DIE KINDER DER HOHEN SEE

Gegen Mittag regte sich Sperber und bat um Wasser. Als er getrunken hatte, fragte er: »In welcher Richtung segeln wir?«, denn das Segel über ihm war prall, und das Boot flitzte wie eine Schwalbe über die flachen Wellen.

»Westlich oder nordwestlich.«

»Mir ist kalt«, sagte Sperber. Die Sonne brannte vom Himmel, und im Boot war es heiß.

Arren erwiderte nichts.

»Versuch, westlichen Kurs zu halten. Wellogy, westlich von Obehol Land. Wir brauchen Wasser.«

Der Junge starrte nach vorne über die endlose See.

»Was ist los, Arren?«

Arren erwiderte nichts.

Sperber versuchte aufzusitzen, und als ihm das nicht gelang, versuchte er, nach seinem Stab zu greifen, doch der lag außer Reichweite. Als er sprechen wollte, kam kein Wort über seine trockenen Lippen. Das Blut sikkerte von neuem durch den durchtränkten, verkrusteten Verband, und ein dunkelrotes Rinnsal, Spinnweben gleich, floß über seinen dunklen Oberkörper. Er zog scharf die Luft ein und schloß die Augen.

Arren musterte ihn ohne Anteilnahme und blickte bald wieder weg. Er ging nach vorne und kauerte sich wieder im Bug des Bootes zusammen, sein Blick war starr nach vorne gerichtet. Sein Mund war ganz trocken. Der Ostwind, der jetzt unablässig über das offene Meer blies, war so trocken wie der Wind der Wüste. Im Faß war nur noch ungefähr ein Liter Wasser übrig. Das war für Sperber; es wäre ihm nie eingefallen, davon zu trinken. Er hatte Angelschnüre ausgeworfen, denn seit sie Lorbanery verlassen hatten, hatte er gelernt, daß roher Fisch sowohl den Hunger als auch den Durst stillen konnte. Aber er fing nichts. Es spielte keine Rolle mehr. Das Boot glitt über die Wasserwüste. Über ihnen bewegte sich die Sonne, in der gleichen Richtung wie sie, doch viel langsamer, aber letzten Endes ging sie doch als Siegerin aus dem Rennen hervor; die ganze Breite des Himmels hatte sie ihnen voraus.

Einmal kam es Arren vor, als sähe er eine kleine Erhöhung im Süden, es konnte Land oder auch nur eine große Welle gewesen sein. Das Boot hielt schon stundenlang nordwestlichen Kurs. Er machte keinen Versuch, gegen den Wind zu kreuzen, sondern überließ das Segel dem Wind. Vielleicht war es Land gewesen, vielleicht aber auch nicht. Es spielte keine Rolle mehr. Er sah nichts von der weiten, wilden Schönheit des Meeres, sah nicht den Glanz, der auf dem Wasser lag, sah nicht den unendlichen, blaustrahlenden Himmel, er blickte stumpf vor sich hin, und alles kam ihm matt und schlaff vor, alles war ihm gleichgültig.

Es wurde dunkel und wieder hell, dunkel und hell, wie Trommelschläge auf der straff gespannten Haut des Himmels.

Er ließ die Hand ins Wasser hängen. Und ganz kurz sah er, scharf und klar, ein Bild: seine Hand, grünlichbleich, unter lebendigem Wasser. Er beugte sich über Bord und lutschte die Nässe von den Fingern. Sie schmeckte bitter, und seine Lippen brannten schmerzhaft, aber er wiederholte es. Dann wurde ihm übel und er mußte sich übergeben, doch nur etwas Galle brannte in seiner Kehle. Das Faß war leer, er konnte Sperber kein Wasser mehr geben, und er hatte Angst, sich ihm zu nähern. Er legte sich nieder, fröstelnd, trotz der Hitze. Alles war ruhig, ausgetrocknet und hell: schrecklich hell. Er verbarg seine Augen vor dem Licht.

Sie standen im Boot. Drei waren es, spindeldürr, knochig, mit großen Augen, wie seltsame dunkle Reiher oder Kraniche sahen sie aus. Ihre Stimmen waren hoch und dünn, wie Vogelgezwitscher. Er verstand sie nicht. Einer kniete über ihm und hielt eine dunkle Blase in der Hand. Er goß etwas daraus in Arrens Mund: es war Wasser. Arren trank gierig, verschluckte sich, hustete, trank wieder, bis alles leer war. Dann blickte er um sich, und mühsam sich aufrichtend fragte er: »Wo, wo ist er?« Denn in der Weitblick befanden sich außer ihm nur die drei hageren Fremden.

Die sahen sich an und verstanden ihn nicht.

»Der andere Mann«, sagte er heiser. Seine wunde Kehle und seine steifen, verkrusteten Lippen konnten die Worte »mein Freund« nicht formen.

Einer von ihnen verstand seine Not, wenn auch nicht seine Worte. Er legte eine dünne, ganz leichte Hand auf Arrens Arm und deutete mit der anderen: »Dort«, sagte er beruhigend.

