Eine der zeitgemäßen Fälschungen.

Veröffentlicht im Dezember 1873 in Nr. 50 des »Bürgers« als sechzehnter und letzter Beitrag Dostojewskis unter dem fortlaufenden Titel »Tagebuch eines Schriftstellers«. E. K. R.

Einige unserer Kritiker haben neuerdings bemerkt, daß ich in meinem letzten Roman »... Dämonen« die Geschichte des bekannten Retschajeff-ProzessesDer Bakuninist Retschajeff hatte 1869 in Moskau unter der studierenden Jugend einen Geheimbund gegründet, der unter seiner Leitung alsbald den eigenen Genossen Twanoff ermordete, weil dieser sie alle angeblich zu verraten beabsichtigte. Retschajeff wollte durch dieses Verbrechen die übrigen Mitglieder ganz in seine Macht bekommen und dann seinen »Katechismus der Revolution« verwirklichen. Seine Ideen – »radikale und allgemeine Pandestruktion« unter Verpönung aller Pläne für den zukünftigen Aufbau (vgl. S. 155 seinen Ausspruch vom »Werk der Zerstörung«) – veröffentlichte er in Genf in einem Blatt, das er »Volksgericht« nannte und von dem 1869 und 70 je eine Nummer erschien.


Der Prozeß wegen der Ermordung Iwanoffs (»... Prozeß der Siebenundachtzig«) begann 1871. Im folgenden Jahr wurde Netschajeff von der Schweiz als gemeiner Verbrecher ausgeliefert und 1873 zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt. Er starb 1882 in der Peter-Pauls-Festung. – Inwieweit Dostojewski in seinem Roman »... Dämonen«, der 1870 begonnen, 1871-1872 veröffentlicht worden ist, den Fall Netschajeff als Vorlage benutzt hat, geht annähernd aus diesem Artikel hervor. Ob Dostojewski schon in den vierziger Jahren von Speschnjoffs »Entwurf« (vgl. S. 82) gehört hat, muß dahingestellt bleiben; jedenfalls lagen diese Ideen schon in der Luft. Dostojewskis Freund, W. Sfolowjoff, nennt ihn gelegentlich einen »Propheten«, der nicht nur die Idee Rastolnikoffs, sondern auch den Prozeß Netschajeff »in den ›Dämonen‹ bereits vorweggenommen hat«. Der Roman »Raskolnikoff« war im Druck, jedoch noch nicht erschienen, als in Moskau gleichfalls von einem Studenten und in Paris aus denselben Gründen ein Mord verübt wurde. E.K.R. benutzt hatte; doch gleichzeitig stellen sie fest, daß eigentliche Porträts oder eine buchstäbliche Verwendung des Falles Netschajeff in meinem Roman nicht enthalten sei; es sei bloß die Erscheinung an sich genommen und ich hätte nur versucht, die Möglichkeit einer solchen in unserer Gesellschaft zu erklären, und zwar schon im Sinne einer gesellschaftlichen Erscheinung, nicht im Sinne einer zufälligen Begebenheit, also sei es nicht eine Darstellung des Moskauer speziellen Falles. Alles dies ist, das sage ich von mir aus, vollkommen richtig. Auf die Person des bekannten Netschajeff wie auf die seines Opfers Iwanoff habe ich in meinem Roman keinen Bezug genommen. Die Gestalt meines Netschajeff gleicht natürlich keineswegs dem wirklichen Netschajeff. Ich wollte nur die Frage aufstellen und dann in der Form eines Romans eine möglichst klare Antwort auf die Frage geben: wie in unserer, in einem Übergangszustande befindlichen und wunderlichen Gesellschaft nicht speziell dieser eine Netschajeff möglich war, sondern wie überhaupt Netschajeffs in ihr möglich sind und auf welche Weise es geschehen kann, daß diese Netschajeffs schließlich Netschajewzen um sich zu sammeln vermögen?

Nun habe ich unlängst – übrigens ist es doch schon einen Monat her – in der »Russischen Welt« folgende merkwürdige Zeilen gelesen:

»... Der Prozeß Netschajeff hat, wie uns scheint, einen jeden überzeugen können, daß die studierende Jugend bei uns in ähnliche Verrücktheiten nicht verwickelt zu sein pflegt. Ein idiotischer Fanatiker von der Art Netschajeffs konnte seine Proselyten nur unter der müßigen, unreifen und keineswegs studierenden Jugend finden.«

Und weiter:

»... um so mehr, als noch vor ein paar Tagen der Minister der Volksaufklärung erklärt hat (in Kiew), er könne nach der Besichtigung der Unterrichtsanstalten in sieben Kreisen nur sagen, daß › in den letzten Jahren die Jugend sich unvergleichlich ernster zur Wissenschaft verhalte, viel mehr und unvergleichlich gründlicher arbeite, als früher‹.«

An und für sich sind ja diese Zeilen, d.h. wenn man sie unbezüglich nimmt, ziemlich nichtssagend (ich hoffe, der Verfasser wird mich entschuldigen). Aber sie sind eine Ausrede und enthalten eine alte, schon so zuwider gewordene Lüge. Der ganze Grundgedanke besteht darin, daß, wenn bei uns manchmal auch Netschajeffs auftauchen, diese doch unbedingt alle nur Idioten und Fanatiker seien; und wenn es ihnen auch gelinge, Proselyten zu machen, so geschehe das unbedingt »nur unter der müßigen, unreifen und keineswegs studierenden Jugend«. Ich weiß nicht, was der Verfasser dieses kleinen Artikels mit dieser Ausrede eigentlich hat beweisen wollen: vielleicht wollte er der studierenden Jugend schmeicheln? Oder wollte er, im Gegenteil, mittels eines schlauen Manövers und sozusagen in der Form einer Schmeichelei die Jugend ein wenig überlisten, jedoch nur mit den achtbarsten Absichten, nämlich nur zu ihrem eigenen Besten, und da hat er es denn, um den Zweck zu erreichen, mit einem Mittel versucht, das Gouvernanten und Kinderfrauen ihren kleinen Pfleglingen gegenüber anzuwenden pflegen: »Seht, meine lieben Kinderchen, was jene dort für ungezogene Rangen sind, wie sie schreien und wie sie sich prügeln, und sicher werden sie dafür Ruten bekommen, daß sie so ›unreif‹ sind; ihr aber seid so liebe, artige Kinderchen, sitzt bei Tische hübsch gerade, schlenkert nicht mit den Beinchen unter dem Tisch, und dafür werdet ihr auch bestimmt etwas Schönes bekommen«. Oder vielleicht hat der Verfasser unsere studierende Jugend vor der Regierung »verteidigen« und zu dem Zweck einen Kunstgriff anwenden wollen, den er vielleicht selber für ungemein schlau und fein hält?

