Lieber Karl,
es gab, als wir zwölf oder fünfzehn waren, mehr als vier Himmelsrichtungen. Wo Du hinschautest, war eine Richtung. Der Himmel blitzte vor Möglichkeiten. Jeder Wetterschlag eine Revolution. Andauernd wurden Farben geboren. Auf der nassen Straße gingen wir an einem offenen Fenster vorbei, hörten, wie drinnen eine Geige gestimmt wurde, wie die Quinten sich suchten und fanden. Das wirkte wie eine Einladung zur Teilnahme beim Erschaffen der Welt. Wie öde der Bibelbeginn mit seinem Aufzählen des Nacheinanders. Was für ein Pedant mußte dieser Schöpfer gewesen sein, daß er erst das, dann das, dann das machen mußte, wo man doch andauernd erlebt, daß alles in einem Moment erfühlbar, erschaubar, erschaffbar ist. Alles auf einmal. Erinnerst Du Dich? Das war unser Lebensgefühl. Erinnerst Du Dich??
Dich grüßt
Dein Bruder
Dann saß Karl wieder. Dann holte er aus der Ereweinschublade das rote Büchlein und las wieder einmal den Zettel, den Erewein vorne hineingelegt hatte: Das ist das einzige Buch des Großvaters, das unsere Kriege überlebt hat.
Der Titel des Buches:
Aus den Erlebnissen und Erinnerungen eines alten Offiziers.
Von E. Betz
Oberst a. D.
Karlsruhe 1894
Und darunter:
Ex Libris Wilhelmi II
Imperatoris Regis
Karl nahm sich immer wieder vor, dieses Buch zu lesen. Bis jetzt war er über diesen Eintrag nicht hinausgekommen.
Zum Glück war am Abend zuvor Frau Varnbühler-Bülow-Wachtels Esel Bileam gestorben. Zum ersten Mal hatte Karl von Kahn kein Gesprächsprogramm vorbereitet gehabt. Während er Amadeus bei Gundi angeschaut hatte, war Bileam gestorben. Noch an keinem Wochenende hatte Karl versäumt, das Gespräch mit der dreifachen Witwe für Montagmorgen vorzubereiten. Jetzt war sie praktisch das vierte Mal Witwe. Und Bileam war erst dreizehn gewesen. Herzverfettung. Und hätte bequem fünfundzwanzig, wenn nicht dreißig werden können.
Frau Amei wollte nichts hören von den günstigen Schicksalen ihrer Puma- oder Paion-Werte. Am Freitag noch waren die Kindergartenkinder mit der jugoslawischen Kindergärtnerin dagewesen, die einmal im Monat in Ameis Garten mit Bileam herumtollen durften. Als die Kindergärtnerin Bileam den Sattel auflegte, hatte dafür keines der Kinder ein Wort. Es waren ja türkische, griechische, spanische, aber auch deutsche Kinder. Und keines hat ein Wort für Sattel. Endlich sagte eine dünne kleine Bayerin: Sheriff. Da schrien sie alle: Sheriff. Bileam erschrak. Von diesem Augenblick an ging es ihm nicht mehr gut. Aber genauso wie Bileams Ende bekümmerte die Kundin das zukünftige Schicksal dieser Kinder, die nicht wissen, daß ein Sattel ein Sattel ist, aber Sheriff kennen sie. Das gibt noch Probleme, sagte Frau Amei.
An anderen Montagen hätte Karl von Kahn dieser kleinmütigen Altersroutine widersprochen, und in einem Ton, daß er Frau Amei aufgehellt sich selbst hätte überlassen können.
Aber er mußte zu Diego. In die Theresienstraße. Erst dann in die Firma.
Instinkt. Unprüfbar. Ein Ruf. Ein Zwang. Das Wichtigste: nichts zu erwarten. Auf dem Hinweg Erwartungen vernichten. Keine Spannung. Eben werden. Ungewölbt. Platt. Einfach hin. Ihm die Hand drücken.
Die von früher gewohnte, immer sehr historisch klingende Ladenglocke begleitete Karl von Kahns Eintritt. In der Brienner Straße hatte es diese Ladenglocke nicht gegeben. Drinnen, auch wie früher, ein von Glanzstellen gespicktes Dämmer. Und hinter seinem so edlen wie strengen Louis-XVI-Schreibtisch Diego. Vor ihm auf der grünen Lederfläche ein großes Buch, das er offenbar gerade durcharbeitete.
Karl von Kahn glaubte, er müsse den ersten Satz sagen und damit gleich eine mögliche Tonart vorschlagen. Also sagte er: Lambert, guten Tag.
Karl, ich grüße dich, sagte Diego.
Diego hatte zugenommen. Seine Jacke spannte. Aber er war so beweglich wie immer. Karl von Kahn mußte sich auf das Biedermeier-Sofa am Kapitänstisch setzen, Lambert trug das Buch herüber und fing an, sein neuestes Projekt zu besingen. Ganz wie früher. Er wird auf Schloß Sandrin den ganzen Nachlaß der Fürstin Granitza versteigern. Das gesamte Inventar von Schloß Sandrin. Da, schau, von der Large English Silver Punch Bowl bis zu Arnold Böcklin und Hans Makart, also Stücke von zweitausend bis gut und gern hunderttausend Dollar. Und blätterte die Bilder auf, besang, ohne es abzulesen, alles, was da aus und auf Schloß Sandrin angeboten wird. Sagte es in Englisch, weil der Katalog in Englisch verfaßt war. Das sei seine Entdeckung. Im Sommer, zur Festspielzeit, sind Tausende von Amerikanern in und um Salzburg herum. Unterhaltungsbedürftig. Sein Katalog wird ab April in Amerika kursieren. Dann eine Drei-Tage-Auktion auf Schloß Sandrin. Gehalten von Geoffry Laughlin, den kennt in den USA jeder, der sich für alte Kunst interessiert. Hat auch bei Christie’s auktioniert.
Diego ging vor Karl auf und ab und redete, wie er früher geredet hatte. Karl wußte, daß Diego zwei Stunden oder vier so reden konnte. Er hatte alles intus. Und begeistert war er wie eh und je. Rannte immer wieder zu Karl hin, schlug im Katalog, ohne suchen zu müssen, sofort die Seite auf, von der er gerade redete. Da, mit dreißig- bis vierzigtausend Dollar angesetzt, eine Meissen Porcelain Dark Blue-Ground Two-Handled Commemorative Presentation Vase. Von Seiner Durchlaucht, Franz Maria Fürst zu Granitza, Ihrer Durchlaucht, der Fürstin Herminie, zur silbernen Hochzeit gewidmet. Aber fünf Wochen vor dem Fest stürzt die Fürstin vom Pferd, verliert beide Augen, macht im Krankenbett ein Gedicht, der Fürst läßt’s noch vom Porzellanmaler draufmalen, da ist es, inscribed on the neck, und Diego sagte auf, was auf dem Hals der Vase goldgefaßt geschrieben war, auswendig, ja eigentlich sang er den Text.
Ob ich mich dir zuwende
Ob ich dich seh
Ob ich mir die Hände
Oder dir die Seele verdreh
Ich bin am Ende
Ich geh.
Diego hätte natürlich den ganzen Katalog aufsagen können, aber Karl mußte in die Firma.
Entschuldige, sagte Diego.
Karl entschuldigte sich auch.
Als sie einander die Hand gaben, behielt Diego Karls Hand in seinen Händen. Keiner sagte etwas. Dann sagte Diego: Ich war schlecht dran. Hatte keinen Überblick mehr. Panik pur. Dann sind aus sechs doch noch neunzehn geworden. Du kriegst also noch zwei Komma sechs. Plus Zinsen. Ich hatte Angst, du sagtest et tu, Brute. Darum habe ich nicht angerufen. Entschuldige.
Karl zuckte mit den Schultern und deutete durch ein winziges Kopfschütteln an, daß es keine Verstimmung gebe, daß alles gut sei.
Diego ging mit bis zur Tür. Als Karl die Türklinke schon in der Hand hatte, sagte Diego: Du bist gekommen, weil du gestern abend Gundi gesehen hast.
Karl nickte.
Und? Wie hast du die Sendung gefunden?
Karl zuckte mit den Schultern.
Ich sehe schon, sagte Diego, du traust dich wieder nicht. Sobald es sich nicht um Zahlen handelt, wirst du vorsichtig, oder soll ich sagen: feige! Laß dir sagen: Es war die beste Sendung, die Gundi je hatte. Wie sie den Formulierer über den Tisch gezogen hat, fabelhaft. Als sie heute nacht nach Hause kam, habe ich ihr gratuliert. Auf meine Art. Bis sie eintrat, hatte ich schon die Diamanten-Tiara aus dem Safe geholt, die millimetergenau gearbeitet ist nach der Tiara, die die Herzogin von Westminster im Jahr 1930 getragen hat. Die habe ich ihr aufgesetzt. Wirkte natürlich grotesk zu ihrem tomatigen Leinengeflatter. Aber ein paar Augenblicke ließ sie sich doch anstecken von der edlen Kopfbedeckung. Mach’s gut, Karl.
Während Diego ihn, als wolle er ihm behilflich sein, hinausschob, dachte Karl, daß er sich mit Joni hätte vor Diegos Schaufenster in der Brienner Straße postieren sollen, so lange, bis Diego Joni und ihn gesehen hätte, bis er hätte zugeben müssen, daß Gundi, verglichen mit Joni, eine pudrige Mumie ist.
Karl winkte noch zurück, dann ging er, rannte er fast, stadteinwärts und kam — wie immer — auf die Minute genau in der Faulhaber-Straße an.
Frau Lenneweit sagte: Sie sind schon drin. Das hieß, Dr. Dirk Herzig, Berthold Brauch und der, um den es gehen sollte, waren schon im Konferenzraum.
Karl sah auf seine Uhr, um klarzumachen, daß er sich an die verabredete Zeit halte.
Frau Lenneweit sagte: Sie können ja gar nicht zu spät kommen.
Und er: Wenn ich gewußt hätte, daß ich zu einem solchen Kostümereignis komme, wäre ich noch schneller gerannt.
Frau Lenneweit sagte, er sei der einzige, der das bemerkt habe.
Vorgestellt wurde also Dr. Beat Pestalozzi, dessen beruflichen Lebenslauf Karl von Kahn und Berthold Brauch studiert hatten.
Karl von Kahn eröffnete: Und warum gehen Sie nicht auch gleich zur größten deutschen Investment-Gesellschaft wie Ihr Freund?
