16

Ich kam mir dumm vor, als ich in die Wohnung zurückging, die Tür schloß. Ich hätte sein Angebot, mir Kaffee zu kochen, annehmen und ihn noch etwas festhalten sollen. Im entscheidenden Augenblick, wenn er den Kaffee servierte, glücklich über seine Leistung diesen eingoß, dann hätte ich sagen müssen: »Raus mit dem Geld« oder »Her mit dem Geld«. Im entscheidenden Augenblick geht es immer primitiv zu, barbarisch. Dann sagt man: »Ihr kriegt halb Polen, wir halb Rumänien — und bitte, möchten Sie von Schlesien zwei Drittel oder nur die Hälfte? Ihr kriegt vier Ministersessel, wir kriegen den Huckepackkonzern.« Ich war ein Dummkopf gewesen, auf meine und seine Stimmung hereinzufallen und nicht einfach nach seiner Brieftasche zu greifen. Ich hätte einfach von Geld anfangen, mit ihm darüber sprechen sollen, über das tote, abstrakte, an die Kette gelegte Geld, das für viele Menschen Leben oder Tod bedeutete. »Das ewige Geld« — diesen Schreckensausruf tat meine Mutter bei jeder Gelegenheit, schon, wenn wir sie um dreißig Pfennig für ein Schulheft baten. Das ewige Geld. Die ewige Liebe. Ich ging in die Küche, schnitt mir Brot ab, strich Butter drauf, ging ins Wohnzimmer und wählte Bela Brosens Nummer. Ich hoffte nur, mein Vater würde in diesem Zustand — fröstelnd vor Erschütterung — nicht nach Hause gehen, sondern zu seiner Geliebten. Sie sah so aus, als ob sie ihn ins Bett stecken, ihm einen Wärmbeutel machen, heiße Milch mit Honig geben würde. Mutter hat eine verfluchte Art, wenn man sich elend fühlt, von Zusammenreißen und Willen zu sprechen, und seit einiger Zeit hält sie kaltes Wasser für das »einzige Heilmittel«.

»Hier Brosen«, sagte sie, und es war mir angenehm, daß sie keinen Geruch ausströmte. Sie hat eine wunderbare Stimme, Alt, warm und lieb. Ich sagte: »Schnier — Hans — Sie erinnern sich?«

»Mich erinnern«, sagte sie herzlich, »und wie — und wie ich mit Ihnen fühle.«Ich wußte nicht, wovon sie sprach, es fiel mir erst ein, als sie weitersprach. »Bedenken Sie doch«, sagte sie, »alle Kritiker sind dumm, eitel, egoistisch.«

Ich seufzte. »Wenn ich das glauben könnte«, sagte ich, »wäre mir besser.«

»Glauben Sie's doch einfach«, sagte sie, »einfach glauben. Sie können sich nicht vorstellen, wie der eiserne Wille, einfach etwas zu glauben, hilft.«

»Und wenn mich dann einer lobt, was mache ich dann? «

»Oh«, sie lachte und drehte aus dem Oh eine hübsche Koloratur, »dann glauben Sie einfach, daß er zufällig einmal einen Anfall von Ehrlichkeit gehabt hat und seinen Egoismus vergessen hat.«

Ich lachte. Ich wußte nicht, ob ich sie Bela oder Frau Brosen anreden sollte. Wir kannten uns ja gar nicht, und es gibt noch kein Buch, in dem man nachschlagen kann, wie man die Geliebte seines Vaters anredet. Ich sagte schließlich »Frau Bela«, obwohl mir dieser Künstlername auf eine besonders intensive Weise schwachsinnig vorkam. »Frau Bela«, sagte ich, »ich bin in einer bösen Klemme. Vater war bei mir, wir sprachen über alles Mögliche, und ich kam nicht mehr dazu, mit ihm über Geld zu sprechen — dabei«, ich spürte, daß sie rot wurde, ich hielt sie für sehr gewissenhaft, glaubte, ihr Verhältnis zu Vater habe bestimmt mit »wahrer Liebe« zu tun, und »Geldsachen« seien ihr peinlich. »Hören Sie bitte«, sagte ich, »vergessen Sie alles, was Ihnen jetzt durch den Kopf geht, schämen Sie sich nicht, ich bitte Sie nur, wenn Vater mit Ihnen über mich spricht, — ich meine, vielleicht könnten Sie ihn auf den Gedanken bringen, daß ich dringend Geld brauche. Bares Geld. Sofort, ich bin vollkommen pleite. Hören Sie?«

