Während ihres Aufenthaltes in Tobolsk erwirkten es die Frauen der Dekabristen – von denen einzelne dort in der Verbannung lebten –, ihnen ein ausgesuchtes Mittagessen, sogar eines mit Weinen, bereiten zu dürfen. Es waren dies, nach Jastrshemski, Frau Murawjowa, Frau Annenkowa mit ihrer Tochter und Frau von Wisin. Zum Abschied schenkten sie jedem von ihnen ein Neues Testament. Die Petraschewzen waren, im Gegensatz zu den Dekabristen, fast alle noch unverheiratete, ganz junge Menschen. Es mag auf sie keinen geringen Eindruck gemacht haben, hier den, wie Dostojewski sagt, »in nichts schuldigen« Frauen zu begegnen, »... in langen 25 Jahren freiwillig alles mitertrugen, was ihre verurteilten Männer zu ertragen hatten.«
Am 17. Januar traten Dostojewski und Duroff die Weiterreise nach Omsk an. Das beste Material zu einer Lebensbeschreibung der nun folgenden vier Jahre, die Dostojewski im Ostrogg zu Omsk verbrachte, geben uns natürlich seine »Aufzeichnungen aus einem Totenhause«. Aber zum Teil könnte man auch auf sie die Worte anwenden, die Goethe zur Kennzeichnung seiner Autobiographie gewählt hat: »... meinem Leben. Wahrheit und Dichtung«. Dostojewski schildert nämlich sein Leben im Zuchthause im Namen einer anderen Person. In einem den »Aufzeichnungen« vorangeschickten Kapitel erzählt er, wie er den angeblichen Verfasser derselben kennen gelernt habe und nach dessen Tode in den Besitz dieser Aufzeichnungen gelangt sei. Der Verfasser, den er Alexander Petrowitsch Goräntschikoff nennt, sei ein Edelmann gewesen, der wegen Ermordung seiner Frau aus Eifersucht zehn Jahre als Sträfling in dem geschilderten Zuchthause habe zubringen müssen.
Zur Erklärung dieses vorausgeschickten Kapitels sei hier darauf hingewiesen, daß schon allein die Drucklegung solcher Aufzeichnungen aus einem Totenhause vor der Regierung Alexanders II. undenkbar gewesen wäre. Man kann wohl kühnlich behaupten, daß sie nichts unterschlagen, nichts beschönigen, vielmehr alles mit oft geradezu vernichtendem Realismus schildern...Ein Brief vom 22. Februar 1854, den Dostojewski unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Zuchthause an seinen Bruder geschrieben hat und der Michail Michailowilsch nicht auf dem offiziell erlaubten Wege – durch das Korps-Kommando in Sibirien und den Chef der III. Abteilung –, sondern durch andere Personen heimlich zugestellt worden ist, schildert er die Wirklichkeit seines Zuchthauslebens ohne jeden Gedanken an die Zensur. Diese aber mußte in der Zeit, als Dostojewskis Aufzeichnungen erschienen, selbst von Schriftstellern, gegen die nichts vorlag, trotz aller liberalen Neuerungen immer noch sehr im Auge behalten werden. Dieser Brief vom 22.11.1854, wie auch andere Briefe, haben O. Miller bei der Zusammenstellung des biographischen Materials noch nicht vorgelegen. Ein paar nebensächliche Angaben in dem erwähnten Brief stimmen mit einzelnen Taten in den Aufzeichnungen Miljukoffs und Jastrshemskis nicht ganz überein. Vgl. »... Briefe und Berichte der Zeitgenossen« S. 40–60. E.K.R. Wenn Dostojewski es auch für nötig fand, unter der Maske eines gewöhnlichen Verbrechers zu schreiben, so kommt er in einem besonderen Kapitel doch auch auf die politischen Verbrecher zu sprechen. (Dieses Kapitel wurde, nachdem es in der »Zeit« einmal veröffentlicht worden war, in manchen Buchausgaben weggelassen, doch in die jetzt vorliegende Gesamtausgabe seiner Werke ist es wieder in der ursprünglichen Fassung aufgenommen.Mit der Niederschrift seiner Erlebnisse im Zuchthaus hat Dostojewski bereits 1855 in Sibirien, im ersten Jahr nach der Abbüßung seiner Strafzeit, begonnen, doch in der Hauptsache hat er die Aufzeichnungen erst nach seiner Rückkehr ins europäische Rußland (1859) fertiggestellt. Beendet und veröffentlicht wurden sie 1861–62, das erwähnte (in der Gesamtausgabe vorvorletzte) Kapitel im Dezember 1862. Es heißt dort u. a.: »Welch eine Beschuldigung wäre aber damals... in jener kaum vergangenen alten Zeit...«(d. h. in der Regierungszeit Nikolais I.) für die Vorgesetzten »furchtbarer gewesen, als daß man mit gewissen Sträflingen Nachsicht habe! So kam es denn, daß jeder Vorgesetzte uns gegenüber Nachsicht zu zeigen sich fürchtete und wir ebenso gehalten wurden, wie alle anderen...« Somit überläßt er es dem Leser, zu erraten, daß mit den »gewissen Sträflingen« die politischen Verbrecher gemeint sind. E. K. R.