Ich hab’s lieber überschaubar, sagte Dr. Pestalozzi. Bei unüberschaubar großen Firmen wie Merrill Lynch sei er schon gewesen. In Lugano.
Wie es bei uns zugeht, hat Ihnen Dr. Herzig sicher verraten, sagte Karl von Kahn.
Ja, ja, ja, gründlich, halt wie es seine Art ist, sagte der nicht nur von den Ellbogen bis zu den Händen, sondern von Kopf bis Fuß Gelenkige. Und mit seinen drei Ja’s ließ er dann fast alle Antworten beginnen. Es war, wie er das vorbrachte, kein Ja zuviel. Die Ja’s hüpften wie von selbst aus seinem Kindermund. Ein Mund ohne Disziplin. Ein von keiner Festigkeit belegtes Lippenwerk. Aber kein haltlos im Gesicht hängendes Mundwerk wie bei Amadeus, sondern ein auf guten Gebrauch wartendes Lippenwerk. Dazu lockige, fast schwarze Haare. Seine großen Augen drückten aus, daß er am liebsten staune. Also den fand Karl von Kahn sofort so liebenswürdig, daß er spürte, er dürfe das nicht merken lassen. Dr. Herzig war tüchtig, zupackend, ergebnissicher, aber Karl von Kahn hatte keinen einzigen Abend mit ihm verbracht. Diesen Dr. Beat hätte er am liebsten gleich mitgenommen in die Osterwaldstraße. Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht. Eine Stimme, ein Tenor, der nicht darauf besteht, einer zu sein. Unwillkürlich ein Tenor. Oder: Vom Wesen ein Tenor. Kein Schlaks wie Dr. Herzig, und im Gegensatz zu Dr. Herzig, der wie immer in seinem ebenso einwandfreien wie unauffälligen Mausgrau-Anzug auftrat — wahrscheinlich hat er den fünfmal im Schrank — , Nadelstreifen! Aber nicht schlicht schwarzweiß, sondern das dunkelste Dunkelblau mit Streifen in Orange. Die dünnstmöglichen Linien im blassestmöglichen Orange. Und das zweireihig. Er stand einem nicht so groß und gerade gegenüber wie Dr. Dirk, sondern fast schon nicht ganz zugewandt, die linke Hälfte war weiter weg als die rechte. Das wirkte entspannt, lässig, unaufgeregt: unwichtigtuerisch. Schweizerisch, dachte Karl.
Karl von Kahn dachte tatsächlich: Beat, ich liebe dich. Das heißt nichts, aber es ist wahr.
Er würde also, sagte Dr. Pestalozzi, die von Dr. Dirk eröffneten und gut gedeihenden Fonds pflegen. Falls er neue Fonds vorschlagen werde, seien die sicher nicht technologisch orientiert. Das habe er hinter sich. Er würde gern, wenn das, bitte, nicht falsch verstanden werde, vom weltumspannenden Merrill Lynch zur Fünf-Zimmer-Firma in München wechseln, weil er Fonds entwickeln wolle, in denen die sogenannte Nachhaltigkeit maßgebend sei. Werte, die man lächerlicherweise ethisch nenne, sollten in seinen Fonds gefördert werden. Einfach gesunde Industrien. Inzwischen habe das Anlegen zum Glück das Sparen so gut wie abgelöst. Und daß gesund und damit Gesundes produziert werden soll, ist inzwischen anerkannt wie nichts sonst. Was liegt also näher, als die wachgewordene Lust, statt zu sparen anzulegen, auf die natürlichste Bahn zu lenken. Er sehe da, im Berufsjargon gesprochen, ein gewaltiges Potential. In fünf Jahren werde er bei von Kahn und Partner, wenn er denn genehm sei, mehr als eine weitere Etage beanspruchen. Übrigens falle es ihm schwer, so einen Werbesermon von sich zu geben. Er sei ein Macher, kein Redner. Und bedanke sich fürs Zuhören.
Karl von Kahn bedankte sich mühelos. Ihn würde doch noch interessieren, was Dr. Pestalozzi von dem DWS-Wappenspruch halte. Er glaube ja nicht, daß Dr. Herzig nur wegen des Wechsels von Millionen zu Milliarden zu DWS wechsle, sondern auch der dort entwickelten Anlage-Philosophie zuliebe.
Dr. Pestalozzi sagte: Ihm sei die prozyklische Philosophie, mit der das geschafft werden solle, noch nicht vorstellbar.
Ich werde dafür sorgen, daß es dir vorstellbar wird, sagte Dr. Herzig, der neben Dr. Beat wirkte wie ein Sachbuch neben einem Märchenbuch. Dem Anleger wird am Ende der höchste Wert ausbezahlt, den sein Anteil während der Laufzeit erreicht hat, sagte Dr. Dirk, das ist das Ziel.
Daß er mit Dr. Pestalozzi befreundet war, sprach jetzt für Dr. Herzig. Nicht ungerecht werden, dachte Karl von Kahn. Du kannst froh sein, daß Amadeus Stengl und Konsorten deine Agentur, seit die Herzig-Fonds florieren, nicht mehr altmodisch nennen können.
Dr. Herzig teilte noch mit, Beat habe promoviert über die Finanzierung des Schwabenkriegs.
Das sei er seiner Herkunft schuldig gewesen, da ein Vorfahr von ihm sich in diesem Krieg ausgezeichnet habe, sagte Dr. Beat Pestalozzi. Eidgenossen gegen Landsknechte, lokales Geld gegen internationales Geld. Obwohl schon sein Vorfahr habe dichten müssen:
Sin narung ist er suchen
In tutsch und welschem Land
Deo gracias.
Karl von Kahn sagte, wenn er noch etwas über Kriege lesen wolle, dann, wie sie und von wem sie bezahlt worden seien. Also bitte.
Ein Exemplar wurde versprochen.
Weil sie den Einstand ohne Alkohol geschafft hätten, würden sie auch den Abschied in bewegter Nüchternheit schaffen. Sagte am Schluß Karl von Kahn. Und konnte es nicht lassen, zu Dr. Herzig hin zu bemerken, daß Puma die Zweihundertfünfundzwanzig nicht nur erreicht, sondern geradezu übersprungen habe, augenblicklicher Stand bei zweihundertundvierzig.
Nicht ohne Zerknirschung, sagte Dr. Herzig, denke er daran. Besonders, weil auch der Film bei der Berlinale zwar kein Krawallerfolg geworden sei, aber eindeutig Sieger unter den Seriösen. Das könnte in Mitteleuropa zum Kassenschlager reichen.
Karl von Kahn sagte, er müsse die Presseberichte noch lesen, aber daß Das Othello-Projekt alles andere als ein Reinfall sei, habe er läuten hören.
Bevor er die Firma verließ, und er verließ sie so früh, daß Frau Lenneweit ihn besorgt betrachten mußte, verständigte er sich noch mit Berthold Brauch über Dr. Pestalozzi. Als er hörte, daß der viel zurückhaltendere Berthold Brauch sich auch habe zwingen müssen, seine Begeisterung in arbeitsdienliche Bahnen zu lenken, hätte er nun seinerseits Berthold Brauch umarmen wollen.
Die Augen, sagte Brauch, der Blick, vollkommen lauter, gerade als beabsichtige der, dessen Augen das sind, nichts, als sei er nur da, entgegenzunehmen und auf alles, was ihm entgegenkommt, verstärkend zurückzuwirken.
Mit drei Ja’s, sagte Karl von Kahn.
Diese Ja’s sind göttlich, sagte Brauch, aber Ihr Hausheiliger, Mr. Buffett, ist des Teufels. So drückte sich der bedächtige Herr Brauch selten aus. Daß Karl von Kahn die neueste Warren-Buffett-Meldung noch nicht gehört, gelesen, mitgekriegt hatte, konnte er nicht glauben. Herr von Kahn habe, was der Weise von Omaha jetzt zum Besten gegeben habe, einfach verdrängt.
Daß ihm, was Herr Brauch ihm mitteilte, entgangen war, zeigte, wie sehr er zur Zeit seine Arbeit vernachlässigte. Warren Buffett, Herr über ein Vermögen von dreiundvierzig Milliarden Dollar, habe gesagt, die Erbschaftssteuer müsse auf einhundert Prozent hinaufgesetzt werden, damit jeder bei Null anfange. Karl von Kahn sagte: Ein schöner Gedanke, wenn der Steuereinnehmer nicht der Staat wäre. Alle Waisenhäuser der Welt, bitte. Aber doch nicht die Wertvernichtungsorganisation Staat. Er wollte nicht diskutieren, er wollte gehen.
Frau Lenneweit, sagte er, als er schon in der offenen Türe stand, wir haben keinen Patron mehr, wir sind von heute an eine atheistische Firma.
Draußen fiel ihm ein, was sein Vater gesagt hatte, wenn er 1944 in Nürnberg für einen halben Tag die Flakstellung verlassen durfte: ’s hat alles kein’ Wert. Den Satz sollte er in seiner Kunden-Post veröffentlichen. Verehrte Kunden, es hat alles keinen Wert, lassen wir’s doch gleich dem Staat … Dann fiel ihm, sozusagen zwangsläufig, ein: Bergauf beschleunigen. Das hieß jetzt: Einer Welt, in der ein Beat Pestalozzi möglich ist, kann nichts passieren.
Sein Handy meldete sich. Und es war Fanny.
Karl rief: Fanny! Aber in der Melodie eines Freudenschreis.
Ach, Papa, sagte Fanny. Sie habe nicht die geringste Aussicht, ihm verständlich zu machen, wie unangenehm, wie zutiefst verstörend es für sie sei, ihn anrufen zu müssen.
Da wußte er, daß es nur um Geld ging, und war glücklich. Ach Kind, sagte er, wenn es weiter nichts ist, und es ist doch offenbar nichts als eine kleine Finanzklemme in Mecklenburg-Vorpommern. Und das solltest du, bitte, schon bemerkt haben, mir ist jede Gelegenheit, euer Bankier zu sein, eine Herzerfrischung. So redete er, bis er hoffen konnte, die Tochter überzeugt zu haben. Ob ihr Tom seine blinden Hühner je gezüchtet haben werde, war ihm nicht wichtig, aber die Hühnerfarm, von der sie dort lebten, sollte immer aufs beste ausgestattet sein. Und er wollte nicht, daß Fanny ihm erkläre, wofür jetzt zwanzigtausend nötig seien.
Tanja und Sonja entwickelten sich stürmisch, sagte Fanny, und seien jeden Tag eine Freude.