»Ja«, sagte sie, so leise, daß ich Angst bekam. Dann hörte ich, daß sie vor sich hinschnuffelte. »Sie halten mich sicher für eine schlechte Frau, Hans«, sagte sie, sie weinte jetzt offen, »für ein käufliches Wesen, wie es so viele gibt. Sie müssen mich ja dafür halten. Oh.«

»Keine Spur«, sagte ich laut, »ich habe Sie noch nie dafür gehalten — wirklich nicht.« Ich hatte Angst, sie könne von ihrer Seele und der Seele meines Vaters anfangen, ihrem heftigen Schluchzen nach zu urteilen, war sie ziemlich sentimental, und es war nicht ausgeschlossen, daß sie sogar von Marie anfangen würde. »Tatsächlich«, sagte ich, nicht ganz überzeugt, denn daß sie die käuflichen Wesen so verächtlich zu machen versuchte, kam mir verdächtig vor, »tatsächlich«, sagte ich, »bin ich immer von Ihrem Edelmut überzeugt gewesen und habe nie schlecht von Ihnen gedacht.« Das stimmte. »Und außerdem«, ich hätte sie gern noch einmal angeredet, brachte aber das scheußliche Bela nicht über die Lippen, »außerdem bin ich fast dreißig. Hören Sie noch?«

»Ja«, seufzte sie und schluchzte da hinten in Godesberg herum, als ob sie im Beichtstuhl hockte.

»Versuchen Sie nur, ihm beizubringen, daß ich Geld brauche.«

»Ich glaube«, sagte sie matt, »es wäre falsch, mit ihm direkt darüber zu sprechen. Alles, was seine Familie betrifft — Sie verstehen — ist für uns tabu, aber es gibt einen anderen Weg.« Ich schwieg. Ihr Schluchzen hatte sich wieder zu schlichtem Schnüffeln gemildert. »Er gibt mir hin und wieder Geld für notleidende Kollegen«, sagte sie, »er läßt mir da völlig freie Hand, und — und glauben Sie nicht, es wäre angebracht, wenn ich Sie als im Augenblick notleidenden Kollegen in den Nutzen dieser kleine Summen bringe?«

»Ich bin tatsächlich ein notleidender Kollege, nicht nur für den Augenblick, sondern für mindestens ein halbes Jahr. Aber bitte, sagen Sie mir, was Sie unter kleine Summe verstehen?«

Sie hüstelte, gab noch ein Oh von sich, das aber unkoloriert blieb, und sagte: »Es sind meistens Zuschüsse in ganz konkreten Notsituationen, wenn jemand stirbt, krank wird, eine Frau ein Kind kriegt — ich meine, es handelt sich nicht um Dauerunterstützungen, sondern um sogenannte Beihilfen.«

»Wie hoch?« fragte ich. Sie antwortete nicht sofort, und ich versuchte, sie mir vorzustellen. Ich hatte sie vor fünf Jahren einmal gesehen, als es Marie gelang, mich in eine Oper zu schleppen. Frau Brosen hatte die Partie eines von einem Grafen verführten Bauernmädchens gesungen, und ich hatte mich über Vaters Geschmack gewundert. Sie war eine mittelgroße, recht kräftige Person, offenbar blond und mit dem obligatorisch wogenden Busen, die an einer Kate, an einem Bauern wagen angelehnt, zuletzt auf eine Heugabel gestützt, mit einer schönen kräftigen Stimme einfache Gemütsbewegungen zum besten gab.

»Hallo?« rief ich, »hallo?«

»Oh«, sagte sie, und es gelang ihr wieder eine, wenn auch schwache Koloratur. »Ihre Frage ist so direkt.«

»Es entspricht meiner Situation«, sagte ich. Mir wurde bange. Je länger sie schwieg, desto kleiner würde die Summe werden, die sie nannte.

»Na«, sagte sie schließlich, »die Summen schwanken zwischen zehn und etwa dreißig Mark.«

»Und wenn Sie einen Kollegen erfinden würden, der in eine ganz außergewöhnlich schwierige Situation geraten ist: sagen wir, einen schweren Unfall erlitten hat und für einige Monate etwa einhundert Mark Zuschuß vertragen kann?«

»Mein Lieber«, sagte sie leise, »Sie erwarten doch von mir nicht, daß ich schwindele?«

»Nein«, sagte ich, »ich habe wirklich einen Unfall erlitten — und sind wir nicht letztlich Kollegen? Künstler?«

»Ich will's versuchen«, sagte sie, »aber ich weiß nicht, ob er anbeißt.«

»Was?« rief ich.

»Ich weiß nicht, ob es gelingen wird, die Sache so auszumalen, daß es ihn überzeugt. Ich habe nicht viel Phantasie.«

Das hätte sie gar nicht zu sagen brauchen, ich fing schon an, sie für das dümmste Weibsstück zu halten, mit dem ich je zu tun gehabt hatte.

