DIE STADT HORT

In der Dunkelheit, noch vor Anbruch des Morgens, zog Arren die einfache, getragene, doch reinliche Kleidung eines Schiffsjungen an, die man ihm gegeben hatte, und eilte durch die Flure des Großhauses zur Osttür, die aus poliertem Hörn und dem Zahn eines Drachens geschnitzt war. Der Pförtner öffnete ihm die Tür und wies ihm lächelnd den Weg. Er ging die höchste Straße der Stadt entlang und folgte dann einem Pfad, der hinunter zu den Bootsschuppen der Schule führte und sich dann südlich entlang der Bucht von Thwil hinzog. Er konnte den Pfad in der Dunkelheit gerade noch ausmachen. Bäume, Dächer und Hügel waren nur verschwommene Schatten. Es war kalt, und nichts regte sich in der dunklen Luft. Alles verhielt sich still, alles hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Nur ganz weit im Osten, über der dunklen See, war ein schwacher heller Streif zu erkennen: der Horizont, der sich der unsichtbaren Sonne entgegenwölbte.

Er erreichte die Stufen des Bootsschuppens. Kein Mensch war zu sehen, nichts rührte sich. Der dicke Mantel und die Wollmütze waren warm, und doch fröstelte er, als er in der Dunkelheit wartend auf den Stufen stand.

Der Schuppen saß wie ein großer schwarzer Schatten auf dem schwarzen Wasser. Plötzlich ertönte ein dumpfer, hohlklingender Ton, ein dröhnender Schlag, der dreimal wiederholt wurde. Arren fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten vor Erregung. Ein langer Schatten glitt lautlos hinaus aufs Wasser.

Es war ein Boot, und es bewegte sich geräuschlos zur Anlegestelle hin. Arren rannte hinunter zu dem Steg und sprang ins Boot.

»Übernimm die Ruderpinne«, sagte der Erzmagier, eine behende schattenhafte Gestalt im Bug des Schiffes, »und steuere geradeaus, während ich das Segel setze.«

Sie waren bereits weit draußen auf dem Wasser, als sich das Segel wie ein großer weißer Flügel vom Mast weg entfaltete und das immer heller werdende Licht auffing. »Aha, ein Westwind, der uns das Rudern aus der Bucht erspart. Zweifellos ein Abschiedsgeschenk von Meister Windschlüssel. Paß auf, Junge, das Boot steuert sich sehr leicht! So ist es gut. Ein Westwind und ein klarer Sonnenaufgang, heute, wo sich der Tag und die Nacht die Waage halten.«

»Ist das die Weitblick?« Arren hatte in Liedern und Geschichten von diesem Boot gehört.

»Aber gewiß«, sagte der andere, der mit den Tauen beschäftigt war. Das Boot schlingerte und hob sich hoch, als der Wind an Stärke zunahm. Arren biß sich auf die Lippen und versuchte, geraden Kurs zu halten.

»Es läßt sich leicht steuern, aber es ist etwas eigenwillig, ehrwürdiger Meister!«

Der Erzmagier lachte. »Laß ihm seinen Willen. Das Boot ist auch weise. Hör zu, Arren!« Er hielt mit seiner Arbeit inne, und auf der Ruderbank kniend wandte er sich dem Jüngling zu. »Ich bin jetzt weder Herr noch Meister und du bist kein Prinz. Ich bin ein Händler und heiße Falk, und du bist mein Neffe und lernst bei mir den Seehandel. Du heißt Arren und wir kommen von Enlad. Aus welcher Stadt? Es muß eine große sein, falls wir auf einen ihrer Bürger treffen.«

»Temere, an der Südküste? Die treiben Handel mit allen Bereichen.«

Der Erzmagier nickte. »Aber«, sagte Arren zaghaft, »Sie haben nicht ganz den Akzent von Enlad.«

»Ich weiß. Ich habe einen gontischen Akzent«, sagte sein Gefährte lachend und blickte gegen den immer heller werdenden Osten. »Aber ich glaube, ich kann mir von dir leihen, was ich brauche. Also, wir kommen von Temere, in unserem Boot Delphin, und ich bin kein Herr, kein Magier und nicht Sperber, sondern — wie heiße ich?«

»Falk, ehrwürdiger Herr!«

Arren biß sich auf die Lippen.

»Übung, Neffe«, sagte der Erzmagier, »Übung macht den Meister. Du warst noch nie etwas anderes als ein Prinz, während ich schon alles mögliche war und zum letzten, doch vielleicht nicht zum besten, sogar Erzmagier … Wir sind auf der Fahrt in den Süden und suchen etwas, dieses blaue Zeug, aus dem sie Anhänger schnitzen. Ich weiß, das wird in Enlad sehr geschätzt. Sie machen Amulette daraus gegen Rheuma, Verrenkungen, Halsweh und unüberlegtes Gerede!«

Arren schwieg, dann lachte er, und als er den Kopf hob, erklomm das Boot eine lange Welle, und er sah den Rand der Sonne, der über dem Meer sichtbar wurde: eine goldene Flamme, die direkt vor ihm lag.

Das kleine Boot tanzte im leichten Seegang munter auf und ab. Sperber hielt sich mit einer Hand am Mast fest und blickte in den Sonnenaufgang, der Tag und Nacht in gleiche Teile teilte und sang. Arren verstand die Ursprache, die Sprache von Zauberern und Drachen nicht, doch er vernahm Lob und Preis in dem Gesang, und er spürte den mächtigen Rhythmus, der wie Ebbe und Flut, wie Tag- und Nachtgleiche ewig und immer wiederkehrte. Möwen schrien im Wind, die Küste der Thwilbucht glitt links und rechts an ihnen vorbei, und die langen, lichtdurchfluteten Wogen trugen sie hinaus aufs Innenmeer.

Von Rok nach Hort ist es nicht weit, doch sie verbrachten drei Tage auf See. Der Erzmagier hatte es eilig gehabt fortzukommen, aber jetzt, auf der Fahrt, ließ er sich Zeit. Der Wind wandte sich gegen sie, sobald sie die verzauberten Gewässer von Rok verlassen hatten, doch Sperber rief keinen magischen Wind in ihre Segel, wie es jeder Wettermacher tun konnte, sondern er brachte Stunden damit zu, Arren zu lehren, wie man bei starkem Gegenwind in der mit Felsriffen übersäten See östlich von Issel das Boot handhabt. In der zweiten Nacht begann es zu regnen, ein heftiger, kalter Märzregen, doch er wirkte keinen Bann, um ihn abzuhalten. In der folgenden Nacht, die sie außerhalb des Hafens von Hort in der nebligen, kalten und stillen Dunkelheit zubrachten, überlegte sich Arren, ob der Erzmagier in der kurzen Zeit, die er ihn kannte, noch keinen einzigen Zauber gewirkt hatte.

Jedoch was das Segeln anbetraf, so konnte sich keiner mit ihm messen. Arren hatte während der drei Tage, die er mit ihm fuhr, mehr gelernt, als während der zehn Jahre in Berila, wo er oft in der Bucht im Wettspiel gesegelt und gerudert hatte. Und Magier und Segler waren im Grund nicht allzu verschieden, beide arbeiteten mit Meer und Himmel, beide zwangen sie die mächtigen Winde, ihren Händen zu gehorchen, beide brachten sie nahe, was ferne lag. Ob Erzmagier oder Falk der Händler, es lief letzten Endes auf das gleiche hinaus.

