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Ich hatte vergessen, ihn nach seinen Erlebnissen beim Militär zu fragen, aber vielleicht würde sich irgendwann die Gelegenheit dazu ergeben. Sicher würde er die »Verpflegung« loben — so gut hatte er zu Hause nie zu essen bekommen —, die Strapazen für »erzieherisch äußerst wertvoll« halten und die Berührung mit dem Mann aus dem Volke für »ungeheuer lehrreich«. Ich konnte mir sparen, ihn danach zu fragen. Er würde diese Nacht in seinem Konviktsbett kein Auge zutun, sich in Gewissensbissen hin- und herwälzen und sich fragen, ob es richtig gewesen war, nicht zu mir zu kommen. Ich hatte ihm soviel sagen wollen: daß es besser für ihn wäre, in Südamerika oder Moskau, irgendwo in der Welt, nur nicht in Bonn, Theologie zu studieren. Er mußte doch begreifen, daß für das, was er seinen Glauben nannte, hier kein Platz war, zwischen Sommerwild und Blothert, in Bonn war ein konvertierter Schnier, der sogar Priester wurde, ja fast geeignet, die Börsenkurse zu festigen. Ich mußte einmal mit ihm über alles reden, am besten, wenn zu Hause jour fixe war. Wir beiden abtrünnigen Söhne würden uns zu Anna in die Küche setzen, Kaffee trinken, alte Zeiten heraufbeschwören, glorreiche Zeiten, in denen in unserem Park noch mit Panzerfäusten geübt worden war und Wehrmachtsautos vor der Einfahrt hielten, als wir Einquartierung bekamen. Ein Offizier — Major, oder sowas — mit Feldwebeln und Soldaten, ein Auto mit Standarte, und sie alle hatten nichts anderes im Kopf als Spiegeleier, Kognak, Zigaretten und handgreifliche Scherze mit den Mädchen in der Küche. Manchmal wurden sie dienstlich, d.h. wichtigtuerisch: dann traten sie vor unserem Haus an, der Offizier warf sich in die Brust, steckte sogar seine Hand unter den Rock, wie ein Schmierenschauspieler, der einen Obristen spielt, und schrie etwas vom »Endsieg«. Peinlich, lächerlich, sinnlos. Als dann herauskam, daß Frau Wieneken nachts heimlich mit ein paar Frauen durch den Wald gegangen war, durch die deutschen und amerikanischen Linien hindurch, um drüben bei ihrem Bruder, der eine Bäckerei hatte, Brot zu holen, wurde die Wichtigtuerei lebensgefährlich. Der Offizier wollte Frau Wieneken und zwei andere Frauen wegen Spionage und Sabotage erschießen lassen (Frau Wieneken hatte bei einem Verhör zugegeben, drüben mit einem amerikanischen Soldaten gesprochen zu haben). Aber da wurde mein Vater — zum zweitenmal in seinem Leben, soweit ich mich erinnern kann, — energisch, holte die Frauen aus dem improvisierten Gefängnis, unserer Bügelkammer, heraus und versteckte sie im Bootsschuppen unten am Ufer. Er wurde richtig tapfer, schrie den Offizier an, der schrie ihn an. Das Lächerlichste an dem Offizier waren seine Orden, die auf der Brust bebten vor Empörung, während meine Mutter mit ihrer sanften Stimme sagte: »Meine Herren, meine Herren — es gibt schließlich Grenzen.