... Erst im Jahre 1876, als in einem neuen enzyklopädischen Nachschlagebuch von ihm unter anderen vollkommen falschen Angaben gesagt worden war, er sei »in den Prozeß Petraschewski verwickelt gewesen,« sah er sich gezwungen – »da niemand verpflichtet ist, über den Prozeß Petraschewski unterrichtet zu sein« und man danach ebensogut glauben könne, er sei »wegen Raubes« verurteilt worden –, in seinem »Tagebuch eines Schriftstellers« ausdrücklich zu erklären, und er hat die Worte unterstrichen, daß er »als politischer Verbrecher verschickt« war.Alle näheren Mitteilungen über die Teilnahme Dostojewskis und seiner Freunde an dieser Sache, wie über das ihnen zugefallene Loos, sind erst seit dem Tode Dostojewskis nach und nach veröffentlicht worden. In den dazwischen liegenden 22 Jahren waren die S.119,120 im Auszug wiedergegebenen flüchtigen Andeutungen des vom Kriegsministerium herausgegebenen »Russischen Invaliden« alles, was man über die Petraschewstische »Verschwörung« überhaupt bekanntgegeben hatte. Zu Lebzeiten Dostojewskis wußte man nur, wie I. Eckardt als Zeitgenosse berichtet, daß die Verschwörer von 1848 in das am Krönungstage von Kaiser Alexander II. (26. Aug. 1856) erlassene Gnadenmanifest nicht einbegriffen worden waren, daß der Gardeoffizier Lwoff noch 1859 in Irkutsk Polizeischreiber war, Speschnjoff in Sibirien die Zeitung »Amur« herausgab, daß Petraschewski 1866 als Sträfling gestorben war – er hatte ein späteres Gnadenangebot abgelehnt und die Revision seines Prozesses verlangt – und daß die Begnadigung des Schriftstellers Dostojewski 1859 auf die Fürsprache eines älteren Studiengefährten hin, des berühmten General Todleben (berühmt wegen seiner Verteidigungsanlagen in der Krim während des Orientkrieges 1853–56) erfolgt war. Die Erinnerung an die übrigen Verurteilten wäre, nach Eckardts Bericht, im Gedächtnis ihrer Landsleute völlig erloschen, wenn nicht der einflußreiche Alexander Herzen, das Haupt der russischen Emigration, in seiner Zeitschrift »... Polarstern« wiederholt daran erinnert hätte, daß man diese Männer nicht wegen dessen, was sie getan, sondern wegen dessen, was sie gedacht und untereinander geredet, verurteilt hatte.
Eine Bestätigung dieser Aussage ist eine gelegentliche Bemerkung Dostojewskis, nach der viele seiner Leser, besonders in der Provinz, von ihm glaubten, er sei wegen Ermordung seiner Frau Sträfling gewesen, wie der angebliche Verfasser der »Aufzeichnungen aus einem Totenhause«. E.K.R.