Karl sagte, er werde im Frühjahr einen Besuch machen.
Fanny sagte, daß sie glücklich wäre, wenn nicht wieder etwas dazwischenkomme. Von Tante Lotte hat sie einen Brief bekommen. Die hat die fünfte Chemo hinter sich und ist voller Hoffnung und Zuversicht. Fast übermütig ist sie. Dem Frühjahr schaut sie entgegen, als könne es ihr nichts als Freude und Glück bringen.
Nach dem Gespräch konstatierte Karl, daß sie seit Jahren kein so langes und ihn so berührendes Gespräch mehr geführt hatten. Und, vor allem, Fanny hatte so gut wie nicht mehr gestottert. Sie hatte schon noch diese Tom-Manier, sich in jeden Satz mit deutlich zuviel Gefühl hineinzustürzen, um dann gleich zu stolpern und Wörter zwei-, dreimal sagen zu müssen und so eben als Stotterer zu wirken. Aber sie wirkte jetzt ruhiger. Toms Einfluß mußte nachgelassen haben.
Er hatte, solange er telefonierte, nicht aufgepaßt, wohin er ging, war auf den Promenadeplatz eingebogen und dann vom Promenadeplatz hinüber in die Kaufinger Straße. Jetzt ging er zielbewußt zu seiner U-Bahnstation. Und sah Helen. Sie stand vor einem Juweliergeschäft. Es war das Geschäft, in dem sie ihre Eheringe gekauft hatten. Die hatten flach sein müssen und hatten kein Gold enthalten dürfen.
Hier liefen genug Menschen durcheinander. Er konnte in jede Richtung ausweichen, um jede Begegnung zu vermeiden. Und ging einfach weiter. Vielleicht würde er hinter ihr vorbeigehen, ohne sie anzusprechen. Aber sie drehte sich, bevor er überhaupt in ihre Nähe kam, in seine Richtung, ging ihm jetzt entgegen, hatte ihn immer noch nicht wahrgenommen, dann aber doch. Sie blieb sofort stehen. Das Menschenmeer, das diese Gegend in jeder Jahreszeit überflutet, hätte auch ihr Gelegenheit gegeben, ihn nicht zu sehen. Sie stand, er hörte nicht auf, sich ihr zu nähern. Er hatte kein Sündergesicht, das spürte er. Sein Gesicht wird nie mehr etwas ausdrücken. Als er ihr nahe genug war, blieb er auch stehen. Er wartete auf nichts. Er würde vor ihr stehen bleiben. In ihrem Gesicht ging etwas vor, das war unübersehbar. Dann holte sie aus und schlug zu. Sie war Linkshänderin. Das war immer wieder überraschend. In diesem Augenblick war es so überraschend, wie es noch nie gewesen war. Ganz von selber hielt er ihr jetzt die andere Gesichtshälfte hin. Nicht aufdringlich, aber doch so, daß sie es bemerken mußte. Sie bemerkte es auch. Aber nach dem Schlag hatte ihre Rechte nach der Linken gegriffen. Die hielt sie. Die Linke lag auf der Handfläche der Rechten. Lag da wie verletzt. Als habe der Schlag wehgetan. Sein Gesicht war aus Stein. Als sie merkten, daß sie beide auf diese Hand schauten, schauten sie auf, sahen einander an. Aber bevor einer im Gesicht des anderen etwas entdecken konnte, worauf zu reagieren möglich gewesen wäre, drehte sie sich um. Er blieb stehen, bis sie im Menschenmeer verschwunden war, dann ging er weiter. Er hätte sagen sollen, daß er ihr schreiben werde, heute noch, daß er nicht länger in ihrem Haus wohnen könne, daß er, wenn sie weiterhin nichts als abwesend sei, ihr Haus im Stich lasse.
Daß sie ihn geschlagen hatte, tat ihm gut. Was das hieß oder bedeutete, wollte er so wenig wissen wie, was ein Traum bedeuten wollte. Er konnte den Schlag in nichts anderes übersetzen. Der Schlag einer Linkshänderin auf seine rechte Backe. Der Schlag hatte ihm gutgetan. Seine Backe glühte. Wie nah war er jetzt Diego? Er konnte nicht mehr belogen werden. Konnte sich nicht einmal selber belügen. Diegos Selbstbelüge-Leistung war erstaunlich. Oder war die Szene im Zelt nichts als Fernsehen gewesen? Wie Strabanzer und Rudi-Rudij verdankte Gundi ihren Erfolg immer der Am-Leben-entlang-Tour. Mußte er wissen, wie wenig oder wie sehr Diego belogen wurde? Mußte er nicht. Daß er überhaupt hingegangen war, war ein Fehler. Ein Fehler, typisch für ihn. Diego wickelte einfach sein Programm ab. Wie es seinem Freund Karl ging, interessierte ihn kein bißchen. Nur sein Programm. Punkt eins: Schloß Sandrin, die große Granitza-Auktion, perfekt und nicht enden könnend vorgetragen wie immer, du hast zuzuhören. Punkt zwei: Die weggegrabschten zwei Komma sechs Millionen, locker verkauft als Panik pur, kein Überblick mehr, kriegst du, wenn’s paßt, zurück mit Zinsen. Punkt drei: Gundi ist nachts zurückgekommen, das wollen wir doch einmal sehen, ob du den Fernsehtatsachen glaubst oder mir.
Diego war also immer noch Diego. Hatte aber zugenommen. Vor allem im Gesicht. Seine Backen waren über die Ufer getreten. Schmale Stirn, dann links und rechts die sich hinausbiegenden Backen. Mach dir nichts vor. Du hast das hinter dir zu haben. Du darfst nicht mehr sagen: Eine Freundschaft, die gewesen ist, hört nicht auf, gewesen zu sein. Genau dafür gibt es in der Sprache die Vorvergangenheit, die Mehralsgewesenseinsvergangenheit. Die Freundschaft war gewesen. Basta.
Man hat, wenn man keinen Freund mehr hat, schon zu lange gelebt. Je länger eine Freundschaft besteht, desto weniger Anlaß hat sie. Es ist, als verbrauche sich der Freundschaftsstoff im Lauf der Zeit. Oder: Je genauer man einen anderen Menschen kennenlernt, desto weniger kann man mit ihm befreundet sein. Kenntnis tut keiner Beziehung gut. Freundschaft ist von allen Einbildungen die schönste. Erlischt sie, darf’s dich frieren. Man selber würde noch an der Illusion festhalten, man täte alles, den Freund nicht merken zu lassen, daß man die Freundschaft über ihre Anlässe hinaus eigensinnig und unbelehrbar weiter produziert, man ist schöpferisch. Dann merkt man am Freund, daß es dem noch viel mehr Mühe macht als einem selbst, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Zwei Freunde, die einander nicht sagen können, daß sie keine mehr sind, das ist sowohl das Gewöhnlichste wie das Schlimmste.
Da war er zu Hause angelangt. Und war zum Glück weder gegrüßt noch angesprochen worden. Er mußte immer damit rechnen, daß ihn irgendeine Frau nach Helen fragte. Wenn Hertha vor der Ladentür stünde und fragte, ob Helen krank oder verreist sei, wüßte er nicht, was er sagen würde. Immer noch nicht. Er stellte sich am liebsten vor, ihn würde, nach Helen gefragt, eine chamäleonische Potenz durchfluten, er würde förmlich spüren, wie sein Äußeres sich vollkommen verändere, daß er, sozusagen ohne sich verstellen zu müssen, ganz kalt antworten könnte: Gnädige Frau, mit wem Sie mich verwechseln, weiß ich nicht, aber daß Sie mich verwechseln, ist sicher. Guten Tag. Und weg wäre er. Er ging immer auf der Straßenseite der ungeraden Nummern. Jedesmal, wenn er ohne Kontaktleistung durchgekommen war, war er froh. Die Osterwaldstraße war kein Quartier kleinbürgerlicher Nachbarspflege, dafür aber hielt er es für möglich, daß irgendeine Helenbekannte die Polizei informierte.
Im Briefkasten ein Brief, großes Format, Absender: Joni Jetter. Das paßt. Er hatte sich für diesen Abend vorgenommen, die gesammelte Berichterstattung über das Othello-Projekt zu lesen. Im Haus mied er alle Räume, die er zusammen mit Helen bewohnt hatte. Er ging immer sofort hinauf in sein Zimmer, schlief dort, aß dort, was er mitgebracht hatte. Das Haus wirkte, seit Helen fort war, hohl. Als sie noch dagewesen war, aber gerade nicht im Haus, hatte das Haus nicht hohl gewirkt. Er würde Helen noch an diesem Abend schreiben. Sollte sie herausfinden, was möglich war.
Zuerst Jonis DIN-A4-Brief. Er bemühte sich, Hast zu vermeiden. Und las.
Lieber Karl,
da Du der erste warst, der mich als Psalmistin erlebte, vielleicht sogar gelten ließ, wirst Du von jetzt an immer mit dem Neuesten bekannt gemacht werden. Es sei denn, Du winkst ab.
Der Film ist prächtig angelaufen, Du wirst Geld vermehren. Wie es sich gehört.
Es grüßt Dich viele Male
Deine Joni
Mädchenpsalm. Frauenpsalm. Psalm.
Gäbe es dich, könnt ich nicht beten zu dir, Gott,
ein Götze wärst du, der Himmel ein Kaufhaus,
bewacht von keuschen Kameras.
Vor Angst bin ich weich, verehre Unbekümmerte,
denen die Haare wachsen wie wild und können sich
nicht wehren gegen die Unabhängigkeit
tanzlustiger Glieder. In mir verborgen leb ich.
Ich ahne mich, aber ohne euch weiß ich mich nicht.
Bereit zu sein zehrt.
Angenehm ist es bei den Verzweifelten,
sie kennen keine Gerechtigkeit.
Er saß mit geschlossenen Augen. Er sah die bis zu jedem Horizont mit dunklem Reisig zugedeckte Welt. Er erzwang eine haltlose Nichtempfindung.
Bitte, die Zeitungen jetzt.
