Lamotien

Die Schwärze des Zone-Tores geriet in Unruhe, als eine schimmernde Gestalt darin Umrisse annahm und heraustrat. Sie sah aus wie ein kleiner weißer Affe, kaum einen Meter groß, war das aber nicht.

Es waren siebenundzwanzig Lamotien in einer kleinen Kolonie.

Die Wesen waren einzeln keine zwanzig Zentimeter lang, formlose, klebrige Massen, die ihre Körper so in der Gewalt hatten, daß sie sich fast jeder Umwelt anpassen, augenblicklich sich Haare in gewünschter Länge und Farbe wachsen lassen, alle notwendigen Züge und Formen annehmen konnten. Sie vermochten sich auch, wie hier, zu einem einzelnen, größeren Organismus zusammenzufügen, der als Einzelwesen handelte und über ein Kollektivgehirn verfügte. Auf diese Weise gelang es ihnen, fast jeden sichtbaren Organismus nachzuahmen.

Das Lamotien-Wesen nickte im Bereich des Zone-Tores niemandem zu, sondern huschte eilig davon. Das Tor, in einem Hügelhang eingelassen, war flankiert von einer großen Anzahl von Gebäuden, von denen jedes ein Teil des Regierungsgefüges in diesem Hex darstellte. Für Lamotien konstruiert, sahen sie aus wie eine willkürliche Anhäufung von Bauklötzen, keiner mehr als einen Kubikmeter groß, viele mit winzigen Fenstern, durch die das gelbe Licht von elektrischen Lampen drang.

Gunit Sangh und seine Stabskompanie paßten in keines der Gebäude, so daß man auf dem Regierungsplatz vor dem Hex eine Reihe von Zelten errichtet hatte. Primitiv war das Hex jedoch nicht; es gab elektrische Beleuchtung, Heizung, alle Bequemlichkeit eines Hochtech-Hex.

Die affenähnliche Kolonie huschte in Sanghs Kommandozelt, wo der große Dahbi sich ausruhte — Meditieren nannte er das —, indem er wie eine Fledermaus von der Querstange hing. Die Lamotien ließen sich nicht aus der Ruhe bringen. Das Wesen blickte hinauf und sagte:»Befehlshaber Sangh! Schlechte Nachrichten!« Es wartete, als das weiße Geschöpf weder antwortete noch sich rührte. »Befehlshaber! Ein Mann, der wie Nathan Brazil aussieht, wurde vor nicht einmal zwei Stunden von einer gemischten Streife in Quilst gefaßt — und es war eine Art Geist oder Dämonenwesen, gar nicht Brazil.«

Der Dahbi schien das zunächst nicht zu beachten, dann hatte es den Anschein, als gehe eine wellenartige Bewegung durch das Wesen. Auf unheimliche Weise krümmte es sich und hob den Kopf, um mit seinem grauenhaften Gesicht auf das vergleichsweise winzige Koloniegeschöpf hinabzublicken.

»Was gibt es?« fragte Sangh scharf. »Was soll das mit einem Geist oder Dämon?«

»Es ist wahr, Sir«, gab der Lamotien erregt zurück. »Auf die Vermutung Ihres Vertreters in Zone hin wurden an den westlichen Zugängen Wachen aufgestellt, und man faßte jemanden, der wie Brazil aussah. Die Leute, die das Wesen begleiteten, waren selbst davon überzeugt, daß es Brazil sei. Sie haben es beim Verhör unter Drogeneinfluß zugegeben. Aber als die Yaxa-Führerin der Streife herankam, lachte es fürchterlich, heißt es in der Meldung, verwandelte sich in einen ganz anderen und verschwand vor ihren Augen«

Sanghs Interesse war geweckt.

»Hat sich in einen anderen verwandelt, sagst du. Nicht in etwas anderes, wie du das könntest?«

Der Lamotien wirkte einen Augenblick lang verwirrt, mehr von der Frage selbst als von etwas anderem. Schließlich sagte er:»Hm, ja, das stand in dem Bericht. Die Yaxa flog mit zwei von den Gefangenen zum Zone-Tor und begab sich nach Zone.«

»Aber es hat sich in eine Glathriel-Gestalt verwandelt, nicht in eine andere?« drängte Sangh.

»So heißt es«, erwiderten die kleinen Wesen.

»Das ist interessant«, murmelte der Dahbi. Er setzte sich in Bewegung, und die Lamotien sahen fasziniert zu, als er an der Querstange entlang zur Zeltwand glitt und dort herunterkam.

