6

»Verflucht, Kitiara!« würgte Dalamar in seinem Schmerz. Er taumelte zurück und drückte eine Hand gegen seine Seite. Warm fühlte er sein Blut zwischen den Fingern fließen.

Auf Kitiaras Gesicht lag kein Lächeln voll Hochstimmung. Er bemerkte eher einen Ausdruck von Angst, als sie sah, daß der Stoß, der ihn hätte töten sollen, fehlgegangen war. Warum? fragte sie sich zornig. Sie hatte schon Hunderte von Männern auf diese Art umgebracht! Warum hatte sie jetzt versagt? Sie ließ ihr Messer fallen und zog ihr Schwert, während sie gleichzeitig einen Satz nach vorne machte.

Das Schwert schwirrte kraftvoll durch die Luft, aber es schlug gegen die feste Wand. Funken sprühten auf, als das Metall auf den magischen Schild traf, den Dalamar um sich herum herbeibeschworen hatte, und ein lähmender Schlag fuhr von der Klinge durch den Griff und dann ihren Arm entlang. Kraftlos mußte sie das Schwert fallen lassen. Kitiara umklammerte ihren Arm und taumelte auf ihre Knie. Tiefer Schrecken packte sie.

Dalamar hatte Zeit, sich von dem Schock durch den Messerstich zu erholen. Die Verteidigungszauber, die er instinktiv geworfen hatte, waren das Resultat jahrelanger Übung. Er hatte nicht einmal bewußt daran denken müssen. Jetzt aber starrte er verbittert vor sich auf die Frau am Boden, die mit ihrer linken Hand nach ihrem Schwert griff, während sie die Rechte anspannte und beugte, um wieder ein Gefühl zu bekommen.

Der Kampf hatte gerade erst begonnen.

Wie eine Katze drehte sich Kitiara wieder auf die Füße. Ihre Augen glühten voll Kampfeszorn und in der Erregung, die der Kampf in ihr weckte. Dalamar hatte diesen Blick voller Begierde schon in den Augen eines anderen gesehen – in Raistlins Augen, wenn er in der Ekstase seiner Magie verloren war. Der Dunkelelf schluckte ein Würgen in seiner Kehle hinunter und versuchte, Schmerz und Angst aus seinem Bewußtsein zu vertreiben, versuchte, sich ausschließlich auf seine Zaubersprüche zu konzentrieren.

»Zwing mich nicht, dich zu töten, Kitiara«, murmelte er, um Zeit zu gewinnen. Mit jedem Moment gewann er an Stärke. Er mußte mit seinen Kräften haushalten! Es würde ihm wenig nützen, Kitiara aufzuhalten, nur um dann durch die Hände ihres Bruders zu sterben.

Sein erster Gedanke war, die Wächter zu rufen. Aber er verwarf ihn wieder. Sie war an ihnen einmal vorbeigekommen, wahrscheinlich vor allem durch die Zauberkräfte des Nachtjuwels. Langsam wich Dalamar vor der Drachenfürstin zurück und schob sich näher zu dem Steintisch, wo seine magischen Hilfsmittel lagen. Aus den Augenwinkeln sah er etwas Goldenes aufblitzen – den magischen Zauberstab. Wenn seine Berechnung stimmte, mußte er bald den magischen Schild auflösen, um den Stab gegen Kitiara benutzen zu können. Aber er las in Kitiaras Augen, daß auch sie sich dessen bewußt war. Sie wartete darauf, daß er den Schild fallen lassen würde. Sie wartete ihre Zeit ab.

»Du bist getäuscht worden, Kitiara«, sagte Dalamar leise. Er hoffte, sie damit abzulenken.

»Von dir doch wohl!« höhnte sie. Sie nahm einen silbernen Kerzenhalter mit mehreren Armen und schleuderte ihn gegen Dalamar. Er prallte wirkungslos gegen den magischen Schild und fiel vor seine Füße. Ein Rauchkringel stieg vom Teppich hoch, aber das kleine Feuer erstarb im schmelzenden Kerzenwachs fast unverzüglich.

»Von Lord Soth«, sagte Dalamar.