Karl von Kahn hatte alle Berichte, Interviews und Kritiken, die ihm von Bocca di Leone zugeschickt worden waren, aufgeklebt. Daß die Uraufführung bei der Berlinale gut angekommen ist, hatte er mitgekriegt. Strabanzer war als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet worden. Er hatte nicht nur Regie geführt, sondern auch, als Rodrigo, den Regisseur des Films gespielt. Joni war preislos geblieben. Aber in den zur Unterhaltung gemachten Zeitungen war sie eine Sensationsfigur. Wilde Bilder überall. Die schaute er so lange an, bis er sicher war, daß es sich um Papier handelte. Es tat weh, daß es, als Joni in Berlin gewesen war, dort heftig geschneit hatte. Und die Sonne hatte geschienen. Auf das frischverschneite Berlin. Joni und Schnee. Das spürte er als Schmerz. Wie lebendig sie ist im Schnee. Als er hier vor ein paar Wochen die frischverschneite Osterwaldstraße erlebt hatte, war sein erster Gedanke: Joni im Schnee. Und der grell alles ausstellenden Sonne hatte er leise zugerufen: Sonne, schein doch nicht so.
Er las jetzt alles Wort für Wort und setzte aus den vielen Artikeln den Film zusammen, den er, wie er sah, allenfalls in Umrissen kannte. Am Leben entlang, aber das Leben durch die Kunst steigern. Daran dachte er natürlich, als er las, daß Ina Kosellek ermordet wird. Erwürgt wird sie. Verhaftet wird ziemlich schnell ihr Geliebter Elmar von Egg. Der hat sich verdächtig gemacht durch rabiate Briefe an frühere Liebhaber Inas. Die waren aus Inas Notizbüchern sehr schnell gefunden worden. Und durch sie die Briefe, die sie von Elmar von Egg bekommen hatten, samt Schweizer Armeemesser. Für die Tatnacht hatte Elmar kein Alibi. Er war ja von seiner Frau verlassen worden und wohnte allein. Er versuchte auch gar nicht, seine Unschuld zu beweisen. Der Tod Inas hatte ihn so getroffen, daß für ihn die Frage, ob er es gewesen oder wer es gewesen sei, bedeutungslos war. Die Verhöre ließ er über sich ergehen, saß apathisch da und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Der einzige sinnvolle Satz, der ihm zu entlocken war, hieß: Das hätte nicht geschehen dürfen. Den Satz allerdings sagte er immer wieder. Die Tat selber stritt er mit keinem Wort ab. Sie hätte nur nicht geschehen dürfen. Er wollte von keinem Anwalt beraten oder vertreten werden. Daß Ina tot war, machte alles, was jetzt noch geschehen konnte, sinnlos. Dann fällt Herr Elvis Kraile auf. Er entschuldigt sich dafür, daß er sich nicht sofort nach der Tat gestellt hat. Daß dieser Kunsthändler als Täter auftritt, findet er, geht nicht. Das hat Ina nicht verdient, von diesem fetten Wichtigtuer umgebracht worden zu sein. Elvis Kraile ist ein hagerer Jazzpianist, der nur noch in Hotelbars beschäftigt wird. Durch Mißerfolg überempfindlich geworden. Als Ina ihn einmal bei sich übernachten ließ, wollte er nicht mehr gehen. Er rief seine Frau an, sagte ihr, daß er jetzt endlich wisse, wohin er gehöre. Seine Frau war froh, ihn loszusein. Als Ina ihn hinausdrängen wollte, erwürgte er sie und blieb auf einer Parkbank sitzen, bis er den Leuten auffiel. Sie riefen die Polizei. Er legte sein Geständnis ab.
Zwei Täter, jeder motiviert genug für die schreckliche Tat. Der Staatsanwalt versucht fleißig, diese Situation entscheidbar zu machen. Aber der Kommissar ermittelt weiter, weil er einen Täter braucht, nicht zwei. Seine Grundüberzeugung: Je weniger eine Tat im Affekt begangen wird, desto unglücklicher muß der Täter sein. Nur unglückliche Menschen sind zu einer solchen Tat imstande. Also sucht er den Unglücklichsten in dem Beziehungsgeflecht, dessen Zentrum Ina Kosellek war. Der Unglücklichste von allen, findet er heraus, ist Rodrigo, der Regisseur. Aber ihm ist nichts zu beweisen. In den Verhören macht er sich über den Kommissar lustig, verhöhnt ihn regelrecht. Der Kommissar habe wohl zu viele schlechte Kriminalfilme angeschaut. Selbst wenn er es getan hätte, sagt er dem Kommissar ins Gesicht, Sie, Herr Kommissar, überführen allenfalls sich selbst, nämlich der berufsbedingten Hirnschrumpfung. Der Kommissar bleibt gelassen. Dann bringt der Kommissar einen Handschuh mit zum Verhör. Der Regisseur stutzt. In den Haaren der Toten ist ein Faden gefunden worden, der aus diesem Handschuh stammt, und es ist Rodrigos Handschuh. Als er erfährt, daß sein engster und einziger Freund diesen Handschuh geliefert hat, geht er ins Nebenzimmer und erschießt sich.
Fast in jedem Artikel wurde dieser Rodrigo anders aufgefaßt, anders empfunden. Übereinstimmung herrschte darüber, daß er unglücklich war, weil er in einer Gesellschaft lebte, in der Liebe ohne Sexualität nichts galt. Er liebte offenbar Ina, seit er sie zum ersten Mal bei der Beerdigung eines Schauspielers gesehen hatte. Er erlebte eine Liebesgeschichte Inas nach der anderen. Als Ausgeschlossener. Nicht in Frage Kommender. Er gab den Homosexuellen, um in irgendeiner Hinsicht in Frage zu kommen. Wie das enden mußte, sah er voraus. Das war dann die Tat.
In der letzten Szene sitzen die, die den Film gemacht haben, vor der Leinwand. Der Film ist gelaufen. Die Journalisten haben gefragt. Theodor Strabanzer steht auf und sagt: Hat mich gefreut, Verständniswilligen ein paar Sätze zu sagen über unser geniales Machwerk. Adieu. Und eilt hinaus. Rennt durch die Stadt. Die Flucht vor den Zeitungen.
Der Film wird umstritten genannt, ist aber sofort ein Publikumserfolg.
Karl von Kahn würde gut verdienen.
Er mußte Helen schreiben. Ihr in einem Brief andeuten, was gewesen ist. Gewesen war.
Er konnte dann nicht immer ich sagen. Wenn er von sich in der dritten Person schrieb, schien es leichter, genau zu sein. Helen würde das verstehen. Sie schrieb ihre Studien, in denen sie ihre Erfahrung spüren ließ, immer ohne ich zu sagen.
Bis zum Wochenende machte er sich Notizen, dann schrieb er:
Liebe Helen,
heute morgen erwachte ich durch zwei Schläge ins Gesicht, die ich mir selber gegeben hatte. Was für ein Traum zu dieser Selbstbestrafung führte, war nicht mehr auffindbar. Vorschnelle Bedeutungshubereien wehre ich ab. Ich bin Dein Traumbehandlungsschüler. Deshalb bleibt der Traum unzerstört in mir präsent. Zwei Schläge von mir, mir ins Gesicht. Damit will ich nicht angeben, mich nicht einschmeicheln bei Dir. Ich habe bei Dir auch gelernt, nicht mit einem Traum anzugeben, aber zwölf andere Träume, die man nicht gestehen kann, unerwähnt zu lassen. Ich gestehe also, daß ich die meisten Träume, von denen ich zur Zeit heimgesucht werde, Dir nicht sagen kann. Das wage ich jetzt zu gestehen, weil es der Programmpunkt fünf ist in Deinem Vortrag Warum darf der Traum Klartext der Ehe genannt werden. Wenn ich Dir einen solchen Traum erzählen könnte, wäre bewiesen, daß ich als Träumender unmöglich bin. Nicht nur als Träumender, wirst Du sagen.
Du weißt: Ich bin ein Simulant. Ich simuliere Leben. Immer schon. Dieser Satz käme mir glaubhafter vor, wenn er hieße: Er ist ein Simulant. Er simuliert Leben.
Laß mich dabei bleiben. Ich will für Dich einen Text entwerfen, der nicht mehr vom Verschweigen lebt. Laß es mich, laß es ihn probieren.
Er hat Dich nie angelogen. Was er Dir gesagt hat, war immer wahr. Schon dadurch, daß er es gesagt hat. Und in dem Augenblick, in dem er es Dir gesagt hat. Aber er hat Dir vieles nicht gesagt. Ist Verschweigen gleich Lügen? Das Verschwiegene hat zugenommen. Du glaubst, Dir sei jetzt alles bekannt. Die Joni-Katastrophe.
Wie der Versuch, Dir, der Erforscherin des Verschwiegenen, vom Verschwiegenen einen Eindruck zu verschaffen, ausgeht, ist noch nicht vorstellbar. Der Versuch muß blindlings unternommen werden. Taub gegen sich selber. Taub gegen die immer alles verhindern wollende Welt. Taub gegen jede Art Dreinrede. Und sei sie die edelste, feinste, liebenswürdigste. Du siehst, er tanzt vor Dir das Angstballett, das er immer getanzt hat, wenn er Dich hat verschonen wollen vor seinem So- und Sosein. Mehr als Andeutungen wird er auch diesmal nicht aus sich herausbringen. Verzeih, wenn es Dir zuwenig ist oder zuviel. Wisse aber, daß er Dich liebt. Er hat Grund dazu. Und wenn Du, seine Andeutungen lesend, vergißt, daß er Dich liebt, dann … dann sind wir am Ende. Keinesfalls darf er sich dadurch schon vorweg einschüchtern lassen, obwohl eine schlimmere Wirkung als die, daß Du vergißt, daß er Dich liebt, nicht denkbar ist. Trotzdem macht er diesen Versuch. Diesen Versuch einer Selbstpreisgabe. Es werden ohnehin nur Andeutungen sein. Das darf sogar als Titel dienen: NUR ANDEUTUNGEN.
Was bist Du für ein Mensch, hast Du geschrieben. Dann hast Du ihm in ausführlicher Rede entzogen, was ihn sich selber noch erträglich machen könnte. Du hast die Deutungshoheit an Dich gerissen. Du bist die Legitimierinstanz. Er ist alles nicht, was er sein soll. Was man sein soll. Er dürfte es gar nicht aushalten, so zu sein, wie er ist. Er müßte sich fügen oder sich umbringen. Rechtfertigen entfällt. Das weiß er aus jedem Zusammenhang, den er je gestreift hat. Wer sich rechtfertigt, klagt sich an. Soll er sich anklagen? Er zieht es vor, sich in der über ihn ausgeschütteten Illegitimität einzurichten. Es ist entspannend, ein unmöglicher Mensch zu sein.
Was Beziehung war, ist vernichtet. Von ihm kann nichts mehr erwartet werden. Daß das doch so bliebe.