Er war nicht gesprächig, doch sehr geduldig und verständnisvoll. Arrens gelegentliche Ungeschicklichkeiten machten ihn nicht nervös, er war nachsichtig und rücksichtsvoll, man konnte sich kaum einen besseren Reisegefährten wünschen, dachte Arren. Doch manchmal war er so in Gedanken versunken, daß er stundenlang schwieg, und wenn er dann endlich wieder redete, war seine Stimme rauh, und er schien durch Arren zu blicken. Dies tat der Liebe, die Arren für ihn hegte, keinen Abbruch, doch vielleicht verringerte es das Gefallen, das er an ihm fand, denn es füllte ihn mit ehrfürchtigem Staunen. Sperber spürte dies vielleicht, denn in dieser nebligen Nacht vor der Küste der Insel Wathort begann er, ziemlich stockend, von sich selbst zu erzählen. » Ich will nicht unter Menschen gehen«, sagte er. »Ich versuche mir einzureden, daß ich frei bin… daß alles in Ordnung ist auf der Welt, daß ich kein Erzmagier, nicht einmal ein Zauberer bin, sondern Falk von Temere, ohne Verpflichtungen, ohne Privilegien, daß ich niemandem etwas schulde …« Er hielt inne und fuhr dann fort: »Sei vorsichtig, Arren, wenn die großen Entscheidungen an dich herantreten und du wählen mußt. Als ich jung war, mußte ich mich entscheiden zwischen einem beschaulichen Leben und einem tätigen Leben. Und ich schnappte nach dem letzteren wie eine Forelle nach einer Fliege. Doch jede Handlung, jede Tat bindet dich an sich selbst und an ihre Folgen und zwingt dich immer wieder zu weiterem Handeln. Selten geschieht es, daß du eine Zeitspanne zur Verfügung hast, so wie jetzt, zwischen dem Tun, wo du innehalten und ganz einfach nur da sein kannst, wenn du dir überlegen kannst, wer du nun eigentlich bist.«

Wie konnte solch ein Mann, dachte Arren, sich fragen, wer oder was er sei? Er hatte geglaubt, daß Zweifel dieser Art nur jungen Menschen vorbehalten waren, die noch nichts geleistet hatten.

Das Boot schaukelte hin und her in der großen kalten Dunkelheit.

»Daher liebe ich das Meer«, drang Sperbers Stimme aus der Dunkelheit an sein Ohr.

Arren verstand ihn, doch seine Gedanken liefen ihm voraus, wie sie es die vergangenen drei Tage und Nächte getan hatten, auf die Fahrt, auf das Ziel ihrer Reise zu. Und da sein Gefährte endlich in einer redefreudigen Stimmung schien, packte er die Gelegenheit beim Schopfe: »Glauben Sie, daß wir in Hort das finden, was wir suchen?«

Sperber schüttelte den Kopf, entweder verneinend oder sein Nichtwissen ausdrückend.

»Kann es sich um eine Plage, eine Heimsuchung, eine Pestilenz handeln, die von Land zu Land getrieben wird und die Ernte, die Herden und die Gemüter der Menschen zerstört?«

»Eine Plage ist nur eine Störung des Gleichgewichts der Dinge. Dies jedoch ist etwas anderes. Daran haftet der Geruch des Bösen. Unter einer Plage würden wir leiden, doch wir würden nicht die Hoffnung verlieren und die Künste aufgeben und die Worte des Schöpfens vergessen. Die Natur geht nicht wider sich selbst. Jetzt aber handelt es sich nicht um eine Wiederherstellung des Gleichgewichts, eher um eine permanente Störung. Nur eine Kreatur kann dies verursachen.«

»Ein Mensch?« fragte Arren zögernd.

»Wir Menschen.«

»Wie?«

»Durch einen grenzenlosen Durst nach dem Leben.«

»Nach dem Leben? Aber es ist doch nicht falsch, leben zu wollen?«

»Nein. Aber wenn wir einen Willen zur Macht in uns verspüren, der über das Leben triumphieren möchte — wenn wir grenzenlosen Reichtum, uneingeschränkte Sicherheit, Unsterblichkeit erstreben — dann wird der Wunsch zur Gier. Und wenn sich Wissen zu dieser Gier gesellt, dann kommt das Unheil, das Böse. Dann wird das Gleichgewicht der Welt gestört, und der Ruin drückt die Waage nach unten.«

Arren grübelte eine Weile über diese Worte nach, dann fragte er: »Sie glauben also, daß wir einen Menschen suchen?«

»Einen Menschen und einen Magier. Ja, das glaube ich.«

»Aber ich hatte geglaubt, nach dem, was mich mein Vater und meine Lehrer gelehrt hatten, daß die hohen Künste der Magie auf dem Gleichgewicht aller Dinge beruhen, und daher nicht zu bösen Zwecken verwendet werden können.«

»Das«, sagte Sperber leise seufzend, »das ist ein umstrittener Punkt. Immer wird es Kontroversen zwischen Magiern geben … Jedes Land der Erdsee kennt Zauberweiber, die Schwarze Zauberkünste praktizieren, und Zauberer, die ihre Kunst dazu benutzen, um sich selbst zu bereichern. Aber es gibt noch Schlimmeres. Der Feuerfürst, der die Dunkelheit abschaffen und die Sonne am Mittag festhalten wollte, war ein großer Magier, und selbst Erreth-Abke konnte ihn nur mit äußerster Anstrengung bezwingen. Morreds Feind war ähnlich. Er war so mächtig, daß sich die Städte vor ihm beugten, wo immer er hinkam, und Armeen fochten für ihn. Der Zauber, den er gegen Morred gewoben hatte, war so stark, daß er des Zauberers Tod überdauerte; die Insel Solea wurde vom Meer überspült und alle, die dort wohnten, gingen unter. Das alles waren Männer gewesen, die große Macht und großes Wissen besaßen, die aber dem Willen des Bösen dienten und an ihm stark wurden. Ob die Zauberkraft, die dem Guten dient, letzten Endes die stärkere ist, das wissen wir nicht. Wir hoffen es nur.«

Es ist bitter, wenn man dort, wo man Sicherheit erwartet hat, nur Hoffnung findet. Arren war nicht gewillt, die bittere Pille zu schlucken. Nach einer Weile meinte er: »Ich glaube, jetzt verstehe ich, was Sie meinten, als Sie sagten, daß nur Menschen Böses tun können. Selbst Haifische sind unschuldig. Sie töten, weil sie müssen.«

»Deswegen kann uns Menschen keine Schranke gesetzt werden. Eine einzige Macht nur kann einem bösen Menschen widerstehen: ein anderer Mensch. In unserer Tiefe liegt auch unsere Größe. Nur in unserem menschlichen Willen, der des Bösen mächtig ist, liegt gleichzeitig auch die Macht, Böses zu überwinden.«

»Aber die Drachen«, sagte Arren, »tun die nichts Böses? Sind die unschuldig?«

»Die Drachen? Die Drachen sind goldgierig, unersättlich, hinterlistig, erbarmungslos und kennen keine Reue. Doch sind sie böse? Ich, ein Mensch, wie kann ich mich unterstehen, Drachen zu beurteilen? — Sie sind weiser als wir. Sie sind wie Träume, Arren. Wir Menschen, wir träumen, wir wirken Magie. Wir tun Gutes und wir tun Böses. Doch Drachen träumen nicht. Sie sind selbst Träume. Sie wirken keine Magie: Magie ist ihr Wesen, ihr Sinn. Sie handeln nicht, sie sind.«

»In Serilune«, sagte Arren, »befindet sich die Haut von Bar Oth, der vor dreihundert Jahren von Keor, einem Prinzen von Enlad, getötet wurde. Von diesem Tag an sind keine Drachen mehr nach Enlad gekommen. Ich habe die Haut von Bar Oth gesehen. Sie ist so schwer wie Eisen, und man sagt, sie sei so groß, daß sie, ausgebreitet, den ganzen Marktplatz von Serilune bedecken würde. Die Zähne sind so lang wie mein Unterarm. Und Bar Oth, so sagt man, war noch nicht voll ausgewachsen, er war noch ein junger Drache.«

»Du hegst den Wunsch«, sagte Sperber, »selbst Drachen zu sehen.«

»Ja.«

»Ihr Blut ist kalt und giftig. Man darf nie in ihre Augen blicken. Sie sind viel älter als die Menschen.« — Er verstummte und fuhr dann fort: »Und doch, wenn ich alles, was ich in meinem Leben getan habe, vergessen oder bedauern müßte, wenn mir dies eine Bild bliebe — Drachen, die, vom Winde getragen, sich über die Inseln im Westen erheben — dann wäre ich zufrieden.«

Beide schwiegen; alles war still, nur das Wasser flüsterte gegen das Boot; kein Licht blinkte. Und endlich schliefen sie ein, an der Küste Wathorts, über dem tiefen Wasser des Meeres.

