ORM EMBAR

Während der ganzen Nacht, der kürzesten des Jahres, brannten Fackeln auf den Flößen, die in einem Riesenkreis unter dem mit Sternen dichtbesäten Himmel aneinandergereiht waren. Es sah aus, als läge ein flakkernder, feuriger Ring auf dem Wasser. Das Floßvolk tanzte, ohne Trommeln, ohne Flöten, ohne irgendwelche Begleitmusik, nur zum Rhythmus, den ihre nackten Füße auf die großen, schaukelnden Flöße trommelten, begleitet von ihren Sängern, deren hohe, klagende Stimmen über der Weite des Meeres verklangen. Kein Mond erhellte die Nacht, und die Gestalten der Tanzenden waren nur schwach im Licht der Sterne und Fackeln sichtbar. Ab und zu brach, blitzartig, ein Tänzer aus der Reihe und schnellte sich, wie ein fliegender Fisch, in die Luft zum nächsten Floß hinüber: hoch und weit sprangen sie, sich gegenseitig überbietend, und versuchten, alle Flöße zu berühren, auf allen ein wenig zu tanzen, und bei Tagesanbruch den ganzen Ring durchtanzt zu haben und wieder auf dem eigenen Floß gelandet zu sein.

Arren tanzte auch, denn der Langtanz wird auf jeder Insel des Inselreichs getanzt, nur der Gesang und der Rhythmus sind verschieden. Die Nachtstunden verstrichen, und viele Tänzer ließen sich ermüdet nieder, um zuzuschauen, manche nickten ein. Die Stimmen der Sänger klangen heiser vom unaufhörlichen Singen. Arren erreichte mit einer Gruppe hochspringender Jungen das Floß des Häuptlings und beschloß, hier anzuhalten, während die anderen weitertanzten und sprangen.

Sperber saß nahe dem Tempel beim Häuptling und seinen drei Frauen. Zwischen den geschnitzten Walfischen, den Türpfosten des Tempels, saß ein Sänger, dessen Stimme mit unverminderter Klarheit und Stärke die ganze Nacht hindurch erklungen war. Keine Müdigkeit war an ihm wahrzunehmen, er sang ohne abzusetzen und schlug den Takt mit der flachen Hand auf die Holzbalken des Floßes.

Wovon singt er?« fragte Arren, denn er konnte den Worten, die alle in die Länge gezogen wurden und am Ende in einem ihm unbekannten Triller endeten, nicht folgen.

»Er singt von den großen Walfischen und vom Albatros und von den Stürmen des Meeres … Hier kennt man unsere Helden- und Königslieder nicht. Von Erreth-Akbe haben sie noch nie gehört. Vorhin sang er von Segoy, wie er die Inseln aus dem Meer emporsteigen ließ, diese Kunde ist ihnen von unserem Mythenschatz verblieben. Aber alles andere handelt von der weiten See.«

Arren hörte dem Gesang aufmerksam zu, und er glaubte den schrillen Schrei des Delphins zu vernehmen, den der Sänger nachahmte und um den er sein Lied wob. Er sah Sperbers Profil gegen das Fackellicht, schwarz, wie aus Fels gemeißelt, er sah die Augen der Häuptlingsfrauen im Feuerschein glitzern und hörte, wie sie leise miteinander redeten, er fühlte, wie das Floß sich auf dem ruhigen Wasser senkte und hob, und unmerklich überkam ihn der Schlaf.

Er wachte ganz plötzlich auf: der Sänger war verstummt. Nicht nur der Sänger auf ihrem Floß, auch die anderen, auf den nahen und fernen Flößen, verstummten. Wie fernes Vogelgezwitscher, dünn und hoch, verloren sich ihre Stimmen und starben langsam, eine nach der anderen, ab.

Arren blickte über die Schulter. Der volle Mond hing tief im Westen zwischen den Sternen des sommerlichen Himmels.

Dann ließ er seinen Blick nach Süden schweifen, und er sah, hoch am Firmament, den gelblichen Gorbadon und seine acht Gefährten darunter, selbst der letzte war jetzt da: Die Rune des Endens brannte hell und klar über der dunklen See. Er wandte sich Sperber zu und sah, daß sein dunkles Gesicht auch den Sternen zugekehrt war.

»Warum verstummst du?« fragte der Häuptling den Sänger. »Der Tag ist noch nicht angebrochen, selbst die Morgenröte ist noch fern.«

Der Mann stammelte: »Ich weiß nicht.«

»Sing weiter! Der Langtanz ist noch nicht zu Ende.«

»Ich habe die Worte vergessen«, sagte der Sänger, und seine Stimme klang schrill und angsterfüllt. »Ich kann nicht mehr singen. Ich habe das Lied vergessen.«

»Dann sing ein anderes!«

»Es gibt keine Lieder mehr. Es ist zu Ende«, schluchzte der Sänger und beugte sich nach vorne, bis seine Stirn die Balken berührte. Der Häuptling starrte ihn sprachlos an.

Die Flöße schaukelten unter dem flackernden Licht der Fackeln. Die Stille des Meeres umgab das bißchen menschliche Leben, das sich hinaus auf die Weite des Ozeans gewagt hatte, und verschluckte es. Kein Tänzer rührte sich mehr.

Arren glaubte wahrzunehmen, wie die Pracht der Sterne sich trübte, und doch war noch kein Morgenrot im Osten erkennbar. Ein Grauen packte ihn, und er dachte: »Es gibt keinen Sonnenaufgang mehr, das Tageslicht ist auf ewig verschwunden.«

Der Magier erhob sich. Als er aufstand, eilte ein schwaches, weißes Licht seinen Stab hinauf und brannte am hellsten dort, wo die silberne Rune in den Stab eingelassen war. »Der Tanz ist noch nicht zu Ende«, sagte er, »und die Nacht ist noch nicht zu Ende. Arren, sing!«

Arren war nicht danach zu Mute. Am liebsten hätte er gesagt, ich kann nicht, doch er unterließ es. Er atmete tief ein und blickte auf die neun Sterne im Süden. Dann begann er zu singen. Seine Stimme war zuerst leise und belegt, doch nach und nach wurde sie lauter und klarer. Er sang das älteste aller Lieder, das Lied von der Erschaffung von Ea, das vom Gleichgewicht zwischen der Dunkelheit und der Helle handelt, und von ihm, der die grünen Lande geschaffen hat, dem Größten und Mächtigsten, von Segoy.

Noch bevor er das Lied zu Ende gesungen hatte, war die Nacht verschwunden und hatte einem blaugrauen Himmel Platz gemacht, in dem nur noch der untergehende Mond und Gobardon schwachschimmernd schwammen. Die Fackeln zischten im kühlen Wind des frühen Morgens. Als das Lied zu Ende gesungen war, schwieg Arren, und die Tänzer, die sich um ihn versammelt und schweigend zugehört hatten, kehrten auf ihre Flöße zurück, während das Licht im Osten immer heller wurde.