Wenn ein anderer seine Morallosigkeit praktiziert, wird er ihm unsympathisch. Er selber bleibt sich sympathisch. Er bittet Dich, anzuerkennen, daß er nicht amoralisch ist, nur unmoralisch. Das macht ihn klein. Auch das soll ihm recht sein. Was allgemein gilt, ist anerkennenswert. Müßte nicht öfter dazu gesagt werden, daß sich niemand an das hält, was allgemein gilt? Jeder muß den Anschein erwecken, er lebe nach dem, was allgemein gilt. Wer das nicht schafft, ist ein unmöglicher Mensch.
Nehmen wir Herrn A. Er hat gerade mit Frau B. geschlafen, wie man miteinander schläft, wenn man lange voneinander getrennt war. Frau B. ist von ihrem beruflichen Alltag so erschöpft, daß sie nach diesem Miteinanderschlafen sofort einschläft. Herr A. geht in Frau B.’s Arbeitszimmer hinüber, die Tür macht er so leise als möglich zu, dann setzt er sich an Frau B.’s Schreibtisch und schreibt an Frau C., die seine Frau ist. Er schreibt: Ich liebe Dich. Ich liebe Dich, wie ich keinen Menschen in der Welt lieben kann. Ich möchte jetzt bei Dir sein und mich bei Dir auflösen bis zur Nichtmehrfühlbarkeit der eigenen Existenz. Ich möchte mich durch Dich verlieren. Nicht mehr sein müssen möchte ich durch Dich.
Er schreibt sich in einen Rausch hinein. Die Vorstellung, durch Frau C. erlöst zu werden, reißt ihn hin. Zur Vervollkommnung dieser Empfindung gehört, daß es Frau C. genauso gehen sollte, daß von ihr nicht mehr übrigbliebe als von ihm, also daß sie, er und seine Frau, nur als Eins übrigbleiben würden. Das schreibt er ihr. Dann geht er wieder zurück zu Frau B., die tief schläft, schlüpft aus dem Morgenmantel, legt sich nackt neben die Nackte und sucht möglichst viele Berührungsstellen, Berührungsfelder. Er schraubt Frau B. und sich zusammen, bis beide, er und Frau B., einen dritten Körper bilden. Einen Körper, der, weil er nicht nur auf dem Papier existiert, allem, was geschrieben werden kann, überlegen ist.
Gelogen hat er nicht. Solange er etwas sagt oder schreibt, ist es wahr. Länger kann ohnehin nichts wahr sein.
Soweit die Mitteilung über Herrn A., Frau B. und Frau C.
Darf das nicht so sein? Wer dagegen ist, daß so etwas vorkommt, ist gegen das Leben.
Ist das nun anstößig? Was allgemein gilt und was uns einen solchen Vorgang als anstößig empfinden läßt, ist selber anstößig. Er auf jeden Fall muß, wenn er nach dem lebt, was allgemein gilt, wie unter Betäubung leben. Er muß alle seine Erwartungen irrsinnig nennen.
Er ist voll von Erwartungen, von denen er längst wissen könnte, daß ihnen kein bißchen Wirklichkeit entsprechen darf. Und er lebt von diesen Erwartungen. Er hofft natürlich, bei allen anderen sei das auch so.
Nehmen wir seinen beruflichen Alltag: Wenn er eine geschäftliche Verabredung mit einer Frau hatte, hielt er es jedesmal für mehr als eine geschäftliche Verabredung. Er fuhr überallhin mit abenteuerlichen Geschlechtsphantasien. Er hätte sonst nicht so oft und so weit fahren können. Die Mühen der Bewegung, der Organisation, der Dauer, der Geduld — das wäre unerträglich gewesen, wenn er das Ziel nicht hätte mit einer Frau ausstatten können. Dann stellte sich gewöhnlich heraus, daß es die Frau nicht gab. Er verkraftete diese Abstürze, er war sie ja gewöhnt. Die Rückfahrt war dann die unverminderte Plackerei.
Alle, die er getroffen hat, haben nichts betrieben als die Optimierung des Geschlechtsverkehrs, also glaubt er sich berechtigt, das auch jedem, den er neu kennenlernt, unterstellen zu dürfen. Alle hampeln herum in einer angsterregenden Monstrositätskultur und sind mit nichts beschäftigt als mit der Verfeinerung des Sinnlosen. Die Energie zu dieser Verfeinerung entspringt ausschließlich dem nie und nirgends an ein Ziel gelangenden Bedürfnis nach mehr Geschlechtsverkehr.
Es ist inzwischen deutlich, daß jeder Jüngere ihn für sehr alt hält. Er spürt direkt, wie der Jüngere in jedem Satz an eine Abgeklärtheit und Sterbebereitschaft appelliert, die er nicht hat. Er ist alt, das stimmt. Aber er hat keine anderen Wünsche und Absichten als jemand, der zwanzig Jahre jünger ist. Der einzige Unterschied: Er muß so tun, als habe er diese Wünsche und Absichten nicht. Als sei er darüber hinaus. Deshalb ist das Altern eine Heuchelei vor Jüngeren.
Sein Bein! Alle Wörter, die sein Bein nicht kennen und nicht fassen, sind Fremdwörter, und Fremdwörter sind dazu da, die Wirklichkeit schönzulügen. Ohne Fremdwörter wäre das Leben Schrecken pur. Er wäre nicht imstande, irgend jemandem zu verraten, wie sein Bein aussieht. Weder seinem größten Feind noch seinem engsten Freund. Er ist mit seinem Bein allein in der Welt.
Was er hier versucht, ist kein Versuch, Dich als Therapeutin zu gewinnen, liebe Helen. Er wird nicht fertig mit dem, was Joni ihm hinterließ. Beneidenswert, wem der Abscheu die Ohren verschließt. Er gesteht Dir, denk bitte: Dir gesteht er, daß Jonis Sätze ihn verwüstet haben. Da, wo diese Sätze hingetroffen haben, wächst nichts mehr als die Sehnsucht nach solchen Sätzen. Reicht’s jetzt?
Einerseits verschweigt er das Wichtigste, wenn er verschweigt, daß man ihr Geschlecht einen Tempel der Nässe und der engsten Zugänglichkeit nennen müsse. Andererseits kann er nicht davon absehen, daß er einfach einer der Millionen Männer ist, die sich ein Vergnügen verschaffen und zugeben müssen, daß man durch nichts so gemein wird wie durch Geschlechtsverkehr. Noch einmal andererseits: Dem Tod wird das Wort entzogen.
Sie taten es miteinander, nicht füreinander. Sie taten es auf keine besondere Weise. Es mußte keiner dem anderen extra behilflich sein. Wenn sie es miteinander taten, nahmen sie gewissermaßen von selber zu. Wie zwei Flüsse, die anschwellen, dann gemeinsam über die Ufer treten und sich vereinigen. Beide hatten es anders erlebt gehabt.
Allerdings: Wenn Joni ihm so viel verschwieg, wie er zum Beispiel Dir verschwieg — und warum sollte sie ihm nicht genausoviel verschweigen! — , dann saß sie ihm gegenüber und dachte daran, wie sie zwölf Stunden vorher von ihrem Liebhaber gefickt worden war.
Seine Naivität: Nur wenn sie völlig offen wäre, wäre er gleich alt. Einem, der so alt ist wie sie, würde sie ja alles ins Gesicht sagen können.
Liebe Helen, das Leben ist der Klartext!
Seit er weiß, wie das ist, wenn einem jemand genommen wird, weiß er, was Du durchgemacht hast, Helen.
Er hatte sie telefonisch um eine Liste mit den Schuhgrößen ihrer früheren Männer gebeten. Sie hatte am Tag zuvor auf seine Schuhe gezeigt und hatte gesagt: Die sind dir doch viel zu klein! Oder behandelst du deine Füße, wie es Chinesinnen tun? Sie hat ihm diese Bitte nicht erfüllt, obwohl sie im Gespräch in jedem Augenblick die Schuhgröße eines jeden Mannes, mit dem sie je geschlafen hatte, aufsagen konnte.
Sie wußte nicht, was sie verriet, als sie sagte: Mein Herz hat nicht schneller geschlagen, als Bertram Fürst bei mir eintrat. Wer sagt, sein Herz habe dann und dann nicht schneller geschlagen, verrät, daß es schneller geschlagen hat.
In einer bis zur beiderseitigen Erschöpfung getriebenen Diskussion setzte Joni das Ergebnis durch: Eine Frau darf nicht gezwungen werden, einem Mann etwas zu sagen, was sie um ihretwillen nicht sagen kann.
Wenn er Joni anrief, kam auf eine Frage öfter lange keine Antwort. Dann erfuhr er, daß sie in ihrem Kalender etwas eintragen mußte, was ihr gerade eingefallen war.
Als er einmal sagte, dieser italienische Ober gefalle ihm, den könnte er sich gut für sie vorstellen, protestierte sie. Genau den nicht! Sie werde ihm, sobald ein Mann auftauchte, der für sie in Frage käme, den zeigen. Das verletzte ihn. Er wollte sich vorstellen, es gebe keinen Mann und keinen Mannstyp, den sie sich vorstellen könnte als ihren Mann.
Als er Joni ein altes Foto zeigte, weil er stolz war auf den zweireihigen Anzug, den er damals getragen hatte, sagte sie: Du hast gut ausgesehen. Da fiel ihm erst ein, wie falsch es war, ihr dieses Foto zu zeigen.
Als Joni ihm riet, Dir gegenüber mild zu sein, wußte er, daß sie ihn loswerden wollte.
Schon wenn jetzt am Telefon eine Sekretärin sagt, ich verbinde Sie, hört er, diese Frau könnte ihn ganz und gar aufnehmen, daß er nirgends mehr wäre als bei ihr. Ich verbinde Sie, sagt sie, weil sie weiß, wie er blutet.