Der Hafen von Hort lag im hellen Dunst des Morgens. Hundert oder noch mehr Schiffe waren teils noch verankert, teils schon unterwegs: Fischkähne, Schleppkähne, einfache Ruderboote, Lastschiffe, zwei Galeeren mit je zwanzig Rudern, eine große Galeere mit sechzig Rudern in schlechtem Zustand, und einige lange, schlanke Segelschiffe mit hohen dreieckigen Segeln, die dazu bestimmt waren, die Höhenwinde in den warmen Gewässern des Südbereiches aufzufangen.

»Ist das ein Kriegsschiff?« fragte Arren, als sie an dem Zwanzigruderer vorbeikamen, und sein Gefährte antwortete: »Ein Sklavenschiff, nach den Kettenringen im Laderaum zu schließen. Im Süden wird noch immer Menschenhandel getrieben.«

Arren überlegte kurz, dann stand er auf, ging zu dem Gerätekasten und nahm sein Schwert heraus, das er am Morgen seiner Abreise gut eingewickelt und dort verwahrt hatte. Er packte es aus. Er stand unentschlossen da und hielt das in der Scheide steckende Schwert, an dem der Gürtel baumelte, mit beiden Händen.

»Es ist kein Seemannsschwert, die Scheide ist zu reich verziert.«

Sperber, der mit dem Steuern beschäftigt war, warf ihm einen kurzen Blick zu: »Trag es, wenn du willst.«

»Ich dachte, es wäre vielleicht ganz weise …«

»Was Schwerter im großen und ganzen anbelangt, so ist dieses weise«, sagte sein Gefährte und spähte scharf aus, während er das Boot durch die dichtbefahrene Bucht steuerte. »Es widerstrebt dem Gebrauch, nicht wahr?«

Arren nickte. »Ja, so wird behauptet. Es hat aber trotzdem schon getötet. Menschen hat es getötet.« Er blickte auf den schmalen, von vielen Händen abgenutzten Griff. »Ja, es hat getötet, aber ich habe nicht getötet. Ich komme mir vor wie ein Narr. Es ist viel älter als ich … Ich nehme lieber mein Messer«, schloß er, und nachdem er das Schwert wieder sorgfältig eingewickelt hatte, vergrub er es tief unten im Gerätekasten. Er sah verdutzt und ärgerlich drein.

Sperber schwieg, dann sagte er: »Würdest du jetzt rudern, Junge? Wir halten auf den Anlegesteg dort bei den Stufen zu.«

Hort, eine der sieben großen Hafenstädte des Inselreiches, erhob sich farbenprächtig hinter dem lärmenden Hafen auf drei steilen Hügeln. Die Häuser waren aus Lehm gebaut und rot, orange, gelb und weiß verputzt; die Dächer waren mit violetten Ziegeln bedeckt; blühende Perdickbäume ließen die oberen Straßen wie dunkelrote Wälle erscheinen. Bunt gestreifte Sonnendächer waren zwischen den Dächern gespannt und überdeckten schmale Märkte. Die Piers lagen im hellen Sonnenlicht, die Straßen, die sich vom Hafen in die Stadt hinein erstreckten, sahen wie schmale, dunkle Schlitze voll Leuten und Schatten aus. Der Straßenlärm drang zu ihnen über das Wasser.

Als sie das Boot festgebunden hatten, beugte sich Sperber hinunter zu Arren und tat so, als ob er den Knoten nachprüfe. Er flüsterte ihm zu: »Arren, hier in Hort gibt es eine Menge Leute, die mich ziemlich gut kennen. Paß also auf, daß du mich erkennst.« Als er sich aufrichtete, war die Narbe auf seinem Gesicht verschwunden. Sein Haar war grau; seine Nase war dick und etwas knollig, und anstelle seines hohen Stabes aus Eibenholz hielt er ein Elfenbeinstäbchen, das er in seinem Hemd versteckte. »Kennst mich wohl gar nicht, he?« fragte er mit einem breiten Lächeln im Dialekt von Enlad. »Hast wohl deinen Onkel noch nie vorher gesehen?«

Arren hatte am Hof von Enlad Zauberer gesehen, die ihre Gesichter veränderten, wenn sie die Taten von Morred mimten. Er wußte, daß es nur Illusion war, und er verlor seine Fassung nicht ganz und antwortete: »O doch, Onkel Falk!«

Doch während der Magier mit einem Hafenposten um die Gebühren für das Festmachen und Bewachen feilschte, betrachtete Arren ihn aufmerksam, um sicher zu sein, ob er ihn auch erkennen würde. Je mehr er aber schaute, desto unbehaglicher wurde ihm zumute. Die Verwandlung war zu vollkommen, nichts war vom Erzmagier übrig geblieben. Das hier war kein weiser Führer und Lehrer… Die Gebühr des Postens war hoch, und Sperber schimpfte vor sich hin, als er zahlte und entfernte sich mit Arren, immer noch schimpfend. »Das ist doch die Höhe«, brummte er.

»Da muß ich diesem vollgefressenen Dieb Gold geben, um auf mein Boot aufzupassen! Ein halber Zauberspruch wäre zweimal so sicher! Aber was bleibt mir schon übrig, ich muß eben zahlen wegen meiner Verwandlung, na ja! … Und anständig reden tu ich auch nimmer, he Neffe?«

Sie gingen eine enge, kunterbunte, übelriechende Straße hinauf, die vollgestopft war mit Menschen. Links und rechts gab es kleine Geschäfte, nicht viel größer als Buden, deren Inhaber unter den Türen zwischen Bergen von Waren standen und laut die Schönheit und Preisgünstigkeit ihrer Töpfe, Unterwäsche, Hüte, Spaten, Nadeln, Taschen, Kessel, Körbe, Haken, Messer, Seile, Schrauben, Bettwäsche und alles Erdenklichen an Haushaltsgeräten und Werkzeugen anpriesen.

»Ist das ehrlich?«

»He?« fragte der Mann mit der Knollennase und legte seinen Kopf schief.

»Ist das ehrlich, Onkel?«

»Ehrlich? Nein, nein, aber so gehtʹs hier das ganze Jahr über zu. Behalt deine Bratfische, Alte. Ich hab schon gefrühstückt!«

Arren versuchte, einen Mann mit einem Tablett voll kleiner Messingbehälter abzuschütteln, der ihm auf den Fersen folgte und mit weinerlicher Stimme rief: »Kaufen Sie, versuchen Sie es, junger Herr, Sie werden nicht enttäuscht sein, ein Atem, so süß wie die Rosen von Numina, er bezaubert die Frauen, versuchen Sie es, junger Seefürst, junger Prinz …«

Doch plötzlich war Sperber zwischen ihm und dem Trödler und sagte: »Was für Amulette sind das?«

»Keine Amulette! « wimmerte der Mann und schreckte vor ihm zurück. »Ich verkaufe keine Amulette, Seemeister! Nur einen Sirup, der den Atem nach Alkoholgenuß und dem der Haziawurzel versüßt — nur ein Sirup, mächtiger Prinz!« Er kauerte auf den Pflastersteinen, sein Tablett mit den kleinen Krügen klapperte und klirrte, einige waren umgefallen, und ein paar Tropfen der zähen süßen Flüssigkeit waren herausgeflossen und tropften rosa und lila über den Rand des Tabletts.

Sperber wandte sich um und ging mit Arren weiter seines Weges. Die Menge lichtete sich, die Geschäfte wurden noch armseliger, es waren meist nur noch Verschlage, vor denen Waren ausgebreitet lagen, eine Handvoll krummer Nägel, ein zerbrochenes Messer, ein alter Kamm. Arren fand die Armut hier weniger abstoßend als das vorher Gesehene; das reichere Ende der Straße hatte ihm den Atem genommen, Ekel war in ihm aufgestiegen vor der Menschenmasse, vor der Aufdringlichkeit der Trödler, vor den Stimmen, die von allen Seiten auf ihn eindrangen: Kaufe! kaufe! Und das Elend des Bettlers hatte ihn abgestoßen. Er dachte an die kühlen breiten Straßen seiner Heimatstadt im Norden. Kein Mensch in Berila hätte sich so vor einem anderen Menschen erniedrigt. »Das ist ein verachtenswertes Volk!« sagte er.

