10

Vor ihm – das Portal.

Hinter ihm – die Königin. Hinter ihm – Schmerzen und Leiden.

Vor ihm – Sieg.

Raistlin stützte sich auf den Stab des Magus. Er war so geschwächt, daß er kaum stehen konnte. Aber stets behielt er das Bild des Portals in seinem Gedächtnis. Ihm schien es, als wäre er eine endlose Meile nach der nächsten gelaufen, gestolpert und gekrochen, um es zu erreichen. Jetzt war er ihm nahe. Er konnte die wunderschönen, glitzernden Farben sehen, Farben des Lebens – grün wie das Gras, blau wie der Himmel, weiß wie die Wolken, schwarz wie die Nacht, rot wie Blut...

Blut. Er sah auf seine Hände. Sie waren befleckt von seinem eigenen Blut. Seine Wunden waren zu zahlreich, als daß er sie zählen konnte. Von Keulen geschlagen, von Schwertern niedergestochen, von Blitzen angesengt, vom Feuer verbrannt worden war er; dunkle Kleriker, schwarze Zauberer, Legionen von Ghulen und Dämonen, alle, die der Dunklen Königin dienten, hatten ihn angegriffen. Seine schwarzen Roben hingen in Fetzen um ihn. Kein Atemzug war ohne verzehrende Qual. Schon vor langer Zeit hatte er aufgehört, Blut zu erbrechen. Und obwohl er hustete, so lange hustete, bis er nicht mehr stehen konnte, sondern gezwungen war, auf seine Knie zu sinken, um sich zu erbrechen, war nichts mehr da. Nichts war mehr in ihm.

Und trotz allem hatte er durchgehalten.

Ein Frohlocken jagte wie Fieber durch seine Adern. Er hatte durchgehalten, er hatte überlebt. Er lebte... gerade eben noch. Aber er lebte. Der Zorn der Königin drohte hinter ihm. Ihr Zorn ließ Boden und Himmel pulsieren. Er hatte alle besiegt, und es war niemand übrig, um ihn herauszufordern. Niemand, nur noch sie selbst.

In seinen Stundenglasaugen schimmerte das Portal in unzähligen Farben. Immer näher kam er, immer näher. Hinter ihm kam die Königin, und ihr Zorn machte sie unachtsam und sorglos. Er würde der Hölle entkommen. Sie konnte ihn jetzt nicht mehr aufhalten. Ein Schatten zog sich über ihn und ließ ihn erschauern. Als er hochschaute, sah er die Finger einer riesigen Hand den Himmel verdunkeln. Die Nägel glitzerten blutrot.

Raistlin lächelte und schleppte sich weiter. Es war ein Schatten, nichts weiter. Die Hand, die den Schatten warf, griff vergeblich nach ihm. Er war seinem Ziel zu nah, und sie, die auf ihre Lakaien gesetzt hatte, daß sie ihn aufhielten, war zu weit entfernt. Ihre Hand würde den Saum seiner zerfetzten schwarzen Roben erfassen, wenn er erst die Schwelle des Portals erreicht hatte, und mit seiner letzten Kraft würde er sie durch die Tür zerren.

Und dann, wer würde sich auf seiner Ebene dann als stärker erweisen?

Raistlin hustete, aber noch während er hustete, und während der Schmerz an ihm riß, lächelte er – nein, er grinste, ein dünnlippiges, blutverschmiertes Grinsen. Er hatte keine Zweifel, überhaupt keine Zweifel.

Eine Hand hielt er gegen die Brust gepreßt, mit der anderen umklammerte er den Stab des Magus. So schob sich Raistlin weiter, sorgfältig mit seinen Energien haushaltend und voller Freude über jeden stechenden Atemzug. Wie ein Geizhals, der sich diebisch über ein Kupferstück freut. Die kommende Schlacht würde glorreich sein. Jetzt war es an ihm, Legionen aufzurufen, die für ihn kämpften. Die Götter selbst würden seinen Ruf beantworten, denn das Erscheinen der Königin auf der Welt in all ihrer Macht und Erhabenheit würde den Zorn des Himmels mit sich bringen. Monde würden herabstürzen, Planeten würden sich in ihren Bahnen verschieben, Sterne würden ihren Verlauf ändern. Die Elemente würden seinen Befehlen gehorchen. Wind, Luft, Wasser, Feuer – alles unter seiner Gewalt.