In der bereits erwähnten biographischen Skizze, die Dostojewski für das Ausland diktiert hat, sagt er auch noch ausdrücklich, daß die Gepflogenheiten und Sitten, die er in diesen Aufzeichnungen beschrieben hat, »in Rußland nun schon lange abgeändert sind« – damit wollte er offenbar auf alle die verschiedenen Reformen hinweisen, die wir dem Kaiser Alexander II. verdanken. Freilich, jene von Spießruten soeben zerfleischten Rücken, die Dostojewski im Lazarett des Zuchthauses zu sehen bekam, konnte man mit so vernichtendem Realismus nur unter der Herrschaft eines Kaisers, der dieses Strafverfahren abgeschafft hatte, zu schildern wagen. Und doch, obgleich diese alte Zeit erst kaum vergangen ist, sind diese Gepflogenheiten und Sitten von Dostojewski schon so geschildert, daß es einen schaudert – vor diesen Ketten, die niemals von den Füßen kommen; vor diesem Rasieren der Köpfe mit dem stumpfen Messer; vor diesem Zuber, der die ganze Nacht die Luft im Schlafraum verpestet; vor dieser Legion von Flöhen, die jeden Schlaf verscheuchen; und vor dem nach Fäulnis riechenden schmierigen Krankenkittel, den aber trotzdem auch Gesunde im Lazarett anziehen, bloß um das tagtägliche Zuchthausleben einmal zu unterbrechen, und wenns auch nur um diesen Preis möglich ist; und schließlich vor dem rohen Eigendünkel dieses Majors, der sich für den Zaren, ja, für den Gott der Sträflinge erklärt, weil er mit ihnen tun kann, was er will – diese Krönung des Ganzen! Aber trotz alledem fühlt man, wenn man diese Aufzeichnungen liest, daß in diesem Zuchthause keine Pedanterie herrscht, eben weil Pedanterie ja so gar nicht in der Natur des russischen Menschen liegt, jene Pedanterie Vorgesetzter, für die die Vorschriften um der Vorschriften willen heilig sind. Eben dies ist es wohl, was einen englischen Kritiker veranlaßte, darauf hinzuweisen, daß die Behandlung der politischen Verbrecher in Sibirien in vielen Fällen der Behandlung, die sie in West-Europa erfahren, vorzuziehen sei – ja, es werde ihnen in vielen Dingen sogar so durch die Finger gesehen, daß die strengen englischen Gefängniswärter sich darob entsetzen würden. Dabei waren Dostojewski und Turoff noch in den strengsten Ostrogg geraten. Von den anderen Petrachewzen trafen es manche viel besser. So wurde beispielsweise I. Desbut nicht in Ketten, sondern bloß mit Ketten nach K. transportiert, wo sich der Kommandant und die Ingenieuroffiziere mit der größten Teilnahme seiner annahmen und seine Lage nach Möglichkeit zu erleichtern suchten.
Natürlich war die erste Zeit im Zuchthause für Dostojewski die schwerste, und demgemäß haben sich auch, wie er selbst sagt, die Erlebnisse des ganzen ersten Jahres seinem Gedächtnis mit besonderer Schärfe eingeprägt. Als das Schrecklichste erschien ihm anfangs, daß er nie, nie allein sein werde: bei der Arbeit immer unter militärischer Bewachung, im Zuchthause immer mit zweihundert Gefährten zusammen... und was waren das für Gefährten! Zum Schluß aber schreibt er, daß er sich die ganze Zeit, alle die Jahre im Zuchthause, doch in einer schrecklichen Einsamkeit befunden habe, ja, daß ihm diese Einsamkeit schließlich sogar lieb geworden sei. In dieser unfreiwilligen geistigen Muße begann er, sein ganzes früheres Leben einer Prüfung zu unterziehen, sich selbst mit unnachsichtigster Strenge zu beurteilen – und da hat er denn manchmal dem Schicksal dafür gedankt, daß es ihm diese Einsamkeit und die Möglichkeit einer solchen Überprüfung des Lebens schenkte. Es ist anzunehmen, daß er, je weiter er in dieser Selbstuntersuchung und Selbstverurteilung vordrang, gleichzeitig um so fähiger wurde, auch in die Seelen anderer zu schauen. Aus dieser Menschenkenntnis und diesen Überzeugungen, die er im Zuchthause in vierjährigem engsten Zusammenleben mit der niedrigsten Volksschicht gewann, ist es zu erklären, weshalb er sich später ärgerte, wenn man mitleidvoll davon sprach, welches Unrecht ihm mit der Verurteilung zugefügt worden sei, und weshalb er dann entgegnete: »Nein, uns ist recht geschehen, denn das Volk hätte uns verurteilt.« Es hätte sie verurteilt, weil es, wie er sich überzeugt hatte, zu der west-europäisch denkenden Intelligenz kein Vertrauen haben wollte, haben konnte. In seiner späteren Kennzeichnung der Stellung Raskolnikoffs unter den übrigen Sträflingen drückt er wiederum ein eigenes Erlebnis mit den Worten aus, daß er, Raskolnikoff, den Unterschied zwischen sich und diesen Sträflingen als so groß empfand, als wären sie Menschen von verschiedener Rasse gewesen... Er, Raskolnikoff, habe die allgemeinen Gründe dieses Unterschiedes zwar schon lange gewußt und begriffen, doch nie hätte er früher zugegeben, daß diese Gründe in der Tat so tief und so stark waren.
