Ilsor meldete über Mentacho den bevorstehenden Überfall der Außerirdischen auf die Smaragdenstadt.
Nach Mitternacht versammelte sich der Militärrat im Thronsaal des Smaragdenschlosses. Keine Minute durfte verloren werden. Alle beschäftigte nur ein Gedanke, wie sich die drohende Gefahr, die über dem Zauberland lag, abwenden ließe. Nach einem Tag ununterbrochenen Nachdenkens konnten sich die Mitglieder des Rates vor Müdigkeit kaum noch auf den Füßen halten. Dem Scheuch blätterte sogar die Farbe vor Überanstrengung ab. Ann mußte zu Farbtopf und Pinsel greifen, um ihm ein neues Gesicht anzumalen. Dem betrübten Eisernen Holzfäller rannen ununterbrochen Tränen über die Wangen, und er mußte, um nicht zu rosten, stündlich geölt werden.
Besonders schwer wurde Kaggi-Karr die Teilnahme an der Sitzung. Immer wieder fielen ihr die Augen unter den geschwollenen, schweren Lidern zu. Nur wenn sie den Kopf schüttelte, konnte sie sie wieder aufreißen. Als erster sprach der Scheuch. Wie immer unterschied sich seine Rede durch Kürze und seine schon sprichwörtliche Weisheit. Er sagte:
„Wir dürfen den Fremdlingen nicht die Initiative überlassen. Während die Wasserleitung verlegt wird, müssen wir andere Offensiven starten. Wir müssen den Fremdlingen unsere Taktik aufzwingen und sie in die Verteidigung drängen. Was gibt es für Vorschläge?" fragte der Gebieter. „Haltet euch kurz. Bedenkt, daß es dort, wo viele Worte gemacht werden, der Weisheit mangelt."
Die Rede des Scheuchs wurde selbstverständlich gebilligt, doch keiner hatte es eilig mit Vorschlägen. Es fällt ja bekanntlich immer leicht, etwas dahinzureden. Viel schwieriger aber ist es, weise zu sein.
Als erster brach Faramant das Schweigen. Die langen Wachen am Tor regten zu ernsthaften Überlegungen an. Wenn ihr einen guten Rat braucht, wendet euch also vertrauensvoll an den Torhüter. Er hat sie massenweise parat. „Wir müssen einen Überfall auf das Lager der Fremdlinge unternehmen", sagte Faramant. „Es muß ein machtvoller Überraschungsangriff werden. Vor allem aber müssen die Hauptwaffen der Fremdlinge, die Strahlpistolen, unwirksam gemacht werden. Kurz, als Ausführende sehe ich keinen, außer den Holzköpfen." Hier unterbrach ihn Din Gior, der als Feldmarschall für die Erfolge der militärischen Unternehmungen im Zauberland verantwortlich war. Er sprach:
„Faramants Gedanke gefällt mir. Es fragt sich nur, ob die Holzköpfe in der Lage sind, die Operation durchzuführen. Wir haben ihnen freundliche Gesichter angemalt, wissen aber nicht, wie sich diese Veränderungen auf ihre geistigen Fähigkeiten ausgewirkt haben. Ich habe nichts gegen den Vorschlag, denke nur, daß wir diesen Umstand diskutieren müssen: Davon hängt der Ausgang der Operation ab." Hier war also Widerspruch lautgeworden. Es war an der Zeit für den Weisen, sich einzumischen. Deshalb sagte der Scheuch:
„Wer gütig ist, ist auch klug. Ein Dummkopf kann kein gütiges Antlitz haben. Dazu fehlt es ihm an Verstand. Offensichtlich finden wir keine besseren Kämpfer als die Holzköpfe. Wir müssen nur darüber nachdenken, wie wir sie vor den Strahlpistolen
schützen. Der Strahl tötet sie nicht, kann aber die hölzernen Körper in Brand setzen. Welcher Meinung sind die Ratsmitglieder?"
„Man könnte den Holzköpfen nasse Umhänge geben", krächzte Kaggi-Karr. Ihre Angewohnheit, Ratschläge zu erteilen, siegte über ihre Müdigkeit. „Umhänge trocknen rasch an der Sonne und im Wind. Das geht also nicht", äußerte sich endlich der Eiserne Holzfäller, der bislang kein Wörtchen sagen konnte, weil alle Mitglieder des Militärrats durcheinander redeten.
„Wir müssen die Holzköpfe mit Spiegelschilden ausstatten", sprudelte der Scheuch hervor. Als Enzyklopädist hatte er niemals Schwierigkeiten mit passenden Ratschlägen. Selbstverständlich war nun Cunning an der Reihe, sich zu äußern, da es um technische Lösungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Kenntnisse ging. „Spiegelschilde sind nicht nur ein hervorragender Schutz gegen die Strahlwaffe", bemerkte er. „Wenn man sie zudem in Form eines Zerrspiegels anordnen würde, so kann man die Strahlenenergie sammeln und sie reflektieren, so daß sie auf die Fremdlinge zurückfällt."
Damit hätte die Beratung beendet werden können, da man sich darüber einig war, den Menviten mit einer eigenen Angriffsoperation zuvorzukommen. Es war klar, wer die Operation ausführen sollte. Es war klar, wie man sich gegen die Waffe der Fremdlinge schützen konnte. Man hatte außerdem eine Methode herausgefunden, um diese Waffe gegen ihre Erfinder zu kehren. Die Vorbereitungen auf den Überfall nahmen nicht viel Zeit in Anspruch. Während kunstfertige Meister die Messingschilde anfertigten und sie nach einem Rezept von Cunning mit einem Quecksilberbelag versahen, damit sie spiegelblank glänzten, exerzierten die Holzköpfe unter Befehl von General Lan Pirot Umgruppierungen, um in der Bewegung die Strahlenenergie zu reflektieren und sie abwechselnd auf die verschiedensten Gegenstände zu lenken. Lan Pirots tänzerische Begabung und seine Erfahrungen als Befehlshaber waren hervorragend geeignet für die Ausbildung der Holzköpfe mit Spiegeln in Fußordnung. Um den Plan der Operation geheimzuhalten, gab man den Holzköpfen statt Spiegeln jedoch farbige Reifen in die Hände.
Voller Interesse beobachteten die Einwohner des Zauberlandes die Übungen des Tanzensembles der Holzköpfe unter Leitung von Lan Pirot, obwohl sie nicht begreifen konnten, warum die Holzsoldaten angesichts der drohenden menvitischen Gefahr so unbeschwert ihre Kurzweil trieben. Doch wie dem auch immer sein mochte, alle fanden Gefallen an dem unerwarteten schönen Volksfest.
Das Auftreten des Ensembles hatte noch einen anderen Vorzug. Vom Bord des Helikopters, der die Smaragdenstadt ständig beobachtete, erhielt General Baan-Nu ein Telegramm folgenden Inhalts: „Die Bellioren tanzen".
Mögen sie ruhig Weitertanzen, dachte der General, als er dieses Telegramm las. Am besten tanzt der Sieger. Am nächsten Morgen ließ Feldmarschall Din Gior die Truppen, die an dem Überfall teilnehmen sollten, zum letzten Appell antreten. Er betrachtete die fröhlich lächelnden Gesichter der Soldaten und wurde finster. Sie erschienen ihm zu leichtfertig. Fast mürrisch fragte er Lan Pirot: „Sind Sie sich über die Bedeutung dieses Auftrages überhaupt im klaren?"
Der hölzerne General lachte von einem Ohr bis zum anderen.
„Zu Befehl, jawohl, Euer Hochwohlgeboren, Herr Feldmarschall." Er machte ein paar fröhliche Tanzschritte.
Din Gior seufzte bedenklich. Wenn der General so leichtfertig war, was sollte man dann erst von den Soldaten erwarten?
„Werden Sie mit der Aufgabe fertig?" fragte er noch finsterer.
„Bitte sich nicht zu beunruhigen, Euer Hochwohlgeboren", entgegnete Lan Pirot. „Da alles gut bedacht wurde, wird der Erfolg nicht auf sich warten lassen. Alles wird aufs beste erledigt." Wieder tänzelte er fröhlich vor dem Feldmarschall hin und her. Als in das Kriegshorn gestoßen wurde, formierte sich die Abteilung zur Marschkolonne, alle Soldaten hoben ihre Schilde und liefen zu Hurrikaps Schloß. Ohne Atempause legten sie die Entfernung von der Smaragdenstadt bis zur Waldwiese vor Ranavir zurück.
Die Wachposten der Außerirdischen bemerkten die Holzköpfe rechtzeitig. Sie gaben Alarm, alle Abteilungen der Menviten wurden auf die Beine gebracht und waren bereit, ihre erprobten Waffen, die Strahlpistolen, in Anwendung zu bringen. Sie irritierte lediglich, daß die Bellioren selbst zum Angriff übergegangen waren. Sie sind uns also zuvorgekommen bei den Kriegsvorbereitungen. Jetzt müssen wir ihren Angriff zurückschlagen. Es ist an uns, diese selbstsicheren Bellioren Mores zu lehren, dachten die Menviten.
Inzwischen hatte sich die Abteilung der Holzköpfe in der Bewegung zur Kette umgruppiert. Diese Kette schloß sich nun und bildete auf der Waldwiese einen großen Halbmond, der von den glänzenden Schilden abgedeckt war. Ohne die Geschwindigkeit zu vermindern, bewegte sich der Halbmond auf die menvitischen Abteilungen zu. Auf Befehl schalteten die Außerirdischen ihre Strahlpistolen ein. Im selben Augenblick ertönten Schreckensschreie aus ihren eigenen Reihen. Die Strahlen der Pistolen, die von dem spiegelblanken Halbmond reflektiert wurden, schlugen mitten in einer menvitischen Abteilung ein.
Bevor die Außerirdischen erkannten, daß sie sich selbst verwundeten, und nach allen Seiten davon rannten, stürzten mehrere Menviten, die starke Verbrennungen erlitten hatten, zu Boden.