»Das ist ein gutes Lied«, sagte der Häuptling. Seine Stimme klang unsicher, obwohl er sich bemühte, kühl und überlegen zu erscheinen. »Es wäre schlimm gewesen, wenn wir den Langtanz beendet hätten, bevor die Nacht zu Ende gegangen war. Ich werde die faulen Sänger mit Nilguseilen auspeitschen lassen.«

»Tröste sie lieber«, sagte Sperber. Er stand noch immer, und seine Stimme war hart. »Kein Sänger verstummt aus freiem Willen. Komm mit mir, Arren!«

Er wandte sich seiner Hütte zu, und Arren folgte ihm. Doch der ungewöhnliche Tagesanbruch war noch nicht zu Ende. Während der östliche Rand des Meeres immer heller wurde, sah man, von Norden kommend, hoch am Himmel einen Vogel näherkommen. Er flog so hoch, daß die Strahlen der Sonne, die noch verborgen hinter dem Horizont war, sich auf seinen Schwingen fingen und diese golden aufleuchten ließen, während er mit mächtigen Flügelschlägen die Luft zerteilte. Arren sah ihn zuerst und deutete, laut rufend, hinauf. Der Magier schaute überrascht auf. Sein Gesicht spiegelte eine tiefe innere Bewegung wider. Er rief laut aus: »Nam Hietha Arw Ged Arkvaissa« — das von der Ursprache in die Umgangssprache übertragen heißt: »Wenn du Ged suchst, so findest du ihn hier!«

Mit donnerndem Getöse, wie ein riesiges goldenes Senklot, die Flügel weit und hoch ausgestreckt, mit Krallen, die einen Ochsen packen konnten, als wäre er eine Maus, mit zwei langen, rauchenden, aus der Nase sich ringelnden Flammen ließ sich der Drache wie ein Falke auf dem plötzlich heftig schaukelnden Floß nieder.

Das Floßvolk schrie auf; manche duckten sich, andere sprangen ins Wasser, und wieder andere standen stocksteif und starrten; sie waren so überwältigt, daß sie ihre Furcht vergaßen.

Der Drache stand über ihnen. Die Spannweite seiner Flügel mußte hundert Fuß oder mehr betragen. Sie waren dünn, durchsichtig, und im hellen Licht des jungen Morgens schienen sie wie grauer, mit Gold durchsetzter Rauch; sein Körper war nicht weniger lang, doch schmal und sehnig, wie der eines Windhundes, doch hatte er Klauen wie eine Rieseneidechse und war mit den Schuppen einer Riesenschlange bedeckt. Sein gekrümmtes, rund gebeugtes Rückgrat war gezackt, die Form der Zacken war Rosendornen nicht unähnlich, nur waren sie auf dem höchsten Punkt des Höckers gute drei Fuß hoch und wurden, gegen die Schwanzspitze hin, immer kleiner, bis sie nicht viel höher als eine Taschenmesserklinge waren. Die Zacken waren grau, und auch die Schuppen hatten die Farbe von Eisen, doch funkelten sie, als seien sie mit Gold durchwirkt. Seine Augen waren grün und geschlitzt.

Getrieben von der Furcht um sein Volk verließ der Häuptling seine Hütte; in seiner Hand hielt er eine Harpune, wie sie das Floßvolk bei der Jagd auf Walfische verwendete: sie war größer als er selbst, und an ihrer Spitze befand sich ein Widerhaken aus Walfischbein. Er legte sie auf seinen muskulösen Arm, zielte auf den nur dünn beschuppten Unterleib des Drachens, der über ihm schwankte, und nahm Anlauf, um seine Waffe mit größerer Kraft werfen zu können. Arren, aus seiner Erstarrung erwachend, stürzte sich auf ihn und hielt seinen Arm fest, und alle beide, mitsamt der Harpune, fielen übereinander. »Wollen Sie ihn mit Ihrer lächerlichen Nadel verärgern?« keuchte Arren. »Lassen Sie den Drachenfürsten erst reden.«

Der Häuptling, sprachlos und außer Atem, starrte erst auf Arren, dann auf den Magier und den Drachen. Es verschlug ihm die Sprache. Der Drache begann zu sprechen.

Nur Ged, an den seine Worte gerichtet waren, konnte ihn verstehen, denn Drachen reden in der Ursprache, die für sie Umgangssprache ist. Die Stimme war nicht klar, eher zischelnd wie die einer Katze, die leise fauchend ihre Wut ausdrückt, nur viel lauter, und ein Ton lag darin, der das Mark erstarren ließ. Wer diese Stimme vernahm, konnte sich nicht mehr fortbewegen: er mußte stillstehen und sie anhören.

Der Magier antwortete kurz, und der Drache sprach wieder, sich über ihm auf flatternden Flügeln erhebend: fast wie eine Riesenlibelle, die in der Luft schwebt, dachte Arren.

Dann sagte der Magier nur ein Wort: »Memeas«, — ich werde kommen, und er hob seinen Stab aus Erlenholz in die Höhe. Der Rachen des Drachens öffnete sich weit, und eine lange Rauchfahne rollte, sich verschlingend, daraus hervor. Die goldenen Flügel schlugen laut, und ein gewaltiger Wind erhob sich, der einen Brandgeruch mit sich trug. Dann stieg der Drache majestätisch in die Höhe, kreiste und flog, riesig und den Himmel verdunkelnd, Richtung Norden davon.

Auf den Flößen war es still geworden; nur das leise Wimmern von Kinderstimmen und tröstende Frauenstimmen waren zu vernehmen. Die ins Wasser gesprungenen Männer kletterten, etwas verlegen, wieder zurück auf die Flöße, und die vergessenen Fackeln flackerten rußend in den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.

Der Magier wandte sich zu Arren. Auf seinem Gesicht lag ein Licht, das von einer tiefen Freude oder von einer großen inneren Erregung herrühren mochte; doch seine Stimme war ruhig: »Jetzt müssen wir gehen, mein Junge. Sag Lebewohl und komm!« Er wandte sich zum Häuptling des Floßvolks, um ihm zu danken und um sich zu verabschieden. Dann schritt er über drei Flöße — von der vergangenen Nacht her lagen sie noch nahe beisammen — bis er das Floß erreichte, an dem die Weitblick angebunden war. Leer auf den Wellen schaukelnd war das Boot der Floßstadt auf ihrem langsamen Treck nach Süden gefolgt. Die Kinder der Hohen See hatten sein leeres Wasserfaß mit aufgefangenem Regenwasser gefüllt und es mit Proviant versorgt. Das war ihre Art, den Gast zu ehren, den viele unter ihnen als einen der Großen ansahen, der die Gestalt eines Menschen anstatt eines Walfisches angenommen hatte. Als Arren zum Boot kam, hatte er schon das Segel gesetzt. Arren löste das Seil und sprang ins Boot, und im gleichen Moment drehte sich die Weitblick vom Floß weg, und seine Segel füllten sich mit einer steifen Brise, obgleich nur der schwache Wind des frühen Morgens über das Wasser fächelte. Das Boot legte sich auf die Seite und flog nach Norden, der Spur des Drachens folgend, so leicht wie ein vom Winde gejagtes Blatt.