« Was ihr peinlich an der Sache war, war die Tatsache, daß zwei »Herren« sich anbrüllten. Mein Vater sagte: »Bevor diesen Frauen ein Leid geschieht, müssen Sie mich erschießen — bitte« und er knöpfte wirklich seinen Rock auf und hielt dem Offizier seine Brust hin, aber die Soldaten zogen dann ab, weil die Amerikaner schon auf den Rheinhöhen waren, und die Frauen konnten aus dem Bootsschuppen wieder raus. Das Peinlichste an diesem Major, oder was er war, waren seine Orden. Undekoriert hätte er vielleicht noch die Möglichkeit gehabt, eine gewisse Würde zu wahren. Wenn ich die miesen Spießer bei Mutters jour fixe mit ihren Orden herumstehen sehe, denke ich immer an diesen Offizier, und sogar Sommerwilds Orden kommt mir dann noch erträglich vor: Pro Ecclesia und irgend was. Sommerwild tut immerhin für seine Kirche Dauerhaftes: er hält seine »Künstler« bei der Stange und hat noch Geschmack genug, den Orden »an sich« für peinlich zu halten. Er trägt ihn nur bei Prozessionen, feierlichen Gottesdiensten und Fernsehdiskussionen. Das Fernsehen bringt auch ihn um den Rest von Scham, den ich ihm zubilligen muß. Wenn unser Zeitalter einen Namen verdient, müßte es Zeitalter der Prostitution heißen. Die Leute gewöhnen sich ans Hurenvokabularium. Ich traf Sommerwild einmal nach einer solchen Diskussion (»Kann moderne Kunst religiös sein?«), und er fragte mich: »War ich gut? Fanden Sie mich gut?«, wortwörtlich Fragen, wie sie Huren ihren abziehenden Freiern stellen. Es fehlte nur noch, daß er gesagt hätte: »Empfehlen Sie mich weiter.« Ich sagte ihm damals: »Ich finde Sie nicht gut, kann Sie also gestern nicht gut gefunden haben.« Er war vollkommen niedergeschlagen, obwohl ich meinen Eindruck von ihm noch sehr schonend ausgedrückt hatte. Er war abscheulich gewesen; um ein paar billiger Bildungspointen willen hatte er seinen Gesprächspartner, einen etwas hilflosen Sozialisten, »geschlachtet« oder »abgeschossen«, vielleicht auch nur »zur Sau gemacht«. Listig, indem er fragte: »So, Sie finden also den frühen Picasso abstrakt?« brachte er den alten, grauhaarigen Mann, der etwas von Engagement murmelte, vor zehn Millionen Zuschauern um, indem er sagte: »Ach, Sie meinen wohl sozialistische Kunst — oder gar sozialistischen Realismus?«

Als ich ihn am anderen Morgen auf der Straße traf und ihm sagte, ich hätte ihn schlecht gefunden, war er wie vernichtet. Daß einer von zehn Millionen ihn nicht gut gefunden hatte, traf seine Eitelkeit schwer, aber er wurde durch eine »wahre Welle des Lobes« in allen katholischen Zeitungen reichlich entschädigt. Sie schrieben, er habe für die »gute Sache« einen Sieg errungen. Ich steckte mir die drittletzte Zigarette an, nahm die Guitarre wieder hoch und klimperte ein bißchen vor mich hin. Ich dachte darüber nach, was ich Leo alles erzählen, was ich ihn fragen wollte. Immer, wenn ich ernsthaft mit ihm reden mußte, machte er entweder Abitur oder hatte Angst vor einem Scrutinium. Ich überlegte auch, ob ich wirklich die Lauretanische Litanei singen sollte; besser nicht: es könnte einer auf die Idee kommen, mich für einen Katholiken zu halten, sie würden mich für »einen der unsrigen« erklären, und es könnte eine hübsche Propaganda für sie draus werden, sie machen sich ja alles »dienstbar«, und das Ganze würde mißverständlich und verwirrend wirken, daß ich gar nicht katholisch war, nur die Lauretanische Litanei schön fand und Sympathie mit dem Judenmädchen empfand, dem sie gewidmet war, sogar das würde niemand verstehen, und durch irgendwelche Drehs würden sie ein paar Millionen katholons an mir entdecken, mich vors Fernsehen schleppen — und die Aktienkurse würden noch mehr steigen. Ich mußte mir einen anderen Text suchen, schade, ich hätte am liebsten wirklich die Lauretanische Litanei gesungen, aber auf der Bonner Bahnhofstreppe konnte das nur mißverständlich sein. Schade.