»Wie wärs denn«, sagte ich, »wenn Sie versuchen würden, mir ein Engagement zu besorgen, am Theater hier — Nebenrollen natürlich, Chargen kann ich gut spielen.«

»Nein, nein, mein lieber Hans«, sagte sie, »ich finde mich ohnehin in diesem Intrigenspiel nicht zurecht.«

»Na gut«, sagte ich, »ich will Ihnen nur noch sagen, daß auch kleine Summen willkommen sind. Auf Wiedersehen und vielen Dank.« Ich legte auf, bevor sie noch etwas hätte sagen können. Ich hatte das dunkle Gefühl, daß aus dieser Quelle nie etwas fließen würde. Sie war zu dumm. Der Tonfall, in dem sie anbeißen sagte, hatte mich mißtrauisch gemacht. Es war nicht unmöglich, daß sie diese »Unterstützungen für hilfsbedürftige Kollegen« einfach in ihre Tasche steckte. Mein Vater tat mir leid, ich hätte ihm eine hübsche und intelligente Geliebte gewünscht. Es tat mir noch immer leid, daß ich ihm nicht die Chance gegeben hatte, mir einen Kaffee zu kochen. Dieses dumme Luder würde wahrscheinlich lächeln, heimlich den Kopf schütteln wie eine verhinderte Lehrerin, wenn er in ihrer Wohnung in die Küche ging, um Kaffee zu kochen, und dann heuchlerisch strahlen, den Kaffee loben, wie bei einem Hund, der einen Stein apportiert. Ich war wütend, als ich vom Telefon weg ans Fenster ging, es öffnete und auf die Straße blickte. Ich hatte Angst, eines Tages müßte ich auf Sommerwilds Angebot zurückgreifen. Ich nahm plötzlich meine Mark aus der Tasche, warf sie auf die Straße und bereute es im gleichen Augenblick, ich blickte ihr nach, sah sie nicht, glaubte aber zu hören, wie sie auf das Dach der vorüberfahrenden Straßenbahn fiel. Ich nahm das Butterbrot vom Tisch, aß es, während ich auf die Straße blickte. Es war fast acht, ich war schon fast zwei Stunden in Bonn, hatte schon mit sechs sogenannten Freunden telefoniert, mit meiner Mutter und meinem Vater gesprochen und besaß nicht eine Mark mehr, sondern eine weniger, als ich bei der Ankunft gehabt hatte. Ich wäre gern runtergegangen, um die Mark wieder von der Straße aufzulesen, aber es ging schon auf halb neun, Leo konnte jeden Augenblick anrufen oder kommen.

Marie ging es gut, sie war jetzt in Rom, am Busen ihrer Kirche, und überlegte, was sie zur Audienz beim Papst würde anziehen müssen. Züpfner würde ihr ein Bild von Jaqueline Kennedy besorgen, ihr eine spanische Mantilla und einen Schleier kaufen müssen, denn, genau besehen, war Marie jetzt fast so etwas wie eine »first lady« des deutschen Katholizismus. Ich nahm mir vor, nach Rom zu fahren und auch den Papst um eine Audienz zu bitten. Ein wenig von einem weisen, alten Clown hatte auch er, und schließlich war die Figur des Harlekin in Bergamo entstanden; ich würde mir das von Genneholm, der alles wußte, bestätigen lassen. Ich würde dem Papst erklären, daß meine Ehe mit Marie eigentlich an der standesamtlichen Trauung gescheitert war, und ihn bitten, in mir eine Art Gegentyp zu Heinrich dem Achten zu sehen: der war polygam und gläubig gewesen, ich war monogam und ungläubig. Ich würde ihm erzählen, wie eingebildet und gemein »führende« deutsche Katholiken seien, und er solle sich nicht täuschen lassen. Ein paar Nummern würde ich vorführen, hübsche leichte Sachen wie Schulgang und Heimkehr von der Schule, nicht aber meine Nummer Kardinal; das würde ihn kränken, weil er ja selbst einmal Kardinal gewesen war — und er war der letzte, dem ich weh tun wollte.