Doch ich sage offen: obschon ich alle diese Fragen gestellt habe, erwecken die persönlichen Absichten des Verfassers doch nicht das geringste Interesse in mir. Und ich füge sogar hinzu, um die Entschuldigung gleich abzutun, daß ich geneigt bin, die Lüge und die alte faule Ausrede, die in jenem Artikel zum Ausdruck kommen, im vorliegenden Fall für etwas Unbeabsichtigtes und Zufälliges zu halten, d. h. ich glaube, daß der Verfasser sich selbst von seinen Worten hat überzeugen lassen und sie für wahr hält – mit jenem höheren Biedersinn, der so löblich und in jedem anderen Fall durch seine Harmlosigkeit sogar rührend ist. Doch abgesehen davon, daß eine Lüge, die für Wahrheit gehalten wird, immer die gefährlichste Lüge ist (selbst dann, wenn sie in der »Russischen Welt«Unbedeutende liberale Zeitschrift. E. K. R. erscheint), – es fällt einem außerdem sofort auch dies auf, daß sie noch nie in so nackter, bestimmter und ungeprüfter Gestalt aufgetreten ist, wie in diesem kleinen Artikel. In der Tat, man sagt ja auch: zwinge einen anderen Menschen zum Beten und er schlägt sich die Stirn ein.Bei der Berührung des Fußbodens mit der Stirn während des Gebets, – dem Sinne nach eine Redensart wie »blinder Eifer schadet nur«. E. K. R. Gerade in dieser Gestalt aber ist die Lüge interessant zu untersuchen und nach Möglichkeit aufzudecken. Hinzu kommt, daß man doch nicht weiß, wie lange man wird warten müssen, bis man wieder einmal auf eine so ungeprüfte Aufrichtigkeit stoßt!

Da ist es nun von der liberalen Presse schon seit unseren uralten pseudo-liberalen Zeiten zur Regel erhoben, »... Jugend zu verteidigen«. Gegen wen? gegen was? – das bleibt meist im Dunkel der Ungewißheit und auf die Weise bekommt das ganze Vorgehen oft etwas überaus Sinnloses und sogar höchst Komisches, besonders bei Angriffen auf andere Organe der Presse in dem Sinne von: »Seht, wir sind liberaler, ihr aber fallt über die Jugend her, folglich seid ihr reaktionärer.« Ich bemerke hierzu in Klammern, daß derselbe kleine Artikel der »Russischen Welt« eine Anschuldigung enthält, die im besonderen gegen den »Bürger« gerichtet ist: angeblich weil in ihm unsere studierende Jugend in Petersburg, Moskau und Charkoff ausnahmslos angeklagt werde. Ich will mich nicht weiter dabei aufhalten, daß der Verfasser des Artikels selbst ganz vorzüglich weiß, daß es in unserem Blatt nichts, was einer allgemeinen und ausnahmslosen Anklage auch nur ähnlich wäre, gegeben hat noch gibt, sondern bitte unseren Ankläger nur zu erklären: was heißt das, die Jugend ausnahmslos anklagen? Ich verstehe diesen Satz überhaupt nicht! Was soll natürlich heißen, daß wir aus irgendeinem Grunde die ganze Jugend ohne Ausnahme nicht lieben, – und nicht einmal so sehr die Jugend überhaupt, als gerade ein gewisses Alter unserer jungen Menschen? Was ist das für ein Unsinn! Wer kann eine solche Anklage ernst nehmen? Es ist klar, daß sowohl die Anklage wie die Verteidigung mit größter Oberflächlichkeit geschrieben worden sind, ohne daß man sich viel dabei gedacht hätte. Ja, eben: »Lohnt es sich denn überhaupt, darüber nachzudenken? Ich habe gezeigt, daß ich selbst liberal bin, daß ich die Jugend lobe und diejenigen schelte, die sie nicht loben, na und damit ist der Artikel fertig und ist's abgetan!« Ja, eben: und ist's abgetan; denn nur der schlimmste Feind unserer Jugend könnte sich entschließen, sie auf die Weise zu verteidigen, – und dabei auf eine so erstaunliche Ausrede verfallen (unvermutet, ungewollt – davon bin ich jetzt überzeugter denn je), wie der harmlose Verfasser des kleinen Artikels in der »Russischen Welt«.

Die ganze Wichtigkeit des Falles besteht nur darin, daß dieses Verfahren nicht eine Erfindung bloß der »Russischen Welt« ist, sondern von vielen Organen unserer pseudoliberalen Presse angewandt wird, von diesen aber geschieht das vielleicht nicht mehr so aus reiner Einfalt. Das Wesen dieses Verfahrens besteht erstens: im ausnahmslosen Lob der Jugend, und zwar in jeder Beziehung und in jedem Fall; und zweitens: in plumpen Angriffen auf alle anderen, die sich in dem einen oder anderen Fall erlauben, sich auch zu der Jugend kritisch zu verhalten. Aufgebaut ist dieses Verfahren auf der lächerlichen Annahme, daß die Jugend noch so unreif sei und Lob so liebe, daß sie nichts zu unterscheiden verstehe und alles für bare Münze nehme. Und in der Tat, sie haben erreicht, daß schon sehr viele unter der Jugend (wir glauben fest, daß es bei weitem nicht alle sind) an plumpem Lob wirklich Geschmack gefunden haben, daß sie nun schon Schmeichelei verlangen und bereit sind, alle diejenigen, die ihnen nicht ausnahmslos und auf Schritt und Tritt, besonders aber in gewissen Fällen, Beifall spenden, ohne Unterschied anzuklagen, übrigens ist das vorläufig nur ein zeitweiliger Übelstand; mit zunehmender Erfahrung und zunehmendem Alter werden sich die Anschauungen auch dieser Jugend ändern. Aber es gibt noch eine andere Seite der Lüge, die bereits unmittelbaren und wesentlichen Schaden stiftet.