»Ha!« Kitiara lachte und schleuderte einen Glasbecher gegen den magischen Schild. Er zerbrach in tausend glitzernde Splitter. Ein weiterer Kerzenhalter folgte. Kitiara hatte zuvor schon gegen Zauberkundige gekämpft. Sie wußte, wie sie zu besiegen waren. Ihre Wurfgeschosse sollten nicht verletzen, sondern nur den Magier schwächen und ihn zwingen, Kraft zu vergeuden, den Schild aufrechtzuhalten und ihn mehrfach zu senken.

»Was glaubst du denn, warum du Palanthas befestigt vorgefunden hast?« fuhr Dalamar fort. Vorsichtig zog er sich weiter zurück und näherte sich dem Steintisch. »Hattest du das erwartet? Soth hat mir von deinen Plänen berichtet! Er verriet mir, daß du Palanthas angreifen und versuchen würdest, deinem Bruder zu helfen! ›Wenn Raistlin durch das Portal kommt und die Dunkle Königin hinter sich her lockt, wird Kitiara dort sein, um ihn wie eine liebende Schwester zu begrüßen!‹ Das waren seine Worte.«

Kitiara hielt inne und senkte ihr Schwert fast unmerklich. »Und das soll dir Soth erzählt haben?«

»Ja«, antwortete Dalamar und spürte mit Erleichterung ihr Zögern und ihre Verwirrung. Der Schmerz von seiner Verletzung hatte sich etwas gelindert. Er wagte einen Blick auf seine Wunde. Seine Robe klebte daran und bildete einen provisorischen Verband. Die Blutung hatte fast aufgehört.

»Warum?« Kitiara zog höhnisch ihre Augenbrauen hoch. »Warum sollte mich Soth an dich verraten wollen, Dunkelelf?«

»Weil er dich will, Kitiara«, sagte Dalamar leise. »Er will dich. Und es gibt nur einen Weg, wie es für ihn möglich ist...«

Kaltes Entsetzen bohrte sich in Kitiaras Seele. Sie erinnerte sich an jenen merkwürdigen Ton in Soths hohler Stimme. Sie erinnerte sich, daß er ihr geraten hatte, Palanthas anzugreifen. Kitiaras Zorn verrauchte, und sie erschauerte. Eisigkalte Krämpfe schüttelten sie. Die Wunden sind infiziert, erkannte sie bitter, als sie auf die langen Kratzer an ihren Armen und Beinen sah und wieder die eisigen Klauen derjenigen zu fühlen meinte, die sie herbeigeführt hatten. Gift. Lord Soth. Sie konnte nicht denken. Als sie benommen aufschaute, sah sie Dalamar lächeln.

Wütend wandte sie sich von ihm ab, um ihre Gefühlsregungen zu verbergen und ihre Beherrschung zurückzugewinnen.

Dalamar bewegte sich immer weiter auf den Steintisch zu und behielt sie dabei im Auge. Sein Blick glitt zu dem Zauberstab, den er benötigte.

Kitiara ließ ihre Schultern zusammensacken und den Kopf hängen. Sie hielt ihr Schwert jetzt scheinbar kraftlos in ihrer rechten Hand und balancierte die Klinge mit ihrer linken. So täuschte sie vor, noch immer schwer verwundet zu sein. Doch die ganze Zeit über spürte sie, wie die Kraft in ihren tauben Schwertarm zurückkehrte. Laß ihn glauben, daß er gewonnen hat. Ich werde es hören, wenn er angreift. Bei dem ersten magischen Wort, das er ausstößt, schlitze ich ihn auf! Ihre Hand schloß sich um den Schwertknauf.

Sie lauschte aufmerksam, hörte jedoch nichts außer dem leisen Rascheln der schwarzen Roben und dem schmerzhaften Atemholen des Dunkelelfen. Stimmt das, fragte sie sich, das von Lord Soth? Und wenn, spielt das überhaupt eine Rolle?

Kitiara fand den Gedanken eher komisch. Männer hatten schon mehr angestellt, um sie für sich zu gewinnen. Sie war immer noch frei. Sie würde später mit Soth fertigwerden. Was Dalamar über Raistlin sagte, interessierte sie viel mehr. Sollte er etwa gewinnen?