»Hier rum, Neffe!« war die Antwort seines Gefährten. Sie betraten eine enge Gasse, die sich zwischen hohen, roten, fensterlosen Hauswänden am Hügel entlangzog und am Ende unter einem Torbogen, an dem uralte, zerfetzte Fahnen hingen, hinaus ins Sonnenlicht auf einen viereckigen Marktplatz führte, der voll mit Buden und Tischen stand, wo sich Fliegen in Schwärmen einfanden und die Menschen sich drängten.

Am Rand des Platzes lagerten teilnahmslos Gestalten, Männer und Frauen, die teils saßen, teils regungslos auf dem Rücken lagen. Ihre Münder waren merkwürdig schwärzlich, es sah aus, als ob sie wund wären, und Fliegenschwärme, wie Hände voll Korinthen, hatten sich auf ihre Lippen niedergelassen.

»So viele«, sagte Sperber, und seine Stimme war unterdrückt und atemlos, als ob er zutiefst erschrocken wäre. Doch als ihn Arren anblickte, sah er nur das grobe, gutmütige Gesicht von Falk, dem Händler, das keine Anteilnahme zeigte.

»Was ist mit den Leuten hier los?«

»Hazia. Es betäubt und befriedigt und befreit den Körper vom Geist. Und der Geist schweift umher. Doch wenn er zum Körper zurückkehrt, dann braucht er mehr Hazia… Und das Verlangen wächst und das Leben ist kurz, denn das Zeug ist Gift. Es beginnt mit einem Zittern, später tritt eine Lähmung ein, am Ende wartet der Tod.«

Arren blickte auf eine Frau, die sich mit dem Rücken an die sonnenwarme Wand lehnte. Sie hatte ihre Hand erhoben, um die Fliegen von ihrem Mund wegzuscheuchen, doch ihre Hand beschrieb nur eine ruckhafte, kreisförmige Bewegung in der Luft, so als ob sie den Grund ihrer Bewegung schon wieder vergessen hätte und als würde sie von einer spastischen Kontraktion der Muskeln gelenkt. Die Geste sah aus wie die Handbewegung, die eine Zauberformel begleitet, doch sie wurde ziellos und leer in die Luft hinein gewirkt.

Auch Falks Blick ruhte auf ihr, doch sein Gesicht blieb ausdruckslos.

»Komm!« sagte er.

Er führte Arren quer über den Marktplatz zu einer von bunten Markisen beschatteten Bude. Grünes, orangefarbenes, zitronengelbes, hellblaues und rotes Sonnenlicht fiel auf Stoffe, Umhänge und geflochtene Gürtel, die auf dem Tisch ausgebreitet lagen, und tanzte in den vielen kleinen Spiegeln, die kunstvoll einen Federbusch bedeckten, der sich auf dem Kopf der Frau türmte, die den Ramsch feilbot. Sie war korpulent und pries ihre Ware mit lauter Stimme an: »Seide, Damast, Leinwand, Felle, Filz, Wollstoffe, Felldecken von Gont, Gaze von Soul, Seide von Lorbanery! Ihr Männer aus dem Norden dort, zieht eure Wintermäntel aus, merkt ihr denn nicht, daß die Sonne am Himmel steht? Wie warʹs mit diesem Stück feiner Seide? Ein passendes Geschenk für Mädchen in Havnor! Schaut her, Seide aus dem Süden, so zart wie ein Schmetterlingsflügel!« Geschickt, mit einem eleganten Schwung, hatte sie einen Ballen feiner rosa Seide, mit Silberfäden durchschossen, auf dem Ladentisch halb aufgeworfen, und hielt den Stoff hoch.

»Nee, Frau, wir sind nicht mit Königinnen verheiratet«, sagte Falk, und die Stimme der Frau erhob sich schrill: »Sooo, was gebt ihr denn dann euren Frauen zum Anziehen? Rupfen? Leinwand? Geizkragen! Eure Frauen frieren dort oben in dem ewigen Schnee, und ihr könnt ihnen nicht mal ein bißchen Seide mitbringen! Aber wie warʹs damit? Eine Felldecke aus Gont, das hält warm in den Winternächten!« Sie warf ein großes, braun und hellbeige kariertes Viereck über die Ladentheke, das aus feinem Ziegenhaar gewebt war und von den nördlichen Inseln kam. Der angebliche Seemann streckte seine Hand danach aus und befühlte es. Er lächelte.

»Oho, ihr seid aus Gont?« fragte die laute Stimme, und der Kopfputz bewegte sich und streute tausend kleine Pünktchen über die Stoffe und die Markisen.

»Das hier kommt aus Andrad, schaut her! Nur vier Kettfäden auf einer Fingerbreite! In Gont nehmen sie sechs und noch mehr. Doch sagt, warum macht ihr keine Zauberkunststückchen mehr? Warum verkauft ihr jetzt Ramschwaren? Als ichʹs letzte Mal hier war, sʹist schon ein paar Jahre her, da habʹ ich gesehn, wie ihr Feuer aus den Ohren von Männern gezogen habt, und dann habt ihr Vögel aus dem Feuer gemacht und goldene Glocken! Das war ein feineres Geschäft, als was ihr jetzt tut.«

»Das war gar kein Geschäft«, sagte die dicke Frau, und Arren sah, ganz kurz nur, Augen, die so kalt und hart wie Achate blickten und die ihn und Falk unter dem Funkeln und Glitzern ihres wippenden Federbüschels und ihrer funkelnden Spiegel scharf musterten.

»Das hat mir gefallen, das Feuer, das ihr aus den Ohren gezogen habt«, fuhr Falk unbeirrt in seiner langsamen, breiten Sprechweise fort. »Ich habʹs meinem Neffen zeigen wollen.«

»Ach weißt du«, sagte die Frau, jetzt weniger laut, und sie legte ihre prallen, braunen Arme und ihre schwere Brust auf die Theke. »Wir hier machen solche Tricks nicht mehr. Die Leute wollen das nicht mehr sehen. Die haben das durchschaut. Da schau dir meine Spiegel an — an die erinnerst du dich doch noch, nicht wahr?« — und sie warf ihren Kopf zurück, daß die bunten Punkte tanzten und sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit um sie herumdrehten. »Siehst du, Spiegelgefunkel genügt, damit kann man den Menschen den Kopf verdrehen, auch mit Worten und mit Tricks, wie, kann ich dir nicht verraten, bis die Menschen glauben, was sie sehen, was sie aber gar nicht sehen, weil es das gar nicht gibt! Wie das Feuer oder wie die goldenen Glocken oder wie die Kleider, mit denen ich die Schiffsleute herausstaffiert habe, goldene Anzüge mit Diamanten so groß wie Aprikosen, und sie sind darin fortstolziert wie der König aller Inseln… Das waren alles nur Tricks, nur Narrenzeug, weißt du. Menschen kann man leicht zum Narren halten. Die sind wie Hühner, die man mit einer Schlange oder mit einem Finger, den man ihnen vorhält, verhexen kann. Ja, ja, die Menschen sind wie Hühner! Aber dann finden sie doch irgendwann einmal heraus, daß sie zum Narren gehalten werden, und dann werden sie böse und wollen nichts mehr davon sehen. Und deswegen habʹ ich halt das Geschäft hier angefangen, und vielleicht ist nicht alle Seide reine Seide und nicht alle Felldecken kommen aus Gont, aber die halten sich trotzdem gut — o ja, die halten sich gut! Die sind nämlich wirklich da, es sind keine Lügen und nicht bloß Luft, wie die Kleider aus Goldstoff!«

»So, so«, sagte Falk langsam, »dann ist also niemand mehr da, der Feuer aus Ohren ziehen oder sonst irgend etwas Zauberisches machen kann?«

Als sie die letzten Worte vernahm, runzelte sie die Stirn. Sie richtete sich auf und faltete die Decke sorgfältig zusammen. »Die Leute, die Lügen und Luftbilder wollen, die kauen Hazia«, sagte sie. »Geh und redʹ mit denen, wenn du willst!« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die regungslosen Gestalten am Rande des Platzes.