Und jetzt erhob es sich vor ihm – das Portal. Die Köpfe des Drachen kreischten in ohnmächtigem Zorn, daß ihnen die Macht fehlte, ihn aufzuhalten.

Nur noch ein Atemzug, ein weiterer schlingernder Herzschlag, ein weiterer Schritt...

Er hob seinen Kopf und blieb stehen.

Eine Gestalt, die er zuvor durch die Nebel von Schmerz und Blut und durch die Schatten des Todes nicht bemerkt hatte, wartete vor ihm. Sie stand vor dem Portal, ein glänzendes Schwert in der Hand. Raistlin erstarrte einen Augenblick in völliger Verständnislosigkeit. Dann strömte Freude durch seinen zerstörten Körper.

»Caramon!«

Er streckte eine zitternde Hand aus. Was für ein Wunder ihm Caramon gesandt hatte, wußte er nicht. Aber sein Zwillingsbruder war da, so wie er immer dagewesen war, auf ihn gewartet hatte. Und wieder wartete er, um an seiner Seite zu kämpfen...

»Caramon!« keuchte Raistlin. »Hilf mir, mein Bruder.«

Erschöpfung übermannte ihn, und der Schmerz zwang ihn in seine Gewalt. Rasch verlor er die Kraft zum Denken und zur Konzentration. Seine Magie sprühte nicht mehr durch seinen Körper, sondern bewegte sich träge und gerann wie das Blut an seinen Wunden.

»Caramon, komm zu mir. Ich kann nicht allein laufen...«

Aber Caramon rührte sich nicht. Er stand einfach da, das Schwert in der Hand, und starrte ihn an mit Augen, in denen sich Liebe und Kummer, ein tiefer, brennender Kummer, vermischten. Ein Kummer, der den Nebel des Schmerzes durchschnitt und Raistlins öde, leere Seele freilegte. Und dann wußte auch er alles. Er wußte, warum sein Bruder hier wartete.

»Du stehst mir im Weg, Bruder«, sagte Raistlin kühl.

»Ich weiß.«

»Dann tritt zur Seite, wenn du mir nicht helfen willst!« Raistlins Stimme überschlug sich vor Zorn.

»Nein.«

»Du Narr! Du wirst sterben!« Dies war wieder sein Flüstern, sanft und tödlich.

Caramon holte tief Luft. »Ja«, sagte er entschlossen, »aber dieses Mal auch du.«

Der Himmel über ihnen verdunkelte sich. Schatten sammelten sich um sie, als ob das Licht langsam ausgesaugt würde. Die Luft wurde eisigkalt, und das Licht trübte sich, aber Raistlin spürte hinter sich eine starke flammende Hitze – den Zorn seiner Königin.

Angst verkrampfte seine Eingeweide, Zorn quälte seinen Magen. Worte der Magie drangen in ihm hoch. Wie Blut schmeckten sie auf seinen Lippen. Er wollte sie seinem Bruder entgegenschleudern, aber dann mußte er würgen und husten. Er sank auf seine Knie. Immer noch waren da die Worte, die Magie stand ihm noch zur Verfügung. Er würde seinen Bruder in Flammen brennen sehen, wie er einst, vor langer, langer Zeit, das Abbild seines Bruders im Turm der Erzmagier hatte brennen sehen. Wenn er nur den Atem anhalten könnte...

Der Anfall ging vorüber. Die Worte der Magie überfluteten sein Denken. Er sah auf. Ein groteskes, höhnisches Grinsen verzerrte sein Gesicht, und seine Hand hob sich...

Caramon stand vor ihm, das Schwert in der Hand, und starrte ihn voller Mitleid an.

Mitleid! Der Blick traf Raistlin mit der Wucht von hundert Schwertern. Ja, sein Zwillingsbruder würde sterben, aber nicht mit diesem Blick auf seinem Gesicht!

Raistlin stützte sich auf seinen Stab und zog sich auf die Füße. Er hob seine Hand, warf die schwarze Kapuze von seinem Kopf zurück, so daß sein Bruder sich sehen konnte – dem Untergang geweiht, reflektiert in seinen goldenen Augen.