Vorletzte Woche hat er, wahrscheinlich um sich beweglich vorzukommen, ganz schnell einen London-Flug gebucht. In South-Kensington lebt ja immer noch Mr. Keeney, dem er vor fünfzehn Jahren abgeraten hat, sich am Wettbieten für die zwölf Interhotels zu beteiligen. Die Londoner Warburg Bank hatte von der Treuhand den Auftrag, die DDR-Interhotels zu verkaufen. Ein Heidelberger Bauträger hatte schon die Hypo und die Dresdner zusammengespannt. Sie boten zusammen 1,7 Milliarden. Einer aus Berlin bot 2,1 Milliarden. Von zwanzig Anbietern, darunter auch Sixt, war Mr. Keeney der zweite. Er hatte schon einem Frankfurter Finanzmann vorgeschlagen, ihr Angebot zusammenzulegen. Mit dessen 500 Millionen wäre Mr. Keeney der erste gewesen. Und er, der sich gerade von der Hypo losgesagt hat, ruft Mr. Keeney an. Dessen Konto hatte er, als er noch bei der Hypo war, im Privatkundengeschäft immer aufs beste betreut. Er wisse, sagt er zu Mr. Keeney, genug über die Interhotels, um abraten zu können, abraten zu müssen. Mr. Keeney zog sein Angebot zurück. Der, der mit Hilfe der Deutschen Bank den Zuschlag erhielt, war dann ganz schnell bankrott, die Deutsche Bank blieb auf den maroden Interhotels sitzen, und Mr. Keeney überwies, ohne daß er dazu verpflichtet gewesen wäre, einhunderttausend Mark. Das sei weniger als ein Zehntel dessen, was er durch den guten Rat gerettet habe. Und immer an Weihnachten und Neujahr Grüße hin und her. Und in dem seit zweihundertfünfzig Jahren von der Familie Keeney sorgsam gehüteten Haus am Thurloe Square in Kensington war er ein stets willkommener Gast. Dergleichen brauchte er jetzt. Also gebucht und hinaus und in der Lounge auf den Abflug, den verspäteten, gewartet. Zurückgelehnt, wie es die Polsterbänke durch ihre schrägen Lehnen verlangen. Dem Boarding entgegengedämmert. Plötzlich erhob sich ein Mädchen, eine Mädchenfrau, sehr groß und genauso blond, den Kopf hochgereckt, so hoch als möglich. Ging in dunklen Stiefeln. Ein Rot, das Schwarz sein wollte. Ein heller, ihren Schritt für Schritt schreitenden Gang umwehender Rock. Der Rock nützte nichts. Immer wieder brechen die Schenkel ins Freie, waren, bis er wieder hinzuschauen wagte, schon wieder ins Freie getreten. Die kurze, die Figur genau fassende Jacke machte aus der Schreitenden eine schreitende Statue. Das Blond fiel in kleinen Wellen auf diese Jacke nieder und reichte bis zu den Schultern hinaus. Eine Sonnenbrille, die alles Hinschauen lächerlich machte. Sie schien überhaupt durch alle durch-, über alle hinwegzugehen und dabei so langsam wie möglich die Frage zu stellen: Wer von euch will sterben? Oder: Whose number’s up? Er hatte das Gefühl, er hätte sich melden müssen. Darauf, daß er sich melde, schien sie zu warten. Vor ihm blieb sie stehen, beugte sich aus ihrer enormen Höhe ganz mühelos und weich herab und sagte mit einer Stimme, die nur ihm galt: Wenn ich einen Schwanz hätte, würde ich dich jetzt in den Arsch ficken. Da blieb er natürlich, als sein Flug dran war, sitzen und winkte eine vom Desk her. Er mußte verhindern, daß sein Name ausgerufen wurde. Er sagte, er müsse auf den Flug verzichten. Eine Handbewegung zur linken Seite hin genügte. Im Nu war ein elektrisches Kleinauto da und brachte ihn fort. Zum Exit. Der Taxichauffeur übernahm ihn als Notfall. Aber in der Osterwaldstraße sagte er zu dem: Alles klar. Dann saß er, dachte über die Schreitende nach. Ein bißchen erinnerte sie ihn jetzt an Störche, die früher durch die Niederungen stelzten und Frösche sammelten.
Gestern, in der U-Bahn, diese Frau von Kleidern wild verhängt. Eine gewaltige Elster oder Freiheitskämpferin. So darf man nur aussehen, wenn man eine Kalaschnikow in der Hand hat oder unter einem Mann gerade zergeht. Und beugte sich herüber zu ihm und sagte mit einer Stimme, die im Hochland von Armenien zu Hause war: Ich brauch es jetzt. Verstehst du! Er schaute und schaute, sie sprang auf und stieg aus. Er dachte: Sie braucht es jetzt. Du Idiot.
Gestern mußte er ganz schnell hinaus aus der Firma, mußte Frau Lenneweit ratlos zurücklassen. Vor an die Theatiner und mitten hinein ins Jugendgetümmel im San Francisco. Sitzt noch keine zehn Minuten, sagt die wunderbar Samtwangige, Großäugige, die neben ihm sitzt: Ich glaube, ich habe heute nacht von deinem Schwanz geträumt. Er wagt natürlich nicht, ihr gleich den Kopf zuzudrehen. Man darf nicht jede Gelegenheit ausbeuten, das weiß er doch. Ihre zweifellos italienische Lederjacke, braun, abenteuerlich übersät von Taschen und Reißverschlüssen, dieses eindeutige Kleidungsstück berührt er, ohne daß er es will. Er könnte das, wenn es verlangt wird, rechtfertigen. Er ist ein Fan. Eine solche, die Figur feiernde, in der Hüfte noch einmal hinauskurvende Jacke nicht berühren zu wollen hält er für eine Beleidigung der beiden ihm namentlich bekannten Schöpfer dieser Jacke. Und er würde den Satz zu gern noch einmal hören. Bitte, sag ihn noch einmal. Und sie: Ich habe heute nacht von deinem Schwanz geträumt. Jetzt hakt er ein: Vorher hast du gesagt, ich glaube, ich habe … Und sie: Sie habe sich geniert, das gleich so hinzusagen, deshalb das Ich glaube. Sie sei aber ganz sicher, daß es sein Schwanz gewesen sei. Das klang, als wären auch andere möglich gewesen, aber diesmal eben nicht. Da bleibt nur zahlen und gehen. Bloß nichts ausnützen. Schweren Herzens ging er hinaus. Hoffend, sie rufe ihn zurück. Das tat sie eben nicht. Er konnte jetzt nicht ins Büro. Blieb dann vor der religiös anmutenden Autopracht stehen. Das waren keine Schaufenster, das war ein Autotempel. Das waren keine Autos zum Fahren. Das waren Heilige Kühe. Neben ihm stand gleich eine noch nicht Einundvierzigjährige. Ihr Kopf wurde von einem rund herumführenden langhaarigen Pelz geradezu serviert. Wie das Haupt Johannes’ des Täufers bei Salome. Dachte er. Ihr Mantel war kurz, künstlich glänzend, über und unter dem Gürtel wie aufgeblasen. Aber nicht zuviel. Überhaupt, diese kurzen Haare im Pelzkranz, dieses überaus feine, von Gedankenreichtümern sprühende Gesicht. Und dann der Satz, den sie nicht nur dem Autoschaufenster, sondern schon recht deutlich zu ihm hin sagte: Ich freue mich auf einen Mund voll Schwanz.
Und er, der Idiot, rannte davon. Ja, wie denn nicht. Aber jetzt mußte er ohnehin zu seinem Arzttermin. Das jährliche Blutbild liefern. Zurück in die Prannerstraße. Saß, bis dieses Mädchen in die Kabine bat. Man sah alles, was sie anhatte. Ob er sich das Blut liegend oder sitzend abnehmen lassen wolle. Sitzend, sagte er und nannte sich gleich wieder Idiot. Du bist der Idiot der Saison. Dachte er. Als sie sich über seinen Unterarm beugte, sah er durch ihre allzu offene Hemdbluse tief an ihr hinab. Sie war braungebrannt. Die Bräune, die nur das Meer gibt. Als er die erwünschte Faust machte, sagte sie: Oh, die springen einem ja direkt entgegen. Und meinte die Venen. Nachher, als sie den Flecken auf den Einstich drückte und er das Drücken übernehmen sollte, sagte sie: Feste drücken. Weil sie ihren Finger nicht wegnahm, bevor sein Finger zur Stelle war, berührte er mit seinem Finger ihren Finger. Aus ihrem jung-schwellenden Gesichtchen schaute sie mit Pralinenaugen unter ihrer runden Stirn hervor und sagte mit einem sich gleichsam in Liebe auflösenden Mund: Ich könnte dich so streicheln, wie du noch nie gestreichelt worden bist. Die volle Berechtigung dieses Streichelns ergibt sich aus seiner Einmaligkeit. Etwas, das noch nie geschehen ist und, wenn nicht hier und jetzt, nie geschehen wird, darf doch wohl, muß doch wohl hier und jetzt geschehen. Sie sei, sagte sie, als Streichlerin Weltspitze. Wenn es nicht so angeberisch klänge, würde sie sagen: Sie sei Weltmeisterin im Streicheln. Mit einer nicht ganz unwichtigen Einschränkung allerdings. Sie sei diese Weltmeisterstreichlerin nicht unter allen Umständen, sondern nur, wenn er der Gestreichelte wäre. Also was ist. Darf ich anfangen? Es kam zu einem Blicktausch. Sie sagte: Meistens morgens, wenn sie aufwacht, findet sie ihre Hand da unten, dann macht sie es sich, einfach zur Beruhigung. Das sagte sie heiter. Zog die kleinen Brauen hoch, stand auf, beschriftete das geerntete Blut und sagte noch in diese Routine hinein, sie sei jetzt vom Ficken ganz geschwollen. Das klang kein bißchen vorwurfsvoll. Er auf jeden Fall hörte es gern. War sogar ein bißchen stolz. Mein Gott! Die Eitelkeit ist die Schallmauer. Sagen konnte er darauf natürlich nichts. Im Gegenteil. Er, der Idiot der Saison, tat, als habe sie gesagt: Sie hören dann von uns. Er bedankte sich und rannte davon. Floh durch die Stadt und hörte, was Frauen zu ihm zu sagen hatten. Es machte ihn glücklich, solche Sätze aus solchen Mündern zu hören. Auch die Dirndl-Kellnerin, die ihm sagte, was er heute abend essen solle, wollte keine Ausnahme machen. Sie stellte sich neben ihn, weil er zugegeben hatte, er wisse nicht, was er essen solle. Sie beugte sich über ihn und die große Speisenkarte. Wenn er mit dem Kopf nur die kleinste Bewegung machte, landete er zwischen ihren Brüsten. Zwischen ihren landschaftlich schönen, alles gewährenden Brüsten. Ich bin schon den ganzen Tag geil, sagte sie. Ich halte dir meine Fotze hin, sagte sie. Als er immer noch nicht richtig reagierte, sagte sie: Ich halte dir meine Fotze hin, daß du sie ficken kannst. Ja, sagte er, ich nehm Tafelspitz mit den Gemüsen à la Saison.