Würde er die Dunkle Königin wirklich auf diese Ebene locken? Der Gedanke entsetzte Kitiara und verängstigte sie. »Ich war dir einst nützlich, nicht wahr, Dunkle Majestät?« wisperte sie. »Einst, als du schwach und nur ein Schatten auf dieser Seite des Glases warst. Aber wenn du stark bist, welcher Platz wird hier auf dieser Welt für mich bleiben? Keiner! Weil du mich haßt und fürchtest, so wie ich dich hasse und fürchte.

Und was diesen wehleidigen Wurm von Bruder angeht, da wird einer auf ihn warten – Dalamar! Du gehörst zu deinem Meister mit Fleisch und Blut! Du bist derjenige, der ihm schließlich helfen wird, statt ihn aufzuhalten, wenn er durch das Portal kommt! Nein, teurer Geliebter, ich traue dir nicht! Ich wage nicht, dir zu trauen!«

Dalamar sah, daß Kitiara zitterte, er sah, wie sich die Wunden an ihrem Körper purpurn und blau färbten. Sie wurde schwächer, gewiß. Er hatte ihr Gesicht beobachtet, als er Soth erwähnte. Ihre Augen hatten sich einen Moment lang vor Angst geweitet. Sicherlich mußte sie inzwischen erkennen, daß sie verraten wurde. Sicherlich mußte sie jetzt ihre große Torheit einsehen. Nicht, daß es eine Rolle gespielt hätte, jedenfalls nicht jetzt. Er traute ihr nicht. Er wagte einfach nicht, ihr zu trauen...

Dalamars Hand tastete nach hinten. Er griff nach dem Zauberstab, schwang ihn und sprach das Wort der Magie, das den beschützenden Schild auflösen würde. Im selben Augenblick wirbelte Kitiara herum. Ihr Schwert hielt sie mit beiden Händen umklammert und schwang es mit ihrer ganzen Kraft. Der Hieb hätte Dalamars Kopf von seinem Hals trennen müssen, hätte er seinen Körper nicht umgewandt, um den Stab zu erreichen.

Doch die Klinge traf ihn hinten quer über seine rechte Schulter. Sie stieß tief in sein Fleisch, zerschmetterte das Schulterblatt und schnitt fast seinen Arm ab. Er ließ den Stab mit einem Schrei fallen, aber erst, nachdem er seine magische Kraft freigelassen hatte. Blitze teilten sich gabelförmig und schlugen zischend in Kitiaras Brust. Ihr Körper krümmte sich, als sie auf den Boden geschleudert wurde.

Dalamar sackte über dem Tisch zusammen und wand sich vor Schmerzen. Blut spritzte in regelmäßigen Abständen aus seinem Arm. Er beobachtete es einen Augenblick verständnislos, doch dann erinnerte er sich wieder an Raistlins Anatomielektionen. Das Blut kam vom Herzen. Er würde innerhalb von Minuten tot sein. Der Ring mit der Heilkraft steckte an seiner rechten Hand, an seinem verletzten Arm. Schwach langte er mit seiner linken Hand hinüber, berührte den Stein und sprach das einfache Wort, das dessen Magie aktivierte. Dann verlor er das Bewußtsein. Sein Körper glitt auf den Boden. Dort blieb er in einer Lache seines eigenen Blutes liegen.

»Dalamar!« Eine Stimme rief seinen Namen.

Der Dunkelelf bewegte sich verschlafen. Schmerzen schossen durch seinen Körper. Er stöhnte und verlangte danach, wieder in die Dunkelheit zu versinken. Aber die Stimme rief ihn wieder. Erinnerungen kehrten zurück, und mit den Erinnerungen kam die Angst.

Diese Angst ließ ihn das Bewußtsein wiedererlangen. Er versuchte sich aufzurichten, aber der Schmerz schoß durch ihn, und er wurde beinahe wieder ohnmächtig. Er konnte die zertrümmerten Knochen knirschen hören, und sein rechter Arm und seine rechte Hand hingen schlaff und leblos an seiner Seite. Der Ring hatte die Blutung aufgehalten. Er würde leben. Aber würde er nicht lediglich leben, um dann doch durch die Hände seines Meisters zu sterben?