Über die Frage, wie die Erlebnisse im Zuchthause gesundheitlich auf Dostojewski eingewirkt haben, ist es ja nach seinem Tode in unserer Presse zu einer richtigen Polemik gekommen. Es wurde die Ansicht ausgesprochen, daß der Ausbruch seiner Krankheit, die Epilepsie, auf eine erlittene körperliche Züchtigung (Rutenhiebe) zurückzuführen sei. Diese Auffassung ist aber vollkommen haltlos, vielmehr wird u. a. auch von Dr. Janowski ausdrücklich darauf hingewiesen, daß niemand von ihm auch nur eine Anspielung auf etwas ähnliches gehört hat, obgleich er sich ihm, dem Arzt, wie seinem Bruder Michail Michailowitsch, und in Genf dem Priester Petroff gegenüber mit aller Offenheit über seine Sträflingszeit ausgesprochen habe.Es gibt über die Krankheit Fjodor Michailowitschs allerdings noch eine besondere Aussage, die sich auf seine früheste Jugend bezieht und die Krankheit mit einem tragischen Fall in dem Familienleben der Eltern Dostojewskis in Verbindung bringt. Doch obgleich mir diese Aussage von einem Menschen, der F. M. sehr nahe stand, mündlich mitgeteilt worden ist, kann ich mich nicht entschließen, da ich von keiner Seite eine Bestätigung dieses Gerüchts erhalten habe, die erwähnte Angabe hier ausführlich und genau wiederzugeben. O. M. Im übrigen aber dürften sich die über das erste Auftreten und die Entwicklung der Krankheit vielfach widersprechenden Aussagen dahin zusammenfassen lassen, daß die Anfälle zwar schon vor der Verbannung auftraten, jedoch von ihm selbst nicht als Epilepsie erkannt wurden; in Sibirien aber hat sich die Krankheit endgültig entwickelt, – bis ihm schließlich ein Zweifel an ihrem wahren Charakter nicht mehr möglich war.
Aber wie einförmig das Leben im Zuchthause auch verlief – schließlich verging die Zeit. Im tiefsten Winter war er ins Zuchthaus gekommen, also mußte er es im Winter wieder verlassen, wenn auch nicht gerade im Dezember, wie es in den »Aufzeichnungen« heißt ...Die Dokumente in den Archiven der III. Abteilung geben als Tag der Enthaftung den 23. Jan. 1854 an. Nach der Entlassung aus dem Zuchthause haben Dostojewski und Duroff, dessen Gesundheit vom Zuchthausleben vollkommen zerrüttet worden war, wie aus einem späteren Brief des ersteren hervorgeht, »fast einen ganzen Monat« in Omsk im Hause von Frau O. I. Iwanowa, der Tochter des Dekabristen Annenkoff, verbracht und sich gesundheitlich ein wenig erholt. Am 2. März ist Dostojewski dann als Gemeiner in das 7. Bataillon des Sibirischen Linienregiments in Semipalatinsk eingereiht worden. E.K.R.
Nach dieser Autobiographie zu urteilen, muß Dostojewski bereits vom Zuchthause aus, noch vor der Befreiung, seinen Briefwechsel wieder aufgenommen haben. Doch von seinen sibirischen Briefen, die uns vorliegen,Vergl. Anm. S. 134. E.K.R. ist der erste, der allerdings ausdrücklich auf frühere Briefe Bezug nimmt, am 30. Juli 1854 aus Semipalatinsk an seinen Bruder geschrieben. In allen Briefen beschwört er den Bruder, ihm doch zu schreiben, ihn nicht zu vergessen, ihm Bücher zu schickenIn den Briefen vom 22. Februar und vom 27. März 1854 bittet er den Bruder um den Koran, Kants »Critique de raison pure«, »... wenn du die Möglichkeit haben wirst, mir etwas nicht offiziell zu schicken, dann noch unbedingt Hegel; besonders aber Hegels ›Geschichte der Philosophie‹. Davon hängt meine ganze Zukunft ab. Um Gottes willen verwende dich für mich, daß man mich nach dem Kaukasus versetzt; suche... zu erfahren, ob man mir gestatten wird, meine Werke zu drucken... Ich bitte dich, mich so lange auszuhalten. Ohne Geld werde ich vom Soldatenleben erdrückt werden... Vielleicht werden mich im Anfang auch die anderen Verwandten irgendwie unterstützen?... (Vergl, »... Briefe und Berichte der Zeitgen.«). Im März bittet er, ihm keine Zeitschriften zu schicken, sondern »europäische Historiker, Ökonomisten, Kirchenväter, womöglich alle alten (Herodot, Thukndides, Tacitus, Plinius, Flarius, Plutarch und Diodor usw),... und ein deutsches Lexikon. Nicht alles auf einmal... Begreife, wie nötig mir diese geistige Nahrung ist!...« E.K.R. und Geld, wenn er kann... Das Soldatenleben verschlingt seine Zeit, er hofft, der Bruder werde verstehen, daß Soldat zu sein »nicht gerade ein leichtes ist für einen Menschen mit meiner Gesundheit... Ich murre nicht; dies ist mein Kreuz und ich habe es verdient.« Er lebt einsam, verbirgt sich sogar vor den Menschen, denn nachdem er fünf Jahre lang stets unter Aufsicht gewesen, ist es ihm »... größte Wonne, manchmal allein zu sein... übrigens... vermute nicht, daß ich noch ebenso melancholisch und argwöhnisch bin, wie ich es in den letzten Jahren in Petersburg war. Das ist vollkommen vergangen...« Weiter heißt es in diesem Brief: »... danke Bruder Koljä für die Nachschrift... ich habe auch endlich von den Schwestern Warenka und Wjerotschka Briefe erhalten... ich glaube, daß sie mich wirklich so lieben, wie sie sagen«. Am 6. Nov. 1854 schreibt er an den Bruder Andrei: »... ich habe mein neues Leben angefangen. Jene vier Jahre aber betrachte ich als eine Zeit, in der ich lebendig begraben und in einem Sarge eingeschlossen war. In dieser ganzen Zeit habe ich von Euch allen nicht die kleinste Nachricht erhalten...«Unter Nikolai I. war es zum mindesten nicht ratsam, an einen verbannten Staatsverbrecher Briefe zu schreiben, selbst wenn es sich um einen Bruder handelte. E.K.R.