Diese andere Seite der »Verteidigung unserer Jugend vor der Gesellschaft und vor der Regierung« nach besagtem Verfahren besteht in einfacher Verneinung der Tatsache, – in einer bisweilen überaus plumpen und frechen Verleugnung: »Nein,« heißt es, »... Tatsache gibt es nicht und hat es nie gegeben, ja, hat es gar nicht geben können; wer das Gegenteil behauptet, verleumdet die Jugend, ist also ein Feind der Jugend!«

Dies die Manier. Ich wiederhole: selbst der schlimmste Feind unserer Jugend hätte nichts ersinnen können, das ihren eigensten Interessen schädlicher wäre. Das möchte ich auf alle Fälle beweisen.

Mit der Verneinung der Tatsache um jeden Preis kann man erstaunliche Ergebnisse erreichen.

Nun, was beweisen Sie damit, meine Herrschaften, und um was erleichtern Sie die Sache, wenn Sie zu versichern anfangen (und zwar, was sehr wichtig ist, zu Gott weiß welchem Zweck), daß die Jugend, die sich »hinreißen« läßt, d. h. jene, die sich »hinreißen« lassen können (meinetwegen selbst von einem Netschajeff), unbedingt nur »müßige, unreife« Jugend sei, die keineswegs studiert, – mit einem Wort: das seien eben nur Faulenzer mit den schlechtesten Neigungen. Auf die Weise geschieht es, daß Sie, indem Sie den Fall absondern, aus der Sphäre der Studierenden ausschließen und ihn ausschließlich für die »Müßigen und Unreifen« vorbehalten, eben damit schon im voraus diese Unglücklichen anklagen und sich von ihnen endgültig lossagen. »Es ist ihre eigene Schuld, sie waren Raufbolde und Faulenzer und verstanden bei Tisch nicht artig zu sitzen.« Indem Sie den Fall also absondern und ihm das Recht nehmen, im Zusammenhang mit dem allgemeinen Ganzen untersucht zu werden (eben daraus aber ergibt sich die einzig mögliche Verteidigung der unglücklichen »Verirrten«!), unterschreiben Sie gewissermaßen nicht nur deren endgültige Verurteilung, sondern entfernen von ihnen sogar jedes Erbarmen, denn Sie versichern doch unumwunden, daß die Verirrungen dieser Jugend einzig aus ihren abstoßenden Eigenschaften hervorgingen, und daß diese Jünglinge sogar ohne jedes begangene Verbrechen schon Verachtung und Abscheu erwecken müßten.

Und andererseits: wenn es nun geschähe, daß in einen solchen oder ähnlichen »Fall« keineswegs nur unreife, ungezogene Jungen, die unter dem Tisch mit den Beinen schlenkern, keineswegs nur Faulenzer verwickelt sind, sondern, im Gegenteil, Jugend, die fleißig ist, voll Glut, die gerade eifrig lernt und sogar ein gutes, reines Herz hat, jedoch nur in eine schlechte Richtung eingestellt ist, was dann? (Beachten Sie und erfassen Sie diesen Ausdruck: in eine Richtung eingestellt. Wo, in welch einem Teil Europas finden Sie jetzt eine größere Unsicherheit in allen nur möglichen Richtungen als bei uns heute!) Ja, dann würden nach Ihrer Theorie, nach der es sich nur um »Unreife und Faulenzer« handeln könnte, diese neuen »Unglücklichen« als dreimal schuldiger dastehen, denn: »ihnen waren die Mittel und die Möglichkeiten gegeben, sich richtiges Wissen anzueignen, sie haben den Kursus der Wissenschaften absolviert, sie haben alles von Grund auf durchgearbeitet, – für die gibt es keine Rechtfertigungen! Sie verdienen dreimal weniger Nachsicht als die müßige unreife Jugend!« Das wäre dann die folgerichtige Konsequenz Ihrer Theorie.

Erlauben Sie, meine Herrschaften (ich spreche jetzt im allgemeinen, nicht nur zu dem einen Mitarbeiter der »Russischen Welt«), – Sie behaupten, auf der Basis der »Verneinung der Tatsache«, daß die »Netschajeffs« unbedingt Idioten, »idiotische Fanatiker« sein müssen. Stimmt das nun wieder? Ist das gerecht? Ich lasse nunmehr Netschajeff selbst ganz aus dem Spiel und spreche von den »Netschajeffs«, im Plural. Ja, unter den Netschajeffs kann es überaus finstere, überaus unerfreuliche und entartete Geschöpfe geben, mit einer – hinsichtlich des Ursprungs sehr komplizierten, vielfach zusammengesetzten – großen Lust an Intrigen, mit Machtgier, mit einem leidenschaftlichen und krankhaft frühen Bedürfnis, sich als Persönlichkeit zu zeigen, aber – warum sollen sie deshalb »Idioten« sein? Im Gegenteil, sogar richtige Monstra unter ihnen können geistig sehr entwickelte, äußerst schlaue und auch gebildete Menschen sein. Oder glauben Sie, das bestandene Examen, das Schulwissen, (ja selbst Universitätswissen) forme die Seele des Jünglings schon so endgültig, daß er mit dem Empfang des Diploms zugleich und für immer einen unerschütterlichen Talisman erhält, der ihn die Wahrheit sofort unfehlbar erkennen läßt und vor allen Versuchungen, Leidenschaften und Lastern schützt? Somit würden ja Ihrer Meinung nach alle diese Jünglinge mit dem bestandenen Schlußexamen zu einer Art unzähliger kleiner Päpste werden, die allesamt unfehlbar sind.

Und warum nehmen Sie an, daß die Netschajeffs unbedingt Fanatiker seien? Sehr oft sind das einfach Spitzbuben. »... bin ein Spitzbube, aber kein Sozialist,« sagt ein Netschajeff allerdings nur bei mir, in meinem Roman, aber ich versichere Ihnen, daß er das ebensogut in der Wirklichkeit sagen könnte. Es sind das Spitzbuben von großer Schlauheit, die gerade die großmütige Seite der Menschenseele, am häufigsten der jungen Seele, studiert haben, um dann auf ihr wie auf einem Musikinstrument zu spielen. Ja glauben Sie denn im Ernste, daß die Proselyten, die irgendein Netschajeff bei uns machen könnte, unbedingt ausnahmslos Faulenzer und Nichtstuer sein müssen? Ich glaube das nicht; nicht alle würden das sein; ich bin selbst ein alter »Netschajewze«, ich stand gleichfalls auf dem Schafott, zum Tode verurteilt, und ich versichere Ihnen, daß ich in einem Kreise von gebildeten Menschen dort stand. Die Angehörigen dieses Kreises hatten fast alle die ersten Hochschulen beendet. Einige von ihnen haben sich später, als alles das schon der Vergangenheit angehörte, durch besondere Spezialkenntnisse, durch Werke hervorgetan. Nein, mit Verlaub, die Netschajewzen rekrutieren sich nicht immer nur aus Faulenzern, die überhaupt nichts gelernt haben.