»Dalamar!« rief die Stimme wieder. »Hier ist Caramon!«

Dalamar schluchzte vor Erleichterung auf. Er hob seinen Kopf – eine Bewegung, die von ihm äußerste Anstrengung verlangte – und schaute zum Portal. Die Augen der Drachen leuchteten jetzt noch heller, und das Licht schien sich sogar auf ihre Hälse auszudehnen. Die Leere bewegte sich jetzt tatsächlich. Er konnte an seiner Wange einen heißen Wind spüren, aber vielleicht war das auch nur das Fieber in seinem Körper.

Er hörte ein Rascheln in einer dunklen Ecke an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, und wieder wurde Dalamar von Furcht gepackt. Nein! Sie konnte unmöglich noch am Leben sein! Er biß die Zähne zusammen und wandte seinen Kopf dorthin. Er konnte ihren Körper sehen. Sie lag reglos im Schatten an der Wand. Er konnte den Gestank verbrannten Fleisches riechen. Aber das Geräusch...

Erschöpft schloß Dalamar seine Augen. Dunkelheit breitete sich in ihm aus und drohte ihn nach unten zu ziehen. Er durfte sich jetzt nicht ausruhen. Er bekämpfte den Schmerz und zwang sich, bei Bewußtsein zu bleiben. Er fragte sich, warum Caramon nicht kam. Jetzt konnte er ihn wieder rufen hören. Was war los? Und dann erinnerte sich Dalamar – die Wächter! Natürlich würden sie Caramon nicht passieren lassen!

»Wächter, hört meine Worte und gehorcht«, begann Dalamar, konzentrierte sich auf seine Gedanken und Energien und murmelte die Worte, die Caramon helfen würden, die entsetzlichen Verteidiger des Turms zu passieren und die Kammer zu betreten.

Hinter Dalamar leuchteten die Drachenköpfe immer heller, während vor ihm in der dunklen Ecke eine Hand in einen blutdurchtränkten Gürtel griff und mit letzter, ersterbender Kraft den Knauf eines Dolches umfaßte.

»Caramon«, sagte Tanis leise und beobachtete die Augen, die sie ansahen, »wir sollten verschwinden. Die Stufen wieder hochgehen. Vielleicht gibt es einen anderen Weg...«

»Gibt es nicht. Wir verschwinden nicht«, erwiderte Caramon dickköpfig.

»Im Namen der Götter, Caramon! Wir können gegen diese verdammten Dinger nicht kämpfen!«

»Dalamar!« rief Caramon noch einmal. »Dalamar, ich...«

So plötzlich, als ob sie ausgelöscht worden wären, verschwanden die glühenden Augen.

»Sie sind weg!« sagte Caramon und trat hastig nach vorne. Aber Tanis hielt ihn fest.

»Ein Trick...«

»Nein.« Caramon zog ihn mit sich. »Du kannst sie noch spüren, selbst wenn sie nicht mehr sichtbar sind. Und ich kann sie überhaupt nicht mehr spüren. Du?«

»Ich spüre etwas!« murmelte Tanis.

»Aber es sind nicht sie, und es betrifft nicht uns!« belehrte ihn Caramon und lief die Wendeltreppe oben am Turm herunter. Eine Tür am Treppenabsatz stand offen. Hier hielt Caramon inne und spähte vorsichtig in den Hauptteil des Gebäudes.

Es war innen dunkel, so dunkel, als ob es nie Licht gegeben hätte. Die Fackeln waren gelöscht worden. Keine Fenster ließen das rauchgeschwärzte Licht außerhalb des Turms hinein. Tanis hatte plötzlich die Vision, er würde in diese Dunkelheit treten und in ein dichtes, verschlingendes Böses fallen, das jeden Stein und Fels durchdrang, und für alle Ewigkeit verschwinden. Neben sich hörte er Caramons Atem schneller werden und er spürte, wie sich der Körper des großen Mannes anspannte.