Arren blickte auf. Und er sah, nördlich vom Boot, Flöße, manche nahe beisammen, andere einzeln und weiter entfernt; sie waren so zahlreich, daß es aussah, als schwammen Herbstblätter auf einem Wasserbecken. Niedrig und flach lagen sie auf dem Meer, doch jedes Floß hatte eine oder zwei Kabinen oder Hütten, die sich ungefähr in der Mitte erhoben, manche hatten sogar einen Mast gesetzt. Sie hoben und senkten sich langsam mit der Dünung, die sich unter ihnen bewegte. Die Wasserstraßen glänzten silbern zwischen ihnen, und im Westen, über ihnen, türmte sich eine riesige, dunkelviolette Regenwolke mit goldenen Rändern.

»Dort«, sagte der Mann und deutete auf ein großes Floß, das nahe der Weitblick lag.

»Lebt er?«

Sie blickten ihn wieder alle an, und endlich verstand ihn wieder der eine. »Er lebt. Er lebt.« Bei diesen Worten traten Arren die Tränen in die Augen, und er begann zu schluchzen. Einer der Männer umfaßte Arrens Handgelenk mit seiner schmalen, starken Hand und zog ihn aus der Weitblick hinaus auf ein Floß, an dem das Boot festgemacht war. Das Floß war so groß und elastisch, daß es ihr Gewicht ohne auch nur im geringsten zu schwanken aufnahm. Einer der Männer führte Arren am Arm, während ein anderer mit einem langen Bootshaken, an dessen Spitze sich ein gekrümmter Haifischzahn befand, ein nahes Floß noch näher heranzog, so daß sie mühelos den Spalt überschreiten konnten. Dort führte er Arren zu einer Hütte, die von drei Seiten mit gewebten Matten geschlossen, auf der vierten aber offen war. Er gebot ihm: »Leg dich nieder!«, und das war das letzte, was Arren vernahm.

Er lag auf dem Rücken, flach ausgestreckt, und blickte hinauf auf ein einfaches, grünes Dach, das mit winzigen Lichtpunkten übersät war. Er glaubte, sich unter den Apfelbäumen von Semermein, in den Bergen von Berila, zu befinden, wo die Prinzen von Enlad ihre Sommer verbringen; er glaubte, daß er im Gras läge und durch die dichtbelaubten Apfelbaumzweige in die Sonne schaute. Nach einer Weile hörte er das Wasser, wie es gegen die Höhlungen unter dem Floß klatschte, und er vernahm die dünnen Stimmen der Floßleute, die im Hardisch des Inselreiches miteinander sprachen, das hier aber ganz anders klang und einen fremden Rhythmus hatte, so daß es ihm Mühe machte, sie zu verstehen. Jetzt wußte er endlich wieder, wo er war — weit entfernt vom Inselreich, jenseits der Außenbereiche, jenseits aller Inseln; irgendwo, weit draußen auf der hohen See. Doch es kümmerte ihn nicht; er lag hier so angenehm wie auf den Wiesen unter den Bäumen seiner Heimat.

Es fiel ihm endlich ein, aufzustehen, und er erhob sich und sah, daß sein Körper ganz dünn und dunkelbraun verbrannt war. Seine Beine zitterten, doch trugen sie ihn. Er schob die gewebte Matte zur Seite und trat hinaus in die Nachmittagssonne. Es hatte geregnet, während er geschlafen hatte. Das Floß bestand aus mächtigen, glatten Balken, die eng gefügt und ausgepicht waren, dunkel von der Nässe, wie das Haar der schlanken halbnackten Leute, das schwarz und naß über ihre Schultern fiel. Die westliche Hälfte des Himmels, in dem die Sonne stand, war klar, und die Wolken, silberne Riesenberge, verzogen sich gegen Nordosten.

Einer der Männer näherte sich behutsam und blieb in zwei Schritt Entfernung vor Arren stehen. Er war schmächtig und klein, nicht viel größer als ein zwölfjähriger Junge, mit großen, dunklen, länglich geschnittenen Augen. In seiner Hand hielt er einen Speer mit einem Widerhaken aus Walfischbein an der Spitze.

Arren sprach zu ihm: »Ich verdanke Ihnen allen mein Leben.«

Der Mann nickte.

»Könnten Sie mich bitte zu meinem Gefährten führen?«

Der Mann wandte sich um und erhob seine Stimme zu einem durchdringenden Ruf, der wie der Schrei eines Seevogels über die Wasserfläche hallte. Dann nahm er eine Hockstellung ein und wartete. Arren tat das gleiche.

Die Flöße hatten Masten, aber der Mast des Floßes, auf dem sie sich befanden, war nicht aufgerichtet. An den Mastbäumen hingen Segel, die verhältnismäßig klein im Vergleich zur Größe der Flöße waren. Die Segel waren aus braunem Zeug hergestellt, das weder Leinen, noch irgendein anderes gewebtes Tuch war, sondern ein faseriges Material, das aussah, als wäre es flachgeklopft worden, und es fühlte sich an wie Filz. Ein Floß, das ungefähr hundert Schritt von Arrens Floß entfernt war, bewegte sich langsam, mit Gaffeln und langen Stöcken von Männern an den anderen Flößen dirigiert, auf Arrens Floß zu. Als nur noch ein Schritt Abstand zwischen den Flößen war, erhob sich der Mann neben Arren und sprang ganz selbstverständlich, leicht federnd, auf das andere Floß. Arren tat das gleiche, doch landete er ungeschickt auf allen vieren, denn seinen Knien fehlte noch die Kraft, um ihn aufzufangen. Er rappelte sich auf und sah, wie der Mann ihn anblickte; kein Spott, sondern Anerkennung lag in seinem Blick: Arrens Haltung hatte ihm offensichtlich Respekt abgenötigt.