Ende November lernt Dostojewski den jungen, damals 23jährigen, Baron A.E. Wrangel kennen, den er in einem späteren Brief als einen Menschen mit den besten Eigenschaften schildert, als seinen Freund, der ihm in dieser Zeit unendlich viel Gutes erwiesen hat, doch liebe er ihn nicht nur deswegen. Er sei unmittelbar aus dem Lyzeum nach Sibirien gekommen, mit der großzügigen Absicht, das Land kennen zu lernen, nützlich zu sein usw.
In dieser ersten Zeit der Freundschaft mit Wrangel tritt nun, man kann Wohl sagen, ganz unverhofft der Regierungswechsel ein,Am 19. Februar 1855 kam Alexander II. auf den Thron, nach dem plötzlichen Ableben Nikolais I., dessen ganzes System im Orientkrieg (1853–56) gescheitert war. E.K.R. der auch für Dostojewskis weiteres Schicksal von größter Bedeutung sein sollte.
Bei seiner »Zweifelsucht« quält es ihn sehr, daß der Bruder ihm auch jetzt noch oft monatelang nicht schreibt, und wenn auch die anderen Geschwister lange schweigen oder »gänzlich aufhören zu schreiben«, argwöhnt er alles mögliche, wie er dem Bruder im Mai 1855 gesteht.
Im Laufe dieses Jahres hat Dostojewski in Semipalatinsk noch anderen Verkehr gefunden und Personen kennen gelernt, von denen eine in seinem späteren Leben eine wesentliche Rolle spielen sollte. Es war das Frau Marja Dmitrijewna Issajewa. Als Wrangel sich im August 1855 vorübergehend in Barnaul aufhalten mußte,Baron Wrangel war als Bezirks-Staatsanwalt nach Sibirien gekommen; seine intime Freundschaft mit dem gewöhnlichen Soldaten hatte für ihn anfangs verschiedene kleine Unannehmlichkeiten zur Folge. In seinen »Erinnerungen« gibt er über Dostojewskis Leben in Semipalatinsk mit einer Kenntnis des Sachverhalts und einer Ausführlichkeit Auskunft, die im Jahre 1883 O. Miller, der nur Briefe aus dieser Zeit zur Hand hatte, gar nicht möglich gewesen wäre. Wrangel ist bisher auch der einzige, der über Dostojewskis erste Frau näheres berichtet hat, bzw. berichten kann. (Vgl. »... den Erinnerungen des Barons A. Wrangel« in »... Briefe u. Berichte der Zeitgenossen«). E. K. R. schreibt Dostojewski an ihn voll großer Sorge um ihre gemeinsame Bekannte: er teilt ihm den Tod ihres Mannes mit und bittet ihn, der mittellos in Kusnezk zurückgebliebenen Witwe die verabredete Summe zu schicken, die er ihm unbedingt, wenn auch nicht sofort, zurückerstatten werde.Warja Dmitrijewnas Mann war als Gymnasiallehrer nach Kusnezk versetzt worden und hatte mit seiner Frau und seinem neunjährigen Sohn erst kurz vorher Semipalatinsk verlassen. E. K. R.