»Caramon – was ist dort?«

»Nichts ist dort. Nur ein Gefälle bis zum Boden. Die Mitte des Turms ist hohl. Es gibt Stufen, die an der Mauer entlang verlaufen. Die einzelnen Räume zweigen von den Stufen ab. Ich stehe jetzt an einem schmalen Geländer, wenn ich mich richtig erinnere. Das Laboratorium liegt ungefähr zwei Treppen tiefer.« Caramons Stimme schlug um. »Wir müssen weitergehen! Wir verlieren Zeit! Er kommt immer näher!« Während er Tanis gepackt hielt, sprach er ruhiger weiter. »Komm. Halte dich einfach dicht an der Mauer. Diese Treppe führt hinunter zum Laboratorium...«

»Ein falscher Schritt in dieser verdammten Dunkelheit, und es braucht uns nicht weiter zu kümmern, was dein Bruder macht!« sagte Tanis. Aber er wußte, daß seine Bedenken sinnlos waren. Obwohl er in dieser erdrückenden endlosen Nacht blind war, konnte er fast sehen, wie sich Caramons Miene vor Entschlossenheit spannte. Er hörte, wie der große Mann einen schlurfenden Schritt nach vorne machte und versuchte, seinen Weg entlang der Mauer zu ertasten. Mit einem Seufzer machte sich Tanis daran, ihm zu folgen...

Und dann waren die Augen wieder da und starrten sie an.

Tanis griff nach seinem Schwert – eine dümmliche, sinnlose Geste. Aber die Augen starrten sie nur weiter an, und eine Stimme befahl: »Kommt. Hier entlang.«

Eine Hand winkte in der Dunkelheit.

»Wir können nicht sehen, verdammt!« knurrte Caramon.

Ein geisterhaftes Licht erschien, das von einer ausgezehrten Hand gehalten wurde. Tanis erschauerte. Eigentlich zog er die Dunkelheit vor. Aber er sagte nichts, denn Caramon eilte vorwärts und lief die lange Wendeltreppe hinunter. Unten am Treppenabsatz blieben die Augen und die Hand und das Licht stehen. Vor ihnen stand eine Tür offen, hinter der ein Zimmer lag. In dem Zimmer schien hell ein Licht und strahlte in den Korridor. Caramon stürzte weiter, und Tanis folgte ihm und schlug hastig die Tür hinter sich zu, damit die entsetzlichen Augen nicht nachkommen konnten.

Er drehte sich um, blieb stehen und sah sich in dem Raum um. Plötzlich erkannte er, wo er war – in Raistlins Laboratorium. Betäubt stand Tanis da, lehnte sich gegen die Tür und beobachtete Caramon, wie er nach vorne eilte und sich neben eine Gestalt kniete, die in einer Blutlache auf dem Boden lag.

Das ist Dalamar, registrierte Tanis, als er die schwarzen Roben sah. Aber er konnte nicht reagieren und sich auch nicht bewegen.

Das Böse in der Dunkelheit außerhalb der Tür war erdrückend, verstaubt und jahrhundertealt. Aber das Böse in diesem Raum war lebendig; es atmete und pochte und pulsierte. Eine eisige Kälte floß aus den nachtblau eingebundenen Zauberbüchern in den Regalen, und Wärme strömte von einer neuen Sammlung schwarz eingebundener Zauberbücher, die mit Stundenglasrunen versehen waren. Sein entsetzter Blick glitt zu den Gefäßen im Raum, und er sah gequälte Augen, die ihn anstarrten. Er würgte an den Gerüchen von Gewürzen und Schimmel und Pilzen und Rosen, und irgendwo hing im Raum auch der süße Gestank von verbranntem Fleisch.

Und dann wurde sein Blick auf ein glühendes Licht gelenkt, das in einer Ecke strahlte. Das Licht hielt seinen Blick fest. Es war wunderschön. Dennoch erfüllte es ihn mit Scheu und Angst und erinnerte ihn lebhaft an seine Begegnung mit der Dunklen Königin. Wie hypnotisiert starrte er auf jenes Licht. Es schien aus allen Farben zu bestehen, die er je gesehen hatte und die hier wieder zu einer einzigen zusammengewirbelt wurden. Aber während er beobachtete – entsetzt, fasziniert und unfähig, seinen Blick abzuwenden —, sah er, wie sich das Licht trennte und Gestalt annahm und sich zu fünf Köpfen eines Drachen formte.

Eine Tür! erkannte Tanis plötzlich. Die fünf Köpfe erhoben sich von einem goldenen Podium und bildeten mit ihren Hälsen eine ovale Form. Jeder Kopf war nach innen gerichtet und das Maul in einem erstarrten Schrei geöffnet. Tanis sah innerhalb des Ovals in eine Leere. Nichts war dort, aber dieses Nichts bewegte sich. Alles war leer und lebendig. Er wußte plötzlich, wohin die Tür führte, und dies Wissen ließ ihn erschauern.

