Das Imperium

ERSTES BUCH

1. KAPITEL

Donnerstag, 10. September 1992 20.00 Uhr

Die Boeing 727 durchflog ein Meer aus Kumuluswolken, die das Flugzeug wie eine große silberne Feder auf und ab warfen. Aus dem Kabinenlautsprecher drang die besorgte Stimme des Piloten.

»Sind Sie angeschnallt, Miss Cameron?«

Keine Antwort.

»Miss Cameron ... Miss Cameron ...«

Die Stimme ließ sie aufschrecken. »Ja?« Sie hatte von glücklicheren Zeiten, glücklicheren Orten geträumt.

»Alles in Ordnung? Das Gewitter ist bald vorbei, hoffe ich.«

»Mir geht's gut, Roger.«

Vielleicht haben wir Glück und stürzen ab, dachte Lara Cameron. Das wäre ein passendes Ende. Irgendwo, irgendwie war alles schiefgegangen. Schicksal, überlegte Lara. Gegen sein Schicksal kommt man nicht an. Im vergangenen Jahr war ihr Leben wild trudelnd außer Kontrolle geraten, und nun war sie in Gefahr, alles zu verlieren. Wenigstens kann sonst nichts mehr schief gehen, dachte sie mit schwachem Lächeln. Es gibt nichts mehr.

Die Tür zum Cockpit öffnete sich, und der Pilot kam in die Kabine. Er blieb kurz stehen, um seinen Passagier zu bewundern - eine schwarzhaarige Schönheit mit makellosem Teint und klugen grauen Augen. Sie hatte sich nach dem Start in Reno umgezogen und trug jetzt ein schulterfreies weißes Abendkleid, das ihre schlanke, verführerische Figur betonte.

An ihrem Hals glitzerte ein Kollier aus Rubinen und Brillanten. Wie kann sie so gelassen wirken, obwohl die Welt um sie her in Trümmer fällt? fragte er sich. Die Medien griffen sie seit Wochen erbarmungslos an.

»Funktioniert das Telefon wieder, Roger?«

»Leider noch nicht, Miss Cameron. Die elektrischen Störungen im Gewitter sind zu stark. Und wir werden La Guardia leider erst mit ungefähr einer Stunde Verspätung erreichen.«

Ich komme zu spät zu meiner Geburtstagsparty, dachte Lara. Alle werden da sein. Zweihundert Gäste, darunter der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, der Gouverneur des Bundesstaates New York, der Oberbürgermeister, Hollywoodstars, berühmte Sportler und Finanzleute aus einem halben Dutzend Länder. Sie hatte die Gästeliste persönlich durchgesehen und genehmigt.

Sie sah den Bankettsaal im Cameron Plaza, in dem ihre Party stattfand, schon vor sich. Von der Decke hingen Kronleuchter herab, deren Kristallprismen wie Diamanten funkeln würden. Die zweihundert Gäste würden sorgfältig plaziert an zwanzig runden Tischen sitzen, die mit feinstem Damast, Porzellan, Gläsern und Silber gedeckt waren. Und in der Mitte jedes Tisches würde ein Blumenarrangement aus weißen Orchideen und weißen Freesien stehen.

An beiden Enden der großen Empfangshalle draußen vor dem Saal würde je eine Bar aufgebaut sein und mitten in der Halle ein großes Buffett. Ein Schwan aus klarem Eis sollte von Beluga-Kaviar, Räucherlachs, Shrimps, Hummer und Krabben umgeben sein, während in Eiskübeln Champagner bereitstand. In der Küche würde die zehnstöckige Geburtstagstorte warten, Oberkellner, Pagen und Wachpersonal schon lange in Position sein.

Im Bankettsaal hätte ein Tanzorchester das Podium bezogen, um die Gäste zu verlocken, zur Feier ihres vierzigsten Geburtstages die Nacht durchzutanzen. Alles würde bereit sein.

Das Dinner würde köstlich sein. Sie hatte die Speisefolge selbst ausgewählt. Als Vorspeise würde es Foie gras geben, danach eine Pilzsuppe unter einer delikaten Kräuterkruste, dann Seezungenfilets und als Hauptgang Lamm in Rosmarin mit erlesenen Gemüsen und einem Kartoffelgratin. Käse und Trauben würden folgen und schließlich die Geburtstagstorte mit Kaffee, Mokka und Kognak.