Am 18. Januar 1856 schreibt er an Maikoff über seinen Gemütszustand in diesem Jahr: »... Ein Umstand, ein Ereignis, das in meinem Leben lange auf sich hatte warten lassen und mich nun endlich erfaßte, riß mich hin und verschlang mich ganz. Ich war glücklich. Ich konnte nicht arbeiten. Später kamen Trauer und Leid über mich. Ich verlor das, was mein alles war. Mehrere hundert Werst trennten uns... Die Ausführung meines Hauptwerkes habe ich aufgeschoben...« – gemeint sind die angefangenen »Aufzeichnungen aus einem Totenhause,« – »... ich begann im Scherz eine Komödie zu schreiben...« (»Onkelchens Traum«). Doch neben diesen Arbeiten hat ihn noch eine »größere Novelle« beschäftigt (»... Gut Stepantschikowo«), u. a. Mit Interesse spricht er von der neuesten Literatur und geht er auf Maikoffs Mitteilungen ein. »... ich teile mit Ihnen die Idee, daß Europa und Europas Bestimmung von Rußland beendet werden wird. Das war mir schon lange klar.« Eine Bestätigung dieser Äußerung finden wir in Miljukoffs »Erinnerungen«.
Von großer Bedeutung für sein weiteres Geschick ist ein Brief vom 23. März 1856 an den inzwischen nach Petersburg zurückgekehrten Wrangel, mit der Bitte, das beigefügte Schreiben persönlich dem General Eduard I. Todleben zu übergeben. Die Fragen, ob Dostojewski aus Gesundheitsgründen recht bald um seinen Abschied vom Militär bitten könne und ob seine Werke gedruckt werden dürfen, haben für ihn mittlerweile eine ganz besondere Bedeutung erhalten: er hat sich bereits endgültig entschlossen, Marja Dmitrijewna Issajewa zu heiraten, weshalb ihm an einer Veränderung seiner sozialen Stellung und finanziellen Lage sehr viel liegt. Nun folgen – in diesem, wie im nächsten Brief vom 13. April – Pläne und Besprechungen, wie er den Onkel (Kumanin) um 1000 Rubel bitten werde, ohne seine Heiratsabsichten zu verraten. Er erwähnt ein Gedicht, das er auf die Thronbesteigung Alexanders II. verfaßt hat, – es ist verloren gegangen, doch dürfte es, ebenso wie ein erhaltenes Gedicht auf den Orientkrieg, mit Kunst wenig zu tun gehabt haben, um so mehr aber, da er in diesem Gedicht den zukünftigen Befreier des Bauernstandes mit aufrichtiger Vaterlandsliebe begrüßt. Er erwähnt ferner einen Artikel über Rußland, aber der sei ein rein politisches Pamphlet geworden; da man ihm aber wohl kaum erlauben werde, seine neue literarische Tätigkeit mit einem Pamphlet zu beginnen, »... patriotisch sein Inhalt auch sein mag,« so habe er schon in seine »Briefe über Kunst« ganze Seiten aus diesem Pamphlet übernommen. Seine Liebe zu Marja Dmitrijewna, die, nach den Briefen an Wrangel zu urteilen, mehr und mehr zur Leidenschaft wurde, war für ihn eine Quelle neuen Glücks, aber auch großer Pein. Sie scheinen sich gegenseitig mit Eifersucht gequält zu haben. Wenigstens bemerkt Doktor Janowski in einem Brief an Maikoff, in dem er darauf zu sprechen kommt, daß »unter dem Einfluß gegenseitiger Eifersucht Fjodor Michailowitschs Krankheit sich weiter entwickelt« habe. Dazu wird vermutlich noch der Umstand beigetragen haben, daß er hochherzig gegen dieses Gefühl ankämpfte und es soweit besiegte, daß er selbstlos für den anderen, einen gewissen W., auf den er eifersüchtig war, sorgte und ihm zu einer Existenzmöglichkeit zu verhelfen suchte. Seine Briefe an Wrangel werfen aber auch ein neues Licht auf den ersten Roman, den er nach seiner Rückkehr aus Sibirien 1860-61 schrieb: Die »Erniedrigten und Beleidigten« enthalten demnach nicht nur eine Schilderung seines eigenen jungen Schriftstellerdaseins in den vierziger Jahren, sondern sind auch in der Zeichnung seines Verhältnisses zu der Heldin dieses Romans autobiographisch, – eines Verhältnisses, das von unseren jetzigen Kritikern mit so schnellfertiger Oberflächlichkeit aufgefaßt wird.