»Das Portal!« sagte Caramon, als er Tanis’ blasses Gesicht und seinen starren Blick sah. »Komm her, hilf mir.«

»Da willst du hineingehen?« flüsterte Tanis entsetzt. Die Gelassenheit des großen Mannes verblüffte ihn. Er durchquerte das Zimmer und stellte sich neben seinen Freund. »Caramon, sei kein Narr!«

»Mir bleibt keine andere Wahl, Tanis«, sagte Caramon mit diesem neuen Ausdruck gelassener Entschlossenheit auf seinem Gesicht. Tanis wollte Einwände erheben, aber Caramon drehte sich um und wandte sich wieder dem verletzten Dunkelelfen zu.

»Ich habe gesehen, was passieren wird!« erinnerte er Tanis.

Tanis schluckte die Worte hinunter, an denen er würgte, und kniete sich neben Dalamar. Dem Dunkelelfen gelang es, sich ins Sitzen hochzuziehen, so daß er das Portal beobachten konnte. Er war wieder in Ohnmacht gesunken, aber bei dem Klang ihrer Stimmen hatte er seine Augen aufgeschlagen.

»Caramon!« Er keuchte und streckte dem großen Mann eine zitternde Hand entgegen. »Du mußt ihn aufhalten...«

»Ich weiß, Dalamar«, sagte Caramon leise. »Ich weiß, was ich tun muß. Aber ich brauche deine Hilfe! Sag mir...«

Dalamars Augen schlossen sich. Seine Haut war aschgrau. Tanis legte seine Hand auf Dalamars Brust, um am Hals des jungen Elfen nach dem Puls zu fühlen. Seine Hand hatte den Magier kaum berührt, als er etwas klirren hörte. Etwas riß an seinem Arm, schlug gegen seine Rüstung, prallte ab und fiel klappernd auf den Boden. Als Tanis nach unten schaute, sah er einen blutverschmierten Dolch.

Verblüfft wirbelte er mit dem Schwert in der Hand herum.

»Kitiara!« flüsterte Dalamar mit einer schwachen Kopfbewegung.

Tanis starrte in die Dunkelheit des Laboratoriums und sah in einer Ecke eine Gestalt.

»Natürlich«, murmelte Caramon. »So hat sie ihn umgebracht.« Er wog den Dolch in seiner Hand. »Dieses Mal hast du ihren Wurf aufgehalten, Tanis.«

Aber Tanis hörte ihn nicht. Er steckte sein Schwert wieder in die Scheide zurück, ging durch den Raum, trat unachtsam auf Glasscherben und stieß einen silbernen Kerzenleuchter beiseite, der vor seine Füße gerollt war.

Kitiara lag auf dem Bauch. Ihre Wange war gegen den blutigen Boden gedrückt, und ihr dunkles Haar fiel über ihre Augen. Der Dolchwurf hatte offenbar ihre letzte Energie verbraucht. Als Tanis sie erreichte, war er überzeugt, daß sie tot sein müßte. Seine Gedanken und Gefühle waren in Aufruhr.

Aber der unbeugsame Wille, der einen Bruder in die Dunkelheit und den anderen ins Licht geführt hatte, brannte immer noch in Kitiara.

Sie hörte Schritte... ihr Feind...

Ihre Hand griff schwach nach dem Schwert. Sie hob ihren Kopf und sah mit trüben Augen auf.

»Tanis?« Sie starrte den Halb-Elfen verblüfft und verwirrt an. Wo war sie? In Treibgut? Waren sie dort wieder zusammen? Natürlich! Er war zu ihr zurückgekehrt! Lächelnd streckte sie ihm ihre Hand entgegen.

Tanis hielt den Atem an, und sein Magen drehte sich um. Als sie sich bewegte, sah er, daß in ihrer Brust ein geschwärztes Loch klaffte. Ihr Fleisch war weggebrannt, und dahinter waren die weißen Knochen sichtbar. Es war ein greulicher Anblick, und Tanis wurde von Übelkeit ergriffen und von einer Welle der Erinnerungen überwältigt, so daß er seinen Kopf abwenden mußte.