»Sagt meinem Stab, ich wünsche in zehn Minuten eine Besprechung«, erklärte er. »Hier bei mir. Sie sollen alle erscheinen.«

Das kleine Wesen verbeugte sich knapp und sagte:»Ich werde bald nach Zone zurückkehren. Soll ich eine Nachricht überbringen?«

Gunit Sangh überlegte kurz, dann erwiderte er langsam:

»Teile mit, daß wir versuchen werden, mit allen Möglichkeiten fertig zu werden, aber daß man sich auf eine Niederlage vorbereiten sollte.«

Der Lamotien starrte ihn kurz an und sagte dann:»Niederlage?«

Sangh nickte dumpf.

»Wo es einen falschen Brazil gibt, kann es zwanzig oder zweihundert geben«, stellte er fest. »Wir werden unser Bestes tun, aber das ist alles, was wir vermögen. Teile mit, wenn man brauchbare Einfälle hat, sei jetzt die Zeit gekommen, sie mir mitzuteilen.«

Der kleine Lamotien ging verstört hinaus.


* * *

»Die Hauptarmee ist hier in Bache«, erklärte ihm der Stabsoffizier. »Sie scheint sich zu massieren. Wir haben das Gefühl, daß sie nach Koorz eindringen und die Entscheidungsschlacht in Yaxa austragen will. Lamotien wäre für sie fast völlig ungeeignet, wenn man die schrecklichen Stürme und Erdbeben bedenkt, von den Lamotien selbst zu schweigen. Man hat außerdem Kämpfe in Hochtech-Hex vermieden und alles getan, um ihnen aus dem Weg zu gehen.«

»Aber sie könnten auch nach Bahaoid gehen«, wandte der Dahbi ein. »Und von dort aus nach Verion. In Bahaoid gibt es fast keine Truppen, und obwohl es sich um ein Hochtech-Hex handelt, sind die Bahaoidaner weder sehr beweglich noch besonders gefährlich.«

Der Stabsoffizier, eine Yaxa, schüttelte seinen Insektenkopf.

»Nein, ich wäre außer mir, wenn sie es versuchen würden, und nicht wenig erfreut. Verion sieht nur auf der Karte harmlos aus. Es handelt sich um ein außerordentlich gebirgiges Gebiet, von Truppen nur unter den größten Schwierigkeiten zu durchqueren, während eine kleine Streitmacht für Angriffe der Einheimischen sehr anfällig wäre. Die Verioniten sind, sagen wir, wilder, als wir es gewöhnt sein mögen, aber wurmartige Wesen, die Gestein verzehren und überall auftauchen und einen erwürgen und verschlingen können. Wir sind, was die Strategie des Feindes angeht, ziemlich sicher, da jede Änderung uns nur noch mehr begünstigen würde.«

Gunit Sangh nickte. Er wäre gern ebenso sicher gewesen wie der weibliche Offizier.

»Und die Awbri-Armee?«

»Zieht langsam und beharrlich in Richtung Ellerbanta und Verion«, sagte ein anderer. »Wir halten das in erster Linie für ein Ablenkungsmanöver, um General Khutirs Truppen in Quilst zu binden.«

»Sie können recht haben«, erwiderte Sangh, »aber was soll die Hauptarmee hindern, abzudrehen und sich, sagen wir, in Quilst mit den anderen zu vereinigen und dort vorzustoßen?«

»Zu große Entfernungen«, versicherte ihm die Yaxa. »Das würde eine Woche dauern. Wir wären rechtzeitig gewarnt, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Ich möchte aber erwähnen, daß Quilst ständig davon spricht, Khutir von dort zu vertreiben. Die Armee hat sich, wie soll ich sagen, nicht sehr gut benommen, und die Quilst betrachten sich jetzt als Kampfplatz für eine Auseinandersetzung zwischen Awbri und Khutir.«

»Da mögen sie nicht falsch liegen«, stellte der Dahbi fest. »In diesem Fall wären wir in einer ungünstigen Situation, wenn die Quilst umschwenken und sich den Awbriern anschließen sollten. Weisen Sie General Khutir an, daß er so rasch wie möglich nach Süden vorstoßen und die Awbrier angreifen soll, vorzugsweise von Quilst aus. Quilst soll den Zugang für die Feinde bewachen und zusehen, ob Ellerbanta von ihrer Seite der Grenze aus gesichert werden kann, damit alle Möglichkeiten abgedeckt sind. Bereitet inzwischen eure eigenen Truppen darauf vor, daß sie gegen die Hauptarmee marschieren, solange diese sich in Bache noch sammelt. Lieber ein nur teilweise technologisches Hex, das uns freundlich gesinnt ist, als ein nichttechnisches von wenig oder gar keinem Nutzen. Wir sind die ganze Zeit in der Defensive gewesen, und man hat uns hereingelegt und zum Narren gehalten. Machen wir ein Ende mit der ganzen Sache, indem wir unsere Truppen an eine Stelle führen, die wir uns selbst aussuchen.«

»Es soll geschehen«, sagten die anderen erregt und erwartungsvoll. Wie Sangh waren sie der Dinge überdrüssig und wollten handeln.