Im Mai äußert er sich, nachdem er erfahren, wie General Todleben seine Bitte aufgenommen hat, ganz entzückt über »diese ritterliche, erhabene, großmütige Seele«. Ebenso freut ihn die Mitteilung, daß alle Welt den neuen Kaiser glühend liebt. »Mehr Glauben, mehr Einheit, und wenn noch Liebe hinzu kommt, ist alles getan! Wie soll man es jetzt aushalten, zurückzubleiben, sich nicht der allgemeinen Bewegung anschließen zu können, nicht auch sein Scherflein beizusteuern? O, gebe Gott, daß mein Leben sich schneller ändere!« Das wünschte er sich nicht bloß für sein Privatleben, sondern auch, um sich an der allgemeinen Bürgerarbeit beteiligen zu können, in Gemeinschaft mit einem solchen Kaiser! Von seinen Privatangelegenheiten aber kann er jetzt und im Juni nichts Gutes mitteilen. Er schreibt, daß er »fast verzweifelt.« »... Also – jetzt kann ich mit Sicherheit hoffen, doch... nun ist es zu spät.« Seine Hoffnungen auf Familienglück sind zunichte geworden. Trotzdem sorgt er sich nach wie vor um Marja Dmitrijewnas Lebensbedingungen. Sein Bruder soll sich erkundigen, ob man ihren Sohn im Pawlowsker Kadettenkorps unterbringen könnte, man solle alles tun, damit ihr eine einmalige Unterstützung schnell ausgezahlt werde, sie könnte sonst vorher heiraten und damit den Anspruch auf Unterstützung verlieren. »Er besitzt nichts, sie auch nicht... Das bedeutete für sie wieder Armut, wieder Leid...« Von sich selbst aber sagt er: »... meinetwegen ins Wasser! oder sich dem Trunk ergeben!«
Am 1. Oktober 1856 wurde Dostojewski (nachdem er am 15. Januar desselben Jahres Unteroffizier geworden war) zum Fähnrich befördert. Es geschah dies auf Befürwortung Todlebens und des Prinzen von Oldenburg hin, doch glaubte Dostojewski – und zwar mit Recht –, daß er auch sehr viel den persönlichen Bemühungen Wrangels zu verdanken habe. Am 1. Dezember teilt er seinem Freunde mit, daß er voraussichtlich noch vor der Fastenzeit im Frühjahr heiraten werde – »... wissen, wen... Sie hat sich bald von dem Irrtum ihrer neuen Neigung überzeugt... O, wenn Sie wüßten, was diese Frau ist!« Geld hat er natürlich keine Kopeke. Er will sich an den Onkel Kumanin wenden, der den Geschwistern schon oft geholfen hat... Warum ist »... kleine Held« – die Geschichte, die er in der Peter-Pauls-Festung während der Untersuchungshaft geschrieben hat – noch nicht gedruckt? Wenn man ihm noch ein ganzes Jahr nichts zu veröffentlichen erlaubt, ist er verloren – »dann lieber überhaupt nicht leben!... Natürlich bin ich bereit, meinetwegen immer ohne Nennung meines Namens oder unter einem Pseudonym zu schreiben«. Zum Schluß bittet er Wrangel »kniefällig«, jenem selben W. zu helfen, für den er sich im Sommer verwandt hatte, »... jetzt ist er mir teurer als ein leiblicher Bruder...«
Am 25. Februar 1857 schreibt er an Wrangel, daß er 8 Monate wie ein Bettler werde leben müssen, wenn ihm der Onkel nicht noch einmal hilft. Am 9. März aber teilt er dem Freunde in ganz ruhigem Tone mit, daß am 6. März seine Trauung in Kusnezk stattgefunden hat... In Barnaul hat er einen Anfall gehabt und der Arzt hat ihm gesagt, daß es richtige Epilepsie sei – das beunruhigt ihn. Nach seiner Rückkehr nach Semipalatinsk erwarten ihn einerseits die Sorgen um die Einrichtung der Wohnung, andererseits ist eine Besichtigung durch den Brigadekommandeur angesagt.
Nach diesem für längere Zeit letzten Brief an Wrangel beginnt wieder eine Reihe von Briefen an den Bruder. Seine materiellen Sorgen sind dieselben. Im März 1858 schreibt er, seine Lage sei kritisch, »wenn Pleschtschejeff die 1000 Rubel nicht gibt...« Der Bruder hat inzwischen 3000 Rubel verloren, umso schwerer wird es, ihn um neue Hilfe anzugehen. Außer geliehenem Gelde helfen ihm 500 Rubel als Vorschuß vom Verleger Katkoff für eine versprochene Novelle (»Onkelchens Traum«) und später 1000 Rubel vom Herausgeber des »Russischen Wortes« für »... Gut Stepantschikowo«, das im Herbst 1859 erscheinen soll. Er erwähnt bereits den Plan zu einem Roman – offenbar »Raskolnikoff«. »Warum schreiben die Verwandten kein Wort?« Außer der Beförderung zum Fähnrich hatte Todleben für ihn am 18. März 1859 auch das Recht erwirkt, seine Werke – sogar unter seinem Namen – drucken zu lassen; gleichzeitig wurde er als Leutnant vom Dienst befreit und erhielt die Erlaubnis, nach dem europäischen Rußland zurückzukehren und in Twer zu wohnen. Seine Abreise aus Semipalatinsk verzögert sich bis zum Juli; dann muß er sich noch in Omsk aufhalten, infolge der Formalitäten, die mit dem Austritt seines Stiefsohnes aus dem Korps verbunden sind.