Ich weiß, Sie werden mir nun zweifellos entgegenhalten, daß ich ja gar nicht ein Netschajewze, sondern bloß ein »Petraschewze« sei. Gut, meinetwegen ein Petraschewze (obschon diese Bezeichnung meiner Ansicht nach unrichtig ist, denn eine unverhältnismäßig größere Anzahl von genau solchen Petraschewzen wie wir blieb vollkommen unbehelligt und unberührt. Es ist wahr, sie haben Petraschewski selbst nie gekannt, aber auf Petraschewski kam es ja in dieser ganzen längstvergangenen Geschichte gar nicht an – nur das wollte ich hiermit bemerkt haben).

Doch gut, mag ich nur einer von den Petraschewzen gewesen sein. Aber woher wissen Sie denn, ob die Petraschewzen nicht Netschajewzen hätten werden können, d. h. ob sie nicht auch auf den »Netschajewschen« Weg hätten geraten können, im Falle die Sache die Wendung genommen hatte? Natürlich, damals wäre es ganz unmöglich gewesen, sich auch nur vorzustellen, wie sich die Sache so hätte wenden können? Es waren ja ganz andere Zeiten. Doch erlauben Sie mir, von mir einzelnem zu sagen: ein Netschajeff hätte ich wahrscheinlich niemals werden können, aber ein Netschajewze – dafür verbürge ich mich nicht, vielleicht hätte ich das auch gekonnt...in den Tagen meiner Jugend.

Ich habe hier von mir gesprochen, um das Recht zu haben, von anderen zu sprechen. Trotzdem werde ich von mir allein fortfahren, von den anderen dagegen werde ich, wenn ich sie einmal erwähne, nur im allgemeinen sprechen, also ganz unpersönlich und nur im abstrakten Sinne. Der Prozeß aber der Petraschewzen, – das ist doch eine so längstvergangene Sache und gehört einer so uralten Zeit an, daß wohl kein Unglück daraus entstehen kann, wenn ich auf ihn zu sprechen komme, um so weniger, als ich ihn ja nur streife und ganz abstrakt davon rede.Dieser Satz ist ausschließlich für die Zensoren geschrieben. Vgl. S. 135 Anm. E. K. R.

»Ungeheuer« und »Spitzbuben« gab es unter uns, den »Petraschewzen«, nicht einen weder unter denen, die auf dem Schafott standen, noch unter den anderen, die unbehelligt blieben. Ich glaube nicht, daß sich jemand finden wird, der diese meine Erklärung zu widerlegen versuchen wollte. Daß viele von uns, wie ich schon bemerkte, gebildete Menschen waren, das wird wohl auch niemand bestreiten. Doch mit dem bekannten Zyklus von Ideen und Begriffen, die sich damals in der jungen Gesellschaft stark verwurzelt hatten, den Kampf aufzunehmen, dazu war von uns zweifellos kaum jemand imstande. Wir waren mit den Ideen des damaligen theoretischen Sozialismus infiziert. Den politischen Sozialismus gab es damals noch nicht in Europa und die europäischen Führer der Sozialisten verwarfen ihn sogar.

Louis Blanc ist von seinen Kollegen in der Nationalversammlung, den Abgeordneten der Rechten, ganz unrechterweise geohrfeigt und an den Haaren gezerrt worden (an Haaren, die, wie dazu vorherbestimmt, lang, schwarz und üppig waren), bis ihn Arago (der Astronom, damals Mitglied der Regierung, jetzt schon lange tot) aus den Fängen der anderen herausriß, – an jenem unseligen Vormittage im Mai 1848, als eine Horde ungeduldiger und hungriger Arbeiter in den Sitzungssaal hereinbrach. Der arme Louis Blanc, der eine zeitlang Mitglied der zeitweiligen Regierung war, hatte diese Horde ja gar nicht dazu aufgehetzt: er hatte doch nur im Luxemburg-Palais diesen bedauernswerten und hungrigen Menschen, die infolge der Revolution und Ausrufung der Republik plötzlich arbeitslos geworden waren, einen Vortrag über ihr »Recht auf Arbeit« gehalten. Freilich, da er immerhin Mitglied der Regierung war, so waren seine Vorträge in gewissem Sinne schrecklich unpolitisch und – versteht sich – auch lächerlich. Die Zeitschrift von Considérant aber, wie die Artikel und Broschüren von Proudhon hatten sich doch zur Aufgabe gemacht, in eben diesen hungrigen und überhaupt nichts besitzenden Arbeitern unter anderem auch einen tiefen Ekel vor dem Erbschaftsrecht zu verbreiten. Zweifellos ist aus alledem (d. h. aus der Ungeduld der hungrigen Menschen, die mit den Theorien einer zukünftigen Seligkeit geschürt und entfacht wurden) in der Folge der politische Sozialismus hervorgegangen, dessen Wesen, trotz aller verkündeten Ziele, vorläufig nur in dem Wunsch der besitzlosen Klassen besteht, die Besitzer allerorts zu plündern, und dann: »... kommen was kommt«. (Denn in Wirklichkeit ist doch bis heute noch nicht festgestellt, was nun in der zukünftigen Gesellschaft der Ersatz sein wird, sondern beschlossen ist einzig dies: daß das Gegenwärtige einstürzen muß, – und das ist bisher die ganze Formel des politischen Sozialismus).