»Du bemitleidest mich also, Caramon«, zischte er. »Du stümpernder, verrückter Trottel. Du, der du unfähig bist zu begreifen, welche Macht ich erlangt habe, welchen Schmerz ich überwältigt habe, welche Siege ich davongetragen habe. Du wagst es, mich zu bemitleiden? Bevor ich dich töte – und ich werde dich töten, mein Bruder —, will ich, daß du mit dem Wissen in deinem Herzen stirbst, daß ich weitergehe, um auf der Welt ein Gott zu werden!«

»Ich weiß, Raistlin«, antwortete Caramon ruhig. Das Mitleid schwand nicht aus seinen Augen, sondern verstärkte sich nur noch. »Und das ist der Grund, warum ich dich bemitleide. Denn ich habe die Zukunft gesehen. Ich kenne das Ergebnis.«

Raistlin starrte seinen Bruder an. Er argwöhnte einen Trick. Über ihnen wurde der rotgefärbte Himmel immer dunkler, aber die ausgestreckte Hand hatte innegehalten. Er spürte, wie die Königin zögerte. Sie hatte Caramon entdeckt. Raistlin spürte ihre Verwirrung, ihre Angst. Sein schleichender Zweifel verschwand, daß Caramon vielleicht eine Erscheinung sein könnte, nur herbeigerufen, um ihn aufzuhalten. Raistlin trat einen Schritt auf seinen Bruder zu.

»Du hast die Zukunft gesehen? Wie?«

»Als du durch das Portal gegangen bist, hat sich das magische Feld auf unser Gerät ausgewirkt und Tolpan und mich in die Zukunft geworfen.«

Raistlin verschlang seinen Bruder gierig mit den Augen. »Und? Was wird geschehen?«

»Du wirst gewinnen«, antwortete Caramon schlicht und einfach. »Du wirst siegreich sein, nicht nur gegen die Königin der Finsternis, sondern gegen alle Götter. Deine Konstellation allein wird am Himmel strahlen... zumindest eine Zeitlang...«

»Eine Zeitlang?« Raistlins Augen verengten sich. »Sag es mir! Was geschieht? Wer bedroht mich? Wer entthront mich?«

»Du selbst«, erwiderte Caramon, und seine Stimme war voller Traurigkeit. »Du wirst über eine tote Welt herrschen, Raistlin – eine Welt aus grauer Asche und schwelenden Ruinen und aufgedunsenen Leichen. Du wirst allein sein an diesem Himmel, Raistlin. Du wirst versuchen, Neues zu erschaffen, aber es wird nichts übrig sein in dir, was du in Anspruch nehmen könntest, und so saugst du das Leben aus den Sternen selbst, bis sie schließlich explodieren und sterben. Und dann ist nichts mehr um dich, nichts in dir.«

»Nein!« ächzte Raistlin. »Du lügst! Verdammt sollst du sein! Du lügst!« Er schleuderte den Stab des Magus von sich, machte einen Satz nach vorne, und seine Klauenhände packten seinen Bruder. Verblüfft hob Caramon sein Schwert, aber ein Wort von Raistlin genügte, und es fiel auf den Boden, der sich immer noch ständig bewegte. Der große Mann hielt die Arme seines Zwillingsbruders jetzt krampfhaft fest. Er könnte mich entzweibrechen, dachte Raistlin höhnisch. Aber das wird er nicht. Er ist schwach, und er zögert. Er ist verloren. Und ich werde die Wahrheit erfahren!

Raistlin griff nach oben und legte seine glühende, blutverschmierte Hand auf die Stirn seines Bruders. So zog er Caramons Visionen in sein eigenes Bewußtsein.

Und Raistlin sah die Wahrheit.

Er sah all die Knochen der verwüsteten Welt, die Baumstümpfe, den grauen Schlamm und die graue Asche, das geschmolzene Gestein, die verwesenden Leichen...

Er sah sich, wie er in der kalten Leere schwebte, Leere um sich herum, innere Leere. Sie drückte ihn nach unten und zerquetschte ihn. Sie kaute an ihm und verschlang ihn. Er verbog sich in sich selbst, als er verzweifelt nach Nahrung suchte – ein Tropfen Blut, ein wenig Schmerz. Aber es war nichts da. Und niemals würde etwas da sein. Und er würde sich weiter verbiegen und nach innen schlängeln und würde doch nichts finden... nichts... nichts.