Den nächsten Brief – vom 19. September 1859 – schreibt er bereits aus Twer, wo ihn der Bruder schon besucht hat. Aus dem nun folgenden Briefwechsel mit dem Bruder ist zu ersehen, wie schwierig es immerhin noch war, seine ersten Werke nach der sibirischen Verbannung unterzubringen. Und wie hatte ihn das Schicksal zu Anfang seiner literarischen Laufbahn mit dem ersten glänzenden Erfolg verwöhnt! Nun aber galt es, und das noch nach einer so schweren Prüfung, das Notwendigste zu beschaffen, um mit der Frau und dem Stiefsohn überhaupt leben zu können. Er arbeitet an den »Aufzeichnungen aus einem Totenhause«, spricht von dem Plan zu einem großen Roman (»Raskolnikoff«), trägt sich, nach der Aussage Miljukoffs, mit der Absicht, ein philosophisches Werk zu schreiben, doch nach reiflicher Überlegung sagt er sich davon los. Daneben plant er die Gesamtausgabe seiner bisher erschienenen Werke... bis er schließlich, da er das Warten in Twer nicht mehr aushält, (das Warten auf die Beantwortung seines Gesuchs an Todleben), unmittelbar an den Kaiser ein Gnadengesuch richtet, in dem er bittet, nach Petersburg übersiedeln zu dürfen, um dort wegen seiner Krankheit Spezialisten konsultieren zu können...
Am 2. November schreibt er an seinen Freund Wrangel, daß Marja Dmitrijewna sich aufreibe in der Sorge um das Schicksal ihres Sohnes, da sie fürchte, nach seinem, Dostojewskis, Tode mit dem heranwachsenden Sohne wieder so dazustehen, wie nach dem Tode ihres ersten Mannes. Da er als Ausgang seiner Krankheit, wie er an den Kaiser schreibt, »Lähmung, Tod oder Irrsinn« vor sich sah und darin von der gleichfalls kranken, alles schwarz sehenden Frau noch bestärkt wurde, kann man sich ungefähr denken, welcher Art sein Gemütszustand in dieser Zeit war. Ende November erhält er die Erlaubnis zur Übersiedelung nach Petersburg.
Miljukoff, der ihn mit Michail Michailowitsch vom Bahnhofe abholte, fand, daß er sich physisch nicht verändert hatte; ja, es schien ihm sogar, als sähe er, im Vergleich zu früher, rüstiger aus und als habe er von seiner gewohnten Energie nichts eingebüßt.Nach den »Erinnerungen« Wrangels kam Dostojewski im Januar 1860 nach Petersburg. »Dostojewski brauchte damals viel Geld, besaß aber keinen Heller. Er hatte zahllose Schulden und nur die eine Hoffnung, daß ihm die vielen Erzählungen und Romane, die in seinem Kopfe... entstanden, etwas einbringen würden... Wir sahen uns sehr oft, doch immer nur flüchtig, denn wir beide waren in den Strudel des Petersburger Lebens geraten...« Trotzdem sagt Wrangel, daß Dostojewski Tag und Nacht gearbeitet habe. (Vgl. »... Briefe und Berichte der Zeitgenossen«.) Da das Petersburger Klima für den Gesundheitszustand seiner Frau schädlich gewesen wäre, verbrachte sie die folgenden Jahre in Moskau, wo sie am 16. April 1864 an der Schwindsucht starb. Den Winter 1863–64 bis zu ihrem Tode weilte Dostojewski deshalb in Moskau. Sein Stiefsohn war auf Befehl des Kaisers 1860 als Stipendiat in eine Lehranstalt aufgenommen worden. Dostojewski hatte die Bitte darum mit seinem eigenen Gnadengesuch verbunden. In einem späteren Brief an Wrangel schreibt Dostojewski über seine Ehe mit der verstorbenen Frau: »... waren beide durchaus unglücklich, konnten aber nicht aufhören, einander zu lieben; je unglücklicher wir waren, um so mehr hingen wir aneinander«. (Vgl. »... Briefe und Berichte der Zeitgenossen«). E.K.R.