Ich hatte schon so nett geübt und konnte das Ora pro nobis so hübsch auf der Guitarre intonieren. Ich stand auf, um mich für den Auftritt fertig zu machen. Sicher würde auch mein Agent Zohnerer mich »fallen lassen«, wenn ich anfing, auf der Straße zur Guitarre Lieder zu singen. Hätte ich wirklich Litaneien, Tantum ergo und all die Texte gesungen, die ich so gern sang und in der Badewanne jahrelang geübt hatte, so wäre er vielleicht noch »eingestiegen«, das wäre eine gute Masche gewesen, ungefähr so wie Madonnenmalerei. Ich glaubte ihm sogar, daß er mich wirklich gern hatte — die Kinder dieser Welt sind herzlicher als die Kinder des Lichts —, aber »geschäftlich« war ich für ihn erledigt, wenn ich mich auf die Bonner Bahnhofstreppe setzte.

Ich konnte wieder laufen, ohne merklich zu humpeln. Das machte die Apfelsinenkiste überflüssig, ich brauchte mir nur unter den linken Arm ein Sofakissen, unter den rechten die Guitarre zu klemmen und zur Arbeit zu gehen. Zwei Zigaretten besaß ich noch, eine würde ich noch rauchen, die letzte würde in dem schwarzen Hut verlockend genug aussehen; wenigstens eine Münze daneben wäre gut gewesen. Ich suchte in meinen Hosentaschen, krempelte sie um; ein paar Kinobilletts, ein rotes Mensch-ärgere-dich-nicht-Püppchen, ein verschmutztes Papiertaschentuch, aber kein Geld. Ich riß in der Diele die Garderobenschublade auf: eine Kleiderbürste, eine Quittung der Bonner Kirchenzeitung, ein Bon für eine Bierflasche, kein Geld. Ich wühlte in der Küche sämtliche Schubladen durch, rannte ins Schlafzimmer, suchte zwischen Kragenknöpfchen, Hemdenstäbchen, Manschettenknöpfen, zwischen Socken und Taschentüchern, in den Taschen der grünen Manchesterhose: nichts. Ich zog meine dunkle Hose runter, ließ sie auf dem Boden liegen wie eine abgestreifte Haut, warf das weiße Hemd daneben und zog das hellblaue Trikot über den Kopf: grasgrün und hellblau, ich klappte die Spiegeltür auf: großartig, so gut hatte ich noch nie ausgesehen. Ich hatte die Schminke zu dick aufgetragen, ihr Fettgehalt war in den Jahren, die sie schon dort gelegen haben mochte, eingetrocknet, und nun sah ich im Spiegel, daß die Schminkschicht schon gesprungen war, Risse zeigte wie ein ausgegrabenes Denkmalsgesicht. Meine dunklen Haare wie eine Perücke darüber. Ich summte einen Text vor mich hin, der mir gerade einfiel: »Der arme Papst Johannes, hört nicht die CDU, er ist nicht Müllers Esel, er will nicht Müllers Kuh.« Das konnte für den Anfang gehn, und das Zentralkomitee zur Bekämpfung der Gotteslästerung konnte an dem Text nichts auszusetzen haben. Ich würde noch viele Strophen hinzudichten, das Ganze balladesk intonieren. Ich hätte gern geweint: die Schminke hinderte mich, sie saß so gut, mit den Rissen, mit den Stellen, wo sie anfing abzublättern, die Tränen hätten das alles zerstört. Ich könnte später weinen, nach Feierabend, wenn mir noch danach zumute war. Der professionelle Habitus ist der beste Schutz, auf Leben und Tod zu treffen sind nur Heilige und Amateure. Ich trat vom Spiegel zurück, tiefer in mich hinein und zugleich weiter weg. Wenn Marie mich so sah und es dann über sich brachte, ihm die Wachsflecken aus seiner Malteserritteruniform rauszubügeln — dann war sie tot, und wir waren geschieden. Dann konnte ich anfangen, an ihrem Grab zu trauern. Ich hoffte, sie würden alle genug Kleingeld bei sich haben, wenn sie vorbeikamen: Leo etwas mehr als einen Groschen, Edgar Wieneken, wenn er aus Thailand zurückkam, vielleicht eine alte Goldmünze, und