Immer nach einem solchen Satz-Erlebnis warf er sich vor, nicht richtig auf diese gewaltigen Sätze reagiert zu haben. Diese fabelhaften Frauen konnten, weil er so schwerfällig, so halbtaub und leblos reagierte, denken, er habe an der unanzweifelbaren Unanständigkeit dieser Prachtsätze etwas zu kritisieren. Immerhin brachte er allmählich eine Art Lächeln zustande. Ein blödes Lächeln, sicher, aber doch deutlich das Gegenteil von sittlicher Empörung und geschmacklichem Abscheu. Am liebsten hätte er ausgedrückt, er fühle sich geschmeichelt, daß er auf diese eher unkonventionelle Art angesprochen werde. Natürlich erschreckte ihn der Grad der Unanständigkeit dieser Sätze. Wie denn nicht! Er war doch auch erschrocken, damals, am ersten Abend mit Gundi und Diego im Königshof.
Ob Gundi zum Apfelstrudel Sahne wolle, fragte der Ober. Und sie: Ich will alles, was flüssig ist. Und lachte. Und Diego lachte fast zu sehr mit. Er selbst schaffte nur ein kleines Lachgeräusch. Und jetzt überspielte er sein Erschrecken mit einem Lächeln. Wenn man bedenkt, was er da zu überspielen hatte, dann war, daß er es überhaupt zu einem Lächeln brachte, doch auch eine Leistung. Man vergegenwärtige sich diese Sätze, und dann lächelt der so Angesprochene! Natürlich kann man sagen, auf solche Sätze reagiert man nicht mit einem etwas verlegenen, blöden Lächeln, da wendet man sich ab, angeekelt oder eben einfach empört. Karl von Kahn mußte sich nur vorstellen, wie sein Vater, wäre er so angesprochen worden, reagiert hätte. Andererseits vermutet er, daß die, die von ihm Abscheu und Empörung erwartet hätten, vielleicht noch nicht von Frauen mit solchen Sätzen angesprochen worden sind. Wie sollte er sich eine Reaktion seines Vaters oder Ereweins als Maßstab nehmen, wenn beide nie solchen Sätzen ausgesetzt gewesen waren.
Er spürte von Tag zu Tag mehr, daß sich die Blicke der Frauen, denen er begegnete, in ihm addierten. Er hätte der Welt mitteilen können, was die Gletscher schmelzen läßt. Nie zuvor haben Frauen soviel Wärme ausgestrahlt. Das und nichts anderes ist die Klimaveränderung. Was meinst Du, Helen? Angenommen, das geht jetzt so weiter, wie soll er dann reagieren? Keine Sorge, Helen. Glaube nicht, er frage Dich im Ernst. Er weiß, daß nur er selber gefragt ist, daß er in der ganzen Welt keinen Menschen fragen kann, wie er reagieren soll, wenn morgen in der U-Bahn eine große Zwanzigjährige aufsteht und sich herabbeugt zu ihm und sagt: Wenn ich einen Schwanz hätte, würde ich dich jetzt … Nein. Darauf braucht er sich nicht gefaßt zu machen. Dieser Satz von dem Franz-Josef-Strauß-Flughafen wird nicht mehr vorkommen. Das ist deutlich geworden, es gibt keine Wiederholungen. Jede Frau hat ihre eigenen Sätze. Und es hat ihn noch keine Frau ein zweites Mal angesprochen. Schade eigentlich. Weil es keine Wiederholung gibt, gibt es keine Vorbereitung. Übrigens: Keine der Frauen, die er mit seinen Augen anbohrte, hat ihm je so einen Satz gesagt. Die, die er anbohrt, drehen sich weg oder schauen ihn mit von Mitleid trüben Augen an. Jedesmal war es eine reine Überraschung. Jedesmal durfte er sich nachher sagen, daß er alles erwartet habe, nur das nicht. Ein einziges Mal war eine, die er mit seinen Blicken angebohrt hatte, böse geworden. Verpiß dich, hatte sie gezischt. Tatsächlich hatte er dann ein paar Tage lang keinen Mut mehr zu einer weiteren Anbohrung.
Am Kiosk, wo er jeden Tag seine Zeitungen kauft, bedient seit einigen Tagen eine Neue. Keine fünfundzwanzig. Allzu schwarzgetönte, den Kiosk praktisch sprengende Haare. Eine zu hohe, nie weich werdende Stimme. Ein überall genau und knapp geschwungenes Gesicht und eine sanft sich rundende Stirn, unter der die Augen fast in einer Tiefe liegen. Im Zeitungskiosk, eine solche Erscheinung. Eine schwarze Jeansjacke mit viel zu vielen grellweißen Nähten. Die Person selber ist bestürzend blaß. Und vorgestern, als er wieder seine Zeitungen entgegennahm, sagte sie, als sie ihm das Wechselgeld in die Hand zählte: Ich hab noch einen Fick gut bei dir. Und da sind doch immer noch Leute in der Nähe. Und die tun jedesmal so, als hörten sie diese Sätze nicht. Das kann die feinste Art mitteleuropäischer Toleranz sein. Dann hat die Aufklärung tatsächlich was gebracht. Oder es ist eine Art schmerzlicher Resignation. Die Sätze sind ihnen so peinlich, daß sie keine Chance sehen, da noch rettend einzugreifen. Er hatte nicht den Mut, die Leute zu fragen. Er war ja jedesmal, wenn ihm ein solcher Satz serviert wurde, selber verwirrt. Selig verwirrt allerdings. Mein Gott. Bis zur Unzurechnungsfähigkeit glücklich. Aber natürlich genauso unglücklich. Als die unter ihrem schwarzen Haarstrudel so bestürzend Blasse ihm einen Tag später das Wechselgeld in die Hand zählte, sagte sie gewissermaßen schonungslos: Ich denke mit der Fotze an dich. Er kann da einfach keine Zeitungen mehr kaufen. Wie hat Rilke zu Joni gesagt? Du mußt dein Leben ändern. Das muß er sich auch gesagt sein lassen.
Weißt Du, Helen, das Altwerden beziehungsweise seine Folgen würden, wenn man sie gestünde, wie eine Niederlage wirken. Daß er der Idiot der Saison ist, bitte. Ihn krönt die Lächerlichkeit. Bitte. Alles im Dienste der gewöhnlichen Verzweiflungsvermeidung. Bitte.
Liebe Helen, unter anderen Umständen ist jeder ein anderer Mensch.
Wer keinen Halt mehr hat, kommt auch, wenn er nicht gerufen wird.
Mehrere Frauen schließen einander überhaupt nicht aus. Sie nehmen einander nichts weg. Jede ist ganz anders als alle anderen. Man kann nicht sagen, man könne abends keinen Apfel essen, weil man mittags Schnitzel gegessen hat. Wegen der Einzigartigkeit jedes Menschen gibt es gar keine Untreue. Vorausgesetzt, Liebe ist nicht im Spiel.
(Setze, bitte, hier für Frauen Männer ein.)
Er ist enttäuscht. Er hatte gehofft, im Alter nehme eine Art Sterbebereitschaft zu. Es entwickle sich eine Fähigkeit zu sterben. Hatte er gehofft. Man sei am Leben nicht mehr so interessiert. Jetzt erlebt er, daß das nicht stimmt. Er ist dem Tod sicher so nah wie nie zuvor, aber vom Leben kein bißchen weiter weg als vor dreißig Jahren. Leben ist immer noch etwas, von dem man nicht genug kriegen kann.
Wunschdenken: Das rabiate Genießen des Verblühtseins einer Frau. Die Gemeinsamkeit des Zerfalls als die endgültige Gemeinsamkeit.
Es grüßt ergebenst
Heinrich IX.
Er wußte nicht weiter. Durch das Schreiben hatte er sich bewiesen, daß er Helen das Geschriebene nicht schicken, nicht zumuten konnte. Er wunderte sich jetzt selber darüber, daß er, als er das alles aufgeschrieben hatte, geglaubt hatte, er könne Helen das schicken. Angefangen vom Verschweigen bis zu den Satzgeschenken dieser und jener Frau. Wenn er ihr, was er aufgeschrieben hatte, hinschickte, wäre sie möglicherweise schockiert, dann hatte er ihr die Entscheidung praktisch aufgezwungen. Mit einem Mann, der das und das erlebt, kann man nicht zusammenleben.
Er mußte Helen einen Brief schreiben, den sie in Ruhe lesen würde, um dann in Ruhe zu entscheiden, ob sie und wie sie wieder zusammenleben könnten.
Heute oder morgen würde er allerdings diesen Helen gemäßen Brief nicht schreiben. Solange die Frauen in der Stadt ihn mit solchen Sätzen beschenkten, war dieser Helen gemäße Brief nicht zu schreiben.
Vielleicht durfte er, um Helen einen ihr gemäßen Brief schreiben zu können, nicht mehr in die Stadt gehen. War das vorstellbar? Nicht mehr in die Stadt? Aber das Telefon. Vor einer Woche der Anruf der Magistra Leonie. Ton und Rhythmus gleich aufgeregt. Aufgeregt von dem, was sie ihm mitzuteilen hatte. Sie gehörte zu denen, die ihre Verdienste überschätzen. Wenn sie einem das Datum sagen, tun sie so, als hätten sie einem das Leben gerettet. Diego war das Muster solcher Selbstüberschätzung. Man sollte andauernd danke schön murmeln.
Die Magistra hatte zu melden, daß ihre engste Freundin, Porcia Price, lebend auf Tobago, endlich auch in Deutschland anlegen wolle. Porcia werde ihn baldigst anrufen. Er möge Porcia, bitte, gebührlich behandeln, millionenschwer, leichtfüßig wie ein Lufttier, ihre Romane stapeln sich in jedem Flughafen, als Autorin skrupellos, sie rächt sich ununterbrochen, produziert Peinlichkeiten, weltumspannende, hat drei Kinder von vier Männern, das ist ihr biographisches Logo, Porcia Price, das ist die mit drei Kindern von vier Männern, also, bitte, so eine brillante Beute hat Leonie ihm nicht jeden Tag anzubieten.
Obwohl damit noch nichts gewonnen war, obwohl die Arbeit, aus diesem rabiaten Karibik-Schmetterling eine deutsche Anlegerin zu machen, erst noch getan werden wollte, mußte er sich bei Leonie bedanken, als habe er durch ihren Anruf schon weiß Gott was verdient.
Dann rief sie an: Porcia Price. Ein Geschlinge von Wörtern. Von Tönen. Von Dehnungen und gelegentlichen Stops. Eine Stimme wie eine Dünung. Man wird zum Sandstrand, an dem sie aufläuft und sich auflöst in nichts als Berührung.