Ohne Zeit zu verlieren, drehte sich der Spiegelhalbmond und setzte mit dem von den Schilden gesammelten Strahl der noch nicht abgeschalteten Pistolen eine Tonne mit dem Kerosin für die Helikopter in Brand. Dann sprang der Strahl über auf die Werkstatt, aus der sofort Rauchschwaden aufstiegen. Als die Menviten sich endlich besannen, schalteten sie ihre unglückseligen Pistolen ab und setzten Kartätschen ein. Sofort bildete der Halbmond eine Kette, die Holzköpfe hingen sich ihre Schilde auf den Rücken und traten die Flucht an.
Als die Brände gelöscht und die Verwundeten verbunden waren, betrachteten die Menviten ungläubig die vom Gegner zurückgelassenen Trophäen: Es waren ein paar blaue und gelbe Holzspäne, die von den Holzsoldaten abgesplittert waren, als die Kartätschen losballerten. Die zuversichtliche Stimmung der Eroberer machte großer Verzagtheit Platz.
Am selben Tag wurde das gesamte Holzheer repariert. Man malte den Soldaten neue Uniformen an, gab ihnen neue Epauletten und Medaillen, und der frischgestrichene strahlende Lan Pirot bekam sogar goldene Schulterstücke und ein Ordensband über die Schulter.
Der Scheuch wandte sich gegen Faramants Vorschlag, die Smaragde, um sie vor der Vernichtung zu bewahren, von Stadttoren und Mauern, von Straßen und Hausdächern zu entfernen. Das hätte seiner Meinung nach bedeutet, die Angst vor dem Feind einzugestehen, was gleichbedeutend damit war, ihm sich auf Gnade und Ungnade auszuliefern.
„Mit den Smaragden macht der Kampf mehr Spaß", behauptete der Scheuch. „Die grünen Steine müssen weiter leuchten. Das wird uns helfen. Mögen die Steine in allen Regenbogenfarben schillern!"
„Das stimmt. Die Smaragdenstadt darf nicht ohne Smaragde bleiben", nickte Feldmarschall Din Gior. Da die Smaragde nicht entfernt würden, sondern den Kämpfenden vielmehr helfen sollten, wurden sie auf Hochglanz poliert, damit sie noch strahlender leuchteten. So erstand die Smaragdenstadt vor dem Überfall der Menviten in all ihrer Großartigkeit. Die Einwohner und alle wundersamen Geschöpfe des Zauberlandes beschlossen, sich zu ihrer Verteidigung zu erheben. Doch was konnten sie gegen die Fremdlinge ausrichten? Sie konnten nur mutig sein. Das aber ist schon sehr viel.
Die Mutigsten in der Armee des Zauberlandes waren die eisernen und die hölzernen Geschöpfe: Tilli-Willi, der Eiserne Holzfäller und die Holzköpfe unter Lan Pirot. Die Holzköpfe hatten bereits die Feuertaufe im Kampf gegen die fremden Eindringlinge bestanden. Tilli-Willi schärfte seinen Degen, den vierzig Menschen nur mit Mühe von der Stelle bewegen konnten. Sein riesiger Schild glänzte wie ein Spiegel und reflektierte die Sonnenstrahlen auf die gegnerische Seite. Das war keine schlechte Kriegslist, die er sich bei den Holzköpfen abgesehen hatte. Der Eiserne Holzfäller mit seiner schweren Axt konnte ebenfalls, wenn er auch zehnmal kleiner war als sein eiserner Gefährte, der Ritter, erbittert kämpfen. Din Gior machte sich leidenschaftlich an die Arbeit. Nicht umsonst hatte er aus den Chroniken, die in der Schatzkammer hinter dem Thronsaal aufbewahrt waren, die Beschreibungen aller berühmten Schlachten, die irgendwann einmal im Zauberland geschlagen worden waren, fast auswendig gelernt. Vor allem verteilte er mit Sachkenntnis die vorhandenen militärischen Kräfte. Er baute rund um die Stadt eine Gefechtssicherung auf, in der die Städter mit Gewehren und Revolvern, welche Cunning verteilte, ausgerüstet waren. Alfred persönlich befehligte sie. Die Städter schossen nicht schlecht: Von jeweils fünf Kugeln traf eine das Ziel. Für Menschen, die bislang keinem einzigen Geschöpf etwas zuleide getan hatten, war so ein Ergebnis ein Erfolg, der sich sehen lassen konnte.
Unbeweglich standen auf Mauern und Türmen die Beobachterposten. Durch sie würde die Armee rechtzeitig von der Annäherung des Gegners erfahren. Din Gior ließ die Hauptkräfte, einschließlich Tilli-Willis und des Eisernen Holzfällers, in der Stadt Aufstellung nehmen. Er bedachte auch die Reserve. Sie wurde aus den Holzsoldaten unter Befehl von Lan Pirot gebildet. Man versteckte sie im Wald unter dem Laubwerk der Sträucher. Um die Verbindung mit dem Feldmarschall aufrechtzuerhalten, wurden überall Läufer aufgestellt. Das Wichtigste aber für die Verteidigung der Smaragdenstadt hatte Alfred Cunning bedacht. Auf seine Anweisung nähte Ann zusammen mit den Frauen der Zwinkerer, der Erzgräber und allen anderen Einwohnern, die eine Nadel führen konnten, Stich um Stich Säcke aus festem grauem Stoff. Das war genauso ein militärischer Auftrag wie die Schießübungen. Den grauen Stoff hatte Ilsor zum Teil aus den Vorräten der „Diavona" an sich gebracht, zum Teil hatte Mentacho ihn gewebt. Als die Näharbeiten beendet waren, entzündete man Riesenfeuer in der Stadt und hielt die Säcke darüber, um sie mit Heißluft zu füllen. Dann hingen sie wie Luftballons über der Stadt.
Während die Feuer angezündet und die Luftballons vorbereitet wurden, flog der zahme Drache Oicho am Himmel entlang, um die Menviten abzulenken. Im Lager der Außerirdischen bereitete man sich auch zum Überfall auf die Bellioren vor. Die Arsaken reparierten unter der nimmermüden Aufsicht der menvitischen Flieger und Ingenieure, die ihnen keine Atempause ließen, die beschädigten Helikopter und die zerstörten Geräte, bauten statt der verschwundenen neue Details ein und luden die Kartätschen auf.
Sie waren es auch, die als erste am Himmel ein geflügeltes Ungeheuer entdeckten, das einer Echse glich. Es schwenkte die riesigen Schwingen, die wie hartes Leder wirkten, und ließ seine kräftigen Krallen am gelben schuppigen Leib hinabhängen. Zwischen den langen scharfen Zähnen leuchtete aus dem aufgerissenen Schlund die rote Zunge wie eine Flamme.
„Schaut, schaut nur!" schrien sofort mehrere Arsaken. „Eine fliegende Echse!" KauRuck überprüfte gerade seinen Helikopter. Aufmerksam blickte er zum Himmel auf. „Woher kommt dieses vorsintflutliche Fossil?" fragte er. Sofort begab er sich zu Baan-Nu.
„Blicken Sie zum Himmel auf, mein General!" wandte sich der Pilot an Baan-Nu. „Sehen Sie etwas?"
„Ein Drache?" fragte der erstaunte General, der glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Mit stockendem Herzen verfolgte er Oichos Flug.
„Vielleicht sollten wir mit der Operation ,Schrecken' ein wenig warten?" Fragend sah Kau-Ruck den General an.
„Nein", erwiderte der General entschieden. „Der Gefechtsstart darf nicht wegen irgendwelcher Geschichten der Erdenbürger abgeblasen werden. Wir müssen diesen irdischen Phantastereien ein Ende machen, je eher, desto besser." Bald kam der Tag, den Baan-Nu für die Operation vorgesehen hatte. Die Helikopter flogen die Smaragdenstadt an. In jeder Maschine saß neben dem Piloten ein Schütze. Die Flieger hatten große Schatullen für die Smaragde und andere Schätze an Bord. Sie glaubten Baan-Nu, der ihnen versprochen hatte
„Nach der Schlacht werden sich eure Schatullen bis an den Rand füllen. Zunächst bringt ihr sie nach Ranavir, mir zur Aufbewahrung. Dann nehmt ihr sie mit nach Rameria. In der Heimat werdet ihr steinreich werden."
Die Helikopter flogen ihrem Ziel entgegen, die Besatzungen verständigten sich über Funk. Doch während die Staffel, bestehend aus 30 Maschinen, von Ranavir zur Smaragdenstadt flog, schnitt ihnen, aus dem nördlichen Teil der Weltumspannenden Berge kommend, eine andere Staffel den Weg ab. Es waren die Adler von Karfax. Die Adler hatten, nachdem eine Kanone der Außerirdischen Goriek verwundet hatte, besondere Vorsicht walten lassen. Von Natur aus waren diese Riesenvögel zwar ungesellig, aber auch sie gehörten zu den Bewohnern des Zauberlandes. Als Karfax bemerkte, daß die Fremdlinge Böses im Schilde zu führen schienen, beauftragte er seine Stammesgefährten, von den ungebetenen Gästen kein Auge mehr zu lassen.
Deshalb flogen die Adler, als sie die kriegerischen Absichten der Helikopterstaffel bemerkten, sofort den Menviten entgegen. Bis zur Stadt waren weniger als dreißig Meilen geblieben, als Komandant Mon-So und die anderen Piloten auf ihrer Flugbahn in der Ferne dunkle Punkte zu sichten glaubten, die Vögeln ähnelten. Sie verschwanden, um unmittelbar vor den Helikoptern wieder aufzutauchen. Das seltsame Tosen verstärkte sich.
Da fiel ein grauschwarzer Schatten, der aus einer Wolke zu kommen schien, auf den Spiegel vor Mon-So. Das seltsame Tosen wurde zu einem kriegerischen Adlerschrei. Neugierig ließ Mon-So das Seitenfenster neben seiner Pilotenkanzel herab und blickte hinaus ... Das hätte ihn fast das Leben gekostet. Ein eisiger Luftstrom, von einer Riesenschwinge aufgewirbelt, drückte Mon-So in seinen Pilotensitz zurück. Beinahe wäre er aus dem Helikopter geschleudert worden.