Als Arren zurückblickte, sah er die Floßstadt weit in der Ferne liegen, wie winzige Stückchen Holz schwammen sie auf dem Wasser: die Pfosten und Hütten, die sich auf den Flößen erhoben. Bald verschwanden auch sie in der glitzernden Helle, die der frühe Morgen über das Wasser ausgoß. Die Weitblick flog wie ein Pfeil über die Wellen. Wenn der Bug das Wasser zerteilte, so stob Gischt auf. Der Wind blies Arrens Haar zurück, und er mußte seine Augen zusammenkneifen, um sie zu schützen.

Kein Wind der Welt hätte das Boot mit dieser Geschwindigkeit über das Wasser jagen können, höchstens ein Sturm, doch dann hätte die Gefahr bestanden, daß es an den Wellen zerschellte. Aber dies war kein irdischer Wind, sondern das Wort und die Macht des Magiers; und sie jagten das Boot mit Pfeilesschnelle über das Meer.

Der Magier stand lange am Mast und blickte prüfend in die Ferne. Endlich setzte er sich an seinen gewohnten Platz bei der Ruderpinne, auf die er seine Hand legte, und schaute Arren an.

»Das war Orm Embar«, sagte er, »der Drache von Selidor, ein Nachkomme des großen Orm, der Erreth-Akbe getötet hatte und von ihm getötet worden war.«

»War er auf der Jagd?« fragte Arren, denn er war nicht sicher, ob der Magier den Drachen willkommen geheißen, oder ihm gedroht hatte.

»Er forschte nach mir. Wenn Drachen etwas suchen, so finden sie es auch. Er kam und bat mich um Hilfe.« Er lachte kurz auf. »Und wenn mir das jemand gesagt hätte, niemals hätte ich es geglaubt, daß ein Drache je einen Menschen um Hilfe bitten würde! Und dazu noch dieser! Er ist nicht der älteste, obwohl er auch sehr alt ist, doch ist er unter allen der Mächtigste. Er verbirgt seinen Namen nicht, wie das die anderen Drachen und die Menschen tun müssen. Er fürchtet nicht, daß irgendein Geschöpf, Mensch oder Tier, Macht über ihn erlangen könnte. Auch betrügt er, wie das die Art von Drachen ist, niemals. Vor langer Zeit, auf Selidor, schenkte er mir das Leben und offenbarte mir ein großes Geheimnis: er sagte mir, wo die Königsrune wiedergefunden werden kann. Ihm verdanke ich den Ring von Erreth-Akbe. Aber nie fiel mir ein, daß ich ihm das entgelten müßte, daß ich bei ihm, einem solchen Gläubiger, in Schuld stünde.«

»Was wünscht er?«

»Daß ich ihm den Weg zeige, den ich suche«, sagte der Magier; seine Stimme war hart geworden. Und nach einer Weile fügte er hinzu. »Er sagte: ›Im Westen ist ein anderer Drachenfürst; er bringt Zerstörung über uns alle, und seine Macht ist größer als unsre Macht.‹ Und ich sagte: ›Selbst größer als deine, Orm Embar?‹ und er sagte: ›Selbst größer als meine. Ich brauche deine Hilfe. Folge mir eilends!‹ Und so gebeten, folge ich.«

»Doch mehr wissen Sie nicht?«

»Ich werde bald mehr wissen.«

Arren rollte das Ankertau zusammen, verstaute es und verrichtete andere kleinere Arbeiten im Boot. Er versuchte ruhig zu sein, doch es fiel ihm schwer. Die Ereignisse dieses Morgens, das Aufregende ihrer Situation, ließen sein Herz höher schlagen, und die Spannung, wie eine straffgespannte Bogensehne, sang in seiner Stimme, als er schließlich sprach. »Das ist ein besserer Führer als die vorigen«, sagte er.

Sperber schaute ihn an und lachte. »Stimmt«, sagte er. »Ich glaube auch nicht, daß wir dieses Mal irregehen werden.«

Und so begannen die beiden ihre große Fahrt über das Meer. Mehr als tausend Meilen lagen zwischen den auf keiner Karte verzeichneten Meeresströmungen des Floßvolkes und der Insel Selidor, der westlichsten aller Inseln der Erdsee. Ein Tag nach dem ändern erhob sich strahlend am Horizont und versank im rotglühenden Westen, und das Boot, unter der goldenen Sonnenbahn und den silberglänzenden Sternen, flog unentwegt nach Norden, allein auf dem weiten Meer.

Manchmal ballten sich die Gewitterwolken des Hochsommers in der Ferne zusammen und warfen ihre dunkelvioletten Schatten gegen den Horizont; dann sah Arren zu, wie der Magier aufstand und mit Hand und Stimme den Wolken gebot, gegen sie zu treiben und ihren Regen über das Boot auszuschütten. Die Blitze schössen aus den Wolken hervor, der Donner krachte, doch der Magier stand mit ausgestreckter Hand, bis der Regen auf sie niederprasselte und die Gefäße, die sie aufgestellt hatten, und das Boot mit Wasser füllten, und die Wellen des Meeres unter ihrem Anprall flachdrückten. Und er lachte und warf Arren einen Blick des Einverständnisses zu, und auch Arren mußte lachen, denn an Nahrung litten sie keinen Mangel — aber auch keinen Überfluß — doch an Wasser fehlte es ihnen. Und das Gewitter, das sich in seinem gloriosen Zorn über ihnen entlud, bot einen überwältigenden Anblick.

Arren war überrascht über die Macht, die sein Gefährte nun so bedenkenlos verschwendete, und einmal fragte er ihn: »Warum haben Sie, als wir unsere Reise begannen, keine Zauber gewirkt?«

»Das A und O allen Unterrichts auf Rok gipfelt in dem Gebot: Wirke nur, was nötig ist. Nicht mehr.«

»Der Unterricht dazwischen besteht dann wohl darin, das zu lernen, was nötig ist.«

»Stimmt. Man muß immer das Gleichgewicht im Auge behalten. Doch wenn das Gleichgewicht selbst gestört ist — dann zieht man anderes in Erwägung: vor allem Eile.«

»Wie kommt es, daß alle Zauberer im Süden — und jetzt bestimmt auch anderswo — selbst die Sänger auf den Flößen — ihre Macht verloren, während Sie Ihre Macht behalten haben?«

»Weil ich meine Kunst als Kunst allein schätze und keinen Gewinn darin suche«, antwortete Sperber.