Das war doch nicht die von Leonie angekündigte Skandalnudel, das war eine Umarmerin, von der man gar nicht wissen wollte, wie sie aussehe. Sie sei keine Deutsche mehr, sagte sie, sie sei nie eine Deutsche gewesen. Folgenlos verheiratet mit einem Hamburger, aber geborene Nothnagel mit — th-, aus dem Elsaß halt, sie rufe an aus Scarborough, das sei das Hauptstädtchen von Tobago, sie sehe hinaus aufs Meer, sehe die Pelikane im Sturzflug ihre Fische fangen, sehe die Krebse huschen, es sei ein gewöhnlicher Tag, das heißt, bevor man der Trägheit erliege, tue man etwas, ruft an in Germany, beim Experten für Geldvermehrung, weil man, es zu vermehren, dem Geld schuldig sei. Also, Herr von Kahn.
Er sagte ihr seinen Text auf.
Dann sagte sie: Tu die Hand weg.
Woher sie das wisse, fragte er.
Sie sei eine Frau. Und wo er jetzt seine Hand habe, das höre jede Frau.
Also auch keine Telefongespräche mehr.
Liebe Helen,
das ist der zweite Versuch, Dir einen Brief zu schreiben. Der erste geriet, je länger er wurde, um so mehr ins Unabschickbare.
Ich zu sagen gelingt ihm auch dieses Mal nicht. Am liebsten würde er für immer in die dritte Person flüchten. Er schafft das Ich nicht mehr.
Dir gegenüber. Vor allem Dir gegenüber.
Welch eine Kälte überall.
Können zwei Unglückliche einander helfen? Darf einer unglücklicher sein als der andere?
Eine Lösung ist immer lächerlich. In der Ottostraße werden Lösungen gesucht. Und gefunden. Solange man vom anderen mehr verlangt als von sich selber, gibt es keine Lösung.
Solange man von sich selbst mehr verlangen muß als vom anderen, gibt es keine Lösung.
Ohne Lösungen lebt man nicht.
Also doch von sich selber mehr verlangen als vom anderen. Das Unterwerfungsprinzip. Das Idealprinzip. Er unterwirft sich Dir. Mach mit ihm, was Du willst. Das ist seine Genugtuung. Du mußt wissen, was Du anfangen kannst mit einem Unterworfenen. Nicht mehr in die Stadt. Nicht mehr ans Telefon. Die Firma braucht ihn nicht mehr. Der Doktor aus der Schweiz ist ein Erfolg. Daß man immer noch glaubt, siegen zu können. Und sei’s durch die Niederlage.
Was tun?
Bergauf beschleunigen. Mit Kräften, die er nicht hat. Der letzte Genuß, sich zu besiegen. Endlich ist es einmal er, der sich besiegt. Dieses Gefühl, zugleich der Sieger und der Verlierer zu sein, das Leben selbst.
Oder: Eine Müdigkeit zulassen, die nicht mehr die Folge einer Tätigkeit ist. Von dieser Müdigkeit erhofft er das meiste. Und das an einem Ort, der von allen gleich weit weg ist. Unerreichbar zu sein. Und hätte doch bei Amadeus Stengl lernen können, daß, wer sich eine Alternative abverlangt, seine Seele halbiert.
Bitte bewahre ihn vor jedem ODER.
Ich wäre glücklich, wenn Du glücklich wärst. Dein triumphaler Satz! Noch triumphaler als: Wenn ich nicht mehr leben würde, müßtest Du nicht mehr lügen.
Wenn-dann-Sätze. Wenn Du ihn vor den Entweder-oder-Sätzen bewahrst, schützt er Dich vor den Wenn-dann-Sätzen.
Die Sonne sinkt. Laß die Waffen schweigen. Die Münder verschweigen. Der Februar ist fast vorbei. Deine Schneeglöckchen und Deine Krokusse fangen an. Sie übertreiben es. Wie jedes Jahr. Er meldet Dir ergebenst: Die Krokusse sehen auch in diesem Jahr aus, als seien sie zu früh dran.
Man hat Abend gegessen an verschiedenen Tischen. Das bleibt zu bedauern.
Heute hat er auf dem Heimweg gedacht: Die Bäume haben Angst vor uns. Im Februar sehen sie so aus. Da ist die Osterwaldstraße, laublos, eine Gespensterstraße.
Er hat, seit Du ihn verlassen hast, keinen Schluck Wielands Trunk zu sich genommen. Die Küche betritt er nicht.
Zu zweit muß die Zeit wohl gründlicher totzuschlagen sein als allein.
Jedesmal, wenn er die Haustüre hinter sich zumacht, bricht die Leere über ihn herein. Es ist dann, als habe er kein Gewicht mehr. Allein. Wenn Du das beabsichtigt hast, ihm seine Unwichtigkeit zu demonstrieren, dann hast Du, was Du beabsichtigt hast, erreicht.
Daß Du nicht in der Ottostraße verharrst, hat er bemerkt. Als er Dein Auto auch während der Sprechstundenzeit nicht fand, wo es immer zu finden gewesen war, ging er ins Haus und las Deine Mitteilung: Vorerst finden keine Sprechstunden mehr statt. Er dachte natürlich sofort: Das hast Du gegen ihn geschrieben. Er geht schön brav täglich in sein Geschäft. Außer Frau Lenneweit sieht ihm niemand etwas an. Du aber bist nicht mehr fähig, Deinen von Dir so geliebten Beruf auszuüben. Ja, er gibt es zu. Das hat ihn getroffen. Am liebsten hätte er sich auf die Treppe gesetzt und … Schluß jetzt. Aber daß Du diese Ehe nicht verteidigst! Du kämpfst um jede Ehe wie ums Weltheil selbst. Und diese Ehe läßt Du zerbrechen. Wenn Du kämpfen würdest, wenn Du nicht nur Affektohrfeigen austeiltest, dann könnte er auch kämpfen. Du willst wieder einmal durch Nachgeben siegen. Interessant.
Wundere Dich nicht, der Brief hört auf mit einem Traum. Er könnte sagen: Weil er diesen Traum gestern nacht geträumt habe. Stimmt nicht. Trotzdem wäre, das zu behaupten, nichts, was er eine Lüge nennen würde. Etwas zu sagen, was nicht geschehen ist, wie es gesagt wird, gilt als unwahr. Diesem Sprachgebrauch widersetzt er sich immer erfolglos. Nicht einmal bei sich selber kann er durchsetzen, daß etwas dadurch, daß er es sagt, wahr wird. Der Traum, den er Dir erzählen will, wurde irgendwann geträumt. Er hat ihn Dir nie mitgeteilt. Jetzt will er ihn Dir mitteilen, weil der Traum sich jetzt bei ihm gemeldet hat, ihn beherrscht. Kann sein, daß die Mitteilung betulicher ausfällt, daß sich Kommentarfarben einmischen, die, wenn er Dir den Traum rechtzeitig anvertraut hätte, nicht vorgekommen wären.
Ein unendlich schöner oder paradiesisch schöner Traum also. Von Anfang an. Eine von allem, was stören könnte, befreite Traumwelt. Mehr Menschen, als man auf einen Blick fassen kann. Alle beschäftigt mit Zärtlichsein. Keine Farbe, die an eine andere Farbe stößt. Nur Übergänge. Auch die Bäume, die Sträucher, die Häuser, die Brücken, die Flüsse, die Blumen, alles geht in alles über. Auch das, was man hört. Eine Musik der reinen Vollkommenheit. Hervorgebracht von keinem Instrument. Alles findet einem Mädchen zuliebe statt. Ist sie aus Tau oder Samt oder Licht? Sie ist aber auch ein Mädchen, das geht und steht und sich bückt und streckt und sogar Sprünge macht. Bei den Sprüngen ist sie länger in der Luft, als man das für möglich hält. Man staunt. Ihre grenzenlose Wesens- und Körperschmiegsamkeit, ihre vollkommene Zutunlichkeit bewirkt nichts Geschlechtliches. Aber sie hat einen Namen. Den weiß er nicht. Den möchte er wissen. Den muß er wissen. Das dramatisiert den Traum. Er ist ihr gegenüber, sie öffnet ihren Mund, sie läßt ihre Lippen etwas aussprechen, das nur ihr Name sein kann. Sie hat nichts Hörbares gesagt. Er macht die Lippenbewegungen nach, als ließe sich dann der Name aussprechen. Während seine Lippen nachmachen, was sie mit ihren Lippen vorgemacht hat, greift er nach ihr. Sie lächelt. Sie bestätigt, er hat ihren Namen von ihren Lippenbewegungen abgelesen und er hat sie mit seinen Lippenbewegungen gerufen, sie hat sich gerufen gefühlt. Sie kommt zu ihm. Er sitzt auf einem Thron, auf einem von blühender Kapuzinerkresse überwucherten Thron. Sie setzt sich auf ihn. Sie kriegt ihn zu spüren. Dann das unaufhaltsame Herausgleiten aus ihr. Der Traum wird dünn. Erlischt. Er muß zugeben, daß es ein Traum war. Daß diesem Traum nichts entspricht in der Welt, in der er lebt. Nichts als eine weltfüllende Armut. Die schmerzt. Er war im vergangenen Frühjahr, April oder Mai, nicht fähig, Dir diesen Traum anzuvertrauen. Auch nicht nach dem immer zum Frühstück gereichten Wielandischen herzstärkenden und zungenlösenden Trunk. Gelernt von Dir ist: Es wäre lächerlich, diesem Traum durch Übersetzung Begreiflichkeiten anzutun. Den Traum ausliefern oder ihn verschweigen. Ohne daß damit etwas gesagt sein soll, ist der Traum jetzt nicht mehr nur sein Traum. Dein und sein Traum ist er jetzt.
Wer Dir diesen Brief schreibt, geschrieben hat, ahnst Du, weißt Du. Dich überrascht nicht der Schlußgruß. Du hast ihn kommen sehen.
Es grüßt Dich, wie Du willst,
Deine Helen
PS. Jetzt tobt sich der Reiz aus. Der nicht abgeschickte Brief ist der Brief. Der abgeschickte ist so wahr, wie etwas Gewolltes wahr sein kann.
Sich in Wörter hüllen wie in Gewänder, preisgegeben der Vermutung.
Denk an das Bad, das ausläuft. Am Schluß scheint das Wasser nicht schnell genug in den Abfluß kommen zu können. Das ist angenehmer, als wenn das Wasser sich wehren würde. Das wäre lächerlich, Wasser, das sich dagegen wehrt, verschwinden zu müssen.