Eher aus Angst als irgendwelchen Überlegungen folgend, drehte Mon-So das Fenster hoch und wendete den Helikopter. Als er sich hastig nach allen Seiten umblickte, bemerkte er, daß die anderen Maschinen ebenfalls überfallen wurden. Mit ausgebreiteten Schwingen stürzten sich die Adler auf die Helikopter. „Na, mein General, was machen wir?" Über Funk vernahm Mon-So Kau-Rucks spöttische Stimme. „Wie gedenken Sie den Überfall dieser Riesentiere zurückzuschlagen? Sollten wir nicht lieber gleich das Spiel aufgeben? Was Sie machen, interessiert mich nicht. Ich für meinen Teil kehre um. Ich will weder selbst umkommen noch diese stolzen Vögel töten. Daß wir gegen Adler kämpfen werden, gehört nicht zu unserer Abmachung!"
„Ich verbiete es Ihnen!" schrie Mon-So mit sich überschlagender Stimme. „Sie werden sich vor Baan-Nu verantworten!"
„Verstehen Sie doch", auch Kau-Ruck schrie jetzt, da rundum Lärm toste, „die Schlacht ist völlig sinnlos. Weshalb sollen wir so edle Vögel abschießen und selbst dabei zugrunde gehen?" „Feigling!" bellte Mon- So.
Doch Kau-Ruck, der gar nicht mehr recht hinhörte, was Mon-So ihm zurief, wendete entschlossen seinen Helikopter und flog zu einer stillen Waldwiese. Ein erbitterter Luftkampf begann.
Wie schwere Steine ließen sich die Adler auf die Helikopter fallen und packten sie mit ihren mächtigen Schwingen. Ihre riesigen Schnäbel tauchten vor den Sichtfenstern der Flieger auf. Es wurde stockdunkel. Unsicher tasteten die Piloten nach den Steuerknüppeln. Blindlings feuerten die Schützen ihre Strahlpistolen ab. Doch für die Riesenvögel bedeuteten diese Schüsse keine Gefahr. Viel gefährlicher war für sie die routierende Steuerschraube des Helikopters. Sie zerfleischte ihren Körper. Aufgepeitscht von dem Schmerz, schlugen die Adler nur noch wilder mit den Schwingen um sich. Die Piloten ließen die Steuerknüppel fahren, und die Helikopter gerieten außer Kontrolle. Einige Flugapparate stürzten ab. Aber auch die Adler fanden den Tod. Karfax, der sah, wie seine Gefährten umkamen, stieß von unten gegen einen Helikopter, schlug mit den Schwingen gegen die Maschine, krallte sich am Fahrgestell fest und rüttelte es, bis der Helikopter in der Luft umkippte. Einen Moment hing er reglos in der Luft, um dann in die Tiefe zu stürzen und zu explodieren. Nachdem Karfax auf diese Weise einen Helikopter außer Gefecht gesetzt hatte, stürzte er sich auf den zweiten und auf den dritten ...
Ein Teil der Adler griff die Helikopter an der kleinen Heckschraube an. Sie stießen kriegerische Schreie aus, verkrallten sich in den Maschinen, zerbrachen sie mit ihren kräftigen Fängen und hackten sie mit den scharfen Schnäbeln wie mit schweren Äxten kurz und klein. Ununterbrochen belferten die Strahlpistolen, allerdings erfolglos. Die. Adler, vorsichtig geworden, wichen vor den Sichtfenstern zurück. Sie starteten ihre Angriffe von unten oder vom Heck aus und ließen erst dann vom Helikopter ab, wenn der Pilot die Herrschaft über ihn verloren hatte.
Die Riesenvögel verbreiteten mit ihrem erbitterten Kampfwillen Panik und Schrecken unter den Außerirdischen. Einen Schrecken, den die Fremdlinge in die Smaragdenstadt hatten tragen wollen, um die Erdbewohner in die Knie zu zwingen. Din Giors Armee nahm an dieser Schlacht nicht teil, doch seine Soldaten waren die leidenschaftlichsten Zuschauer, die man sich vorstellen konnte. Mit begeistertem Gebrüll reagierten sie aufjeden Erfolg der verbündeten Adler und stöhnten angstvoll, wenn ein Vogel in den Abgrund fiel. Tilli-Willi rannte lange hinter einem abstürzenden Helikopter her in der Hoffnung, ihn mit seinem Degen zu spalten. Doch der Helikopter blieb in der Krone einer riesigen Eiche hängen und zerschellte. Endlich ergriffen die Außerirdischen die Flucht. Mit verbogenen Schrauben, mit beschädigten Motoren, mit zerschlagenen Fahrgestellen gelangten die Helikopter schaukelnd nach Ranavir. Die leeren, für die Smaragde bestimmten Schatullen hatten die Piloten längst über Bord geworfen. Das Vogelheer versperrte jedoch den flüchtenden Feinden auch den Weg in Hurrikaps Tal. Nur zehn Helikopter erreichten das Lager. Mon-So konnte sich mit Mühe und Not retten. Seine Meldung, vor allem aber der Anblick der zerstörten Helikopter, erschütterten Baan-Nu zutiefst. Der General, der sich noch vor kurzem allmächtig gedünkt hatte, wurde von Angst geschüttelt. Er konnte nicht begreifen, was in diesem kleinen Land vor sich ging, das so schüchterne Geschöpfe bewohnten.
Der Dolmetscher Mentacho suchte den General davon zu überzeugen, daß die Adler Ranavir nicht überfallen würden, hegten sie doch keinerlei feindliche Absichten. Aber Baan-Nu zitterte weiter vor Schreck, und die Angst verließ ihn nicht mehr. Nach einigen Tagen ehrten die Gebieter der Smaragdenstadt, des Violetten Landes sowie die gütigen Feen Willina und Stella den mutigen Karfax mit den höchsten Orden ihrer Staaten.
Der Scheuch befahl, in der Chronik ausführlich die historische Schlacht zu beschreiben. Gewissenhaft erfüllten die Zwerge seinen Auftrag.
Finster blickte der General in den Spiegel und verhielt seinen lautlosen gemessenen Schritt. Er setzte sich so schwerfällig in den Sessel, als ließen sich zusammen mit seinem Körpergewicht auch all seine Sorgen nieder. Noch niemals während des gesamten Aufenthalts auf Belliora hatte er sie so deutlich gespürt. Die Misserfolge der letzten Tage drückten ihm auf Schultern und Brust, vor allem aber schmerzte ihm entsetzlich der Kopf.
Was tun? Was geht hier bloß vor sich? überlegte der Menvitenführer. Der Luftangriff auf die Smaragdenstadt war also ein völliges Fiasko geworden. Wer weiß, vielleicht haben die Bellioren, während wir auf Rameria die modernste Technik entwickelten, Naturgeheimnisse entdeckt, die uns noch unbekannt sind? Warum haben die Riesen-adler die Helikopter überfallen? Ob die Leute aus Goodwinien sie das gelehrt haben?
Und der Überfall der Nagetiere? War das ein Zufall gewesen oder ein tollkühner Streich? Warum ließen diese attackierenden Gestalten Holzspäne zurück? Eines war klar. Die Bellioren haben erraten, daß wir sie unterwerfen wollen. Nun, wenn es uns mit Körperkraft nicht gelungen ist, so werden wir es eben mit Hinterlist bewerkstelligen. Dabei wird uns die Sprechmaschine helfen. Sie versagt nie.
Der General nahm eine silberne Glocke vom Tisch und klingelte ungeduldig. Sofort öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle des Arbeitszimmers stand Ilsor.
,,Ilsor, ist alles bereit zum Test?" fragte BaanNu.
„Die Maschine ist bereit. Oberst Mon-So hält zwei Erdbewohner für Sie bereit. Wir können mit dem Test beginnen, mein General."
Diese Meldung beruhigte Baan-Nu. Er würde sich zumindest nicht mehr von den Ereignissen überrumpeln lassen, sondern seinem Willen alles andere unterordnen.
,,Mit dem Test ist sofort zu beginnen. Außer KauRuck, Mon-So und dir hat keiner anwesend zu sein", verfügte Baan-Nu.
Der für die Menviten gegenwärtig wichtigste Test sollte unter Leitung des Generals im Blauen Häuschen stattfinden. Alle begaben sich dorthin.
Baan-Nu befahl:
,,Wir fangen mit Mentacho an."
Mentacho und Elvina, die fühlten, daß im Blauen Häuschen etwas Ungewöhnliches vor sich ging, hatten sich gleich neben der Tür auf Stühle gesetzt. Sie glaubten, daß man sie sofort in die Pilze schicken würde. Stattdessen begrüßte Baan-Nu jedoch den Weber mit dem unerwarteten Ausruf: ,,Sei gegrüßt, hochverehrter Belliore !"
Mentacho dachte: Da soll nun einer diese Generale begreifen! Höflich erwiderte er auf Menvitisch:
,,Sei auch du gegrüßt, mein Gebieter."
Baan-Nus Gesicht verfinsterte sich. Er warf Kau-Ruck einen kurzen Blick zu. Mentacho trägt zu dick auf, überlegte er. Gebieter ist
noch ein bißchen früh. Aufmerksam blickte er dem Weber ins Gesicht und befahl ohne lange Vorreden:
„Stell mal deinen Stuhl hierher und geh zur Sprechmaschine."
Mentacho rührte sich nicht. Er starrte vor sich hin. Das tat er immer, wenn er mit Baan-Nu sprach. Deshalb begriff er jetzt auch nicht, an wen die letzten Worte gerichtet waren, und zeigte nicht das geringste Interesse, es herauszubekommen. „Erzähle, ohne etwas zu verheimlichen, was dich bewegt, Mentacho", bat der General und durchbohrte mit den Blicken das Gesicht des Webers. Doch der verbarg seine schlauen Augen unter halbgeschlossenen Lidern.
,,Was soll mich schon bewegen", erwiderte Mentacho langsam und kratzte sich den Kopf. ,,Mich bewegt gar nichts. Ich finde es lediglich langweilig bei Ihnen. Elvina und ich haben keinen, mit dem wir uns unterhalten können, außer mit dieser komischen Kiste", der Weber wies mit einer Kopfbewegung auf die Sprechmaschine. Mit dem kommen wir nicht weit, dachte Baan-Nu. Er hat nicht nur unsere Sprache erlernt, sondern weiß auch, weshalb wir ihn brauchen. Umso schlimmer für ihn! Wir werden ihn für ewige Zeiten von den Einwohnern Goodwiniens isolieren. „Lassen wir die langen Reden", hub der General wieder an. ,,Geh spazieren, Mentacho. Sammle mit Elvina Pilze."