Und nach einer Weile fügte er, weniger ernst, hinzu: »Und wenn ich sie schon bald hergeben muß, dann will ich sie wenigstens ausnutzen, solange ich sie noch habe.«

Sein Wesen war überhaupt ganz anders, als Arren es bisher erlebt hatte. Eine gewisse Sorglosigkeit, eine kindliche Freude an seiner Geschicklichkeit, an seiner Kunst, hatte Besitz von ihm ergriffen, etwas, das Arren nie hinter seinem ernsten Wesen vermutet hätte. Arren wußte nicht, daß der wahre Magier mit Herz und Seele an seiner Kunst hängt und sich an seiner Geschicklichkeit erfreut. Sperbers Verwandlung in Hort, die Arren so erschreckt hatte, war ein Spiel für ihn gewesen. Und für einen, der nicht nur sein Gesicht und seine Stimme, sondern seine ganze Gestalt und sein Wesen in etwas anderes verwandeln konnte, wenn er wollte — einen Fisch, einen Falken, einen Delphin — für den war diese Verwandlung eine Kinderei. Einmal sagte er: »Schau her, Arren! Ich zeig dir Gont.« Und er deutete auf die Oberfläche des Wasserfasses, das er geöffnet hatte, und das bis an den Rand voll war. Viele Zauberer konnten ein Bild auf einer Wasseroberfläche erscheinen lassen. Es war nichts Besonderes, was er da vollbrachte: Man sah einen hohen Gipfel, von Wolken umgeben, der sich aus dem grauen Meer erhob. Das Bild änderte sich, und Arren sah einen steilen Felsen, der auf der Berginsel in die Höhe ragte. Er sah ihn aus der Perspektive eines Vogels, einer Möwe oder eines Falken, der vom Wind der Küste getragen durch diesen Wind auf diesen Felsen blickte, der sich gut zehntausend Fuß hoch über der Brandung erhob. Und ganz oben, auf einem kleinen Felsplateau, sah man ein kleines Haus. »Das ist Re Albi«, sagte Sperber, »dort wohnt mein Meister Ogion, der vor langer Zeit das Erdbeben gestillt hat. Er hält ein paar Ziegen und sammelt Krauter und schweigt. Ob er wohl noch in den Bergen wandert? Er ist jetzt schon sehr alt. Aber ich würde es wissen, gewiß würde ich es wissen, selbst jetzt, wenn Ogion gestorben wäre …« Seine Stimme klang unsicher, einen Augenblick lang wurde das Bild undeutlich und verschwamm, und es sah aus, als ob der Fels zusammenkrachen würde. Dann wurde das Bild wieder klar, seine Stimme hatte sich gefangen. »Im Spätsommer und im Herbst begibt er sich gewöhnlich ganz allein auf eine Wanderung in die Berge. Auf einer dieser Wanderungen kam er einmal zu mir, ich war damals noch ein Lausejunge und wohnte in einem der Bergdörfer. Er hat mir meinen Namen und damit auch mein Leben gegeben.« Das Bild änderte sich, und der Beschauer sah jetzt — wie ein Vogel, der zwischen den Zweigen eines Baumes sitzend hinausspäht — eine sonnige, steile Berghalde unterhalb eines schneebedeckten Felsgrates liegen und einen steilen Pfad, der hinunter in ein tiefgrünes, vom goldenen Sonnenlicht durchbrochenes Dunkel führte. »Nichts kommt dem Schweigen dieser Wälder gleich«, sagte Sperber, und in seiner Stimme lag Sehnsucht.

Das Bild wurde schwächer, bald war es verschwunden; nur die grelle Scheibe der Mittagssonne starrte ihnen aus dem Wasser entgegen.

»Ja, ja«, sagte Sperber, und sein Blick ruhte nachdenklich und ein wenig spöttisch auf Arren, »wenn ich jemals wieder zurückkehren soll, selbst du könntest mir dorthin nicht folgen.«

Vor ihnen lag Land. Niedrig und blau erhob es sich über dem Horizont.

Im Dunst des Nachmittags glich es einer Nebelbank. »Ist das Selidor?« fragte Arren, und sein Herz begann heftig zu pochen, doch der Magier antwortete: »Ich vermute, es ist Obb oder Jessetsch. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt, mein Junge! «

Es war Nacht, als sie durch die Meeresstraßen zwischen den beiden Inseln segelten. Sie sahen keine Lichter, doch starker Brandgeruch lag in der Luft, und der Rauch war stellenweise so dick, daß ihre Lungen beim Atmen zu schmerzen begannen. Als es hell wurde und sie zurückblickten, sahen sie, daß die östliche Insel, Jessetsch, von der Küste landeinwärts, so weit der Blick reichte, schwarz und verbrannt aussah, ein blauer, schwerer Dunst lag darüber.

»Man hat die Ernte verbrannt«, sagte Arren.

»Stimmt. Und die Dörfer. Den Rauch habe ich schon einmal gerochen.«

»Sind das hier Barbaren im Westen?«

Sperber schüttelte verneinend seinen Kopf. »Bauern und Städter.«

Arren starrte auf das schwarze, zerstörte Land, auf die verkohlten Stümpfe der Obstbäume, die sich gegen den Himmel reckten, und sein Gesicht wurde hart. »Was haben ihnen denn die Bäume getan?« sagte er. »Muß man seinen Haß am Gras auslassen? Menschen, die das Land verwüsten, weil sie sich untereinander streiten, sind Barbaren.«

»Es fehlt ihnen die Führung«, sagte Sperber, »es fehlt ihnen der König; und all die herrschenden und zauberkundigen Menschen haben sich abgesondert und in sich selbst zurückgezogen; die suchen die Tür, die vom Tod zurückführt. So ist es im Süden, und so wird es vermutlich auch hier sein.«

»Und ein Mann kann das bewerkstelligen — der, von dem der Drachen sprach? Das scheint doch kaum möglich.«

»Warum nicht? Wenn es einen König aller Inseln gäbe, wäre das ja auch nur ein Mann, und er würde regieren. Ein Mann kann regieren, und genauso leicht kann ein Mann auch zerstören: sei ein König oder ein Antikönig.«

In seiner Stimme lag wieder dieser leicht spöttische, herausfordernde Ton, der Arrens Blut aufwallen ließ.