Raistlins Kopf sackte nach unten. Seine Hand glitt von der Stirn seines Bruders und ballte sich voller Qualen zusammen. Er wußte jetzt, daß es so geschehen würde, spürte es mit jeder Faser seines zerstörten Körpers. Er wußte es, weil er diese Leere wiedererkannt hatte. Sie war in ihm jetzt schon so lange. Oh, sie hatte ihn noch nicht völlig aufgezehrt – noch nicht. Aber er konnte seine Seele fast sehen, wie sie verängstigt und einsam in einer dunklen und leeren Ecke kauerte.

Mit einem verbitterten Aufschrei schob Raistlin seinen Bruder von sich. Er sah sich um. Die Schatten vertieften sich. Die Dunkle Königin zögerte nicht mehr. Sie sammelte ihre Kräfte.

Raistlin senkte seinen Blick und versuchte zu denken. Er versuchte den Zorn in sich wiederzufinden, versuchte die brennende Flamme seiner Magie zu entzünden. Aber auch sie lag im Sterben. Voller Angst versuchte er zu laufen, aber er war zu geschwächt. Er machte einen Schritt, taumelte und fiel auf Hände und Knie. Die Angst schüttelte ihn. Er suchte nach Hilfe und streckte seine Hand aus...

Er hörte ein Geräusch, ein Stöhnen und einen Schrei. Seine Hand griff in einen weißen Stoff, und er fühlte warmes Fleisch!

»Bupu!« flüsterte Raistlin. Mit einem erstickten Schluchzen kroch er vorwärts.

Die Gossenzwergin lag vor ihm, ihr Gesicht abgehärmt und verhungert, ihre Augen voller Angst aufgerissen. Erbarmungswürdig sah sie aus und verängstigt. Entsetzt schrak sie vor ihm zurück.

»Bupu!« schrie Raistlin und packte sie verzweifelt. »Bupu, erinnerst du dich nicht an mich? Du hast mir einmal ein Buch geschenkt. Ein Buch und einen Edelstein.« Er stöberte in einem seiner Beutel und zog einen strahlenden grünen Stein hervor. »Hier, Bupu. Sieh, ›der hübsche Stein‹. Nimm ihn, und behalt ihn! Er wird dich beschützen!«

Sie griff nach ihm, aber dabei erstarrten ihre Finger im Tod.

»Nein!« kreischte Raistlin und spürte Caramons Hand an seinem Arm.

»Laß sie in Ruhe!« schrie Caramon barsch, packte seinen Bruder und schleuderte ihn von sich. »Hast du ihr nicht schon genug angetan?«

Caramon hielt wieder sein Schwert in der Hand. Dessen strahlendes Licht schmerzte Raistlins Augen. Und in diesem Licht sah Raistlin Crysania – nicht Bupu —, die Haut geschwärzt und mit Brandblasen überzogen. Ihre Augen starrten ihn blind an.

Leer... leer. Nichts in ihm? Doch... Etwas war da. Etwas, nicht viel, aber etwas. Seine Seele streckte ihre Hand aus. Seine eigene Hand streckte sich aus und berührte Crysanias verbrannte Haut. »Sie ist nicht tot, noch nicht«, sagte er.

»Nein, noch nicht«, erwiderte Caramon mit erhobenem Schwert. »Laß sie in Ruhe! Laß sie wenigstens in Frieden sterben!«

»Sie wird leben, wenn du sie durch das Portal bringst.«

»Ja, sie wird leben«, sagte Caramon bitter, »und auch du, nicht wahr, Raistlin? Ich bringe sie durch das Portal, und du kommst direkt hinter uns...«

»Nimm sie.«

»Nein!« Caramon schüttelte den Kopf. Obgleich Tränen in seinen Augen schimmerten und sein Gesicht blaß war vor Trauer und Qual, trat er mit dem erhobenen Schwert zu seinem Bruder.

Raistlin hob seine Hand. Caramon konnte sich plötzlich nicht mehr bewegen, und sein Schwert schwebte in der heißen unruhigen Luft.

»Nimm sie, und nimm auch dies.«

Raistlins zerbrechliche Hand schloß sich um den Stab des Magus, der neben ihm lag. Das Licht seines Kristalls glühte hell und stark in der tiefer werdenden Dunkelheit und warf sein magisches Licht über alle drei. Raistlin hob den Stab und hielt ihn seinem Bruder entgegen.

Caramon zögerte. Seine Brauen furchten sich.