»Aber es gab Zauberer, und die haben uns mit dem Wind geholfen und unsere Ladungen mit ihren Sprüchen festgemacht. Sind die jetzt alle Händler?«

Jetzt wurde sie böse, und ihre Stimme überschlug sich: »Dort drüben hockt einer, wenn du einen suchst, sogar ein großer, einer mit einem Stab und all dem — siehst du ihn dort drüben? Der ist mit Egre selbst gesegelt, um Wind zu machen und um fette Galeeren zu finden, aber es war alles verlogen, und Kapitän Egre gab ihm den verdienten Lohn: er hat ihm die rechte Hand abgehackt! Und jetzt hockt er hier herum, den Mund voll Hazia, das Maul voll Fliegen und den Bauch voller Luft. Luft und Lügen! Luft und Lügen! Das ist die ganze Zauberei, Kapitän Ziegenbart!«

»Schon gut, schon gut, Frau«, sagte Falk begütigend mit milder Stimme. »Ich habʹ ja bloß gefragt.« Sie drehte ihnen ihren breiten Rücken zu und schwenkte ihren Kopfputz, daß die Spiegelchen leise klirrten und Dekke und Wände mit tausend Farbtupfen übersäten, und Falk ging gemächlichen Schrittes mit Arren an seiner Seite davon. Sein Weg führte ihn wie zufällig in die Nähe des Mannes, den sie ihnen gezeigt hatte. Er saß mit dem Rücken gegen eine Wand und starrte apathisch ins Leere. Das dunkle bärtige Gesicht mußte einst gut ausgesehen haben. Der runzlige Armstummel lag schmachvoll neben ihm auf dem Pflaster in der heißen, hellen Sonne.

In den Buden hinter ihnen mußte etwas vorgefallen sein, man hörte laute keifende Stimmen, doch Arren konnte seine Augen nicht von dem Mann lassen. Das Bild war abstoßend und doch faszinierte es ihn, und er konnte seinen Blick nicht abwenden. »War er wirklich ein Zauberer?« fragte er ganz leise.

»Es gab einen hier, der sich Hase nannte, einen Wettermacher, der mit dem Piraten Egre gesegelt war, vielleicht war er das. Die beiden waren bekannt für ihre Piraterie… Paß auf, Arren, geh zur Seite!« Ein Mann kam in vollem Lauf zwischen den Buden herausgerannt, fast wäre er mit ihnen zusammengestoßen. Ein anderer kam hinterhergelaufen, langsamer, denn er balancierte ein großes Tablett, überhäuft mit Kordeln, Bändern und Spitzen. Eine Bude fiel mit lautem Krach zusammen. Markisen wurden hurtig zusammengerollt und abgenommen. Menschen schoben und drängten sich über den Marktplatz. Laute Stimmen und Geschrei erfüllte die Luft. Alles wurde übertönt von der Trompetenstimme der Frau mit dem Spiegelkopfputz. Arren erhaschte durch das Menschengewühl einen Blick auf sie, wie sie sich mit einem Stock oder einer Stange gegen eine Gruppe von Männern wehrte und sie mit wuchtigen Schlägen, wie ein geübter Kämpfer, in Schach hielt. Ob ein Streit entstanden war, der sich ausgebreitet hatte, oder ob eine Diebesbande einen Angriff gewagt hatte, oder ob sich zwei rivalisierende Trödlergruppen angefallen hatten, war nicht festzustellen. Leute rannten an ihnen vorbei mit ihren Armen voll Waren, die gestohlen oder ihr Eigentum sein konnten. Es wurde mit Messern und Fäusten gekämpft, mit allem, was nicht niet- und nagelfest war, schlugen sie aufeinander ein.

»Hier«, Arren deutete auf eine Seitenstraße, die aus dem Marktplatz herausführte. Er ging voran, denn sie hatten keine Zeit zu verlieren, wenn sie heil hier herauskommen wollten, doch sein Gefährte hielt ihn am Arm fest. Arren schaute zurück und sah, wie der Mann Hase sich bemühte, auf die Beine zu kommen. Als er endlich schwankend stand, ging er, ohne sich umzublicken, um den Marktplatz herum und ließ seinen verstümmelten Arm an den Mauerwänden entlanggleiten, entweder um sich zu stützen oder um seinen Weg zu finden. »Behalte ihn im Auge«, sagte Sperber, und sie folgten ihm. Niemand belästigte sie oder den Mann, dem sie folgten und bald lag der Marktplatz hinter ihnen, und sie gingen eine enge gewundene Straße den Berg hinunter.

Die Häuser waren vorgebaut, und die obersten Stockwerke berührten sich fast. Nur ein schmaler Streif des Himmels war zu sehen. Die Straße lag im Dunkeln. Das Pflaster unter ihren Füßen war naß und glitschig vom Abfall. Hase schritt rüstig aus, doch er ging wie ein Blinder, sein Armstumpf verließ keinen Augenblick lang die Mauerwände. Sie mußten ihm ziemlich dichtauf folgen, um ihn nicht in einer Nebenstraße zu verlieren. Die Freude an der Jagd überkam Arren plötzlich; seine Sinne waren geschärft wie auf einer Hirschjagd in den Wäldern von Enlad; er nahm die Gesichter wahr, die ihm begegneten, und sie prägten sich ihm ein; er atmete den süßlichen Geruch um sich ein und wußte, daß er sich aus Abfall, Duftkerzen, Aas und Blumen zusammensetzte. Als sie sich ihren Weg über eine breite Straße voll Menschen bahnten, hörte er eine Trommel und sah, ganz kurz, eine Reihe nackter Männer und Frauen, die an Händen und Taille aneinandergekettet waren, und deren Gesichter von verfilzten Haaren bedeckt waren. Er erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf die Gruppe, denn sie verschwand aus seinem Blickfeld, als er, von Hase unbemerkt, diesem geschwind eine Treppe hinunterfolgte, die auf einen schmalen Platz mündete. Der Platz war verlassen bis auf einige Frauen, die am Brunnen miteinander schwatzten.

Sperber holte Hase hier ein und legte ihm die Hand auf die Schulter. Hase zuckte zusammen und krümmte sich, als hätte er eine Verbrennung erlitten; er verzog sich in den Schutz einer massiven steinernen Toreinfahrt. Hier blieb er zitternd stehen und schaute sie mit blicklosen, gehetzten Augen an.

»Nennt man dich Hase?« fragte Sperber in seiner eigenen herben Stimme, doch der Tonfall war behutsam. Der Mann erwiderte nichts, er schien sie entweder nicht wahrzunehmen oder nicht zu verstehen. »Ich will etwas von dir«, sagte Sperber. Wieder erhielten sie keine Antwort. »Ich zahle dafür.«

Langsam begann sich etwas in ihm zu regen. »Elfenbein oder Gold?«

»Gold.«

»Wieviel?«

»Der Zauberer weiß, wieviel sein Zauberspruch wert ist.«

Das Gesicht von Hase verzog sich, veränderte sich, belebte sich ganz kurz, dann kehrte der blicklose, stumpfe Ausdruck wieder zurück. »Das ist alles vorbei, alles vorbei.« Ein Hustenanfall überfiel ihn, schwarzer Schleim rann ihm aus dem Mundwinkel. Als er sich aufrichtete, stand er teilnahmslos da, er schien vergessen zu haben, worüber sie sprachen.

Arren war wieder fasziniert und blickte ihn aufmerksam an. Die Nische, in der er stand, war von zwei riesenhaften Figuren flankiert, Statuen, deren Nacken sich unter dem Gewicht eines Giebels beugten, und deren muskulöse Körper nur halb aus der Wand herausragten; es sah aus, als hätten sie sich aus dem Stein herausringen wollen, doch war ihnen dies nur halbwegs gelungen. Das Tor, das sie bewachten, hing schief in verrosteten Angeln. Das Haus, das früher ein Palast gewesen sein mußte, war verfallen. Die düsteren, gerundeten Gesichter der Riesen waren an manchen Stellen abgebröckelt und von Moos bewachsen. Zwischen diesen wuchtigen Figuren stand Hase, schlaff und zerbrechlich, mit Augen, so dunkel wie die Fenster des leeren Hauses hinter ihm. Er hob seinen Armstumpf in die Höhe und wimmerte: »Eine kleine Gabe für einen Krüppel, Herr …«

Der Magier runzelte die Stirn, vielleicht aus Schmerz, vielleicht aus Scham, und Arren glaubte, einen flüchtigen Augenblick lang sein wahres Gesicht wahrzunehmen. Er legte wieder seine Hand auf die Schulter von Hase und sprach leise in der Zaubersprache auf ihn ein, die Arren nicht verstand.