Dieses Floß war größer und hob sich weiter aus dem Wasser empor als die übrigen. Es war aus riesigen Balken, die ungefähr fünfzehn bis zwanzig Schritt lang und einen Schritt breit waren, gefertigt. Das Wetter hatte sie gedunkelt, der Gebrauch hatte sie spiegelglatt werden lassen. Merkwürdige, geschnitzte Statuen standen vor den Hütten, und an den vier Ecken des Floßes erhoben sich hohe Stangen, die an den Spitzen mit Büscheln aus Vogelfedern geschmückt waren. Er folgte seinem Führer zu der kleinsten Hütte, und dort sah er Sperber schlafend liegen.

Arren ließ sich neben der Hütte nieder. Sein Führer kehrte zu dem anderen Floß zurück, und niemand behelligte ihn. Eine Stunde später kam eine Frau und brachte ihm etwas zu essen: eine Art kalte Fischsuppe, in der gallertartige, grüne Stückchen herumschwammen; die salzig war, aber gut schmeckte. Und eine kleine Tasse Wasser zum Trinken, das abgestanden war und den Geruch vom Pech des Wasserfasses an sich hatte. An der Art und Weise, wie sie ihm das Wasser reichte, merkte er, daß es zu schätzen sei, und er trank es ehrfürchtig und bat nicht um mehr Wasser, obwohl er zehnmal mehr hätte trinken können.

Sperbers Schulter trug einen fachmännischen Verband; er schlief tief und ungestört. Als er erwachte, waren seine Augen klar. Er blickte auf Arren und lächelte ihn an, mit diesem tiefen, aus dem Herzen kommenden Lächeln, das auf seinen harten Zügen immer wieder überraschte. Arren war es plötzlich wieder, als müßte er weinen. Er legte seine Hand auf Sperbers Hand und sagte nichts.

Einer vom Floßvolk kam und ließ sich im Schatten der großen Hütte, die nahebei war, nieder: es schien eine Art Tempel zu sein, mit einem viereckigen, sehr komplizierten Ornament über dem Eingang, und geschnitzten Türpfosten, die große graue Walfische darstellten. Der Mann war so klein und mager wie die anderen. Sein Körper war nicht größer als der eines Jungen, doch seine Züge waren ausgeprägt, und die Jahre hatten ihre Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen. Er trug nur ein Tuch um seine Lenden, doch umgab ihn eine Würde, die durch kostbare Kleider nicht hätte erhöht werden können. »Er muß schlafen«, sagte er, und Arren verließ Sperber und kam auf ihn zu.

»Sie sind der Oberste dieses Volkes«, sagte Arren, der wußte, wenn er einen Prinzen vor sich hatte.

»Ja«, sagte der Mann und nickte knapp. Arren stand aufrecht und ohne sich zu rühren vor ihm. Ihre Augen trafen sich kurz, und der Mann sagte nach einer Weile: »Du bist auch der Führer eines Volkes.«

»Ja«, erwiderte Arren. Es hätte ihn interessiert zu erfahren, was den Floßmann zu dieser Feststellung veranlaßte, aber er fragte nicht danach. »Aber ich diene meinem Gebieter hier.«

Der Oberste des Floßvolkes sagte etwas, das Arren nicht verstand. Die Worte klangen in seinem Mund so anders, daß er sie nicht erkannte, und die Namen hatte er noch nie gehört; doch schließlich verstand er: »Warum seid ihr nach Balatran gekommen?«

»Wir suchten…«

Doch Arren wußte nicht, wieviel und was er sagen sollte. Alles, was sich zugetragen hatte, ihre Suche, ihre Abenteuer, schien in weiter Ferne zu liegen und verwirrte sich in seinem Kopf. Endlich sagte er: »Wir erreichten Obehol. Sie griffen uns dort an, als wir landen wollten. Mein Gebieter wurde verletzt.«

»Und du?«

»Ich wurde nicht verletzt«, sagte Arren, und die kühle Selbstsicherheit, die er in seiner Jugend bei Hofe gelernt hatte, kam ihm jetzt zustatten. »Es herrscht… es herrscht da so etwas wie Wahnsinn. Einer, der bei uns war, ist ertrunken. Das Grauen, es liegt auf allem …« Er sprach nicht weiter und schwieg.