»Tanis!« rief sie mit matter Stimme. »Komm zu mir.«

Sein Herz war voller Mitleid. Daher kniete sich Tanis zu ihr und hob sie in seine Arme. Sie sah zu ihm auf... und sah in seinen Augen ihren Tod. Sie zitterte vor Angst. Mühselig rang sie darum, sich aufzurichten.

Aber die Anstrengung war zu groß. Sie brach zusammen.

»Ich bin... verletzt«, flüsterte sie zornig. »Wie... schlimm?« Sie hob ihre Hand und wollte die Wunde berühren.

Tanis riß seinen Umhang von seinen Schultern und hüllte Kitiaras aufgerissenen Körper damit ein. »Ruh dich aus, Kit«, sagte er sanft. »Du wirst bald wieder in Ordnung sein.«

»Du bist ein verdammter Lügner!« schrie sie. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und wiederholten – wenn sie das nur gewußt hätte! – die Worte des sterbenden Elistan. »Er hat mich getötet! Dieser elende Elf!« Sie lächelte. Es war ein gräßliches Lächeln. Tanis erschauerte. »Aber ich habe es ihm heimgezahlt! Er kann Raistlin jetzt nicht mehr helfen. Die Dunkle Königin wird ihn umbringen. Sie wird alle umbringen!«

Stöhnend krümmte sie sich im Todeskampf und klammerte sich an Tanis. Er hielt sie fest. Als der Schmerz nachließ, sah sie zu ihm auf. »Du Schwächling«, flüsterte sie in einem Ton, der teils bitterer Hohn, teils bitteres Bedauern war, »wir hätten die Welt haben können, du und ich.«

»Ich habe die Welt, Kitiara«, entgegnete Tanis leise, und sein Herz brach vor Abscheu und Kummer.

Wütend schüttelte sie den Kopf und schien noch etwas sagen zu wollen. Plötzlich weiteten sich ihre Augen, und ihr Blick blieb gebannt auf etwas am anderen Ende des Raumes hängen.

»Nein!« schrie sie in einer Angst, die keine Folter oder kein Leiden jemals aus ihr herausgezogen hatte. »Nein!« Sie schreckte zurück, barg sich an Tanis’ Schulter und flüsterte mit einer verzweifelten, abgewürgten Stimme: »Laß nicht zu, daß er mich nimmt! Tanis, nein! Halte ihn fern! Ich habe dich immer geliebt, Halb-Elf! Immer... dich... geliebt...«

Ihre Stimme erstarb zu einem keuchenden Flüstern.

Tanis sah beunruhigt auf. Aber die Türschwelle war leer. Dort war niemand. Hatte sie Dalamar gemeint? »Wer? Kitiara! Ich verstehe dich nicht...«

Aber sie hörte ihn nicht mehr. Ihre Ohren waren für immer für sterbliche Stimmen taub. Die einzige Stimme, die sie nun hören mußte, war eine, die sie für immer hören würde, durch alle Ewigkeiten.

Tanis spürte ihren Körper in seinen Armen schlaff werden. Er strich ihr dunkles, lockiges Haar zurück und suchte in ihrem Gesicht ein Zeichen, daß der Tod ihrer Seele Frieden gebracht hatte. Aber in ihrem Gesicht stand noch immer das Entsetzen – ihre braunen Augen waren zu einem verängstigten Blick erstarrt und das verschmitzte, bezaubernde Lächeln zu einer Grimasse verzerrt.

Tanis sah zu Caramon hoch. Dessen Gesicht war blaß und ernst, und er schüttelte den Kopf. Langsam legte Tanis Kitiaras Körper zurück auf den Boden. Er beugte sich vor und wollte die kalte Stirn küssen, doch er konnte es nicht. Der gebrochene Blick der Toten war voller Entsetzen und flößte ihm Grauen ein.

Tanis zog seinen Umhang über Kitiaras Kopf und blieb einen Moment bei ihr knien. Dunkelheit umgab ihn. Und dann hörte er Caramons Schritte, und er fühlte eine Hand auf seinem Arm. »Tanis...«

»Es ist in Ordnung«, sagte der Halb-Elf mürrisch und erhob sich. Aber in seinem Gedächtnis hallte immer noch ihre letzte Bitte nach – »Halte ihn fern!«

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