»Ein König hat Diener — Soldaten, Beamte, Gesandte. Er regiert durch die, die in seinem Dienst stehen. Wo sind denn die Diener dieses … dieses Antikönigs?«

»In unserem Herzen, mein Junge, in unserem Herzen! Der Verräter, das ist das eigene Ich, das schreit: Ich will leben, laßt die Welt verbrennen, wenn nur ich leben kann! Das infame, kleine Stimmchen, das in uns nistet, im Dunkel unserer Seele wie der Wurm im Apfel. Und es spricht zu jedem von uns. Doch nur wenige können es verstehen: die Zauberer und die Hexenmeister, die Sänger, die Künstler und die Helden, diejenigen, die versuchen, sich selbst zu finden und zu bejahen, die versuchen, sich zu verwirklichen. Und das ist etwas ganz Großes und Seltenes. Und sich in alle Ewigkeit verwirklichen zu können, ist das denn nicht noch viel besser?«

Arren blickte Sperber direkt in die Augen. »Ihrer Ansicht nach ist es nicht besser. Aber sagen Sie mir, warum. Als ich diese Reise begann, war ich ein Kind, ein Kind, das nicht an den Tod glaubte. Sie glauben, daß ich noch immer ein Kind bin, aber ich habe inzwischen gelernt, nicht viel vielleicht, aber doch etwas. Ich habe gelernt, daß es einen Tod gibt, und daß ich sterben muß. Aber ich habe nicht gelernt, daß ich dieses Wissen willkommen heißen muß, daß ich Ihren oder meinen Tod begrüßen soll. Wenn ich das Leben liebe, ist es dann nicht natürlich, daß ich seinem Ende mit Widerwillen entgegensehe? Warum soll ich mir keine Unsterblichkeit wünschen?«

Arrens Fechtmeister in Berila war ungefähr sechzig Jahre alt gewesen, ein kleiner, glatzköpfiger und kalter Mann. Arren hatte ihn jahrelang nicht ausstehen können, obgleich er wußte, daß er ein ausgezeichneter Fechtmeister war. Doch eines Tages, während einer Übung, hatte er den Meister in einer ungeschützten Stellung überrascht und fast entwaffnet, und der ungläubige, ungewohnte Ausdruck der Freude auf den strengen Züge n, die Überraschung, das Staunen, endlich einen Ebenbürtigen, endlich einen Partner gefunden zu haben — nie hatte er diesen Ausdruck vergessen können. Und von diesem Tag an hatte ihn der alte Mann erbarmungslos herangenommen und immer lag das gleiche Lächeln auf dem Gesicht des alten Manns und hellte sich auf, je mehr Arren auf ihn eindrang. Und jetzt lag es auf Sperbers Gesicht, leuchtend wie Stahl im Licht der Sonne.

»Warum sollst du dir keine Unsterblichkeit wünschen? Wie kannst du es vermeiden? Jede Seele strebt danach, und ihre Größe liegt in der Stärke dieses Strebens. — Doch hab acht, du gehörst zu denen, deren Wunsch in Erfüllung gehen kann.«

»Und dann?«

»Dann könnte es geschehen, daß ein falscher König an die Macht kommt, und die Kunst der Menschen ist vergessen, die Sänger sind stumm, und die Augen blind. Und hier! Schau dich um! Sieh dir die Verheerung, das Elend des Landes, die Wunde, die wir heilen wollen, an. Zwei sind es, Arren, die ein Ganzes formen: die Welt und der Schatten, die Helligkeit und das Dunkle. Das sind die beiden Schalen der Waage. Leben trägt den Keim des Todes, der Tod den Keim des Lebens in sich. Die beiden Pole sind sich entgegengesetzt und ziehen sich daher an, sie bringen sich gegenseitig hervor und werden ewig wiedergeboren. Und alles folgt ihnen, die Blüte des Apfelbaums, das Licht der Sterne. Im Leben ist der Tod beschlossen und im Tod die Wiedergeburt. Ein Leben ohne Tod, wie sähe das aus? Ein sich nie veränderndes, ewig dauerndes Leben? — Ist das nicht ein schrecklicher Tod — ein Tod, dem keine Wiedergeburt folgt?«

»Wenn soviel davon abhängt, wenn eines Menschen Leben das Gleichgewicht des Ganzen stören kann, dann ist es doch sicherlich … ich meine, dann würde doch nicht zugelassen werden …« Er stockte, verwirrt.

»Wer läßt zu? Wer verbietet?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich auch nicht. Aber ich weiß, wieviel Böses ein Mensch anrichten kann. Ich weiß es nur zu gut, denn ich habe es selbst getan. Ich habe die gleiche böse Tat im Taumel meines Stolzes begangen. Ich habe die Tür zwischen den Welten geöffnet, nur einen Spalt weit, einen ganz winzigen Spalt, nur um zu zeigen, daß ich stärker als der Tod selbst sei… Ich war jung und war dem Tod — wie du — noch nie begegnet… Es bedurfte der ganzen Macht des Erzmagiers Nemmerle, seiner ganzen Kunst und seines Lebens, um die Tür wieder zu schließen. Du siehst die Narben, die diese Nacht auf meinem Gesicht hinterlassen hat, doch sein Leben hat es gekostet. O ja, die Tür zwischen der Helligkeit und dem Dunkel kann geöffnet werden, Arren! Es bedarf der Stärke, doch es kann vollbracht werden. Doch sie wieder zu schließen, das, Arren, ist eine ganz andere Sache.«

»Aber das, von dem Sie sprechen, das ist doch gewißlich ganz verschieden von dem hier…«

»Warum? Weil ich ein guter Mensch bin?« Die Stimme war wieder hart und kalt, das Auge des Falken blickte ihn durchdringend an. »Was heißt das, ein guter Mensch zu sein, Arren? Ist der gut, der nie etwas Böses tun würde, der nie die Tür zur Finsternis aufmachen würde, der kein Dunkel in sich trägt? Denk nach und schau etwas tiefer, Junge! Was du lernst, wirst du dort gebrauchen können, wohin wir gehen müssen. Schau in dich selbst!

Hast du nicht eine Stimme vernommen, die Komm! gesagt hat? Bist du ihr nicht gefolgt?«

»Doch. Ich — ich habe es nicht vergessen. Aber ich dachte … ich dachte, daß es … daß es seine Stimme war.«

»Gewiß, es war seine Stimme, aber es war auch deine Stimme. Wie anders hätte er über die Meere zu dir sprechen können, als in deiner eigenen Stimme? Wie kommt es, daß er die, die gelernt haben zu hören — die Magier, die Künstler, die Suchenden — ruft, und daß die seiner Stimme folgen? Wie kommt es, daß er mich nicht zu sich ruft? Weil er weiß, daß ich nicht hören will. Ich will diese Stimme nicht vernehmen. Du, Arren, du bist, wie ich, zur Macht geboren, zur Macht über andere Menschen, über andere Seelen. Ist das nicht das gleiche wie Macht über Leben und Tod? Du bist noch jung, du stehst an der Schwelle der Möglichkeiten, und im Land der Schatten und Träume vernimmst du die Stimme, die zu dir spricht: Komm! Aber ich, ich bin alt, ich habe getan, was ich tun mußte, ich stehe im Licht des Tages und sehe meinem eigenen Tod entgegen, dem Ende aller Möglichkeiten. Ich weiß, daß es nur eine Macht gibt, die es wert ist zu besitzen: die Macht, nicht zu nehmen, sondern zu empfangen.«

Jessetsch lag schon weit hinter ihnen, ein blauer Strich am Horizont, ein Fleck.

»Dann bin ich sein Diener«, sagte Arren.