Der Häuptling blickte ihn aus dunklen, undurchdringlichen Augen an. Endlich sagte er: »Ihr seid also durch Zufall hierhergekommen?«

»Ja. Befinden wir uns noch im Südbereich?«

»Bereich? Nein. Die Inseln …« Der Häuptling beschrieb mit seiner schmalen dunklen Hand einen kleinen Bogen, nicht größer als ein Viertel der Windrose, von Norden nach Osten. »Die Inseln sind dort«, sagte er. »Alle Inseln.« Dann deutete er auf die abendliche See vor sich, von Norden nach Westen, nach Süden und sagte: »Das Meer.«

»Von welchem Land stammen Sie?«

»Von keinem Land. Wir sind die Kinder der Hohen See.«

Arren blickte auf sein intelligentes Gesicht. Er schaute auf das große Floß, sah den Tempel, die geschnitzten Idole, jedes aus einem einzigen Baumstamm gefertigt, große, göttliche Gestalten, die menschliche Züge trugen, aber auch Ähnlichkeit mit Delphinen, Fischen und Vögeln hatten; er sah die Leute geschäftig bei der Arbeit, manche webten, andere schnitzten oder fischten oder kochten, manche waren mit Säuglingen und kleinen Kindern beschäftigt; Floß reihte sich an Floß, mindestens siebzig Flöße waren hier beisammen, die einen Riesenkreis bildeten, der bestimmt mehr als eine halbe Meile Durchmesser hatte. Es war wie eine Stadt. Aus entfernten Hütten stieg Rauch in die Höhe, hohe Kinderstimmen wurden vom Wind herübergetragen. Es war wie eine Stadt, und unter ihnen lag ein Abgrund.

»Gehen Sie nie an Land?« fragte der Junge leise.

»Einmal im Jahr. Wir gehen zur Langen Düne. Dort fällen wir Bäume und reparieren unsere Flöße. Das machen wir im Herbst, dann folgen wir den grauen Walfischen nach Norden. Im Winter trennen wir uns, jedes Floß ist für sich. Im Frühling treffen wir uns alle in Balatran. Die Leute besuchen sich auf ihren Flößen, es wird geheiratet. Wir halten den Langtanz ab. Das hier sind die Straßen von Balatran. Von hier gehen die großen Meeresströmungen in den Süden. Wir lassen uns auf ihnen treiben, bis wir die Großen sehen, die grauen Walfische. Wenn sie sich nach Norden wenden, dann folgen wir ihnen und kehren zum Strand von Emah auf der Langen Düne zurück, wo wir eine kurze Weile bleiben.«

»Das ist ganz wundersam«, sagte Arren. »Nie habe ich von einem Volk wie dem Ihrigen gehört. Meine Heimat ist weit, weit entfernt von hier. Doch wir tanzen auch den Langtanz in der Mittsommernacht.«

»Sie stampfen die Erde unter ihren Füßen und treiben alles Böse aus ihr heraus«, sagte der Häuptling trocken. »Wir tanzen über dem tiefen Meer.«

Er schwieg. Dann fragte er: »Wie wird er genannt, der Gebieter?«

»Sperber«, sagte Arren. Der Häuptling wiederholte die Silben, aber sie sagten ihm offensichtlich nichts. Und das war für Arren ein Beweis, sicherer als jeder andere, daß diese Leute jahraus, jahrein auf der See lebten, so weit draußen, so weit von jeder Küste, von jedem Land entfernt, daß sich ein Landvogel nie dorthin verirren würde, daß kein Mensch von ihrer Existenz etwas wußte.

»Er war dem Tode nahe«, sagte der Häuptling. »Er muß schlafen. Du gehst zurück zu Sterns Floß. Ich werde dich wieder rufen lassen.« Er erhob sich. Er war sich offensichtlich nicht ganz im klaren; man spürte, daß er nicht genau wußte, wie er Arren behandeln sollte, als Gleichgestellten oder als einen Knaben. Arren zog in seiner jetzigen Lage letzteres vor, er nahm hin, daß er einfach fortgeschickt wurde. Doch dann stand er vor seinem eigenen Problem. Sein Floß war abgetrieben worden, und mehr als hundert Schritte matt glänzendes, leicht bewegtes Wasser lag zwischen ihnen.

Der Häuptling der Kinder der Hohen See richtete noch einmal das Wort an ihn: »Schwimm!« sagte er.

Arren ließ sich vorsichtig ins Wasser gleiten. Es war kühl und fühlte sich angenehm auf seiner sonnenheißen Haut an. Er schwamm zum anderen Floß hinüber und zog sich hinauf. Er sah sich fünf oder sechs Kindern und jungen Leuten gegenüber, die ihn mit unverhohlenem Interesse beobachteten. Ein ganz kleines Mädchen krähte belustigt: »Du schwimmst wie ein Fisch an der Leine.«

»Wie soll ich denn sonst schwimmen?« fragte Arren etwas bestürzt, aber höflich; er hätte zu einem Menschen, so winzig wie diesem, nicht grob sein können. Die Kleine sah wie eine polierte Miniatur aus Ebenholz aus, ganz zierlich und zerbrechlich. »So!« rief sie, glitt wie ein Aal in das funkelnde, glitzernde, ruhelose Wasser und war verschwunden. Erst nach einer geraumen Zeit und in einer unglaublichen Entfernung, sah er ihren schwarzen, glatten Kopf aus dem Wasser auftauchen und hörte ihren schrillen Ruf.

»Komm!« sagte ein Junge, der in Arrens Alter sein mußte, obwohl er seiner Größe und Breite entsprechend höchstens wie ein zwölfjähriger Junge aussah; er blickte ernst drein, und auf seinem Rücken streckte sich die Tätowierung einer blauen Krabbe. Er sprang mit einem Kopfsprung ins Wasser, alle sprangen, selbst der Dreijährige. Arren blieb nichts anderes übrig, als auch zu springen, und er versuchte, nicht zu spritzen.