»Nimm ihn!« schnappte Raistlin und spürte seine Kraft schwinden. Er hustete. »Nimm ihn!« flüsterte er, nach Luft keuchend. »Nimm ihn und sie und geh zurück durch das Portal. Mit dem Stab kannst du es hinter dir schließen.«

Caramon starrte ihn verständnislos an. Dann verengten sich seine Augen.

»Nein, ich lüge nicht«, fauchte Raistlin. »Ich habe dich früher angelogen, aber nicht jetzt. Versuch es. Überzeug dich selbst. Sieh. Ich löse dich aus der Verzauberung. Ich kann keinen weiteren Zauber mehr werfen. Wenn du herausfindest, daß ich lüge, kannst du mich töten. Ich werde nicht mehr in der Lage sein, dich aufzuhalten.«

Caramons Schwertarm war frei. Er konnte ihn wieder bewegen. Das Schwert hielt er fest in seiner Hand. Seine Augen richtete er auf seinen Bruder, dann streckte er zögernd die andere Hand aus. Seine Finger berührten den Stab, und er beobachtete ängstlich das Licht des Kristalls. Er erwartete, daß es ersterben und sie in der zunehmenden eisigen Dunkelheit zurücklassen würde.

Aber das Licht schwankte nicht. Caramons Hand schloß sich über der Hand seines Bruders um den Stab. Das Licht leuchtete hell und strahlte auf die zerrissenen, blutigen schwarzen Roben und die stumpfe, schlammüberzogene Rüstung.

Raistlin ließ den Stab los. Langsam, wie im Sturz taumelte er auf die Füße und zog sich selbst hoch. Ohne Hilfe stand er allein da. Der Stab in Caramons Hand leuchtete weiter.

»Beeil dich«, sagte Raistlin kalt. »Ich werde die Königin davon abhalten, dir zu folgen. Aber meine Kraft wird nicht lange standhalten.«

Caramon starrte ihn einen Moment an und sah dann auf den Stab. Sein Licht brannte immer noch hell. Schließlich atmete er erregt ein und steckte sein Schwert ein.

»Was wird... mit dir geschehen?« fragte er barsch und bückte sich, um Crysania auf seine Arme zu nehmen.

»Du wirst an Geist und Körper gefoltert werden. Und am Ende jeden Tages wirst du an den Schmerzen sterben. Und zu Beginn jeder Nacht werde ich dich zum Leben erwecken. Du wirst nicht schlafen können, sondern in bebender Erwartung wach daliegen, was der nächste Tag bringen wird. Und morgens wird dein erster Blick auf mein Gesicht fallen.«

Die Worte wanden sich in Raistlins Gehirn wie Schlangen. Hinter sich konnte er ein schwülstiges, höhnisches Lachen hören.

»Fort mit dir, Caramon«, sagte Raistlin. »Sie kommt.«

Crysanias Kopf ruhte an Caramons breiter Brust. Das dunkle Haar fiel über ihr blasses Gesicht, und ihre Hand hielt immer noch das Medaillon von Paladin umklammert. Als Raistlin sie betrachtete, sah er die Verheerungen des Feuers schwinden. Ihr Gesicht blieb ohne Narben zurück, gemildert von einem Blick süßer, friedlicher Ruhe. Raistlins Blick richtete sich auf das Gesicht seines Bruders, und er sah den gleichen dümmlichen Ausdruck, den er bei Caramon schon so oft gesehen hatte – diesen Blick der Verwirrung, der sprachlosen Verletztheit.

»Du wimmernder Narr! Was schert es dich, was aus mir wird?« fauchte Raistlin. »Verschwinde!«

Caramons Miene veränderte sich, oder vielleicht veränderte sie sich auch nicht. Vielleicht war sie die ganze Zeit so gewesen. Raistlins Kraft schwand sehr schnell, und sein Blick trübte sich. Aber er glaubte auf einmal, in Caramons Augen Verstehen erkennen zu können...

»Auf Wiedersehen... mein Bruder«, sagte Caramon.

Mit Crysania in seinen Armen und dem Stab des Magus in einer Hand drehte sich Caramon um und ging fort. Das Licht des Stabes bildete einen silbernen Kreis um ihn, der in der Dunkelheit wie die Strahlen von Solinari leuchteten, wenn sie auf dem ruhigen Wasser des Krystalmirsees glitzerten. Die silbernen Strahlen umhüllten die Köpfe des Drachen und ließen sie einfrieren; sie verwandelten sie in Silber und brachten ihre Schreie zum Schweigen.