Es würde eine großartige Geburtstagsparty werden. Lara würde erhobenen Hauptes durch die Reihen ihrer Gäste schreiten und so tun, als sei alles in bester Ordnung. Sie war Lara Cameron.

Als ihr Privatjet endlich auf dem New Yorker Flughafen La Guardia landete, hatte er eineinhalb Stunden Verspätung.

Lara wandte sich an den Piloten. »Wir fliegen spät nachts wieder nach Reno zurück, Roger.«

»Wie Sie wünschen, Miss Cameron.«

Ihr Chauffeur wartete mit ihrer Limousine am Rand des Vorfelds.

»Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht, Miss Cameron.«

»Wir sind in scheußliches Wetter geraten, Max. Bringen Sie mich so schnell wie möglich ins Plaza.«

»Ja, Ma'am.«

Unterwegs griff Lara nach dem Autotelefon und wählte Jerry Townsends Nummer. Er hatte die Party organisiert. Lara wollte sich davon überzeugen, daß fürs Wohl ihrer Gäste gesorgt war. Aber Jerry meldete sich nicht. Er ist sicher im Ballsaal, dachte Lara.

»Beeilen Sie sich, Max.«

»Ja, Miss Cameron.«

Beim Anblick des riesigen Hotels empfand Lara unwillkürlich tiefe Befriedigung darüber, was sie erreicht und geschaffen hatte. Aber an diesem Abend hatte sie es zu eilig, um darüber nachzudenken. Im Bankettsaal würden schon alle ungeduldig

auf sie warten.

Lara stieß die Drehtür vor sich her und hastete durch die großzügige Halle des Cameron Plaza. Carlos, der stellvertretende Direktor, sah sie und eilte auf sie zu.

»Miss Cameron .«

»Später«, wehrte Lara ab. Sie ging weiter, erreichte die geschlossenen Türen des Bankettsaals und blieb stehen, um tief Atem zu holen. Ich bin bereit, ihnen gegenüberzutreten, dachte Lara. Sie stieß mit einem Lächeln auf dem Gesicht die Türen auf und blieb verblüfft stehen. Der große Saal lag in tiefem Dunkel. Sollte das eine Überraschung für sie werden? Sie tastete nach dem Hauptschalter neben der Tür. Hunderte von Lampen flammten auf und tauchten den Ballsaal in gleißend helles Licht. Aber er war leer! Kein einziger Mensch war zu sehen. Lara stand wie vor den Kopf geschlagen da.

Was, um Himmels willen, konnte aus zweihundert Gästen geworden sein? Auf den Einladungen hatte zwanzig Uhr gestanden. Inzwischen war es fast zehn. Wie konnten so viele Menschen sich in Luft aufgelöst haben? Das war geradezu unheimlich. Während sie sich in dem riesigen leeren Ballsaal umsah, spürte sie, wie ihr ein kalter Schauder über den Rücken lief. Bei ihrer Geburtstagsparty vor einem Jahr war derselbe Raum voller Freunde, voller Musik und Lachen gewesen. Sie erinnerte sich so gut an diesen Tag.

2. KAPITEL

Vor einem Jahr hatte Lara Camerons Terminkalender nicht viel anders als an jedem gewöhnlichen Werktag ausgesehen.

10. September 1991:

05.30 Uhr Frühsport mit Trainer

07.00 Uhr Auftritt in Good Morning America

07.45 Uhr Besprechung mit japanischen Bankiers

09.30 Uhr Jerry Townsend

10.30 Uhr Mitarbeiterbesprechung (Planungsfragen) 11.00 Uhr Faxe, Auslandsgespräche, Post 11.30 Uhr Mitarbeiterbesprechung (Baufortschritte) 12.30 Uhr Besprechung mit Vertretern von Sparbanken 13.00 Uhr Mittagessen - Interview für das Magazin Fortune