Der Weber nahm das Körbchen und verließ mit seiner Frau den Raum. Baan-Nu befahl: „Bring die Neuen rein."
Die Wachsoldaten führten einen Käuer ins Zimmer. Neugierig sah er sich um und betrachtete die Orden, die die Brust des Obermenviten schmückten. ,,Sei gegrüßt, würdiger Sohn der Erde", begann der General freundlich und hob den Arm. Da schaltete etwas, ein Lämpchen leuchtete auf, und die Sprechmaschine wiederholte die Worte des Generals mit dessen Stimme, doch in der Sprache der Bewohner des Zauberlandes.
Der Käuer verzog sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, verschränkte die Hände, einen Händedruck nachahmend, und sprach: ,,Ich verneige mich vor dir, guter Mann."
Die Maschine übersetzte die Worte des Käuers ins Menvitische. Der General blickte
dem Bellioren starr in die Augen und befahl:
,,Rede mit Ilsor."
Der Käuer blinzelte verwirrt:
,,Wer soll mit Ilsor eine Rede halten?" Die Maschine übersetzte. Diesmal war es an Baan-Nu, sich zu verwundern.
,,Man hält nicht mit jemandem, sondern vor jemandem eine Rede", erklärte er belehrend.
Ilsor drückte unbemerkt eine Taste, und die Sprechmaschine erklärte von allein, ohne fremde Hilfe:
,,Man kann außerdem jemanden totreden, etwas totreden und sich selbst totreden, was Sie gerade tun, mein Gebieter."
Nur seine große Verblüffung ließ den General diese unglaubliche Frechheit ertragen. Erbost funkelte er den unschuldigen Käuer an:
„Schlag dir das aus dem Kopf, so redet man nicht mit einem General!" sagte er kurz.
Auf dem Gesicht des Bellioren spiegelte sich äußerstes Erstaunen.
,,Ich bin ja bereit, mir den Kopf abzuschlagen, verstehe bloß nicht, was das mit einem General zu tun hat und was Ihnen das ganze nutzt?" stammelte er.
,,Was drischst du leeres Stroh, Eierkopf?" schrie BaanNu, der sich nicht mehr beherrschen konnte. Nun war der Käuer völlig verschreckt.
„Wenn ich Stroh dreschen würde, wäre ich eine Dreschmaschine. Aber was ist bitte ein Eierkopf? Wir kennen nur Spiegeleier, und die werden auf der Pfanne gebraten. Was wollen Sie von mir? Ich sehe, Sie sind verärgert. Aber ich wollte Sie wirklich nicht kränken. Erteilen Sie mir bitte Befehle, die ich verstehe. Sonst weiß ich ja nicht, was ich tun soll", brachte er leise heraus und blickte Baan-Nu unterwürfig an. „Mon-So!" brüllte der General. ,,Wo haben Sie diesen Kupferschädel her?" Mon-So nahm Haltung an und wollte Baan-Nu antworten, als Ilsor wiederum auf eine Taste drückte. In der Maschine knisterte es, und aufs neue ertönte ihre eigene heisere Stimme
,,Nun gebraucht er auch noch Schimpfworte, und das ist ein General. Kann nicht richtig erklären, was er will und beschimpft andere als Kupferschädel."
„Ilsor, schalte sofort die Maschine ab. Mon-So, antworte, was versiehst du deinen Dienst so schlecht? Hast keine Lust, länger Oberst zu sein? Ich kann dich zum Leutnant degradieren!" Der General kochte vor Wut.
„Bringt einen anderen Bellioren! Ilsor, schalte die Maschine ein!"
Baan-Nu, der sich noch immer nicht beruhigen konnte, wurde der zweite Käuer vorgeführt.
,,Nimm ein Blatt Papier vom Fensterbrett", sagte der General kurz zum Käuer und blickte ihm gebieterisch in die Augen.
Die Augen des Bellioren wurden rund vor Verblüffung, er drehte den Kopf wild nach rechts und links. Anscheinend suchte er etwas.
,,Wo soll ich ein Blatt hernehmen? Ich kenne keine Blumen, die Fensterbrett' heißen. Vielleicht meinen Sie einfach Fensterblumen? Aber wo sehen Sie am Fenster Blumen? Und was meinen Sie mit ,Papier'?" fragte er schließlich den General. Entmutigt ließ er die Hände sinken.
,,Was schwatzt er da zusammen?" fragte der General Ilsor. Doch der schüttelte auch nur erstaunt den Kopf.
,,Das sind alles nur sinnlose Wortreihen. Offensichtlich übersetzt die Maschine nicht alles richtig", erwiderte der Diener ruhig. ,,Mein General, gestatten Sie mir, dem Bellioren eine Frage zu stellen, um das Mißverständnis zu klären." Unterwürfig blickte Ilsor den General an.
„Handle, Ilsor", nickte Baan-Nu. Ilsor flehte:
„Würdevoller Sohn der Erde, antworte mir, wer regiert in der Smaragdenstadt?" ,,Der Weise Scheuch."
„Ilsor, der saugt sich was aus den Fingern. Wie kann ein Regent solchen Namen haben?"
Verständnislos starrte der Käuer, kaum, daß die Maschine die Worte des Generals übersetzt hatte, Baan-Nu an:
,,Wie kann ich mir etwas aus den Fingern saugen, wenn ich gar nicht am Finger lutsche?"
„Wa-as, schon wieder diskutieren?" brüllte Baan-Nu. ,,Du wirst mich gleich begreifen, Idiot. Wir benutzen einfach zu viele Worte. Dein unterentwickeltes Gehirn kann sie nicht verdauen. Die Sprache der Befehle ist für dich einfacher."
,,Nimm ein Blatt", Baan-Nu nahm einen Bogen Papier vom Fensterbrett, ,,und zeichne mir euer Ungetüm." Der Käuer überlegte und malte einen Säbelzahntiger mit riesigen Hauern.
,,Hab ich mir doch gleich gedacht, daß er nicht vom Regenten spricht", bemerkte Baan-Nu befriedigt. ,,Stramm gestanden", befahl er mit so metallischer Stimme, daß der Käuer, die Hände an der Hosennaht, vor Schreck fast bis zur Decke sprang. ,,Im Laufschritt marsch!" befahl der General mit funkelnden Augen. „Marsch!" Der Käuer, der zwei Sprünge getan hatte, verfiel plötzlich in den Paradeschritt, zuckte dann zusammen, wollte loslaufen, besann sich jedoch und begann bei dem Wort „Marsch" im Laufschritt zu marschieren. ,,Wache!" kreischte Baan-Nu. ,,Gerbt dem Idioten das Fell."
,,Sie sind General und somit der bedeutendste Herr hier. Erklären Sie mir also", bat der Käuer, ,,was ermahnen Sie mich wachzubleiben? Am hellichten Tag schläft doch sowieso keiner. Und wie wollt ihr Felle gerben, wo es weit und breit keine Gerbergesellen gibt?"
Die Maschine blinzelte dem Käuer zu und murmelte etwas auf Menvitisch. Der General lief dunkelrot an und rannte ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer. Kau-Ruck und Ilsor wechselten einen Blick. Der Pilot zuckte die Schultern. Warum ist der General nur so nervös? überlegte Mon-So und folgte ihm hastig.
Urfin beobachtete alles und bemerkte alles. Ihm schien, daß die Abenteuer der Menviten mit den Schwarzen Steinen von Gingema noch nicht die letzten waren. Immer wieder mußte er darüber nachdenken. Eines Tages machte er sich kurzentschlossen auf in die Große Wüste. Er hatte keine Angst vor den magischen Kräften der Schwarzen Steine. Schließlich war er einstmals Gehilfe der bösen Hexe Gingema gewesen, und ihre Zaubereien konnten ihm nichts anhaben.
Urfin nahm aus alter Gewohnheit eine Säge mit. Er mußte stets ein Handwerkszeug bei sich tragen. Eigentlich konnte er mit der Säge sowieso nichts anfangen. Nicht, weil die Rollsteine so riesengroß waren. Man kann mit einer Säge keinen Stein zersägen, umso weniger einen Zauberstein. Die Säge würde ihn nicht einmal ritzen. Urfin kletterte also auf einen der schwarzen Wunderwerke von Gingema und machte es sich dort bequem. Ihm fiel eine Untat der bösen Hexe nach der anderen ein. Doch so sehr sich der berühmte Gärtner auch anstrengen mochte, er erinnerte sich keines einzigen Zauberspruchs. Alles Böse war längst vergessen, und außerdem läßt sich Böses durch Böses nicht ausrotten. Miteins kam ihm ein glänzender Gedanke:
,,Wenn ich nun ein riesiges Feuer entzünde und diesen Stein hier erhitze? Alle Zauberei beginnt doch mit dem Feuer.
Gedacht, getan. Auf seinem Schubkarren beförderte er Reisig heran. Dann legte er rund um den schwarzen Stein ein riesiges Feuer. Die Flammen loderten auf und umzingelten gierig den Rollstein, der sich immer mehr erhitzte.
Plötzlich begann die Aufschrift „Gingema" zu schmelzen und blasser zu werden. Urfin bekam einen fürchterlichen Schreck: Wenn er nun zuviel des Guten getan hatte und die ganze Zauberei der Hexe sich in Dunst auflöste? Er rannte schleunigst zur Quelle, sprang dann um den Stein herum und besprengte ihn mit Wasser aus den Eimern und aus einer kleinen Tonne. Der schwarze Rollstein heulte, dehnte sich und zersprang in kleine Stücke. Das Seltsamste. aber war, daß auf jedem Teilchen die Aufschrift „Gingema" prangte. Das freute Urin unsagbar. Etwas Besseres hätte er sich nicht wünschen können. Mit seinem Schubkarren beförderte er mehrere Fuhren dieser Steinbrocken zu seinem Anwesen.