Großvater, wenn er aus Ischia kam — er würde mir wenigstens einen Verrechnungsscheck ausschreiben. Ich hatte inzwischen gelernt, daraus Bargeld zu machen, meine Mutter würde wahrscheinlich zwei bis fünf Pfennige für angebracht halten, Monika Silvs würde sich vielleicht zu mir herunterbeugen und mir einen Kuß geben, während Sommerwild, Kinkel und Fredebeul, empört über meine Geschmacklosigkeit, nicht einmal eine Zigarette in meinen Hut werfen würden. Zwischendurch, wenn für Stunden kein Zug aus dem Süden zu erwarten war, würde ich zu Sabine Emonds hinausradeln und mein Süppchen essen. Vielleicht würde Sommerwild Züpfner in Rom anrufen und ihm raten, schon in Godesberg auszusteigen. Dann würde ich hinausradeln, mich vor die Villa mit abfallendem Garten am Hang setzen und mein Liedchen dort singen: sie sollte nur kommen, mich anschauen und tot oder lebendig sein. Der einzige, der mir leid tat, war mein Vater. Es war sehr nett von ihm gewesen, daß er die Frauen vor dem Erschießen rettete, und es war nett gewesen, daß er mir die Hand auf die Schulter legte, und — ich sahs jetzt im Spiegel — so geschminkt wie ich war, glich ich ihm nicht nur, ich war ihm verblüffend ähnlich, und ich verstand jetzt, wie heftig er Leos Konversion abgelehnt hatte. Mit Leo hatte ich kein Mitleid, er hatte ja seinen Glauben.

Es war noch nicht halb zehn, als ich im Aufzug runterfuhr. Mir fiel der christliche Herr Kostert ein, der mir noch die Flasche Schnaps schuldete und die Differenz zwischen der Fahrkarte erster und zweiter Klasse. Ich würde ihm eine unfrankierte Postkarte schreiben und an sein Gewissen pochen. Er mußte mir auch noch den Gepäckschein schicken. Es war gut, daß mir meine Nachbarin, die hübsche Frau Grebsel, nicht begegnete. Ich hätte ihr alles erklären müssen. Wenn sie mich auf der Treppe des Bahnhofs sitzen sah, brauchte ich nichts mehr zu erklären. Mir fehlte nur das Brikett, meine Visitenkarte.

Es war kühl draußen, Märzabend, ich schlug den Rockkragen hoch, setzte den Hut auf, tastete nach meiner letzten Zigarette in der Tasche. Mir fiel die Kognakflasche ein, sie hätte sehr dekorativ gewirkt, aber doch die Mildtätigkeit behindert, es war eine teure Marke, am Korken erkennbar. Das Kissen unter den linken, die Guitarre unter den rechten Arm geklemmt, ging ich zum Bahnhof zurück. Auf dem Weg erst bemerkte ich Spuren der Zeit, die man hier die »närrische« nennt. Ein als Fidel Castro maskierter betrunkener Jugendlicher versuchte mich anzurempeln, ich wich ihm aus. Auf der Bahnhofstreppe wartete eine Gruppe von Matadoren und spanischen Donnas auf ein Taxi. Ich hatte vergessen, es war Karneval. Das paßte gut. Nirgendwo ist ein Professioneller besser versteckt als unter Amateuren. Ich legte mein Kissen auf die dritte Stufe von unten, setzte mich hin, nahm den Hut ab und legte die Zigarette hinein, nicht genau in die Mitte, nicht an den Rand, so, als wäre sie von oben geworfen worden, und fing an zu singen: »Der arme Papst Johannes«, niemand achtete auf mich, das wäre auch nicht gut gewesen: nach einer, nach zwei, drei Stunden würden sie schon anfangen, aufmerksam zu werden. Ich unterbrach mein Spiel, als ich drinnen die Stimme des Ansagers hörte. Er meldete einen Zug aus Hamburg — und ich spielte weiter. Ich erschrak, als die erste Münze in meinen Hut fiel: es war ein Groschen, er traf die Zigarette, verschob sie zu sehr an den Rand. Ich legte sie wieder richtig hin und sang weiter.

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