Als sie hinausgingen, bat Sangh einen der Stabsoffiziere, den Dahbi-Chefadjutanten hereinzuschicken. Nach wenigen Sekunden waren die beiden allein.

»Heiligkeit?« Der Adjutant verbeugte sich ehrfürchtig.

»Sagrah, die Frage, von der wir vor so langer Zeit in unserer geliebten Heimat gesprochen haben, verlangt nun unsere Aufmerksamkeit«, sagte Sangh in rätselhaftem Ton.

»Heiligkeit?«

»Wir müssen den Tatsachen ins Gesicht sehen, Sagrah. Wir sind einem Feind unterlegen, der uns besser verstanden hat, als wir das selbst konnten. Wir müssen uns damit vertraut machen, daß Brazil aller Wahrscheinlichkeit nach den Schacht erreichen wird.«

Sagrah war davon nicht so überzeugt.

»Aber wenn der andere ein Ablenkungsmanöver war, Heiligkeit, muß der echte in ihrer Armee sein. Wenn wir sie vernichten, haben wir ihn, oder er wird in unserem Gebiet auf der Flucht sein.«

»Und wenn er nicht der echte Brazil ist?« fuhr ihn Sangh an. »Nein, wir müssen schon tun, was du sagst, sie angreifen und das ausstreiten. Das läßt sich nicht ändern. Aber in unserem eigenen Interesse — im Interesse Dahbis, Sagrah, da ich derjenige bin, der seine Gegner anführt — müssen wir ein Mittel gegen ihn haben. Geh zu Zone und sag deinen Leuten dort, daß unser Rückversicherungsplan ins Werk gesetzt werden muß — nur das. Verstanden?«

Der Adjutant verbeugte sich.

»Ja, Heiligkeit.«

»Und unsere Leute sollen dafür sorgen, daß der Brazil bei der Hauptarmee nicht untertaucht«, fügte Sangh hinzu. »Ich wünsche kein plötzliches Verschwinden, keine unerklärlichen Vorkommnisse. Ich wünsche, daß der Mann dort bleibt, wo ihn einer von uns ständig im Auge behalten kann. Verstanden?«

»Ich höre, Heiligkeit, aber ich bin nicht sicher, daß ich alles verstanden habe.«

»Das ist auch nicht nötig«, gab Sangh zurück. »Aber wenn du schon über solche Dinge nachdenken mußt, dann beantworte diese Frage: Warum, wenn man einen zweiten Brazil hat, sich so viel Mühe machen, sein Vorhandensein geheimzuhalten? Warum ihn auf so kostspielige Weise heimlich einschmuggeln, wenn er nur ein Ablenkungsmanöver ist? So raffiniert eingefädelt, daß wir ihn eigentlich lediglich durch einen glücklichen Zufall gefaßt haben? Das ergibt nur in einer Beziehung Sinn, Sagrah.«

Der andere Dahbi überlegte.

»Als Ablenkung müßte er früher oder später zulassen, daß man ihn entdeckt«, meinte er. »Das heißt, er sollte an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit erkannt werden.«

»Sehr gut«, lobte Sangh. »Und da er früher entdeckt worden ist? Siehst du? Sorg für beides, Sagrah. Achte darauf, daß der andere Brazil bei der Hauptarmee bleibt, und setze unseren Rückversicherungsplan ins Werk. Wir können noch siegen, Sagrah. Auf eine von zwei verschiedenen Weisen. Geh jetzt!«

Der Adjutant entfernte sich, während Gunit Sangh die Lagekarten auf dem Tisch studierte. Bei den fein eingefädelten Plänen des Gegners war etwas schiefgegangen, das stand für ihn fest. Es war nur ein Gefühl, unbestätigt durch Tatsachen, aber er war völlig überzeugt davon. Etwas war schiefgegangen, als die Streife den falschen Brazil zu diesem Zeitpunkt entlarvt hatte.

Je komplizierter und ausgefeilter der Plan, desto größer die Gefahr, daß es zu Mißerfolgen kam, sagte er sich. Wenn er daraus Kapital zu schlagen vermochte, konnte er trotzdem Sieger bleiben.

Wenn das bei der Hauptarmee der wahre Brazil war, sah er sich weit davon entfernt, eine Avenue entlangzugehen und den Schacht zu betreten. Weit entfernt.

Vielleicht zu weit.

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