Fortan ließ ihm die Überlegung keine Ruhe mehr, wie er die verzauberten Steine nützlich verwenden könnte. Munter karrte Urfin sein Gemüse den schmalen Waldweg entlang. Beim Anblick der appetitlichen Gurken, Erdbeeren und Nüsse lachte sogar einem erfahrenen Gärtner wie ihm das Herz im Leibe. Wenn nur die schweren Gedanken nicht gewesen wären!
Unentwegt überlegte er: Wie ließen sich dem Anführer der Menviten die Smaragde entwenden? Der hatte sie in solchen Mengen angehäuft, daß man mit ihnen ein ganzes Volk, die Arsaken auf der fernen Rameria, befreien könnte. Plötzlich fiel Urfin der Bogen Papier ein, den die Krähe seinerzeit Baan-Nu gestohlen hatte. Kaggi-Karr hatte damals gedacht, daß sie den Plan für eine wichtige militärische Operation an sich gebracht hatte. Als Ilsor den Text gelesen hatte, gab es viel zu lachen: Über den General und über seine erfundenen wilden Abenteuer. Auf die Dauer weckten die Werke des kriegerischen Phantasten allerdings kein Interesse. Sie gerieten in Vergessenheit, nur Urfin erinnerte sich miteins, daß es den General nach Abenteuern
dürstete. Der Gärtner dachte bei sich: Wir wollen dafür sorgen, daß Baan-Nu mit den Steinen der Gingema ein Abenteuer erlebt.
Wenn die Zauberbrocken auch klein sein mochten, hatte doch jeder die Größe eines Pflastersteins. Wie sollten sie nur unbemerkt dem Chef der Menviten in die Hände gespielt werden? Legte man den Stein irgendwo hin, so würde der General ihn nicht beachten. Er fiel ja nur durch die Aufschrift auf.
Gingemas Souvenir konnte man leicht mit dem Gemüse ins Schloß schaffen. Das war nicht schwer. Aber wie weiter? Viele Male mußte Urfin den Schubkarren zwischen seinem Garten und dem Schloß hin und her schieben, bis endlich sein Plan fertig war. Eines Tages hörte er in der Küche, wie der Küchenchef einem Wachsoldaten von der Smaragdensammlung des Generals erzählte. Zu dieser Zeit konnte Urfin bereits einigermaßen Menvitisch sprechen.
Urfin murmelte vor sich hin: ,,Euer General mag ja reich sein. Aber seine Sammlung läßt sich wohl kaum mit den Schätzen aus der Geheimkammer von Hurrikap messen."
Der Koch war ganz Ohr: ,,Wo sind denn diese Schätze versteckt?"
,,Hier, bei euch", erklärte Urfin. ,,Die Geheimkammer ist im Schloß. Nur hat man sie gut getarnt. Keiner kennt genau den Ort."
,,Und woher weißt du davon?"
,,Ein weiser Wanderer hat darüber in einem alten Buch gelesen."
Von diesem Tage an gingen der Chefkoch und der Wachsoldat mit Metallstäben durchs Schloß und klopften Wände und Dielen ab, um die versteckte Schatzkammer zu finden.
Einst weckte dieses Klopfen Baan-Nus Aufmerksamkeit. Der Koch wurde sofort zum General geführt. Bei dem Verhör gestand der arme Kerl, daß er die Geheimkammer suche.
,,Du glaubst an diese Märchen?" Baan-Nu lachte spöttisch. Doch die Schätze gaben ihm keine Ruhe. Er wollte persönlich mit dem Gärtner sprechen. So eine Möglichkeit bot sich bald. Der General lauerte Urfin auf, als der gerade eine frische Fuhre Obst und Gemüse ins Schloß brachte, und schleppte ihn in sein Arbeitszimmer.
,,Was weißt du über Hurrikaps Geheimkammer?" fragte er mit sich überschlagender Stimme.
Urfin hatte diese Frage erwartet.
,,Ich weiß nur, daß sie sich in einem Schloßturm befindet", erwiderte der Gärtner. ,,Sie ist mit einem Stein, der die Aufschrift Gingema trägt, zugemauert. Aber Hurrikap hat seine Schätze vielleicht verzaubert. Auf alle Fälle hat keiner in unserem Land jemals nach ihnen gesucht."
Diese elenden Feiglinge. Aber das ist gut so. Ich werde die Schätze schon an mich bringen, dachte Baan-Nu bei sich und sagte laut: „Urfin, bitte erzähle keiner Menschenseele etwas davon."
Um dem General die Suche zu erleichtern, vertauschte Urfin ein paar alte verwitterte Steine gegen besser erhaltene mit der Aufschrift „Gingema". Der Plan, den sich Urfin ausgedacht hatte, um dem Anführer der Menviten die Smaragde abzunehmen, erinnerte an Sportangeln mit mehreren Angelruten, die weit voneinander ausgelegt werden.
Am darauffolgenden Morgen brachte der Gärtner seine Früchte in die Küche und glitt unbemerkt am Wachsoldaten vorbei, um seine ausgelegten Angeln, die Zaubersteine, zu besichtigen. In einem dunklen Winkel des Schlosses sah er, was er bereits geahnt hatte: Der General krümmte sich in einer unnatürlichen Haltung. Neben ihm auf der
Erde stand ein Leuchter. Die Kerze war zu einem Viertel heruntergebrannt. Baan-Nu war also erst vor kurzem in die Falle getappt. Schweigend versuchte er, seine Hand vom Stein loszureißen, was ihm jedoch nicht gelang. Angst und Gier kämpften in seiner Seele. Die Angst riet: Rufe nach Hilfe. Allein kommst du nicht frei. Doch die Gier flüsterte Wenn du jemanden zu Hilfe rufst, mußt du die Schätze teilen. Gib dir Mühe und befreie dich selbst.
Vorerst hatte die Angst die Gier noch nicht besiegt. Urfin lief ins Arbeitszimmer des Generals, suchte die Schlüssel vom Safe und schüttete geschwind den Inhalt der Schatullen in einen Sack. Die Schatullen füllte er mit Steinen. Der Heimweg war schwer, doch der Gärtner schien die Last nicht zu spüren. Schließlich hatte Urfin das Mittel in der Hand, um ein ganzes Volk zu befreien.
Nachdem Urfin die Smaragde versteckt hatte, eilte er wieder mit seinem laut knarrenden Schubkarren ins Schloß. Die Kerze war inzwischen verlöscht, aber Baan-Nu schwieg noch immer, denn er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, sich allein zu befreien. Als der Obermenvite den Schubkarren hörte, rief er den Gärtner. Urfin kam und half dem General, sich von dem Magnetstein zu lösen. Während Baan-Nu sich in seinem Arbeitszimmer von diesem neuen Abenteuer erholte, ersetzte Urfin die Steine der Gingema rasch durch gewöhnliche.
Doch noch lange schlichen der General und der Chefkoch heimlich durchs Schloß auf der Suche nach Hurrikaps Schatzkammer. Baan-Nu konnte sich einfach nicht erinnern, an welcher Stelle ihn jene unsichtbare Kraft, die von dem Stein mit der Aufschrift „Gingema" ausgegangen war, mehrere Stunden lang festgehalten hatte.
An diesen für das Zauberland düsteren Tagen wurde unbemerkt von den menvitischen Eroberern unter der Erde ein schweres Werk vollendet. Die Brigade von Lestar und Rushero hatten nur einen einzigen Gedanken: Wasser, Wasser, Schlafwasser. Sie mußten es in das Lager der Fremdlinge schaffen.
Auch das graue Mäuseheer war einzig vom Gedanken an das Wasser erfüllt. Unverzagt hasteten die Feldmäuse hin und her. Raminas Untertanen erfüllten gewissenhaft ihren Auftrag. Nach wie vor hoben sie emsig das Erdreich aus und schafften es fort. Rushero und Lestar waren keine Neulinge bei dieser Arbeit. Sie waren es gewesen, die seinerzeit die Quelle repariert hatten, als das Wasser durch die Schuld von Bilan versiegte. Das war unter der Herrschaft der sieben unterirdischen Könige geschehen. Die Rückkehr des Wassers erklärten sie mit einer Zauberei von Elli. In Wirklichkeit hatten damals die Holzköpfe unter Leitung von Rushero und Lestar die Bohrarbeiten unter der Erde solange fortgesetzt, bis sie auf eine wasserführende Schicht gestoßen waren. Doch mit der Zeit war das nichtstandsichere Gebirge eingebrochen und hatte die Tonrohre, in denen das Wasser aufstieg, zerstört. Man beschloß, einen Brunnen auszuschachten und die Reste der Rohre zu beseitigen. Es war ein verhältnismäßig tiefer Brunnen, dessen Wände mit Bohlen abgestützt wurden. Die Bohlen wurden aus dem Land der Käuer herbeigeschafft. Der Herrscher der Käuer, Prem Kokus, hatte alle Gefahren einkalkuliert. Man mußte überaus vorsichtig zu Werke gehen. Wenn die Außerirdischen ihre Helikopter reparierten, konnten sie mit ihrer Hilfe das ganze Territorium kontrollieren. Die Bewohner von Goodwinien, die die Bohlen transportierten, tarnten sie deshalb geschickt. Sie bedeckten ihre Frachten mit Gras, so
daß es aussah, als wenn Farmer Heu einfuhren. Natürlich waren die Arbeiter, die die unterirdische Wasserleitung verlegten, aufgeregt. Keiner konnte sagen, ob das Schlafwasser wirklich durch die Rohre fließen würde. Die einzige Hoffnung war der Mechaniker Lestar, der viele gute Ideen hatte. Sollte ihm jedoch keine technische Lösung einfallen, dann stand es schlimm um sie alle.
Die Sprengung des Sternschiffs, die Cunning als äußerste Maßnahme ins Auge gefaßt hatte, war unerwünscht. Die Folgen der Katastrophe waren schließlich nicht abzusehen. Möglicherweise würde Hurrikaps Schloß einstürzen und unter seinen Trümmern die Menviten begraben. Doch auch die Arsaken würden sterben. Selbst wenn man ihnen die Zeit der Sprengung mitteilen würde, könnten sich nicht alle in Sicherheit bringen. Auch das Blaue Häuschen mit Mentacho und Elvina würde zerstört werden. Alfred schreckte noch etwas anderes: Wenn durch die Erschütterung die Gewölbe der unterirdischen Höhle einstürzen und das altertümliche Schloß der unterirdischen Könige, das in allen Regenbogenfarben schillerte, zerstören würden? Ein einmaliges Naturwunder wäre dadurch verloren.