»Das bist du. Und ich bin deiner.«

»Aber wer ist es denn? Was ist es?«

»Ich glaube, es ist ein Mensch — so wie du und ich.«

»Dieser Mann, von dem Sie einst sprachen — der Zauberer von Havnor, der die Toten heraufbeschworen hat, ist es der?«

»Das kann gut sein. Er besaß große Macht, und sie war ausschließlich darauf gerichtet, dem Tod zu entgehen. Und er kannte die Großen Formeln, die in der Zauberkunde von Paln enthalten sind. Ich war jung und dumm, als ich in diesem Buch las und eine der Formeln benutzte. Ich habe mir selbst Unheil damit zugezogen. Sieh dir die Narben an. Doch wenn ein alter und mächtiger Mann sie benutzt und keine Rücksicht auf die Folgen nimmt, dann kann er uns alle ins Verderben stürzen.«

»Wurde Ihnen nicht gesagt, daß dieser Mann tot sei?«

»Doch«, sagte Sperber, »das wurde mir gesagt.«

Sie sprachen nicht mehr weiter darüber.

In dieser Nacht war das Meer wie von einem Feuer durchleuchtet. Die scharfen Wellen, vom Bug der Weitblick zurückgeworfen, und die Bewegungen jedes Fisches unter der Oberfläche des Wassers waren klar umrissen und lebendig im Licht. Arrens Arm lag auf der Ruderbank, und er ließ seinen Kopf darauf ruhen, während er die silbernen Wirbel und Strudel betrachtete. Er tauchte seine Hand in das Wasser und hob sie hoch, und ein sanftes Licht glitt von seinen Fingern herab. »Schauen Sie her«, sagte er, »ich bin auch ein Zauberer!«

»Diese Gabe hast du nicht«, sagte sein Gefährte.

»Und ohne sie«, erwiderte Arren und blickte in das ruhelose Glitzern der Wellen, »bin ich ja wirklich keine große Hilfe, wenn wir auf unseren Feind treffen.«

Denn er hatte heimlich gehofft — schon von Anfang an —, daß der Grund, warum der Erzmagier ihn und keinen anderen auf diese Reise mitgenommen hatte, darin lag, daß eine Kraft in ihm schlummerte, die von seinem Vorfahren Morred auf ihn gekommen war und die sich in der äußersten Not in der dunkelsten Stunde offenbaren würde: dann würde er sich selbst und seinen Gebieter und die ganze Welt von diesem Feind befreien. Aber in letzter Zeit, wenn er an diese Hoffnung dachte, so schien sie ihm in weiter Ferne zu liegen; und es stieg in ihm eine Erinnerung an die Tage seiner Kindheit auf, als er den brennenden Wunsch hatte, die Krone seines Vaters aufzuprobieren, und als es ihm untersagt wurde, hatte er geweint. Die Hoffnung war genauso kindisch, genauso unreif. Er besaß keine Macht, taugte nicht zur Magie. Er würde diese Gabe auch nie besitzen.

Wahrscheinlich war freilich, daß irgendwann der Zeitpunkt kommen würde, da er die Krone seines Vaters aufsetzen und als Prinz von Enlad regieren mußte. Doch das schien ihm jetzt nichts Besonderes mehr zu sein, seine Heimat kam ihm klein vor und lag in weiter Ferne. Das war keine Treulosigkeit. Seine Treue war sogar gewachsen, nur war sie jetzt auf etwas viel Größeres, auf eine viel umfassendere Hoffnung gerichtet. Er hatte seine eigene Schwäche erkannt und hatte gelernt, an ihr seine Stärke zu messen. Jetzt wußte er, daß er stark war. Doch was nutzte ihm diese Stärke, wenn er keine magische Gaben besaß, wenn er seinem Gebieter nichts anbieten konnte als seine Dienste und seine unverbrüchliche Liebe? Dort, wohin sie gehen mußten, würde das dort genügen?

Sperber hatte gesagt: »Um das Licht einer Kerze zu sehen, muß man sie an einen dunklen Ort tragen.« Damit versuchte sich Arren zu trösten, aber er fand den Gedanken nicht sehr trostreich. Als sie am anderen Morgen erwachten, waren Luft und Wasser grau. Über dem Mast hellte sich der Himmel zu der sanften Bläue eines Opals auf, denn der Nebel hing tief. Den Männern aus dem Norden, zu denen Arren von Enlad und Sperber von Gont gehörten, war der Nebel vertraut; sie hießen ihn willkommen wie einen alten Freund. Sachte umhüllte er das Boot, so daß sie nicht weit blicken konnten, und es kam ihnen vor, als befänden sie sich in einem vertrauten Raum, nach Wochen in einer leeren, erbarmungslosen Helle in einem unablässig blasenden Wind. Sie kehrten in ihr gewohntes Klima zurück und befanden sich jetzt ungefähr auf der Höhe von Rok.

Etwa sechshundert Meilen weit Östlich von der nebligen See, auf der die Weitblick segelte, schien die Sonne auf die Blätter der Bäume im Immanenten Hain, auf den grünen Gipfeln des Rokkogels und auf das spitze Schieferdach des Großhauses.

In einem Zimmer im Südturm, dem Arbeitsraum eines Magiers, in dem sich Retorten und Destillierkolben und dickbauchige Flaschen, teils mit geradem, teils mit schiefem Hals befanden, in dem stabile Öfen und winzige Heizlämpchen, Zangen, Scheren, Blasebälge, Ständer, Rohre, eine Unzahl von Schachteln, Reagenzgläsern und verpfropften Flaschen, teils in Hardisch oder geheimnisvollen Runen markiert, herumlagen und -standen, in dem es alles gab, was zur Alchemie, Glasbläserei, Metallschmelze und zur Kunst des Heilens gehörte, in diesem Raum, zwischen den mit allem Möglichen angehäuften Tischen und Bänken, standen der Meister der Verwandlungen und der Meister des Gebietens von Rok.

Der Meister der Verwandlungen hielt einen, wie ein ungeschliffener Diamant aussehenden Edelstein in seinen Händen. Es war ein Felskristall, der ganz tief im Innern amethystfarben und rosa schimmerte, doch sonst so klar wie Wasser war. Doch wenn das Auge sich in dieser klaren Tiefe verlor, so stieß es auf eine Trübung, die weder Widerspiegelung noch Bild der sie umgebenden Wirklichkeit war, sondern nur aus Flächen und Tiefen bestand, die immer weiter in eine Traumwelt hineinführten, die das Auge verbannt hielt. Dies war der Stein von Scheließ. Lange war er Teil des Schatzes der Prinzen von Weg gewesen, manchmal war ihm nicht mehr Bedeutung als jedem anderen Schmuckstück zugewiesen worden, manchmal hatte er als Schlafmittel gedient, doch manchmal erfüllte er einen grausamen Dienst: der Unerfahrene, der zu lange in die Tiefe des Kristalls blickte, wurde wahnsinnig. Der Erzmagier Genscher von Weg hatte, als er nach Rok kam, den Kristall mitgebracht, denn in den Händen eines Magiers enthüllte der Stein die Wahrheit.

Doch die Wahrheit ist verschieden von Mensch zu Mensch.