Doch Hase verstand. Er ergriff Sperber mit seiner einen Hand, und ihn festhaltend stammelte er: »Du kannst noch sprechen … Komm mit mir, komm…!«

Der Magier blickte auf Arren und nickte.

Sie gingen die steilen Gassen hinunter und kamen in eines der schmalen Täler zwischen Horts drei Hügeln. Je weiter sie hinunter schritten, desto enger, dunkler und ruhiger wurde es. Der Himmel war kaum mehr zwischen den vorstehenden Dachgeschossen zu sehen, und die Hauswände waren feucht. Ganz unten in der Schlucht floß ein stinkendes Rinnsal. Zwischen geschwungenen Brücken drängten sich Häuser am Ufer entlang. Hase betrat den dunklen Eingang eines dieser Häuser und verschwand wie eine erloschene Kerze. Sie folgten ihm.

Dunkle knarrende Stufen führten aufwärts, ein unbeleuchteter Gang folgte. Als sie angelangt waren, stieß Hase eine Tür auf, und sie konnten sehen, wo sie waren: ein leerer Raum lag vor ihnen, mit einer Strohmatratze in einer Ecke und einem unverglasten, mit einem Laden verschlossenen Fenster, durch das ein staubiger, schmaler Lichtstreif fiel.

Hase blickte auf Sperber und griff wieder nach seinem Arm. Seine Lippen bewegten sich. Mühsam, mit großer Anstrengung, stammelte er: »Drachen… Drachen…«

Sperber blickte ihn unverwandt an, ohne zu reden.

»Ich kann nicht mehr sprechen«, sagte Hase. Er ließ Sperbers Arm los und kauerte sich auf dem nackten Boden nieder.

Der Magier kniete sich neben ihn und sprach leise in der Ursprache auf ihn ein. Arren stand an der geschlossenen Tür mit seiner Hand am Messergriff. Das graue Licht und das schmutzige Zimmer, die beiden knienden Gestalten, der seltsame, verhaltene Ton in der Stimme des Magiers, der in der Drachensprache redete, all dies schloß sich wie in einem Traum, der mit der Umwelt nicht in Berührung stand, der außerhalb der Zeit selbst lag. Hase erhob sich langsam. Er klopfte den Staub von seinen Knien und verbarg seine verstümmelte Hand hinter dem Rücken. Er schaute sich um, blickte auf Arren. Jetzt nahm er wahr, was er sah. Schließlich wandte er sich um und setzte sich auf seine Matratze. Arren blieb stehen, wachsam. Sperber jedoch, mit der Selbstverständlichkeit eines Menschen, der in seiner Jugend keine Möbel gekannt hatte, setzte sich mit überkreuzten Beinen auf den nackten Boden.

»Sag mir, wie du deine Kunst und die Sprache deiner Kunst verloren hast!«

Hase antwortete nicht sofort. Er schlug mit seinem verstümmelten Arm in ruheloser, fahriger Weise gegen seine Schenkel und sagte endlich mit Anstrengung und langen Pausen: »Sie haben meine Hand abgehackt. Ich kann keine Formeln mehr wirken. Sie haben mir die Hand abgehackt. Das Blut lief heraus, alles Blut lief heraus …«

»Aber das geschah, nachdem du deine Macht verloren hattest, Hase, sonst hätten sie es ja nicht getan.«

»Macht…?«

»Macht über Wind und Wellen und Menschen. Du hast sie bei ihrem Namen gerufen, und sie haben dir gehorcht.«

»Ja, ich erinnere mich, ich habe gelebt«, sagte der Mann mühsam und mit leiser Stimme. »Und ich wußte die Worte und die Namen…«

»Bist du jetzt tot?«

»Nein, lebendig, lebendig. Nur — ich war einmal ein Drache … Ich bin nicht tot. Manchmal schlafe ich. Schlaf ist dem Tod nah verwandt, das weiß jeder. Die Toten gehen in den Träumen um, das weiß jeder. Sie kommen zu dir und sagen dir Dinge. Sie kommen aus dem Tod in deine Träume. Es gibt einen Weg. Und wenn du weit genug gegangen bist, dann gibt es auch einen Weg zurück. Ganz zurück. Du kannst ihn finden, wenn du weißt, wo er ist. Und wenn du bereit bist, den Preis dafür zu zahlen.«

»Welchen Preis?« Sperbers Stimme schwebte in der trüben Luft wie der Schatten eines fallenden Blattes.

»Leben — was denn sonst? Womit kannst du Leben kaufen? Mit Leben.« Hase wiegte seinen Oberkörper hin und her auf der Matratze. Ein lauerndes, unheimliches Glitzern trat in seine Augen. »Siehst du«, sagte er, »sie können mir die Hand abhacken; auch meinen Kopf können sie abhauen. Das macht nichts. Ich finde den Weg zurück. Ich weiß, wo er ist. Nur ein Mensch mit Macht kann dorthin.«

»Zauberer, meinst du?«

»Ja«, Hase zögerte, versuchte wiederholt, das Wort herauszubringen, und gab es dann auf. »Menschen mit Macht«, wiederholte er. »Und sie müssen — sie müssen es aufgeben. Zahlen.«

Dann schwieg er verdrossen. Vielleicht hatte das Wort »zahlen« Gedankengänge in ihm wachgerufen, und er merkte, daß er Auskunft verschenkte, anstatt sie zu verkaufen. Kein weiteres Wort war mehr aus ihm herauszubekommen, selbst sein Stammeln und Stottern über den »Weg zurück«, für den sich Sperber so zu interessieren schien.

Der Magier erhob sich: »Na ja, halbe Antworten sind besser als keine«, sagte er, »und das gleiche gilt für Bezahlung«, und geschickt wie ein Taschenspieler warf er eine Goldmünze in die Höhe, die direkt vor Hase auf der Matratze landete.

Hase hob sie auf. Er blickte sie an und schaute dann mit einer fahrigen Kopfbewegung auf Sperber und Arren. »Warte«, stotterte er. Doch die Situation hatte sich geändert, und er hatte Mühe, jetzt etwas zu sagen. Er quälte sich und endlich kam es stoßweise: »Heute abend«, und nach einer weiteren qualvollen Pause: »Warte! Heute abend. Ich habe Hazia.«

»Ich brauche kein Hazia.«

»Ich zeig dir… ich zeig dir den Weg. Heute abend. Ich nehme dich mit. Ich zeig es dir. Du kannst dorthin gehen, denn du … du bist…«

Er suchte vergeblich nach dem Wort, bis Sperber sagte: »Ich bin ein Zauberer.«

»Ja! Daher können wir… können wir dorthin gehen. Zu dem Weg… wenn ich träume … im Traum … Verstehst du? Ich nehme dich mit. Du gehst mit mir zu dem … zu dem Weg.«

Sperber stand solide und fest inmitten des düsteren Zimmers und überlegte. »Vielleicht«, sagte er endlich. »Wenn wir kommen, dann werden wir hier sein, wenn es dunkel wird.« Dann wandte er sich zu Arren, der sofort die Tür öffnete, froh, endlich hier herauszukommen.

Die feuchte, halbüberdachte, schattige Straße war ein heller Garten im Vergleich zu Hasens Zimmer. Sie gingen auf dem kürzesten Weg in die Oberstadt, eine steile Treppe zwischen efeubewachsenen Mauern hinaufkletternd. Arren atmete tief ein und aus, wie ein junger Seelöwe, der nach frischer Luft schnappt. »Huchü — Gehen Sie wieder dorthin zurück? «

»Hmmm, es ist möglich. Außer ich finde eine weniger riskante Quelle, wo ich die gleiche Information herbekommen kann. Er hat bestimmt einen Anschlag auf uns geplant.«

»Aber sind Sie nicht gegen Diebe und solches Gesindel gefeit?«

»Gefeit?« sagte Sperber. »Wie meinst du das? Glaubst du, ich wickle mich in Zauberformeln ein wie ein altes Weib, das Angst vor Rheuma hat? Dazu habe ich keine Zeit. Ich verberge mein Gesicht, um unsere Suche geheimzuhalten, weiter nichts. Wir können uns gegenseitig beschützen. Denn das eine steht fest: diese Fahrt ist gefährlich.«

»Natürlich«, sagte Arren steif und ärgerlich; sein Stolz war verletzt. »Das habe ich auch erwartet.«

»Dann ist es gut«, erwiderte der Magier unbeirrt, und doch lag Freundlichkeit in seiner Stimme, die Arrens Ärger verfliegen ließ. Sein Ärger hatte ihn sowieso erschüttert, denn nie hätte er es für möglich gehalten, daß er in diesem Ton zum Erzmagier sprechen würde. Doch dann, es war und es war auch wieder nicht der Erzmagier, der neben ihm einherging, dieser Mann Falk mit der Knollennase und dem eckigen, unrasierten Kinn, dessen Stimme einmal so und dann wieder anders klang: er war ein Fremder, man konnte sich nicht auf ihn verlassen.