Dennoch verminte Ilsor die,, Diavona". An jenem Tag verließen alle Tiere und Vögel die Wälder um Hurrikaps Schloß. Angst vor der Zukunft führte die weißschwänzigen Rene und die schwarzschwänzigen Hasen auf einen gemeinsamen Wildpfad. Neben ihnen schlichen auf leisen Tatzen die Jaguare, die Tigern gleichen, und die Gebirgslöwen, die Pumas. Rotbraune Wölfe mit prächtigen Mähnen folgten Riesenbären mit schwarzem dichtem Fell und weißen Ringen um die Augen, die wie große Brillen aussahen. Schnellfüßig jagten Antilopen dahin. Die Waschbären hingegen ließen sich Zeit, sie blieben an jedem Bach stehen, um im Wasser Beeren oder Nüsse abzuspülen. Weder Zähnefletschen noch bösartiges Knurren war zu hören. Während der Umsiedlung wurden alle zu freundlichen Nachbarn. Auch die Vögel verließen in Vorahnung eines Unglücks ihre Wälder. Vögeln und Tieren folgten die Menschen. Nur Eulen und Uhus, die nächtlichen Räuber, ließen sich von der allgemeinen Aufregung nicht anstecken und blieben in ihren Nestern.
Die unerwartete Umsiedlung blieb den Fremdlingen nicht lange verborgen. Als sie die verlassenen Wälder und Dörfer in der Umgebung des Schlosses bemerkten, wurden sie unruhig. Sie kamen sich plötzlich vor wie auf einem sinkenden Schiff, das alle Lebewesen verlassen hatten. Weshalb suchten alle ihre Rettung in der Flucht? Spürten sie etwa eine nahende Naturkatastrophe - den Ausbruch eines Vulkans oder ein Erdbeben? Man mußte achtgeben, um in diesem unbekannten Land zu überleben. Die Arbeiten unter der Erde wurden indes mit unvermindertem Tempo fortgesetzt. Endlich kam der Augenblick, da die Wasserleitung, durch die das Schlafwasser in den Brunnen fließen sollte, angeschlossen wurde. Die Feldmäuse, die einen sehr feinen Geruchssinn besitzen, bestanden darauf, in Käfigen in den Brunnen hinabgelassen zu werden. Jetzt blieb nur eins: Man mußte abwarten. Wenn das Schlafwasser in den Brunnen floß, würden die Mäuse einschlafen.
Die Flüchtlinge fanden Aufnahme im Gelben Land, den Besitzungen der gütigen Fee Willina. Ob die Auswanderer jemals in ihre Heimat zurückkehren könnten, oder für immer in der Fremde leben müßten, hing nun einzig und allein von den Mäusen ab.
Es geschah in der Nacht. Keiner hatte bemerkt, wie sich Tim heimlich zum Brunnen gestohlen hatte. Er legte das Ohr an die Brunnenwand, konnte jedoch nichts hören. Endlich vernahm er ein schwaches Pfeifen.
Tim überlegte: Ob die Mäuse im Schlaf pfeifen? Schnell zog er am Strick einen Käfig hoch, dann einen zweiten. Der Knabe hatte sehr gute Augen. Er sah sogar im Dunkeln, daß die Tierchen in den Käfigen lagen, hilflos die Pfötchen ausgestreckt. So schnell ihn seine Füße trugen, rannte er in die unterirdische Höhle und rief: „Sie schlafen, sie schlafen! Sie sind endlich eingeschlafen! Das Wasser fließt!" Rushero befand sich gerade in der Nähe. Der Meister eilte zu Tim und nahm ihm behutsam die Käfige ab. Er kitzelte die Mäuse mit einem Grashalm an den Nasenspitzen, zog sie an den Schwänzchen und an den Pfötchen. Doch die grauen Tierchen erwachten nicht. Rushero hatte seinerzeit die unterirdischen Könige eingeschläfert, deshalb erkannte er sofort, daß die Mäuse in keinen gewöhnlichen, sondern in einen Zauberschlaf gesunken waren. Diese Nachricht, von der vielleicht die Existenz des Zauberlandes abhing, ließ sich in vier Worte fassen: ,,Die Mäuse sind eingeschlafen !" Rushero wollte die Meldung auf dem gewohnten Weg mit einer Vogelstafette in die Smaragdenstadt durchgeben, doch in den Wäldern war weit und breit kein Vogel mehr zu finden. Zum Glück erblickte er an einem Bach die Eule Guamoko. Die erkannte sofort die Bedeutung dieser Nachricht und meldete sie unverzüglich Kaggi-Karr. Als Guamoko in der Smaragdenstadt auftauchte, brachte der Scheuch alle Einwohner auf die Beine. Faramant, Din Gior, Ann, Tim, Kaggi-Karr, alle liefen durch die Straßen, klopften an die Haustüren - selbst Guamoko mit ihrem kräftigen alten Schnabel tat mit - und verbreiteten die Kunde: ,,Die Mäuse sind eingeschlafen!"
Die Einwohner wußten bereits, was das bedeutete. In der Smaragdenstadt lebten kleine vertrauensselige Menschen, die von ganzem Herzen wünschten, daß die Fremdlinge heimwärts zögen. Deshalb hätten sie den Menviten um nichts in der Welt die Wahrheit über das Schlafwasser verraten. Doch die Zeit drängte. Noch war das Sternschiff vermint. Ilsor mußte die Bombe entfernen oder zumindest entschärfen. Vorerst aber mußte man dem Führer der Arsaken mitteilen, daß ,,die Mäuse eingeschlafen sind".
Der Weg zu Ilsor war nicht weit, aber gefährlich. Deshalb schickte man nicht nur einen Läufer, dem unterwegs ja etwas zustoßen konnte, sondern sandte den Eisernen Ritter, den Drachen Oicho und sieben hölzerne Läufer aus.
Tilli-Willi stürmte die Gelbe Backsteinstraße entlang. In seiner Kabine saß Faramant und stöhnte vor Schmerz bei jedem Sprung. Er war schließlich nicht Lestar, der in den vielen Jahren seiner Freundschaft mit dem Riesen an solche Reisen gewöhnt war. Unter Willis eisernen Sohlen bildeten sich tiefe Schlaglöcher in der Straße. Doch was tat das schon? Schlaglöcher lassen sich reparieren. Hauptsache, man kam nicht zu spät. Munter trällerte Tilli-Willi vor sich hin:
,,Die Mäuse sind eingeschlafen. Ich schwöre es bei den Riffen. Die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen. Ich schwöre es bei der Ebbe ... Die Mäuse sind eingeschla-fen! ..."
Der Drache Oicho flog über Wälder und Felder. Auf seinem Rücken hatte der Dreimalweise Scheuch persönlich Platz genommen.
Ja, der Herrscher der Smaragdenstadt hatte Thron, Untertanen und Freunde verlassen. Er wollte das Zauberland, seine Felder und Wälder, vor allem aber seine Bewohner retten.
Der Scheuch sprang auf dem Rücken des Drachen im Takt des Schwingenschlags auf und nieder und sang vor sich hin
„Heiho, heiho, die Mäuse sind eingeschlafen. Die Mäuse sind eingeschlafen, ein-ge-schla-fen !"
Bisweilen blickte er hinab, und wenn Tilli-Willi ein wenig zurückblieb, so richtete er sich siegesgewiß auf. Wenn der Ritter jedoch voraus war, zappelte der Scheuch ungeduldig und trieb Oicho an, schneller zu fliegen. Da ließ sich nichts machen. Der gütige Scheuch war halt sehr ehrgeizig.
Auf Wildpfaden folgten die hölzernen Läufer dem Ritter. Sie machten nicht so große Schritte wie Tilli-Willi, dafür bewegten sich ihre Beine flink wie Fahrradspeichen, und ihre hölzernen Körper erinnerten an Masten, die durch die Luft zu schwingen schienen. Man hatte ihnen aufgetragen, die Worte der Meldung ständig zu wiederholen, um sie nicht zu vergessen. Deshalb plapperten sie ununterbrochen: ,,Die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen! ... "
Der Wettlauf spornte die Läufer an, und einer suchte den anderen zu überholen. Wenn es einem von ihnen gelang, davonzuziehen, hänselte er die anderen: „Schnecken! Schildkrötenkinder! Schwanzlose Krebse!"
Das Spiel erreichte immer dann einen Höhepunkt, wenn Tilli-Willi, der nicht hinter dem Scheuch zurückbleiben wollte, stehenblieb, um den Himmel nach Oicho abzusuchen, und es in diesem Moment einem der Kuriere gelang, wenn auch nicht für lange Zeit, in Führung zu gehen. Dann erhoben die hölzernen Läufer ein unvorstellbares Geschrei. Es war sehr günstig, daß sich gleichzeitig mehrere Abgesandte, Tilli-Willi, der Drache und die Läufer, auf den Weg gemacht hatten. Das war eine Idee des weisen Scheuchs gewesen.
Es schien, als kämen die Worte aus dem Himmel, sie tönten über die Erde und wurden vom Echo zurückgeworfen: ,,Die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen, die Mäuse sind eingeschlafen!"