Caramon trat durch das Portal. Raistlin, der ihn mit seiner ganzen Seele beobachtet hatte, erhaschte einen verschwommenen Blick von Farbe und Leben und spürte Wärme seine eingefallene Brust berühren.

Hinter sich konnte er das höhnische Lachen in ein harsches, zischendes Atmen übergehen hören. Er konnte die gleitenden Geräusche eines riesigen geschuppten Schwanzes hören und das Knirschen von Flügelsehnen. Hinter ihm flüsterten fünf Köpfe Worte der Qual und der Angst.

Raistlin stand unerschütterlich da und starrte auf das Portal. Er sah Tanis herbeilaufen, um Caramon zu helfen, er sah, wie er Crysania in die Arme nahm. Tränen ließen Raistlins Blick verschwimmen. Er wollte so gerne folgen! Er wollte so sehr, daß Tanis seine Hand berührte! Er wollte Crysania in seinen Armen halten... Er trat einen Schritt nach vorn.

Er sah, daß Caramon sich umdrehte und ihn ansah. Den Stab hielt er in seiner Hand.

Caramon starrte in das Portal und auf seinen Bruder und hinter seinen Bruder. Raistlin sah auch, daß sich die Augen seines Bruders vor Angst weiteten.

Er brauchte sich nicht mehr umzudrehen, um zu wissen, was sein Bruder hinter ihm sah. Takhisis kauerte hinter ihm. Er konnte die Eiseskälte fühlen, die von ihrem widerlichen Reptilkörper ausströmte und die seine Roben aufflattern ließ. Er spürte sie hinter sich. Dennoch waren ihre Gedanken nicht auf ihn gerichtet. Sie sah den Weg zur Welt offen vor sich...

»Schließ es!« schrie Raistlin.

Eine Explosion versengte Raistlins Fleisch mit Flammen. Eine Krallenklaue krallte sich in seinen Rücken. Er taumelte und fiel auf die Knie. Aber er wandte niemals seinen Blick vom Portal, und er sah Caramon. Das Gesicht seines Bruders war vor Qual verzerrt, und er machte einen Schritt nach vorne, einen Schritt auf ihn zu.

»Schließ es, du Narr!« schrie Raistlin und ballte seine Fäuste. »Laß mich in Ruhe! Ich brauche dich nicht mehr!«

Und dann war das Licht verschwunden. Das Portal wurde zugeschlagen, und die Schwärze schlug mit tobender, erdrückender Wut auf ihn ein. Krallen schlitzten sein Fleisch auf, Zähne gruben sich durch seine Muskeln und zermalmten seine Knochen. Blut strömte aus seiner Brust, aber es würde sein Leben nicht davontragen.

Er schrie, und er würde schreien, und er würde immer weiter schreien, unaufhörlich...

Etwas berührte ihn... eine Hand... Er umklammerte sie, als sie ihn sanft schüttelte. Eine Stimme rief: »Raist! Wach auf! Es war nur ein Traum. Hab keine Angst. Ich werde nicht zulassen, daß sie dir wehtun! Hier, paß auf... Ich bring’ dich zum Lachen.«

Die Schlängelbewegungen des Drachen nahmen zu und drückten den Atem aus ihm heraus. Glitzernde schwarze Fänge machten sich über seine Organe her und verschlangen sein Herz. Sie gruben sich in seinen Körper und suchten seine Seele.

Ein starker Arm umschloß ihn und hielt ihn eng umschlungen. Eine Hand hob sich. Sie glänzte im silbernen Licht und formte kindliche Bilder in der Nacht, und eine Stimme flüsterte kaum hörbar: »Sieh mal, Raist, Häschen...«

Er lächelte, er war nicht mehr ängstlich. Caramon war da.

Der Schmerz ließ nach. Der Traum wurde zurückgetrieben. Von weit entfernt hörte er ein Jammern voll bitterer Enttäuschung und Wut. Es spielte keine Rolle. Nichts spielte jetzt noch eine Rolle. Er fühlte sich jetzt nur noch müde, so schrecklich müde...

Raistlin stützte seinen Kopf auf den Arm seines Bruders, schloß seine Augen und trieb in einen dunklen, traumlosen, nicht enden wollenden Schlaf.

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