»Wie ein Aal«, sagte der Junge, der an seiner Schulter aufgetaucht war.

»Wie ein Delphin«, sagte ein hübsches Mädchen mit einem reizenden Lächeln und verschwand in der Tiefe.

»Wie ich«, quietschte der Dreijährige und hüpfte auf und ab wie ein Flaschenkorken.

Bis spät in die Nacht hinein und den ganzen, goldenen Tag lang, der folgte, und während all der Tage, die folgten, schwamm, redete und arbeitete Arren mit den jungen Leuten auf Sterns Floß. Und von all den Abenteuern, die er seit dem Morgen der Tag- und Nachtgleiche, da er mit Sperber Rok verließ, erlebt hatte, schien ihm dieses hier das merkwürdigste zu sein, denn es lag ganz außerhalb von allem, was er auf der Reise oder in seinem Leben je erlebt hatte, und es hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was ihm noch bevorstand. Und nachts, wenn er zwischen den anderen unter den Sternen lag, dachte er: »Es kommt mir vor, als sei ich gestorben, und das hier ist ein Leben nach dem Tode, jenseits der Welt, unter den Söhnen und Töchtern des Meeres…«

Immer bevor er einschlief, schaute er hinauf in den südlichen Himmel und suchte den gelblichen Stern und die Rune des Endens, und er sah Gobardon, und manchmal sah er das kleinere und manchmal auch das größere Dreieck. Aber das Sternbild stieg jetzt später auf, und seine Augen fielen ihm oft zu, bevor es sich ganz vom Horizont gelöst hatte. Die Flöße bewegten sich, Tag und Nacht, immer weiter nach Süden, doch die See blieb sich gleich, denn das Ewig-Veränderliche ändert sich niemals; die warmen Regengüsse des Mais brachen über sie herein und versiegten wieder, die Sterne schienen am nächtlichen Himmel, und den ganzen Tag über strahlte die Sonne.

Arren wußte, daß sie ihr Leben nicht immer auf diese unwirkliche, traumhaft schöne Weise zubringen konnten. Er fragte, wie es im Winter sei, und sie erzählten von endlosem Regen, von heftigen Stürmen, wie die einzelnen Flöße getrennt und fern voneinander sich Woche um Woche vorwärts bewegten, Wellenberg nach Wellenberg erklommen und wieder hinabschossen, unter einem grauen, dunklen, nördlichen Himmel. Im vergangenen Winter hatten sie Wellen »so hoch wie Gewitterwolken« gesehen. Der Begriff von Bergen war ihnen fremd. Waren sie hoch oben auf der Welle, so erblickten sie, noch meilenweit entfernt, die nächste, die langsam auf sie zurollte. Könnten Flöße solche Stürme aushallen? wollte er wissen, und sie sagten, ja, aber nicht immer, wenn sie sich im Frühjahr in den Straßen von Balatran trafen, dann fehlte immer das eine oder andere Floß, manchmal drei, sechs …

Sie heirateten sehr jung. Blaukrabbe, der Junge, der seinen Namen auf dem Rücken tätowiert hatte, und das hübsche Mädchen Albatros waren Mann und Frau, obwohl er erst siebzehn und sie zwei Jahre jünger war. Es gab viele solche jungen Ehen auf den Flößen. Kleinkinder, die an Leinen, von den vier Hauptstützen der Hütten ausgehend, angebunden waren, krabbelten überall herum; während der Mittagshitze kamen sie alle im Schatten der Hütten zusammen und lagen, ein Haufen schlafender, quicklebendiger, kleiner Wesen, auf- und übereinander. Die älteren Kinder mußten auf die jüngeren aufpassen. Frauen und Männer teilten sich in die Arbeiten, die verrichtet werden mußten. Sie wechselten sich ab, den großen, braunblättrigen Seetang zu ernten, den Mg/M der Straßen von Balatran, der wie Farn gezackt war und sechzig bis achtzig Fuß lang sein konnte. Alle halfen zusammen, wenn es darum ging, den Niglu zu einer Art Tuch zu klopfen, oder die starken Fasern zu Seilen zu drehen und in Netze zu knüpfen, oder Fische zu trocknen, oder Werkzeuge aus Walfischbein zu fertigen, und was alles sonst noch zum alltäglichen Leben des Floßvolkes nötig war. Aber sie fanden immer Zeit zum Plaudern und Schwimmen, und Zeitpunkte, zu denen gewisse Arbeiten fertiggestellt sein mußten, gab es bei ihnen nicht. Der Begriff Stunde war ihnen unbekannt, nur Tage und Nächte zählten. Nach einigen Tagen und Nächten kam es Arren vor, als habe er schon ewig auf den Flößen gelebt. Obehol war ein Traum, und dahinter lagen schwächere Träume, und noch viel ferner lag ein Traum, in dem er Prinz gewesen war und auf Enlad gelebt hatte.