Doch damals wurde die Sache noch in rosigstem und paradiesisch sittlichem Lichte aufgefaßt. Es ist wirklich wahr, daß der keimende Sozialismus damals sogar von manchen seiner Führer mit dem Christentum verglichen und nur für eine der Zeit und Zivilisation entsprechende Verbesserung und Vervollkommnung desselben gehalten wurde. Alle diese damaligen neuen Ideen gefielen uns in Petersburg ungeheuer, erschienen uns als im höchsten Grade heilig und sittlich und vor allem allgemeinmenschlich, erschienen uns als das zukünftige Gesetz der ganzen Menschheit ohne eine Ausnahme. Wir waren schon lange vor der Pariser Revolution im Jahre 48 dem berauschenden Einfluß dieser Ideen verfallen. Schon im Jahre 1846 war ich in die ganze Wahrheit dieser kommenden »Welterneuerung« und in die ganze Heiligkeit der zukünftigen kommunistischen Gesellschaft noch von Bjelinski eingeweiht worden. Alle diese Überzeugungen von der Unsittlichkeit schon der Grundlagen (der christlichen Grundlagen) der gegenwärtigen Gesellschaft, von der Unsittlichkeit der Religion, der Familie; von der Unsittlichkeit des Besitzrechts; alle diese Ideen von einer Aufhebung der Nationalitäten im Namen einer allgemeinen Brüderlichkeit der Menschen, von der Verachtung für das Vaterland als den Hemmschuh in der allgemeinen Entwicklung, usw. usw., alles das waren, wie gesagt, solche Einflüsse, die wir nicht bewältigen konnten, ja die, im Gegenteil, unsere Herzen und Gehirne im Namen einer gewissen Großmut erfaßten. Jedenfalls: der Grundgedanke nahm sich erhaben aus und stand, wie es schien, hoch über dem Niveau der damals herrschenden Begriffe. Und gerade das war es, was verführte. Diejenigen von uns, d. h. nicht nur von uns Petraschewzen, sondern von allen damals Angesteckten, die jedoch in der Folge diese ganze verschwärmte Schädlichkeit radikal ablehnten, diese ganze Finsternis und dies Entsetzen, das da für die Menschheit als ihre Erneuerung und Auferstehung vorbereitet wurde, – die von uns kannten damals noch nicht die Ursachen ihrer Krankheit, und deshalb konnten sie auch noch nicht mit ihr kämpfen. Also woraufhin glauben Sie denn, daß wir – wenn auch natürlich nicht alle, so doch wenigstens manche von uns – vor einer Tat wie meinetwegen selbst ein Mord à la Netschajeff zurückgeschreckt wären? – in jener glühenden Zeit, inmitten der Lehren, die die Seele ergriffen, und der erschütternden europäischen Ereignisse, die wir, während wir das Vaterland ganz vergaßen, mit fieberhafter Spannung verfolgten?

Die ungeheuerliche und widerliche Ermordung des Studenten Iwanoff ist von dem Mörder Netschajeff seinen Opfern, den »Netschajewzen«, ganz zweifellos als politische und für die zukünftige »allgemeine und große Sache« notwendige Tat hingestellt worden. Anderenfalls wäre es ja nicht zu verstehen, wie eine Anzahl Jünglinge (gleichviel wer sie waren), sich zu einem so finsteren Verbrechen bereitfinden konnten. In meinem Roman »... Dämonen« habe ich unter anderem auch versucht, jene vielfältigen und verschiedenartigen Beweggründe darzulegen, mit Hilfe welcher sogar die treuherzigsten und lautersten Menschen zur Ausführung eines ebenso ungeheuerlichen Verbrechens herangezogen werden können. Und gerade darin liegt ja das Entsetzen, daß man bei uns die schändlichste und abscheulichste Tat begehen kann, manchmal ohne überhaupt ein schändlicher Mensch zu sein! Das ist nicht nur bei uns so, sondern ist in Übergangszeiten in der ganzen Welt so, immer und seit Jahrtausenden, – in Zeiten der Erschütterungen im Leben der Menschen, in Zeiten der Zweifel und Verneinungen, der Skepsis und des Schwankens in den grundlegenden gesellschaftlichen Überzeugungen. Aber bei uns ist das noch mehr als sonstwo möglich, und zwar gerade heutigestags, und dieser Zug ist der krankeste und traurigste Zug unserer gegenwärtigen Zeit. In der Möglichkeit, sich selbst nicht für einen schändlichen Menschen zu halten und manchmal sogar fast wirklich kein schändlicher Mensch zu sein, während man gleichzeitig eine ganz offenbare, unbestreitbare Schändlichkeit begeht – sehen Sie, darin besteht unser gegenwärtiges Unglück!

Wodurch ist denn die Jugend im Vergleich mit den anderen Altersstufen so besonders geschützt oder gesichert, daß Sie, meine Herren Verteidiger der Jugend, von ihr, kaum daß sie gearbeitet und fleißig gelernt hat, schon gleich eine Festigkeit und eine Reife der Überzeugungen verlangen dürfen, wie sie ja nicht einmal die Väter dieser Jünglinge gehabt haben, jetzt aber noch weniger haben als je zuvor? Unsere jungen Menschen aus unseren intelligenten Ständen, die in ihren Familien herangewachsen sind, in denen man jetzt am häufigsten Unzufriedenheit, Ungeduld und die gröbste Unwissenheit findet (ungeachtet der Zugehörigkeit dieser Klassen zur Intelligenz) und wo fast allenthalben die wirkliche Bildung nur durch nachgeplapperte freche Verneinung aufs Geratewohl ersetzt wird; wo die materiellen Beweggründe die Oberherrschaft über jede höhere Idee haben; wo die Kinder ohne Basis außerhalb der natürlichen Wahrheit erzogen werden, in Nichtachtung oder Gleichgültigkeit zum Vaterlands und in dieser spottenden Verachtung des Volkes, die sich in der letzten Zeit so besonders verbreitet hat, – ist das nun der Brunnen, aus dem unsere jungen Menschen die Wahrheit und Fehlerlosigkeit der Richtung ihrer ersten Schritte im Leben schöpfen könnten? Sehen Sie, hier liegt der Anfang des Übels: in der Überlieferung, in der Vererbung der Ideen, in der Jahrhunderte alten, nationalen Unterdrückung jedes unabhängigen Gedankens, in der Vorstellung von dem hohen Rang des Europäers unter der unerläßlichen Bedingung der Nichtachtung für sich selbst als russischen Menschen!