Immer wieder erliege ich meiner Phantasie: ich stellte mir meine Audienz beim Papst so genau vor, sah mich da knien und als Ungläubiger um seinen Segen bitten, die Schweizer Gardisten an der Tür und irgendeinen wohlwollend, nur leicht angeekelt lächelnden Monsignore dabei — daß ich fast glaubte, ich wäre schon beim Papst gewesen. Ich würde versucht sein, Leo zu erzählen, ich wäre beim Papst gewesen und hätte eine Audienz gehabt. Ich war in diesen Minuten beim Papst, sah sein Lächeln und hörte seine schöne Bauernstimme, erzählte ihm, wie der Lokalnarr von Bergamo zum Harlekin geworden war. Leo ist in diesem Punkt sehr streng, er nennt mich immer Lügner. Leo wurde immer wütend, wenn ich ihn traf und ihn fragte: »Weißt du noch, wie wir das Holz miteinander durchgesägt haben?« Er schreit dann: »Aber wir haben das Holz nicht miteinander durchgesägt.« Er hat auf eine sehr unwichtige, dumme Weise recht. Leo war sechs oder sieben, ich acht oder neun, als er im Pferdeschuppen ein Stück Holz fand, den Rest eines Zaunpfahles, er hatte auch eine verrostete Säge im Schuppen gefunden und bat mich, mit ihm gemeinsam den Pfahlrest durchzusägen. Ich fragte ihn, warum wir denn ein so dummes Stück Holz durchsägen sollten; er konnte keine Gründe angeben, er wollte einfach nur sägen; ich fand es vollkommen sinnlos, und Leo weinte eine halbe Stunde lang — und viel später, zehn Jahre später erst, als wir im Deutschunterricht bei Pater Wunibald über Lessing sprachen, plötzlich mitten im Unterricht und ohne jeden Zusammenhang fiel mir ein, was Leo gewollt hatte: er wollte eben nur sägen, in diesem Augenblick, wo er Lust darauf hatte, mit mir sägen. Ich verstand ihn plötzlich, nach zehn Jahren, und erlebte seine Freude, seine Spannung, seine Erregung, alles, was ihn bewegt hatte, so intensiv, daß ich mitten im Unterricht anfing, Sägebewegungen zu machen. Ich sah Leos freudig erhitztes Jungengesicht mir gegenüber, schob die verrostete Säge hin, er schob sie her — bis Pater Wunibald mich plötzlich an den Haaren zupfte und »zur Besinnung brachte«. Seitdem habe ich wirklich mit Leo das Holz durchgesägt — er kann das nicht begreifen. Er ist ein Realist. Er versteht heute nicht mehr, daß man etwas scheinbar Dummes sofort tun muß. Sogar Mutter hat manchmal Augenblickssehnsüchte: am Kaminfeuer Karten zu spielen, in der Küche eigenhändig Apfelblütentee aufzugießen. Sicher hat sie plötzlich Sehnsucht, an dem schönen blankpolierten Mahagonitisch zu sitzen, Karten zu spielen, glückliche Familie zu sein. Aber immer, wenn sie Lust dazu hatte, hatte von uns keiner Lust dazu; es gab Szenen, Unverstandene-Mutter-Getue, dann bestand sie auf unserer Gehorsamspflicht, Viertes Gebot, merkte dann aber, daß es ein merkwürdiges Vergnügen sein würde, mit Kindern, die nur aus Gehorsamspflicht mitmachen, Karten zu spielen — und ging weinend auf ihr Zimmer. Manchmal versuchte sie es auch mit Bestechung, erbot sich, etwas »besonders Gutes« zu trinken oder zu essen herauszurücken — und es wurde wieder einer von den tränenreichen Abenden, von denen Mutter uns so viele beschert hat. Sie wußte nicht, daß wir uns alle deshalb so strikte weigerten, weil immer noch die Herzsieben im Spiel war und uns jedes Kartenspiel an Henriette erinnerte, aber keiner sagte es ihr, und später, wenn ich an ihre vergeblichen Versuche dachte, am Kaminfeuer glückliche Familie zu spielen, spielte ich in Gedanken allein mit ihr Karten, obwohl Kartenspiele, die man zu zweien spielen kann, langweilig sind. Ich spielte tatsächlich mit ihr, »Sechsundsechzig« und »Krieg«, ich trank Apfelblütentee, sogar mit Honig drin, Mutter — mit neckisch erhobenem Zeigefinger drohend — gab mir sogar eine Zigarette, und irgendwo im Hintergrund spielte Leo seine Etüden, während wir alle, auch die Mädchen, wußten, daß Vater bei »diesem Weib« war. Irgendwie muß Marie von diesen »Lügen« erfahren haben, denn sie sah mich immer zweifelnd an, wenn ich ihr etwas erzählte, und diesen Jungen in Osnabrück habe ich sogar wirklich gesehen. Manchmal ergeht es mir auch umgekehrt: daß mir das, was ich wirklich erlebt habe, als unwahr und nicht real erscheint. Wie die Tatsache, daß ich damals von Köln aus nach Bonn zu Maries Jugendgruppe fuhr, um mit den Mädchen über die Jungfrau Maria zu sprechen. Das, was andere nonfiction nennen, kommt mir sehr fiktiv vor.

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