Als er endlich auf das Floß des Häuptlings gerufen wurde, blickte ihn Sperber eine Weile an und sagte: »Du siehst aus wie der Arren, den ich im Brunnenhof gesehen habe, so geschmeidig wie ein goldener Aal. Es geht dir hier also recht gut, mein Junge!«

»Ja, mein Gebieter.«

»Aber was heißt das ›hier‹? Wir haben die bewohnte Welt hinter uns gelassen. Wir sind über alle Seekarten hinausgesegelt… Ich habe vor langen Zeiten vom Floßvolk reden hören, aber es immer für eine der Legenden des Südbereiches gehalten, etwas, das keine Basis in der Wirklichkeit hat. Doch wir sind von dieser Legende gefunden worden, und unser Leben wurde von einem Mythos gerettet.«

Er sprach lächelnd, als hätte auch er an dieser träumerischen, zeitlosen Lebensweise teilgenommen, doch sein Gesicht war hager, und in seinen Augen lag eine Tiefe, die kein Licht kannte. Arren sah dies, und er ging ihm nicht aus dem Wege.

»Ich bin des Vertrauens…«, sagte er und stockte, »ich bin des Vertrauens, das Sie in mich setzten, nicht wert.«

»Wieso, Arren?«

»Dort… auf Obehol, als Sie mich einmal wirklich brauchten, Sie waren verwundet und bedurften der Hilfe, habe ich nichts getan. Das Boot trieb Steuer los, und ich ließ es treiben. Sie litten Schmerzen und ich tat nichts, um sie zu lindern. Ich sah Land … ich sah Land, und ich habe nicht einmal versucht, das Boot zu wenden!«

»Sei ruhig, Junge!« gebot der Magier, und seine Stimme klang so bestimmt, daß Arren gehorchte. Dann sagte er: »Erzähl mir, was du während dieser Zeit gedacht hast.«

»Nichts, mein Gebieter — nichts! Ich dachte, daß alles vergeblich sei, daß es nutzlos wäre, irgend etwas zu tun. Ich dachte, daß Sie Ihre Zauberkünste verloren hätten — nein, daß Sie nie welche besessen, ja, daß Sie mich in eine Falle gelockt hätten.« Der Schweiß brach ihm aus, und er mußte sich zwingen, weiterzureden. »Ich hatte Angst vor Ihnen. Ich fürchtete den Tod. Ich habe ihn so gefürchtet, daß ich Sie nicht anschauen konnte, weil ich Angst hatte, daß Sie sterben könnten. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, außer daß… daß es eine Möglichkeit gäbe, und ich nicht zu sterben brauchte, wenn ich den Ort finden würde. Aber die ganze Zeit lang wurde das Leben schwächer, wie wenn da eine große Wunde wäre, und das Blut floß heraus — eine Wunde, wie Sie sie hatten. Nur war sie überall. Und ich habe nichts, gar nichts getan, nur versucht, mich vor dem Grauen des Sterbens zu verbergen.«

Er hielt inne, denn es war fast unerträglich, laut die Wahrheit auszusprechen. Nicht Scham hielt ihn davor zurück, sondern Furcht, die gleiche Furcht. Jetzt wußte er, warum ihm dieses friedliche Leben auf den Flößen wie ein Traum, wie ein Leben nach dem Tode vorkam. Denn er wußte tief in seinem Herzen, daß es nichts Wirkliches gab, daß die Wirklichkeit ohne Leben, ohne Wärme, ohne Farbe und Ton war … Es gab keine Höhen, keine Tiefen. Das Spiel von Licht und Schatten, die Farben, die auf dem Meer lagen und in den Augen der Menschen zu sehen waren, sie waren weiter nichts als das: Illusionen — und dahinter gähnte ein Nichts.

Sie vergingen und nichts blieb zurück, nur Kälte und eine Welt ohne feste Formen. Sonst nichts.

Sperber schaute ihn an, doch Arrens Augen waren auf den Boden geheftet, er wich diesem Blick aus. Doch ganz unerwartet spürte er, wie sich tief in seinem Herzen etwas regte. Eine kleine Stimme, mutig und spöttisch; sie war arrogant und erbarmungslos, und sie sprach: »Du Feigling! Du Feigling! Willst du sogar das aufgeben?«

Da hob er den Blick, mit großer Willensanstrengung, und blickte in die Augen seines Gefährten.

Sperber ergriff seine Hand und hielt sie fest, so daß sie sich körperlich und mit ihren Augen berührten. Er sagte Arrens wahren Namen, den er noch nie zuvor ausgesprochen hatte: »Lebannen!« Und noch einmal: »Lebannen, es ist, und du bist! Es gibt keine Sicherheit und kein Ende. Nur im Schweigen hört man das Wort, nur in der Dunkelheit sieht man die Sterne. Der Tanz wird getanzt, aber darunter ist es hohl, darunter liegt ein Abgrund.«

Arren hielt seine Hand fest und beugte seinen Kopf so tief, daß seine Stirn sich gegen Sperbers Hand preßte. »Ich habe Sie im Stich gelassen! « stöhnte er. »Ich werde wieder versagen, mir selbst gegenüber werde ich versagen. Ich bin nicht stark genug!«

»Du bist stark genug.« Die Stimme des Magiers war weich, doch unter der Weichheit war die gleiche Härte, die aus Arrens tiefstem Herzen, aus seiner Scham, aufgestiegen war und über ihn gespottet hatte. »Was du liebst, Arren, wirst du immer lieben. Was du unternimmst, wirst du vollenden. Du bist die Erfüllung der Hoffnung, auf dich kann man sich verlassen. Doch mit siebzehn Jahren ist man noch wenig geschützt vor der Verzweiflung. — Bedenke, Arren, wer den Tod verneint, der verneint das Leben!«