»Haben Sie das verstanden, was er geredet hat?« fragte Arren, dem der Gedanke, wieder in das düstere Zimmer über dem stinkenden Fluß zurückkehren zu müssen, schwer auf dem Herzen lag. »Dieses Gequassel vom Leben und vom Totsein und von dem Zurückkehren mit abgehauenem Kopf?«

»Ich bin nicht sicher, ob ich es verstanden habe. Ich wollte mit einem Zauberer reden, der seine Macht verloren hat. Er sagte, daß er sie nicht verloren — sondern hergegeben, eingetauscht hat. Wofür? Leben für Leben, hat er gesagt, Macht für Macht. Nein, ich habe ihn nicht verstanden, aber es lohnt sich, ihm zuzuhören.«

Sperbers ruhige, vernünftige Worte beschämten Arren noch mehr. Er kam sich verzogen und ungeduldig vor, wie ein kleines Kind. Der Mann Hase hatte ihn fasziniert, doch jetzt, nachdem die Faszination verflogen war, fühlte er nur noch Abscheu in sich aufsteigen, wie wenn er etwas Ekelhaftes gegessen hätte. Er nahm sich vor, nicht mehr zu sprechen, bis er seine Verstimmung überwunden hatte. Im nächsten Augenblick rutschte er auf den abgetretenen, glitschigen Stufen aus, fing sich und zerkratzte sich die Hände an den Steinen. »O verflucht, diese dreckige Stadt!« brach es aus ihm heraus. Der Magier erwiderte trocken: »Ich glaube, es ist nicht nötig, sie zu verfluchen.«

Und er hatte recht. Etwas stimmte nicht mit der Stadt Hort. Es lag fast greifbar in der Luft, und man war versucht, von einem Fluch zu sprechen, und doch hatte man nicht das Gefühl, als ob eine gegenständliche Ursache vorläge, eher war es ein Fehlen, eine Schwächung aller Kräfte, eine Krankheit, die den Besucher nicht verschonte. Selbst die Nachmittagssonne schien krank zu sein, sie brannte viel zu heiß am Märzenhimmel. Auf den Plätzen und Straßen drängten sich die Menschen, die Geschäfte schienen zu blühen, doch herrschte weder Ordnung noch Wohlstand, nur Hektik und Mißgunst. Die Waren waren schlecht, die Preise zu hoch, weder Käufer noch Verkäufer waren sicher vor Diebstahl und Raubüberfall, die Banden trieben sich ungehindert auf den Straßen herum. Man sah nur wenige Frauen in der Öffentlichkeit, und wenn sie erschienen, so blieben sie in Gruppen beisammen. Es war eine Stadt ohne Gesetz und Ordnung, eine Stadt ohne Verwaltung, ohne Oberhaupt. Und als sie sich mit einigen Einwohnern unterhalten hatten, erfuhren sie, daß es tatsächlich keinen Stadtrat, keinen Bürgermeister und keine Fürsten mehr in Hort gab. Manche waren gestorben, manchen war gekündigt und einige waren ermordet worden. Sie erfuhren, daß Bandenführer jetzt die verschiedenen Stadtteile tyrannisierten, daß im Hafenviertel die früheren Hafenwächter herrschten und unverschämte Abgaben forderten, und daß alle nur darauf aus waren, ihr eigenes Säckel zu füllen.

Die Stadt hatte keinen Stadtkern mehr. Die Leute, die so geschäftig herumeilten, schienen kein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Die Handwerker setzten ihren Stolz nicht mehr darein, gute, solide Arbeit zu liefern, selbst die Diebe stahlen nur, weil sie nichts anderes tun konnten. Dem Umtrieb, der Geschäftigkeit, der Buntheit dieser großen Hafenstadt fehlte die feste Basis, darunter war es hohl. Und an den Ecken saßen die Haziasüchtigen, unbeweglich, leblos. Das ganze Leben in Hort hatte etwas Unwirkliches, Krankhaftes an sich, die Gesichter, die Geräusche, die Düfte erschienen und verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waren.

Sperber und Arren wanderten an diesem heißen, langen Nachmittag durch die Straßen und unterhielten sich mit diesem und jenem und es kam vor, daß die buntgestreiften Markisen, das schmutzige Pflaster, die bemalten Wände, alles Farbige plötzlich verschwanden, und nichts blieb zurück, nur eine Geisterstadt, die leer und verschlafen im grellen Sonnenlicht lag.

Nur hoch oben über der Stadt, wo sie sich eine Weile am Spätnachmittag ausruhten, ließ dieses krankhafte, spukhafte Wesen nach. »Das ist keine Stadt, die Glück verheißt!« hatte Sperber vor einigen Stunden gesagt und jetzt, nachdem sie stundenlang ziellos herumgelaufen waren und viele ergebnislose Unterhaltungen mit Fremden geführt hatten, jetzt blickte er müde und düster vor sich hin. Seine Verwandlung war nicht mehr so vollkommen wie am Morgen. Etwas Dunkles, Hartes lag hinter den gutmütigen Zügen des seefahrenden Handelsherrn Falk. Arren hatte die Verstimmung, die ihn am Morgen überkommen hatte, noch nicht überwunden. Sie saßen auf dem spärlichen Gras hoch am Hügel, beschattet von den dunklen Blättern einer Gruppe von Perdickbäumen, die mit roten Knospen übersät waren, von denen einige schon zur Blüte aufgebrochen waren. Von hier oben sahen sie nur die Ziegeldächer der Stadt, die sich vielfältig und zahlreich gegen die See hin staffelten. Die Arme der Bucht, schieferblau im hellen Dunst des Frühlingshimmels, waren weit geöffnet und streckten sich bis an den Rand der Luft. Keine festen Grenzen, keine deutlichen Linien waren sichtbar. Sie saßen und blickten hinaus auf die unendliche blaue Weite. Arren atmete tief aus, eine Last fiel ihm vom Herzen. Er blickte um sich und fühlte sich wieder eins mit der Welt.

Als sie an einem nahen Quellwasser, das in einem der fürstlichen Gärten hinter ihnen entsprungen war und klar und munter über braune Steine davoneilte, tranken, nahm Arren einen tiefen Schluck und tunkte dann den ganzen Kopf in das kalte Wasser. Dann stand er auf und deklamierte laut aus den Taten von Morred:

Preis sei den Brunnen von Scheließ,

den silbernen Harfen des Wassers,

Doch ich segne von Herzen den Fluß hier,

der den Durst meiner Kehle gestillt hat.

Sperber lachte ihm zu und auch er mußte lachen und schüttelte den Kopf wie ein Hund, daß die Tropfen ihn umsprühten und hinaus ins letzte, goldene Sonnenlicht flogen.

Sie mußten die Baumgruppe verlassen und wieder hinunter in die Stadt gehen, und als sie an einer Bude gebratene, von Fett triefende Fische gegessen hatten, senkte sich die Dunkelheit schwer und dicht auf die Stadt. Es wurde schnell dunkel in den engen Gassen. »Komm, wir gehen, Junge!« sagte Sperber, und Arren fragte: »Zum Boot?«, doch er wußte, daß sie nicht zum Boot, sondern zu dem Haus am Fluß, in das leere, schmutzige, schreckliche Zimmer gehen würden.

Hase wartete im Hauseingang auf sie.

Er zündete eine Ölfunzel an und leuchtete ihnen voran auf der schwarzen Treppe. Die kleine Flamme zitterte unaufhörlich in seiner Hand und warf riesige, huschende Schatten gegen die Wand.