Die Kuriere brauchten keine ernsthaften Hindernisse zu überwinden. Tilli-Willi durchwatete nur den Großen Fluß, weil er die Brücke nicht beschädigen wollte. An der tiefsten Stelle reichte ihm das Wasser bis an die Schultern. Faramant schauderte, als er hörte, wie die Wellen plätschernd gegen die eiserne Brust des Riesen schlugen. Der Drache hatte es gut. Er beachtete das glitzernde blaue Band in der Tiefe überhaupt nicht. Die hölzernen Läufer mußten beim Passieren der Brücke ein wenig ihr Tempo mindern. Dafür zogen sie, als sie das andere Ufer erreicht hatten, mit neuer Kraft davon. Im Zauberland war es längst Nacht geworden. Die Gelbe Backsteinstraße war zu Ende. Keine Laternen und Bogenlampen beleuchteten mehr den Weg durch die Dunkelheit. Unwillkürlich verlangsamten Tilli-Willi und die hölzernen Läufer ihren Lauf. Selbst Oicho schlug vorsichtiger mit den Schwingen. Schließlich konnte man sich in der Nacht leicht verirren und in eine falsche Richtung fliegen. Die Lieder verstummten, und auch die sieben Läufer schwiegen. Doch zielstrebig setzten sie ihren Weg fort, wie von unsichtbaren Magneten angezogen.
So langten alle gleichzeitig an Hurrikaps Schloß an.
Am nächsten Tag war klar: Die Arsaken waren gerettet, ebenso Mentacho und Elvina. Hurrikaps altes Schloß stand, und das Raumschiff „Diavona", dieses Wunderwerk der Technik, war unbeschädigt. Wenn alles ein glückliches Ende finden würde, so könnten Ilsor und seine Freunde wohlbehalten mit ihm nach Rameria zurückkehren. An jenem Tag wurde das Zauberwasser aus dem Brunnen von Ranavir den Menviten an alle Gerichte gegeben. Da keiner wußte, welche Dosis auf ihren kräftigen Organismus wirken würde, gossen die Arsaken, ohne zu geizen, reichlich Wasser an die Suppe, die Soßen und den Most.
Das Mittagessen verlief wie gewöhnlich. Den Arsaken war keinerlei Erregung anzumerken, ruhig trugen sie die Gerichte auf, vielleicht blickten nur ihre Augen etwas aufmerksamer als gewöhnlich. Die arsakischen Köche kochten schmackhaft. Die Menviten konnten über Appetitlosigkeit nicht klagen, so daß sie auch heute den Speisen reichlich zusprachen. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Noch war das Mittagsmahl nicht beendet, da fielen die Menviten, die Flieger mit Mon-So an der Spitze, die Wachsoldaten des Sternschiffs, die Ilsor durch Arsaken ersetzt hatte, der Arzt Lon-Gor und Baan-Nu höchstpersönlich in einen tiefen Schlaf. Ihre Köpfe sanken haltlos auf den Tisch. Die Gesichter strahlten sorglose Ruhe aus, die Hände hingen kraftlos herab, die Augen, die so hoffärtig in die Welt geblickt hatten, waren geschlossen.
Nur der Pilot Kau-Ruck wurde nicht eingeschläfert. In der letzten Zeit war offensichtlich geworden, daß Baan-Nu ihn nur noch duldete. Auch Kau-Ruck verhielt sich dem General und den anderen Menviten gegenüber äußerst zurückhaltend. Ilsor hatte von Baan-Nu erfahren, daß Kau-Ruck, sobald sie auf Rameria landen würden, dem Obersten Gebieter Guan-Lo persönlich ausgeliefert werden würde. Der Pilot hatte eine strenge Strafe zu erwarten, weil er eigenmächtig den Kampf mit den Adlern aufgegeben hatte. Vielleicht würde er sogar in der Wüste von Rameria an einen Stein gefesselt und allein zurückgelassen werden. Nach menvitischem Gesetz war es dann seine Sache, wie er überleben würde. Ilsor fragte den Piloten:
„Mein Oberst, sind Sie bereit, den Arsaken zu helfen?"
„Jawohl", entgegnete Kau-Ruck, ohne zu zögern. „Ich habe Sie lange beobachtet und habe immer größere Hochachtung vor Ihnen bekommen, Ilsor. Ich habe hier öfter darüber nachgedacht, daß Sie wohl nicht auf ewige Zeiten Diener bleiben werden. Offenbar diente Ihnen diese Position nur zur Tarnung ... Jetzt werden sich wohl die Zeiten ändern?"
Ilsor nickte. „Ich biete Ihnen ein Bündnis mit uns Arsaken an. Unser Auftrag ist folgender: Sie müssen gemeinsam mit mir das Raumschiff nach Rameria zurückbringen. Dort dürfen Sie jedoch über alles, was Sie hier erlebt haben und noch erleben werden, erst dann sprechen, wenn wir es Ihnen gestatten."
„Ich will mit Freuden all Ihre Aufträge ausführen", erwiderte der Pilot. „Aber ich kann nicht versprechen, mich Ihnen anzuschließen, denn ich bin gewohnt, für mich allein zu sein."
So hatte man sich denn geeinigt. Dann ertönten im Lager von Ranavir zuerst unsichere, gar verwunderte Ausrufe: „Freiheit? Freiheit?"
Allmählich klangen die Stimmen immer entschiedener: „Freiheit! Freiheit!" Die Arsaken fielen einander froh in die Arme und beglückwünschten sich gegenseitig. Einige weinten vor Freude, andere taten es dem Dreimalweisen Scheuch gleich, der in Augenblicken höchsten Jubels stets begeistert zu tanzen pflegte. Ilsor, dem mutigen Anführer der Arsaken, der jahrelang in menvitischen Diensten sein Leben riskiert hatte, wurde eine ganz besondere Ehre zuteil. Die Arsaken brachten einen Mantel, der unter anderen Kleidungsstükken in der „Diavona" gelegen hatte, die Menviten hatten ihm keine sonderliche Bedeutung beigemessen. Dabei hatte es mit ihm folgende Bewandtnis: Nach altem Brauch legten die Arsaken zu besonders festlichen Anlässen, wenn jemand' mit dem höchsten Titel ihres Landes - „Volksfreund" -ausgezeichnet wurde, dem so Geehrten diesen Mantel an. Heute wurde diese Ehrung Ilsor zuteil.
Da stand er nun vor seinen Landsleuten in dem prächtigen, mit goldenen Sternen durchwirkten blauen Mantel, strahlend vor Glück und vor Stolz, und seine großen schwarzen Augen leuchteten heute noch herrlicher als gewöhnlich. Die Arsaken lasen Ilsor buchstäblich jedes Wort vom Munde ab und befolgten seine Anordnungen präzise und ohne Widerspruch.
Seine erste Anordnung galt den Menviten. Keiner wußte, wie lange das Schlafwasser auf sie wirken würde. Unter Umständen konnten sie sehr bald erwachen. Die Erdbewohner schliefen zwar mehrere Monate hindurch und erwachten unschuldig wie kleine Kinder, die sich an nichts mehr erinnerten. Die Menviten hingegen konnten schon nach ein paar Stunden erwachen und sich, als sei nichts geschehen, an ihr gewohntes Tagewerk begeben.
Aus diesem Grunde befahl Ilsor, die schlafenden Auserwählten umgehend ins Sternschiff in jene Schlafkojen zu schleppen, in denen die Außerirdischen zur Erde geflogen waren. So geschah es. Gegen Morgen befanden sich alle Menviten, die in den Zauberschlaf gesunken waren, wieder in den Unterdruckkammern, wo der Schlaf viele Jahre währt.
„So ist es sicherer!" meinte Ilsor.
Jetzt war die Zeit gekommen, um in die Hauptstadt von Rameria, Bassani, eine Meldung durchzugeben. Sie wurde mit dem Piloten Kau-Ruck abgesprochen und lautete folgendermaßen:
„An den Obersten Gebieter von Rameria, den Würdigsten unter den Würdigen, Guan-Lo. Melde im Auftrag des Kommandanten: Auf der Erde gibt es kein Leben. Es ist unmöglich, hier zu existieren, ohne die Raumanzüge abzulegen. Die Besatzung ist von einem seltsamen Schlaf umfangen. Wir kehren zurück. Stellvertretender Kommandant Sternpilot Kau-Ruck."
Nachdem das Schlafwasser seine Aufgabe erfüllt hatte, wurden die Hähne zugedreht und an der Zauberquelle wie gewöhnlich Wachen aufgestellt. Nachdenklich sagte Ilsor: „Ja, eure Quelle ist ein Rätsel. Sicher enthält sie bislang noch unbekannte Stoffe. Sie sind es wohl auch, die alle Lebewesen einschläfern."
„Von dem Wasser müßten Sie mehr auf Ihrem Planeten haben, nicht wahr?" meinte Tim. Seine Augen funkelten abenteuerlustig. „Da könnten Sie Ihre ganzen menvitischen Herrschaften einschläfern."
„Nehmen Sie doch einen reichlichen Vorrat von diesem Wasser mit", fügte Ann hinzu. „Soviel, wie wir brauchen, können wir sowieso nicht transportieren", seufzte Ilsor und lächelte über den Eifer der Kinder. „Es würde sich auch nicht so lange frisch halten. Ihr wißt doch selbst, daß das Wasser sehr schnell seine Zauberwirkung verliert." Alles war bereit, damit die „Diavona" den Rückflug zur fernen Rameria anträte. Die Stunde des Abschieds war gekommen.
„Ilsor, haben Sie auch nicht vergessen, daß Sie alle der Scheuch erwartet?" erinnerte Alfred Cunning.
Ilsor und seine Freunde hatten selbst den großen Wunsch, die Smaragdenstadt zu besuchen, den Eisernen Holzfäller und den Tapferen Löwen kennenzulernen und mit eigenen Augen den berühmten Bart von Din Gior und die nicht weniger berühmte grüne Brille des Torhüters zu betrachten. Es heißt ja nicht umsonst im Sprichwort: Besser einmal gesehen, als hundertmal gehört.
Die Arsaken wählten die Helikopter aus, die am wenigsten im Kampf gegen die Adler gelitten hatten, und reparierten sie flugs. In einem von ihnen nahm Ilsor Platz. Er wollte nach dem Steuerknüppel greifen, als ihm der Pilot Kau-Ruck zuvorkam. Er war hinter Ilsor zusammen mit einer Gruppe Arsaken eingestiegen.
„Gestatten Sie", bat er, „ich kenne den Weg in die Smaragdenstadt."
„Warten Sie! Fliegen Sie noch nicht los!" erklang miteins ein helles Stimmchen von der Erde unmittelbar an der Gangway.