»Aber ich suchte den Tod — Ihren und meinen! « Arren hob den Kopf und starrte Sperber an. »Ich suchte ihn, wie Sopli, der ertrinken wollte…«

»Sopli hat den Tod nicht gesucht. Er wollte dem Tod und dem Leben entrinnen. Er suchte die Sicherheit: er versuchte der Furcht — der Furcht vor dem Tode zu entrinnen.«

»Aber es gibt… es gibt eine Möglichkeit. Jenseits des Todes ist ein Weg. Er führt zurück zum Leben. Zum Leben jenseits des Todes, zu einem Leben ohne Tod. Das — das suchen sie; Hase und Sopli, die Zauberer gewesen waren. Das suchen wir. Sie — Sie vor allem — müssen das wissen — müssen diesen Weg kennen.«

Der Magier hielt Arrens Hand noch fest umschlossen. »Ich weiß nichts davon«, sagte Sperber. »Gewiß, ich weiß, was sie glauben zu suchen. Aber ich weiß, daß es eine Lüge ist. Arren, hör mir gut zu! Du wirst sterben. Du wirst nicht ewig weiterleben. Kein Mensch, kein Wesen lebt ewig weiter. Auf dieser Erde gibt es kein ewiges Leben. Doch nur uns wurde offenbart, daß wir sterben müssen. Und das ist ein großes Geschenk: dadurch werden wir uns bewußt, denn wir wissen, daß wir das, was uns gegeben wurde, wieder hergeben, willig hergeben müssen. Und unser Selbst ist unser Himmel und unsere Hölle, es ist unser Menschsein. Es verändert sich, es verschwindet, wie eine Welle auf dem Meer verschwindet. Möchtest du, daß die Wellen und die Gezeiten zum Stillstand kommen, damit eine Welle, du, gerettet wirst? Möchtest du die Geschicklichkeit deiner Hände, die Tiefe deiner Gefühle, das Licht des Sonnenauf- und -Untergangs aufgeben, um eine Sicherheit — eine ewige Sicherheit zu erlangen? Das, und nichts anderes, versuchen sie auf Wathort und Lorbanery und an all den anderen Orten. Und das ist die Botschaft, die all die, die dazu in der Lage sind, gehört haben, und sie lautet: Wenn du das Leben verneinst, dann kannst du auch den Tod verneinen und ewig weiterleben! — Und diese Botschaft, Arren, die höre ich nicht, denn ich will sie nicht hören. Ich bin taub. Ich bin blind. Du bist mein Führer. Und du, in deiner Unschuld, in deiner UnWeisheit, in deiner Treue, du bist mein Führer, mein mutiger Führer — du bist das Kind, das ich vor mir her in die Dunkelheit sende. Deiner Furcht, deinem Schmerz, dem folge ich. Du dachtest, ich sei hart zu dir, Arren: du hast nicht geahnt, wie hart! Deine Liebe, Arren, ich gebrauche sie wie eine Kerze, eine brennende und sich selbst verzehrende Kerze, die mir zeigt, wo ich hingehen muß. Und wir müssen weitergehen. Wir müssen weitergehen. Wir müssen bis ans Ende gehen. Wir müssen dorthin, an den Ort, wo die See leer und trocken und die Freude verschwunden ist. Und vor dem Ort hast du, als Sterblicher, ein Grauen, und er zieht dich doch an.«

»Wo ist er?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ich kann Sie nicht dorthin führen, aber ich werde mit Ihnen gehen.«

Der dunkle, unergründliche Blick des Magiers ruhte auf ihm.

»Doch wenn ich wieder versage und Sie preisgeben sollte …«

»Ich vertraue dir, Morreds Sohn.«

Beide schwiegen.

Über ihnen, vor dem blauen, südlichen Himmel, bewegten sich die hohen geschnitzten Idole leicht hin und her: teils Delphine, teils Seevögel, mit menschlichen Gesichtern und starren Augen aus Muscheln.

Sperber stand mit Anstrengung auf, denn er war noch lange nicht genesen von seiner Wunde. »Ich habe das Herumsitzen satt«, sagte er. »Ich werde faul und fett.« Er ging auf dem Floß auf und ab, und Arren gesellte sich ihm bei. Sie unterhielten sich, während sie gingen. Arren erzählte ihm, was er die Tage über getan hatte und wer seine Freunde unter dem Floßvolk waren. Sperbers Ruhelosigkeit war größer als seine Stärke, die ihn bald verließ. Er blieb bei einem Mädchen stehen, die hinter dem Tempel Nilgu auf ihrem Webrahmen wob, und bat sie, den Häuptling zu ihm zu rufen; dann ging er zurück in seine Hütte. Der Häuptling des Floßvolkes erschien bald und grüßte ihn höflich. Der Magier erwiderte seinen höflichen Gruß, und alle ließen sich auf dem gefleckten Seehundsfell der Hütte nieder.