Und so beschrieb der Meister der Verwandlungen, der den Stein in seinen Händen hielt und durch die ungleichmäßig geprägte Oberfläche in die endlose, schimmernde, zart getönte Tiefe blickte, laut das Bild, das er sah: »Ich sehe die Erde vor mir liegen, so als ob ich auf dem Berge Onn im Mittelpunkt der Welt stünde, und mein Auge erschaut alles, was mir zu Füßen liegt, selbst die fernste Insel im fernsten B ereich und was jenseits liegt. Alles ist deutlich. Ich sehe Schiffe auf den Meeresstraßen von Ilien und die Herdfeuer auf Torheven und das Dach des Turmes, in dem wir uns befinden. Doch hinter Rok ist alles leer. Im Süden — nichts, im Westen — nichts, Wathort ist nicht dort, wo es sein soll, und auch die ändern Inseln im Westen fehlen, selbst Pendor, die nächstliegende, ist nicht sichtbar. Und wo ist Osskil und Ebosskil? Enlad ist vom Nebel verdeckt, ein schmutziges Grau liegt wie eine Spinnwebe auf der Insel. Immer mehr Inseln fehlen, und nichts ist auf dem Meer, so muß es ausgesehen haben vor der Schöpfung…«, seine Stimme brach, als er das letzte Wort aussprach, er mußte sich zwingen, es über seine Lippen zu bringen.

Er legte den Stein vorsichtig auf den Ständer aus Elfenbein und trat zurück. Sein gütiges Gesicht sah erschöpft aus. Er sagte: »Sagen Sie mir, was Sie sehen!«

Der Meister des Gebietens hob den Stein auf und hielt ihn in seinen Händen. Er drehte ihn langsam herum, als suche er auf der unebenen Oberfläche den Eingang zu einer Vision. Lange drehte er ihn hin und her, und sein Gesicht war angespannt. Endlich legte er ihn zurück und sagte: »Verwandler, ich sehe wenig. Fragmente, Fetzen, nichts, was sich zu einem Ganzen schließt.«

Der grauhaarige Meister ballte die Hände zu Fäusten: »Ist das nicht schon an sich erschreckend?«

»Wieso?«

»Sind Ihre Augen oft blind?« rief der Verwandler, und Zorn lag in seiner Stimme. »Sehen Sie nicht, daß sich…«, und er stammelte ein paarmal, bevor er weiterreden konnte, »sehen Sie nicht, daß sich eine Hand über Ihre Augen gelegt hat, so wie sich eine Hand auf meinen Mund gelegt hat?«

Der Meister des Gebietens sagte: »Sie sind überarbeitet, Meister.«

»Gebieten Sie dem Wesen des Steines, zu erscheinen!« sagte der Meister der Verwandlungen, nachdem er sich gesammelt hatte, doch seine Stimme klang erstickt.

»Warum?«

»Warum? Weil ich Sie darum bitte.«

»Hören Sie auf, Meister! Wollen Sie mich etwa herausfordern — wie Knaben vor der Höhle des Bären? Sind wir denn Kinder?«

»Ja! Vor dem, was ich im Stein von Scheließ sehe, bin ich ein Kind — ein furchtsames Kind. Gebieten Sie dem Wesen des Steines. Muß ich Sie anflehen?«

»Nein«, sagte der große Meister, aber seine Stirn war gefurcht, und er wandte sich von dem älteren Mann ab. Dann streckte er die Arme weit aus in der Großen Geste, mit der die Formeln seiner Kunst beginnen; er hob den Kopf und sprach die Worte der Invokation. Während er sprach, begann ein Licht im Stein zu leuchten. Das Zimmer verdunkelte sich, Schatten drängten sich näher. Als die Schatten tief waren und der Stein ganz hell, legte er die Hände zusammen, hob den Stein vor das Gesicht und blickte hinein in das leuchtende Kristall.

Er schwieg eine Weile, dann begann er zu reden: »Ich sehe die Brunnen von Scheließ«, sagte er leise, »die Becken, die Schalen, die Wasserspiele, die silbernen Vorhänge vor den Spalten, wo Farne im Moos wachsen; ich sehe den gewellten Sand, über den die plätschernden Wasser sich ergießen, das Wasser, das aus der tiefen Erde dringt, das Geheimnis, die Unschuld des Ursprungs, die Quellen …«Er verstummte und blieb lange stehen, ohne sich zu rühren; sein Gesicht war bleich, es sah silbern aus im Schein des Kristalls. Dann schrie er wortlos auf, und, den Kristall achtlos fallen lassend, stürzte er auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen.

Die Schatten waren verschwunden. Das Sonnenlicht strömte in den mit Geräten angefüllten Raum. Der große Bergkristall, der zu Boden gepoltert war, lag unbeschädigt im Staub und Abfall unter einem Tisch.

Der Meister des Gebietens streckte die Hand suchend aus, wie ein Kind griff er nach der Hand des ändern. Er atmete schwer. Endlich stand er auf und lehnte sich ein wenig an den Meister der Verwandlungen. Mit noch zitternden Lippen versuchte er zu lächeln: »Meister, vor Ihren Herausforderungen muß man sich hüten!«

»Was haben Sie gesehen, Thorion?«

»Ich habe die Brunnen gesehen. Ich habe gesehen, wie sie versunken sind, und wie die Flüsse ausgetrocknet sind. Ich habe gesehen, wie die Lippen der Quellränder sich geöffnet haben, und darunter war alles schwarz und trocken. Sie haben das Meer vor der Schöpfung gesehen, ich habe gesehen, was danach — nach dem Ende kommt.« Seine Lippen waren trocken. »Ich wünschte, der Erzmagier wäre hier.«

»Ich wünschte, wir könnten jetzt bei ihm sein.«

»Wo? Niemand kann ihn jetzt finden.« Der Meister des Gebietens blickte auf und schaute durch das Fenster in einen blauen, heiteren Himmel. »Kein Senden, kein Gebieten kann ihn jetzt erreichen. Er ist dort, wo Sie das Meer gesehen haben, auf dem sich nichts befand. Er kommt an den Ort, wo die Quellen versiegen. Er ist dort, wo uns unsere Künste nichts helfen … Doch vielleicht gibt es selbst jetzt noch Formeln, die ihn erreichen könnten, vielleicht einige aus der Zauber künde von Paln.«

»Das sind doch Formeln, die Tote wieder ins Leben rufen.«

»Und manche bringen die Lebenden ins Reich der Toten.«

»Sie glauben nicht, daß er tot ist?«

»Ich glaube, er geht dem Tod entgegen und wird von ihm angezogen. Wir alle werden davon angezogen. Unsere Macht verläßt uns, unsere Stärke, unsere Hoffnung, unser Glück flieht uns. Die Quellen versiegen.«

Der Meister der Verwandlungen blickte ihn sorgenvoll an. »Versuchen Sie nicht, nach ihm zu senden, Thorion«, sagte er schließlich. »Er wußte, was er suchte, lange bevor wir es wußten. Ihm ist die Welt wie der Kristall von Scheließ: er schaut und sieht, was getan werden muß … Wir können ihm nicht helfen. Die Großen Formeln sind alle gefährdet, und besonders die, die in der Kunde, die Sie erwähnt haben, enthalten sind. Wir müssen hier standhalten und uns um Rok kümmern. Wir müssen die Namen bewahren.«

»Gewiß«, sagte der Meister des Gebietens, »doch ich muß gehen und darüber nachdenken.« Er verließ das Turmzimmer, etwas steif ausschreitend, und trug seinen dunklen, edel geformten Kopf hoch.