Er hatte einen zweiten Strohsack für seine Besucher besorgt, doch Arren zog den nackten Boden nahe der Tür vor. Die Tür öffnete sich nach außen, und um sie zu bewachen, hätte er eigentlich draußen sitzen müssen, doch der finstere, schwarze Gang war mehr, als er ertragen konnte, und außerdem wollte er Hase im Auge behalten. Sperbers Aufmerksamkeit, und vielleicht auch seine Macht, waren auf Hase und was er ihm zu sagen und zu zeigen hatte, gerichtet. Es blieb Arren überlassen, wach zu sein und aufzupassen.

Hase sah besser aus als am Morgen. Er saß aufrecht und hatte seinen Mund und seine Zähne gereinigt. Er sprach zunächst auch ganz vernünftig, war aber ziemlich aufgeregt. Im Licht der Lampe waren seine Augen so dunkel wie die eines Tieres: das Weiße war nicht zu sehen. Er sprach eindringlich auf Sperber ein und versuchte diesen zum Genuß von Hazia zu überreden. »Ich will dich mitnehmen, mit mir nehmen. Wir müssen miteinander gehen. Wenn du noch länger wartest, bin ich schon fort, ob du bereit bist oder nicht. Du mußt Hazia nehmen, um mir folgen zu können.«

»Ich glaube, daß ich dir folgen kann.«

»Nicht dorthin, wohin ich gehe. Das sind keine … Beschwörungen.« Er schien nicht in der Lage zu sein, das Wort »Zauberer« oder »Zauberei« auszusprechen. »Ich weiß, daß du zu dem… dem Ort gelangen kannst — du weißt schon, was ich meine, die Steinmauer. Aber es ist nicht dort. Es ist woanders.«

»Wenn du gehst, werde ich dir folgen.«

Hase schüttelte den Kopf. Sein hübsches, verwüstetes Gesicht war gerötet. Sein Blick glitt öfters zu Arren, und er schloß ihn in seine Rede ein, obwohl er nur zu Sperber sprach. »Hör zu: Es gibt zwei Arten von Menschen, stimmtʹs? Wir und die anderen. Die … die Drachen und die anderen. Menschen ohne Macht existieren nur, sie leben nicht so wie wir. Die zählen nicht. Die wissen nicht, was sie träumen. Die haben Angst vor dem Dunkel. Aber die anderen, die Gebieter der Menschen, die haben keine Angst, ins Dunkel zu gehen. Wir haben Macht.«

»So lange wir die Namen der Dinge wissen.«

»Namen spielen dort überhaupt keine Rolle — das ist es ja gerade! Es kommt nicht darauf an, was du tust, oder was du weißt. Beschwörungen haben keine Wirkung. Das mußt du alles vergessen, das läßt du alles zurück Deswegen hilft es, Hazia zu essen; du vergißt die Namen, die Form der Dinge spielt keine Rolle mehr, du berührst die Wirklichkeit direkt. Ich gehe jetzt gleich, und wenn du wissen willst, wohin, dann mußt du tun, was ich dir sage. Ich gehorche ihm. Du m ußt ein Gebieter über Menschen sein, wenn du dem Leben gebieten willst. Du mußt das Geheimnis finden. Ich könnte dir seinen Namen sagen, doch was bedeutet ein Name? Ein Name ist nicht wirklich, auf ewig und immer wirklich. Drachen können nicht dorthin gehen. Drachen sterben. Sie sterben alle. Sie sterben aus. Heute abend habe ich so viel genommen, daß du nicht mit mir Schritt halten kannst. Ich bin heil. Wo ich verloren gehe, dort kannst du mich führen. Erinnerst du dich an das Geheimnis? Erinnerst du dich? Kein Tod. Kein Tod — nein, nein! Das Blut trocknet aus wie ein versiegender Fluß — es ist verschwunden. Keine Furcht. Kein Tod. Namen sind verschwunden, Worte, Form, alles ist fort. Zeig mir, wo ich verloren gehe, zeig mir, Gebieter …«

So fuhr er fort, halb erstickt, in Trance, in Worten, die wie eine Beschwörung klangen und doch sinnlos waren, die sich nicht zu einem Ganzen schlössen. Arren hörte aufmerksam zu und versuchte, alles zu verstehen. Wenn er das nur könnte! Sperber sollte tun, was ihm gesagt wurde, er sollte die Droge nehmen, nur dieses eine Mal, um herauszufinden, was Hase zu sagen hatte, dieses Geheimnis, von dem er sprach und das er nicht beschreiben konnte. Wozu waren sie denn sonst gekommen? Doch vielleicht — Arren blickte von Hasens verzücktem Gesicht zum Profil des ändern — verstand der Magier bereits … Wie aus Stein gemeißelt war es, dieses Profil. Wo war die Knollennase, der gutmütige Ausdruck? Falk der Handelsherr war verschwunden, hier saß der Magier, der Erzmagier von Rok, der größte Magier der Erdsee.

Die Stimme von Hase war in einen Singsang übergegangen, er wiegte seinen Oberkörper, auf seinen überkreuzten Beinen sitzend, unaufhörlich hin und her. Sein Gesicht war eingefallen, sein Mund schlaff. Ihm gegenüber, in dem schwachen, ruhigen Licht der Öllampe, die auf dem Boden zwischen ihnen stand, saß schweigend der Erzmagier. Er hatte die Hand von Hase ergriffen und hielt sie fest. Arren hatte nicht gesehen, wie er danach gegriffen hatte. Die Dinge, die sich abspielten, hingen nicht zusammen, verschiedene Male verspürte Arren eine seltsame Leere, die nicht mit Leben erfüllt war — er mußte eingenickt sein! Stunden mußten schon verstrichen sein, Mitternacht war bestimmt längst vorbei. Wenn er einschliefe, würde er Hase in seinen Träumen auch folgen können und zu dem geheimnisvollen Ort gelangen? Vielleicht. Jetzt schien es gar nicht so unmöglich zu sein. Aber er mußte die Tür beschützen. Sperber und er hatten es kaum erwähnt, aber beide waren sich bewußt, daß Hase, als er sie bat, am Abend zurückzukehren, etwas im Schilde führte. Er war Pirat gewesen, er kannte die Diebesbanden und Mordbrenner. Sie hatten keine Worte darüber verloren, doch Arren wußte, daß er aufzupassen hatte, denn während der Magier seinen Geist auf die seltsame Reise schickte, war er schutzlos. Und er, Arren, hatte in seiner Dummheit sein Schwert auf dem Boot gelassen, was würde ihm sein Messer viel helfen, wenn nun plötzlich die Tür hinter ihm auffliegen würde? Aber das würde nicht passieren, er hatte gute Ohren. Hase redete nicht mehr. Beide Männer waren totenstill, das ganze Haus war still. Niemand konnte die knarrenden Stiegen lautlos heraufkommen. Wenn er etwas vernehmen würde, dann würde er Krach schlagen: laut schreien würde er, und die Träume würden unterbrochen werden, und Sperber würde sich umwenden und sich selbst und Arren mit dem ganzen erschreckenden, blitzenden Zorn eines Zauberers verteidigen…

Als Arren an der Tür Posten bezog, hatte Sperber ihn ganz kurz angeblickt, und Zustimmung hatte in diesem Blick gelegen, Zustimmung und Vertrauen. Er war der Wachtposten. So lange er aufpaßte, bestand keine Gefahr. Aber es war schwer, sehr schwer, diese beiden Gesichter zu betrachten und die Flamme, die wie eine kleine Perle zwischen ihnen brannte, diese beiden schweigenden Männer, die unbeweglich mit offenen Augen dasaßen die weder Licht noch den Schmutz des Zimmers, noch die Welt um sich herum wahrnahmen, die in einer anderen Welt, der Welt des Traumes oder des Todes sich befanden … Es war schwer, sie zu betrachten und nicht zu versuchen, ihnen zu folgen…

Hier, in der weiten trockenen Finsternis, stand einer und winkte ihn zu sich. Komm! sagte er, der große Gebieter des Schattenreiches. In seiner Hand hielt er eine Flamme — nicht viel größer als eine Perle — er bot sie Arren an, versprach ihm Leben. Und Arren machte benommen einen zögernden Schritt auf ihn zu und folgte ihm.

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