»Ich habe mir das«, sagte der Häuptling mit würdevoller und ernster Stimme, »was Sie mir gesagt haben, durch den Kopf gehen lassen. Wie die Menschen in ihren eigenen Körpern vom Tod zurückkehren wollen, wie sie darüber die Verehrung ihrer Götter und ihre eigene Gesundheit vernachlässigen und den Verstand verlieren. Das ist ein großes Übel und sehr schlimm. Aber ich habe weiter überlegt: Was hat das mit uns zu tun? Wir haben nichts mit anderen Menschen, ihren Inseln und ihren Gebräuchen, mit ihren Taten und Untaten zu tun. Wir leben auf der See, und unser Leben gehört der See. Wir hoffen nicht darauf, es immer behalten zu können, aber wir wollen es voll leben und es nicht aufgeben. Bei uns gibt es keinen Wahnsinn. Wir kommen nie an Land, und die Landbewohner kommen nicht zu uns. Als ich jung war, redeten wir manchmal mit Menschen, die zur Langen Düne kamen, während wir dort Bäume fällten und unsere Winterunterkünfte zimmerten. Oft sahen wir Segel von Ohol und Welwai (so nannte er Obehol und Wellogy), die den grauen Walfischen im Herbst folgen. Oft folgten sie auch unseren Flößen, denn sie wußten sehr wohl, daß wir die Gründe kennen, wo sich die Großen des Meeres treffen. Doch das ist alles schon lange her, und mehr wissen wir nicht von den Landmenschen. Jetzt sehen wir sie nie mehr. Vielleicht sind sie alle wahnsinnig geworden und haben sich gegenseitig umgebracht. Vor zwei Jahren, als wir uns auf der Langen Düne aufhielten, sahen wir nördlich, gegen Welwai zu, Rauch aufsteigen, der von einem großen Brand herrühren mußte. Doch was hat das mit uns zu schaffen? Wir sind die Kinder der Hohen See! Wir bleiben der See treu!«

»Doch als ihr gesehen habt, wie das Boot eines Landmenschen auf dem Wasser trieb, seid ihr zu Hilfe gekommen«, sagte der Magier.

»Einige unter uns meinten, daß es nicht klug sei, das zu tun. Sie hätten das Boot bis ans Ende des Meeres treiben lassen«, antwortete der Häuptling mit seiner hohen Stimme, die ziemlich gleichgültig klang.

»Sie gehörten nicht dazu?«

»Nein. Ich sagte, wir werden ihnen helfen, obwohl es Landmenschen sind. Doch mit Ihren Unternehmungen wollen wir nichts zu tun haben. Wenn Wahnsinn unter den Landmenschen ausgebrochen ist, dann sollen sie auch damit fertig werden. Wir folgen den Großen. Wir können Ihnen in Ihrer Suche nicht helfen. So lange Sie bei uns bleiben wollen, sind Sie willkommen. Es ist nicht mehr lange bis zum Langtanz, dann werden wir uns nach Norden wenden, und gegen Ende des Sommers erreichen wir die Lange Düne. Wenn Sie hierbleiben und Ihre Wunde ausheilen wollen, so ist uns das recht. Doch wenn Sie Ihr Boot nehmen und davonsegeln wollen, so ist uns das auch recht.«

Der Magier dankte ihm, und der Häuptling, hager wie ein Reiher, erhob sich steif und ließ sie allein.

»Unschuld ist kein Bollwerk gegen das Böse«, sagte Sperber und lächelte resigniert. »Aber Unschuld birgt die Möglichkeit, Gutes zu tun. — Ich denke, wir werden noch eine Weile hierbleiben, bis ich mich von dieser Schwäche erholt habe.«

»Das ist ein weiser Entschluß«, sagte Arren. Sperbers körperliche Schwäche hatte ihn erschreckt, und er war tief beunruhigt. Er war entschlossen, den Mann vor seiner eigenen Energie und Ruhelosigkeit zu schützen und darauf zu bestehen, daß sie mit der Weiterfahrt warten, bis er zumindest frei von Schmerzen war.

Der Magier blickte ihn an, überrascht über das Kompliment.

»Die Leute hier sind freundlich«, fuhr Arren fort, ohne Sperbers Blick wahrzunehmen. »Sie scheinen nichts von dieser seelischen Krankheit an sich zu haben, die sie auf Hort und auf den anderen Inseln hatten. Vielleicht hätte es gar keine Insel gegeben, auf der sie uns geholfen und uns willkommen geheißen hätten, so wie es diese vergessenen Leute hier getan haben.«

»Du hast wahrscheinlich recht.«

»Und ihr Leben im Sommer ist wirklich schön …«

»Stimmt. Obgleich, das ganze Leben lang nur kalte Fischsuppe zu essen, nie einen Birnbaum blühen zu sehen, nie aus einem klaren Quell trinken zu können, wäre auf die Dauer für mich schwer zu ertragen!«

So kam es, daß Arren auf Sterns Floß zurückkehrte und tagsüber mit den anderen jungen Leuten schwamm, arbeitete und in der Sonne lag. In der Abendkühle ging er zu Sperber und unterhielt sich mit ihm, und des Nachts schlief er unter den Sternen. So reihten sich die Tage aneinander, und die Mittsommernacht und der Langtanz rückten immer näher, während die großen Flöße auf den mächtigen Strömungen des offenen Meeres nach Süden trieben.

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