Doch Sie werden diesen gar zu allgemeinen Hinweisen wahrscheinlich keinen Glauben schenken. »Bildung«, wiederholen Sie immer wieder, »Fleiß«; und Sie bleiben bei Ihrer Phrase von den müßigen »Unreifen«. Beachten Sie Wohl, meine Herren, daß diese unsere höheren europäischen Lehrer, diese unsere Hoffnung und unser Licht, alle diese Mill, Darwin und Strauß, mitunter eine höchst wunderliche Auffassung von den sittlichen Pflichten des Menschen unserer Zeit haben. Und dabei sind das doch schon wirklich keine Faulenzer, die nichts gelernt haben, und keine ungezogenen Kinder, die mit den Beinen unterm Tisch schlenkern. Sie werden nun auflachen und mich fragen: warum es mir denn einfällt, gerade diese Namen anzuführen? Ganz einfach, weil, wenn man von unserer Jugend spricht, von der intelligenten, glühenden und lernenden Jugend, die Vorstellung fast undenkbar ist, daß diese Namen ihr nicht schon bei den ersten Schritten ins Leben begegnet sein könnten. Kann denn der russische Jüngling dem Einfluß dieser Führer des europäischen fortschrittlichen Gedankens, sowie dem Einfluß anderer, ihnen ähnlicher Führer, und besonders der russischen Seite ihrer Lehren gegenüber gleichgültig bleiben? Diesen komischen Ausdruck von der »russischen Seite ihrer Lehren« verzeihe man mir schon deshalb, weil es diese russische Seite dieser Lehren tatsächlich gibt. Sie besteht aus jenen Schlußfolgerungen in Gestalt unerschütterlicher Axiome, wie sie nur in Rußland gezogen werden; in Europa dagegen wird selbst die Möglichkeit solcher Schlußfolgerungen, wie man hört, nicht einmal für möglich gehalten. Man wird mir nun vielleicht sagen, daß diese Herrschaften keineswegs Böses lehren; daß, wenn z. B. Strauß Christus auch haßt und die Verspottung und Bespeiung des Christentums sich auch zum Lebensziel gesetzt hat, er doch gleichzeitig die Menschheit im ganzen vergöttert, und daß seine Lehre so erhaben und edel ist, wie nur denkbar. Es ist sehr gut möglich, daß alles das sich wirklich so verhält, und daß die Ziele aller gegenwärtigen Führer des europäischen fortschrittlichen Gedankens menschenfreundlich und großartig sind. Doch dafür scheint mir folgendes unzweifelhaft zu sein: daß, wenn man allen diesen gegenwärtigen höheren Lehrern die volle Möglichkeit gäbe, die alte Gesellschaft zu zerstören und eine neue aufzubauen, – eine solche Finsternis entstünde, ein solches Chaos, etwas dermaßen Rohes, Blindes und Unmenschliches, daß das ganze Gebäude unter den Flüchen der Menschen zusammenbrechen würde, noch bevor es vollendet ist. Wenn der Menschenverstand erst einmal Christus verworfen hat, kann er zu erstaunlichen Resultaten kommen. Das ist ein Axiom. Europa lehnt, – wenigstens in den höheren Vertretern seines Gedankens, – Christus ab, wir aber sind bekanntlich verpflichtet, Europa nachzuahmen.

Es gibt im Leben der Menschen historische Momente, wo ein unzweifelhaftes, freches, rohestes Verbrechen nur für Seelengröße gelten kann, nur für edle Mannhaftigkeit der Menschheit, die sich aus den Ketten reißt. Bedarf es hierzu wirklich noch der Anführung von Beispielen, gibt es deren nicht Tausende, nicht Zehn-, nicht Hunderttausende? Das ist natürlich ein verzwicktes und unbegrenzbares Thema und in einem Feuilletonartikel ist es sehr schwer, darauf einzugehen, aber immerhin kann man, als Resultat, denke ich, auch meine Annahme zulassen: daß sogar ein ehrlicher, auch ein treuherziger Junge, sogar ein gut lernender, sich mitunter in einen Netschajewzen verwandeln kann... selbstverständlich: wenn er auf einen Netschajeff stößt; das ist schon sine qua non...

Wir, wir Petraschewzen, standen auf dem Schafott und hörten die Verlesung unserer Verurteilung ohne die geringste Reue an. Selbstverständlich kann ich mich nicht für alle verbürgen; aber ich glaube, daß ich mich nicht irre, wenn ich sage, daß damals, in jenen Minuten, wenn auch nicht alle ohne Ausnahme, so doch mindestens die übergroße Mehrzahl von uns es für eine Ehrlosigkeit gehalten hätte, sich von ihren Überzeugungen loszusagen. Dieser ganze Prozeß gehört nun schon einer alten Vergangenheit an und darum ist es vielleicht schon gestattet, zu fragen: waren dieser Starrsinn und diese Reuelosigkeit wirklich nur die Anzeichen schlechter Naturen, waren sie das Kennzeichen unreifer Raufbolde? Nein, wir waren keine Raufbolde, ja vielleicht waren wir nicht einmal schlechte junge Menschen. Die Verlesung des Urteils, das auf Tod durch Erschießen lautete, erfolgte durchaus nicht wie zum Scherz, sondern in allem Ernst; fast alle Verurteilten waren überzeugt, daß das Urteil unfehlbar vollstreckt werden würde und ertrugen mindestens zehn furchtbare, maßlos schreckliche Minuten der Erwartung des Todes. In diesen letzten Minuten haben manche von uns (ich weiß das bestimmt), indem sie sich instinktiv in sich selbst versenkten und in einem Augenblick ihr ganzes noch so junges Leben durchprüften, – vielleicht auch manch ein schweres Vergehen bereut (eines von jenen, die jeder Mensch sein ganzes Leben lang im geheimen auf seinem Gewissen liegen hat); aber die Angelegenheit, für die man uns verurteilte, die Gedanken, die Begriffe, die unseren Geist beherrschten, – die erschienen uns nicht nur nicht reueheischend, sondern geradezu als etwas uns Läuterndes, als ein Märtyrertum, für das uns vieles vergeben werden würde! Und das blieb so für eine lange Zeit. Weder Jahre der Verbannung, noch Leiden brachen uns. Im Gegenteil, nichts brach uns, und unsere Überzeugungen taten nur dies, daß sie unseren Geist durch das Bewußtsein der erfüllten Pflicht aufrecht erhielten. Nein, es war etwas anderes, was unseren Blick, unsere Ansichten, Überzeugungen und Herzen änderte (ich erlaube mir natürlich nur von jenen aus unserer Schar zusprechen, von denen die Tatsache, daß sie ihre Überzeugungen geändert haben, bereits bekannt und in der einen oder anderen Form auch schon von ihnen selbst bestätigt ist). Dieses andere war: die unmittelbare Berührung mit dem Volke, die brüderliche Vereinigung mit ihm im gemeinsamen Unglück, die Einsicht, daß man selbst zu Volk geworden, mit ihm gleichgestellt, ja sogar auf seine niederste Stufe hinabgedrückt war.