Am nächsten Morgen suchte ihn der Meister der Verwandlungen auf. Als er keine Antwort auf sein Klopfen vernahm, öffnete er die Tür und fand ihn ausgestreckt auf dem Steinboden liegend, so als wäre er von einem schweren Wurf zurückgeschleudert worden. Seine Arme waren weit ausgestreckt, wie in einer Invokationsgeste, doch seine Hände waren kalt und seine Augen blicklos. Obwohl der Verwandler, neben ihm kniend, ihn mit der Macht des Magiers zurückrief, indem der seinen Namen Thorion dreimal wiederholte, bewegte er sich nicht. Er war nicht tot, aber nur noch ein bißchen Leben war in ihm, gerade genug, um sein Herz schlagen zu lassen und etwas Luft in seine Lungen zu bringen. Der Meister des Verwandeins griff nach seinen Händen und hielt sie fest, dann flüsterte er: »Oh, Thorion, ich habe dich gezwungen, in den Kristall zu blicken. Das ist meine Schuld!« Dann stand er hastig auf und ging hinaus in den Flur und sagte zu jedem, den er traf, Meister und Schüler: »Der Feind ist in unserer Mitte, in das gutgeschützte Rok ist er gedrungen und hat unsere Macht an der Wurzel angegriffen.« Sonst ein sanfter Mann, sah er jetzt so kalt und fremd aus, daß diejenigen, die ihn sahen, Furcht vor ihm hatten. »Schaut euch den Meister des Gebietens an!« sagte er. »Wer wird ihn zurückrufen können, wenn er, der Meister dieser Kunst, von uns gegangen ist?«

Er ging auf sein Zimmer, und alle traten zurück, um ihn vorbeizulassen.

Man ließ den Meister der Heilkunde kommen. Er o rdnete an, daß Thorion zu Bett gelegt und warm zugedeckt werde, aber er braute keinen Kräutertee und sang keinen der Gesänge, die einem kranken Körper oder einem gestörten Geist halfen.

Einer seiner Schüler war bei ihm, ein junger Bursche, der noch nicht den Zaubergrad erworben hatte, aber in der Heilkunde hochbegabt war. Er fragte: »Meister, kann man denn nichts für ihn tun?«

»Nicht auf dieser Seite der Mauer«, sagte der Meister. Dann, sich besinnend, zu wem er sprach, fügte er hinzu: »Er ist nicht krank, mein Junge, doch selbst wenn er ein Fieber oder eine Krankheit hätte, ich weiß nicht, ob unsere Kunst ihm groß helfen könnte. Mir scheint es, als ob unsere Krauter in letzter Zeit an Würze verloren hätten, und obwohl ich die Worte unserer Formeln wie eh und je spreche, so kommt mir doch vor, als wirkten sie nicht mehr so stark.«

»So etwas ähnliches hat Meister Sänger gestern gesagt. Er hat mitten in dem Lied, das er uns gerade beigebracht hat, aufgehört. ›Ich weiß nicht mehr, was das Lied bedeutet‹, hat er verstört gemurmelt und ist dann aus dem Zimmer gegangen. Einige der Jungen haben gelacht, aber mir warʹs nicht danach, mir warʹs, als würde der Boden unter mir versinken.«

Der Meister der Heilkunde schaute in das offene, kluge Gesicht des Jungen und dann hinunter auf das starre Gesicht des Gebieters. »Er wird zurückkommen«, sagte er. »Die Lieder werden nicht vergessen werden.«

In dieser Nacht verließ der Meister der Verwandlungen Rok. Niemand hatte ihn fortgehen sehen. Das Fenster seines Zimmers, das auf den Garten hinausging, stand offen. Er blieb verschwunden. Sie nahmen an, daß er seine eigene Kunst dazu verwendet hatte, sich zu verwandeln, vielleicht in irgendeinen Vogel oder in ein anderes Tier, in Nebel oder in Wind, denn alle Formen, alle Substanzen lagen im Bereich seiner Verwandlungskunst. Und so war er entflohen, vielleicht um den Erzmagier zu suchen. Unter ihnen waren manche, die um die Gefahr wußten, die drohte, wenn jemand in seiner eigenen Verwandlung gefangen wird. Das kann geschehen, wenn die Macht nachläßt oder der Wille erlahmt. Sie fürchteten um ihn, doch sie sprachen nicht von ihrer Furcht.

So kam es, daß drei Meister im Konzil der Weisen fehlten. Als die Tage vergingen und keine Nachricht vom Erzmagier sie erreichte, als der Meister des Gebietens weiterhin wie tot auf seinem Bett lag und der Meister der Verwandlungen verschwunden blieb, breitete sich Kälte und Bedrückung im Großhaus von Rok aus. Die Jungen flüsterten untereinander, und manche redeten davon, Rok zu verlassen, denn der Unterricht litt, und sie lernten nicht viel. »Vielleicht«, so meinte einer, »war alles, diese ganzen geheimen Künste und Mächte, von Anfang an nichts als Lüge und Täuschung. Von den Meistern übt nur noch Meister Hand seine Künste, und das weiß ja jeder, daß das nichts weiter ist als Spielerei und Illusion! Und die anderen verstecken sich und weigern sich, irgend etwas zu tun, weil ihre Künste jetzt offenbart sind.« Und ein anderer, der das überhörte, meinte: »Was ist Zauberei denn schon groß? Die ganze Magierkunst ist doch nichts weiter als Schein. Hat sie denn schon jemals einen Menschen vom Tod errettet oder ihm ein langes Leben verliehen? Wenn die Magier die Macht wirklich hätten, derer sie sich rühmen, dann würden sie doch alle ewig leben!« Und er und die anderen Jungen begannen, vom Sterben der großen Magier zu reden, wie Morred im Kampf gefallen war, wie Nereger vom Grauen Magier getötet wurde und Erreth-Akbe vom Drachen, und wie Genscher, der letzte Erzmagier, einfach krank wurde und im Bett starb, wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Manche Jungen hörten zu und freuten sich, denn sie besaßen neidvolle Herzen, andere aber hörten zu und litten.

Und während der ganzen Zeit blieb der Meister der Formgebung im Immanenten Hain, in den er niemanden hineinließ.

Doch der Pförtner, obgleich er selten gesehen wurde, hatte sich nicht verändert. Kein Schatten lag über seinen Augen. Er lächelte und hielt die Türen des Großhauses bereit zur Rückkehr seines Herrn.

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