Der Anführer der Arsaken und der Pilot bückten sich suchend. Kau-Ruck vergaß sogar vor Überraschung, sich wieder aufzurichten: Noch niemals hatte er so winzigkleine Menschlein gesehen. Auf dem Erdboden wimmelte es von Zwergen in grauen Umhängen und bunten Mützen. In den Händen hielten sie Angelruten aus Schilfrohr. An ihrer Spitze stand Kastaglio.
„Haben Sie irgendeine Bitte an uns, Freund Kastaglio?" fragte Ilsor den Ältesten unter den Zwergen. Der Zwerg war sogar ein wenig gekränkt: „Was soll das heißen? Was für eine seltsame Frage! Wir wollen zurück in unsere Höhle. Der Ritter Tilli-Willi hatte uns hergebracht. Er hat schließlich lange Beine!"
„Ach das ist's!" Ilsor lachte. „Ihr wollte nach Hause! Dann steigt nur ein in den Helikopter. Nehmt Platz, Freunde." Er wandte sich an die Arsaken: „Seid ihnen doch behilflich!"
Einer der Arsaken eilte die Gangway hinab und sammelte behutsam die Menschlein mit ihren grauen Umhängen in einen Korb. Ein anderer Arsake verteilte sie auf die Plätze. Die Zwerge füllten den gesamten Helikopter. Sie saßen auf den Sitzen, unter den Sitzen, auf dem Fußboden, auf ihren ausgebreiteten Umhängen, und einige von ihnen fanden sogar auf Tims und Anns Schoß Platz. Obwohl sie durch Erfahrungen und ein langes
Leben weise geworden waren, wirkten sie noch immer mopsfidel, sie quietschten und lachten vor Vergnügen und schubsten einander übermütig.
Doch was für ein Geschrei und Lachen erhob sich erst, als der Helikopter sich von der Erde löste und in die Lüfte aufstieg!
Die Zwerge erblickten das ewige Blau des Himmelzelts, an dem schneeweiße Wolken dahinsegelten. Unter ihnen dehnten sich endlos die grünenden Felder und Wälder. Sicher wäre es hier oben unheimlich still gewesen, wenn der Helikopter nicht gesurrt hätte und die kleinen Menschlein selbst nicht so laut gewesen wären. Die Zwerge fühlten: Wahrscheinlich würden sie sich ihr Leben lang an diesen Flug erinnern. Er bereitete ihnen ein riesiges Vergnügen. Kastaglio, der zu Kau-Ruck auf die Schulter geklettert war, wies den Weg zu den ehemaligen Besitzungen von Arachna, dorthin, wo seit Jahrtausenden ihre Großväter, Urgroßväter und Ururgroßväter gelebt hatten. Es wurde eine sehr lustige Reise, traurig war nur, daß sie zu Ende ging. Doch alles nimmt schließlich einmal ein Ende! Die Zwerge verabschiedeten sich von ihren Freunden und der Helikopter nahm Kurs auf die Smaragdenstadt.
Man hielt sich auch diesmal an den von Goodwin eingeführten Brauch: Der Torhüter verteilte grüne Brillen an die Gäste. Dann geleitete er alle in den Festsaal des Smaragdenschlosses. Die Tafeln waren gedeckt, es wirkte wie eine Parade der leckersten Speisen! Doch den Gästen war eine andere Parade wichtiger, die Parade der Wunder. Mit lebhafter Neugier betrachteten die Arsaken den Strohscheuch und den Eisernen Holzfäller. Der riesige Kopf von Tilli-Willi mit den Schlitzaugen und den schrecklichen Hauern, der im offenen Fenster auftauchte, verblüffte sie. Die Ehrenwache an den Saalwänden, die aus Ästen und Zweigen geschnitzt waren, setzte sie in Erstaunen. Doch die Wachsoldaten gingen auf und ab und unterhielten sich wie ganz gewöhnliche Menschen.
Wie können diese ungewöhnlichen Geschöpfe aus Stroh, Holz und Eisen sich nur bewegen, denken und miteinander sprechen, überlegten die Gäste. Die Erdbewohner haben fürwahr Geheimnisse entdeckt, die uns, den Einwohnern von Rameria, noch verschlossen sind. Die Erde ist ein Planet der Wunder ...
Die Arsaken wußten einfach nicht, weil man darauf nicht zu sprechen kam, daß sie sich in einem Zauberland befanden und daß alle Erdbewohner, die jenseits der Berge leben, Hurrikaps Land genauso erstaunlich gefunden hätten wie sie. Mit unverhülltem Interesse hörten die Gäste dem Tapferen Löwen und der nicht weniger mutigen Krähe Kaggi-Karr zu, die zusammen mit allen an der Festtafel Platz genommen hatten und sich an der allgemeinen Unterhaltung beteiligten.
Der Löwe sprach: „Lieber Ilsor, es wäre lobenswert, wenn auch bei euch auf Rameria die Menschen und die Tiere so gute Freunde würden wie in unserem Land." „Und auch die Vögel", fügte Kaggi-Karr hinzu. „Ich bin natürlich schon in der Großen Welt gewesen. Aber in solche Höhen wie Ihr kann ich mich nicht aufschwingen."
Der Scheuch klatschte in die Hände, das Paradetor öffnete sich, und Din Gior trat ein. Sein goldener Bart glänzte seidig, denn er hatte ihn unermüdlich gebürstet. Der Feldmarschall hielt ein silbernes Tablett in den Händen, auf dem funkelnagelneue brillantene Orden schimmerten. Die Zwinkerer hatten sie gerade angefertigt. Feierlich verkündete der Scheuch:
„Ich betrachte es als meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß Alfred Cunning und Ilsor eine überaus wertvolle I-ni-tia-tive entfaltet haben. So wollen wir sie denn mit dem Orden ,Für Initiative' ehren."
Die Anwesenden tauschten verständnisvolle Blicke und taten rückhaltlos ihre Begeisterung kund. Seit langem hatte der Scheuch nicht mehr so verzwickte Worte und Sätze gesprochen. Er überreichte den Ausgezeichneten die Orden. Dann trat Urfin Juice, der berühmte Gärtner, wie der Scheuch ihn vorstellte, mit der Eule Guamoko auf der Schulter und mit einem riesigen silbernen Tablett in den Händen vor die Gäste. Die Arsaken hatten Urfin häufig gesehen, wenn er in die Schloßküche von Ranavir kam. Sie hatten auch von dem Raub der Smaragden gehört. Die Steine, die Urfin Juice damals Baan-Nu abgenommen hatte, funkelten jetzt in voller Schönheit auf dem Tablett. Die Eule nahm Smaragd für Smaragd und reichte sie dem Gärtner. Der schenkte voller Stolz die schillernden Edelsteine den Arsaken. Dabei ermahnte er sie: „Seid wachsam! Laßt euch von den Menviten nie wieder einschüchtern!" All diese feierlichen Ehrungen machten die Arsaken ganz verlegen. Zugleich erfaßte sie eine ungehemmte Fröhlichkeit. Sie führten eine mächtige Waffe mit sich nach Rameria, sie würden ihre Stammesgenossen aus der Sklaverei befreien und eines Tages ein ebenso strahlendes Fest wie heute hier auf der Erde in ihrer Heimat feiern! Selbstverständlich werden sie auf ihrem Weg noch viele Hindernisse überwinden müssen. Wie sollten sie vor allem ihre Rückkehr nach Rameria begründen? Am besten wäre es, wenn die Menviten nach dem Erwachen weiter unter dem Einfluß des Zauberwassers blieben. Dann konnte man ihnen während des Rückfluges die unwahrscheinlichsten Geschichten erzählen, und sie würden alles glauben. Wenn das mißlingen sollte, blieb den Arsaken nichts anderes übrig, als die „Diavona" in der Wüste von Rameria zu landen und bei ihren Stammesbrüdern unterzutauchen, bevor sie die menvitische Polizei aufspüren würde.
Die Zeit des Startes war gekommen. Der Scheuch und der Eiserne Holzfäller, der Tapfere Löwe und Tilli-Willi, der Feldmarschall Din Gior und der Torhüter Faramant, die Krähe Kaggi-Karr und die Königin der Feldmäuse Ramina gaben Ilsor und den anderen Arsaken das Geleit. Auch Urfin Juice mit der treuen Guamoko, Mentacho und Elvina und sogar die Ärzte Doktor Boril und Doktor Robil waren erschienen; und natürlich blieben der Adler Karfax und der Drache Oicho nicht aus. Neben dieser ungewöhnlichen Gesellschaft, wie man sie wohl kaum irgendwo im All noch einmal antreffen würde, standen die Menschen von jenseits der Berge: Ann Smith, Tim O'Kelli und Fred Cunning.
Der Abschied von den Arsaken war traurig wie jeder Abschied. Seltsam und fehl am Platze wirkten hier Versprechungen, einander zu schreiben. Vielleicht würde irgendwann einmal der Sender, den Ilsor zurückließ, Grüße von der fernen Rameria empfangen. Vielleicht ... Vorerst aber mußte man warten.
Die Freunde nahmen Abschied voneinander, als sei es fürs Leben. Von einem sicheren Ort aus beobachteten die Zurückbleibenden, wie die „Diavona" in einer Flammengarbe erzitterte, sich wie ein gigantisches Ungetüm von der Erde abhob und langsam, dann immer rascher aufstieg und miteins in den Lüften entschwand. Nur gelbe Rauchschwaden blieben zurück.
Ann, Tim und Alfred kehrten wohlbehalten nach Hause zurück. Wie immer trug sie der Drache Oicho auf seinem Rücken heim.
Die Zeit eilt dahin - Sekunden, Minuten, Stunden ...
Häufig träumen die Gäste aus der Großen Welt vom Zauberland und seinen ungewöhnlichen Bewohnern. Häufig schweifen ihre Blicke zu den Weltumspannenden Bergen.
An klaren Winterabenden und in den Sommernächten aber treten sie immer wieder, ohne sich vorher miteinander zu verabreden, aus ihren Häusern und blicken zum dunklen Himmel auf, wo unweit vom Orion in kaltem blauem Licht der Planet Rameria leuchtet. Dann denken sie an die Menschen mit den Himmelsgesichtern, die ihnen so nahe und vertraut geworden sind ...