Ich sage nochmals, diese Änderung vollzog sich nicht so schnell, sondern ganz allmählich und erst nach sehr, sehr langer Zeit. Es war nicht Stolz, nicht Eigenliebe, was dem Eingeständnis im Wege stand. Und dabei war ich vielleicht einer von jenen (ich spreche nun wieder von mir allein), denen die Rückkehr zur Volkswurzel, zum Erkennen der russischen Seele, zur Anerkennung des Volksgeistes von Hause aus am meisten erleichtert war. Ich stammte aus einer Familie, die russisch und gottesfürchtig war. Soweit ich überhaupt zurückdenken kann, erinnere ich mich der Liebe meiner Eltern zu mir. Mit dem Evangelium waren wir in unserer Familie bereits seit der frühesten Kindheit vertraut. Schon mit zehn Jahren kannte ich alle wichtigeren Geschehnisse der russischen Geschichte nach dem Werk Karamsins, aus dem uns der Vater abends vorlas. Der Besuch des Kremls und der alten Moskauer Kirchen war für mich stets etwas Feierliches gewesen. Vielleicht hatten die anderen Petraschewzen keine Erinnerungen solcher Art, wie ich sie hatte. Ich denke jetzt sehr oft darüber nach und frage mich: was für Eindrücke mag die heutige Jugend in der Mehrzahl aus ihrer Kindheit ins Leben mitnehmen? Und nun, wenn es sogar mir, der ich schon auf ganz natürliche Weise über jene verhängnisvolle neue Umgebung, in die das Unglück uns hineingeschleudert hatte, nicht hochmütig hinwegsehen konnte, wenn es sogar mir, der ich mich zu der Offenbarung des Volksgeistes vor meinen Augen nicht herablassend Verhalten oder sie nur mit einem flüchtigen Blick streifen konnte, – wenn es also auch mir, sage ich, so schwer war, mich schließlich von der Lüge und Unwahrheit fast alles dessen, was wir zu Hause für Licht und Wahrheit gehalten hatten, zu überzeugen, so frage ich mich: wie schwer muß es dann erst den anderen gefallen sein, allen denen, die viel tiefer dem Volk entfremdet waren, die aus Familien stammten, in denen die Entzweiung mit dem Volk ererbt war und schon von den Vätern und Großvätern übernommen wurde?

Es würde mir sehr schwer fallen, die Geschichte der Wandlung meiner Überzeugungen zu erzählen, um so mehr, als sie vielleicht auch gar nicht so interessant ist; und überdies paßt es auch irgendwie nicht zu einem Feuilletonartikel...

Meine Herren Verteidiger unserer Jugend, prüfen Sie doch schließlich auch das Milieu, prüfen Sie die Gesellschaft, in der diese Jugend aufwächst, und fragen Sie sich dann: gibt es in unserer Zeit überhaupt etwas, das gegen gewisse Einflüsse noch weniger geschützt ist, als diese Jugend?

Stellen Sie zunächst die Frage: wenn selbst die Väter dieser Jünglinge in ihren Überzeugungen nicht besser, nicht fester, nicht gesünder sind; wenn diese Kinder in ihren Familien schon von kleinauf nur Zynismus und hochmütige, gleichgültige (meistenteils gleichgültige) Verneinung erlebt haben; wenn das Wort Vaterland vor ihnen nie anders als mit einem spöttischen Zug um den Mund ausgesprochen worden ist; wenn alle, die sie erzogen, sich zu der Sache Rußlands nur mit Verachtung oder Gleichgültigkeit verhalten haben; wenn die großmütigsten unter ihren Vätern und Erziehern ihnen immer nur »allgemeinmenschliche« Ideen gepredigt haben; wenn schon ihre Kinderwärterinnen davongejagt wurden, weil sie an ihren Wiegen trotz des Verbots das Gebet an die Gottesmutter sprachen, – so sagen Sie doch: was kann man danach von diesen Kindern verlangen, und ist es dann noch human, bei einer Verteidigung der Jugend, wenn sie einer solchen bedarf, das Ganze für sich selbst mit einfacher Leugnung der Tatsache abzutun?

Vor kurzem fiel mir in unserer Tagespresse folgendes Entrefilet auf:

»... ›Kama- und Wolga-Zeitung‹ berichtet, daß in diesen Tagen drei Gymnasiasten des zweiten Gymnasiums in Kasan, Quintaner, zur Verantwortung gezogen worden sind wegen eines Vergehens, das mit ihrer geplanten Flucht nach Amerika in Verbindung stand«... (St. Petersburger Nachrichten vom 13. November.)

Vor zwanzig Jahren wäre mir die Nachricht, ein paar Gymnasiasten, Quintaner, hätten nach Amerika zu fliehen beschlossen, als unsinniges Geschwätz erschienen. Doch schon in dem einen Umstände, daß eine solche Nachricht mir jetzt nicht mehr als Unsinn erscheint, sondern als eine Sache, die ich, im Gegenteil, verstehe, – ja, schon in diesem einen Umstande sehe ich bereits ihre Rechtfertigung!

Ihre Rechtfertigung! Mein Gott, kann man denn das so sagen!

Ich weiß, das sind nicht die ersten Gymnasiasten, auch andere sind schon vor ihnen geflohen, und zwar, weil wiederum ihre älteren Brüder oder ihre Väter geflohen waren. Erinnern Sie sich der Erzählung Kelssijeffs von dem armen kleinen Offizier, der zu Fuß über Torneo und Stockholm zu Herzen nach London floh, wo dieser ihn in seiner Druckerei als Setzer anstellte?Es war für alle vom Emigrationsfieber ergriffenen Russen jener Zeit zur unverbrüchlichen Gewohnheit geworden, sich mit der Bitte um Beschäftigung oder Unterstützung an Herzen zu wenden. Auch Kelssijeff – ein zum Radikalismus übergegangener Exseminarist, der die Priesterlaufbahn aufgegeben hatte, ein wertloser Mensch und sehr unerfreulicher Charakter – war 1860 selbst mit seiner Frau und zwei kranken Kindern zu Schiff nach London gereist, um sich dort an Herzen zu wenden, der ihn als Korrektor in einer englischen Druckerei, die u. a. russische Bibeln druckte, unterbrachte und ihm aus Mitleid immer wieder half. E. K. R. Und erinnern Sie sich der Erzählung Herzens von dem jungen Kadetten, der, wenn ich mich nicht irre, nach den Philippinen auswanderte, um dort die Kommune einzuführen, und Herzen 20 000 Franken für die zukünftigen Emigranten übergab?Über die Geschichte dieser Stiftung »... revolutionäre Propaganda«, die nicht nur den einen jungen Russen von damals charakterisiert, geben die 1881 erschienenen »... Petersburger Beiträge zur neuesten russischen Geschichte« (vgl. S. 156 Anm.) folgenden Überblick:


»Im Jahre 1858 war ein blutjunger, durch radikale Zeitungslektüre europamüde gewordener Russe nach London gekommen, um von hier in die (ihm kaum dem Namen nach bekannten) Marquesas-Inseln auszuwandern. Dieser Jüngling... hatte seinen berühmten Landsmann gebeten, von den in seinem Besitz befindlichen 50+000 Franken die Hälfte anzunehmen und für propagandistische Zwecke zu verwenden. Trotz aller Einwendungen Herzens, der wiederholt geltend machte, daß es ihm an Geld nicht fehle und daß er um die Verwendung der ihm angebotenen Summe verlegen sei, hatte der künftige Bürger der Marquesas-Inseln auf seinem Wunsche so nachdrücklich bestanden, daß Herzen schließlich nachgeben mußte. Er begleitete also seinen neuen Bekannten zu Rotschild, dessen Geschäftsleute sich vor Verwunderung nicht zu lassen wußten, als der junge Schwärmer sie fragte, welche Geldsorten auf den Marquesas-Inseln Kurs hätten und ob es nicht möglich wäre, ihm auf diesen Inseln einen Kredit zu eröffnen... Nach langem Verhandeln kam man überein, daß der junge Auswanderer 30+000 Franken in Gold auf die Reise mitnahm (allen Warnungen zum Trotz tat er diese Summe in einen kleinen schlecht verschlossenen Reisekoffer) und daß der Rest Herzen und Ogarew zur Verfügung gestellt werden sollte: beide Männer waren übereingekommen, diese Summe zinstragend anzulegen und unangetastet zu lassen, bis der Marquesas-Bürger dieselbe zurückfordere. Dabei behielt es sein Bewenden, obgleich der wunderliche Spender wider Erwarten nie wieder etwas von sich hören ließ und obgleich Bakunin sein möglichstes tat, um diese Summe in die Hände zu bekommen und mit Hilfe derselben an der Wolga oder in Odessa oder sonst irgendwo eine Revolution in Szene zu setzen. Gleichen Widerstand setzte Herzen den Werbungen der jungen ›Nihilisten‹ entgegen, die einige Jahre später auf diesen ›Allgemeinen Revolutions-Fonds‹ Anspruch erhoben und deren Verleumdungen er (eigener Angabe nach) ebenso gründlich verachtete, wie ihre albernen Unternehmungen. Der bezügliche Abschnitt seines Buches (»Nachgelassene Schriften«) gehört zum Schärfsten und zum Lehrreichsten, was über den Nihilismus überhaupt geschrieben worden ist und verdiente es, in Rußland öffentlich bekannt gemacht zu werden«.


Herzens Schriften durften in Rußland erst nach 1905 – in einer vielfach gekürzten Ausgabe – erscheinen. E. K. R. Und solche Fälle gab es schon in einer Zeit, die heute für uns doch bereits längst historisch ist! Und wer ist seitdem nicht schon ausgewandert, um in Amerika »freie Arbeit« in einem »freien Staate« zu erproben: Greise, Väter, Brüder, Jungfrauen, Gardeoffiziere... höchstens Seminaristen hat es unter ihnen vielleicht noch nicht gegeben. Sind nun diese kleinen Kinder anzuklagen, diese drei Gymnasiasten aus der Quinta, wenn die großen Ideen von der »freien Arbeit im freien Staate« und von der Kommune und vom allgemein-europäischen Menschen auch ihre schwachen Köpfchen überwältigt haben? Sind sie anzuklagen, weil dieses ganze Gewäsch ihnen als Religion und der Absenteismus und der Verrat am Vaterlande als lobsame Tat erschienen? Wenn man sie aber anklagt, dann stelle man doch fest, inwieweit das ihre Schuld war? – das ist doch noch die Frage.

Der Verfasser des kleinen Artikels in der »Russischen Welt« führt zur Bekräftigung seiner Auffassung, daß an »ähnlichen Verrücktheiten« nur müßige, unreife Faulenzer beteiligt seien, die schon bekannten und so erfreulichen Worte des Ministers der Volksaufklärung an, die der Minister in Kiew nach der Besichtigung der Unterrichtsanstalten in sieben Kreisen geäußert hat: daß »in den letzten Jahren die Jugend sich unvergleichlich ernster zur Wissenschaft verhalte, viel mehr und unvergleichlich gründlicher arbeite, als früher«.

Ja, das sind natürlich erfreuliche Worte, Worte, die vielleicht unsere einzige Hoffnung enthalten. In der Unterrichtsreform der gegenwärtigen Regierung liegt fast unsere ganze Zukunft und wir wissen das. Aber derselbe Minister hat in derselben Rede, wie ich mich erinnere, auch erklärt, daß man auf die definitiven Früchte der Reform noch lange wird warten müssen. Wir haben immer daran geglaubt, daß unsere Jugend mehr als nur befähigt ist, sich ernster zur Wissenschaft zu verhalten. Doch vorläufig ist rings um uns noch ein solcher Nebel von falschen Ideen, umgeben so viele Vorspiegelungen und Vorurteile sowohl uns wie auch unsere Jugend, und nimmt unser ganzes gesellschaftliches Leben, das Leben der Väter und Mütter dieser Jugend, immer mehr eine so sonderbare Gestalt an, daß man manchmal unwillkürlich nach allen nur möglichen Mitteln sucht, um aus den Zweifeln herauszukommen. Eines von solchen Mitteln ist: selbst etwas weniger herzlos zu sein, sich wenigstens manchmal nicht dessen zu schämen, daß irgend jemand einen deshalb einen Bürger nennt, und... wenigstens manchmal die Wahrheit zu sagen, – selbst wenn diese nach Ihrer Meinung, meine Herren, nicht genügend liberal ist.

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