- Hugh Thompson 14.30 Uhr Besprechung mit Bankiers (Metropolitan Union) 16.00 Uhr Städtischer Planungsausschuß 17.30 Uhr Besprechung mit Oberbürgermeister 18.15 Uhr Besprechung mit Architekten 18.30 Uhr Städtischer Bauausschuß 19.30 Uhr Cocktails mit Investoren aus Dallas 20.00 Uhr Geburtstagsparty (Cameron Plaza)

Lara hatte schon ungeduldig auf ihren Trainer Ken gewartet. »Sie kommen zu spät.«

»Entschuldigung, Miss Cameron. Mein Wecker hat nicht geklingelt, und ich bin ...« »Ich habe heute viel zu tun. Fangen wir lieber gleich an.« »Okay.«

Auf zehn Minuten Lockerungsübungen folgten Stretching und energische Aerobics.

Sie hat den Körper einer Zwanzigerin, dachte Ken. Die hätte ich gern mal in meinem Bett. Es machte ihm Spaß, jeden Morgen herzukommen, nur um sie anzusehen und in ihrer Nähe sein zu können. Wurde er gefragt, was oft vorkam, wie Lara Cameron im persönlichen Umgang sei, antwortete er nur: »Die Lady ist große Klasse.«

Lara hatte keine Mühe mit dem anstrengenden Training, aber sie war an diesem Morgen nicht recht bei der Sache.

Nach der letzten Übung sagte Ken: »Ich sehe Sie mir nachher in GoodMorning America an.«

»Was?« Lara hatte das Interview im Augenblick ganz vergessen. In Gedanken war sie schon in der Besprechung mit den japanischen Bankiers gewesen.

»Schön, dann bis morgen, Miss Cameron.«

»Kommen Sie nicht wieder zu spät, Ken.«

Lara duschte, zog sich an und frühstückte allein auf der Terrasse ihres Penthouses. Das Frühstück bestand aus Grapefruit, Cornflakes und grünem Tee. Danach ging sie in ihr Arbeitszimmer.

Sie klingelte nach ihrer Sekretärin. »Die Auslandsgespräche erledige ich aus dem Büro«, sagte Lara. »Ich muß um sieben bei der ABC sein. Max soll mit dem Wagen vorfahren.«

Das Interview in der Sendung Good Morning America war ein Erfolg. Joan Lunden, die Interviewerin, war liebenswürdig wie immer.

»Als Sie letztes Mal bei uns gewesen sind, Miss Cameron«, sagte Joan Lunden, »hatten Sie gerade mit dem Bau des höchsten Wolkenkratzers der Welt begonnen. Das war vor fast drei Jahren.«

Lara nickte. »Ja, das stimmt. Meine Cameron Towers werden nächstes Jahr fertiggestellt.«

»Wie fühlt man sich in Ihrer Position . wenn man so Unglaubliches geleistet hat und noch immer so jung und schön ist? Sie sind ein Vorbild für Millionen von Frauen.«

»Sie schmeicheln mir«, wehrte Lara lächelnd ab. »Ich habe keine Zeit, mich als Vorbild zu sehen. Dazu bin ich viel zu beschäftigt.«

»Obwohl das Immobilien- und Baugeschäft eigentlich als Domäne der Männer gilt, sind Sie in dieser Branche höchst erfolgreich. Wie machen Sie das? Wie suchen Sie beispielsweise den Standort für ein neues Gebäude aus?«

»Ich suche ihn nicht aus«, antwortete Lara. »Der Bauplatz sucht mich aus. Ich bin irgendwo unterwegs und sehe ein unbebautes Grundstück - aber in meinem Kopf sehe ich etwas anderes. Ich sehe ein funktionales Bürohochhaus oder ein schönes Wohngebäude, in dem Menschen in angenehmer Atmosphäre arbeiten oder leben. Ich träume ...«

»Und Sie machen Ihre Träume wahr. Gleich nach dieser Werbung geht's weiter.«

Die japanischen Bankiers trafen pünktlich um Viertel vor acht ein. Sie waren am Abend zuvor aus Tokio angekommen, und Lara hatte die Besprechung absichtlich so früh angesetzt, damit sie nach dem zwölfstündigen Flug noch unter der Zeitverschiebung litten. Als die Japaner protestiert hatten, hatte Lara ihnen kühl erklärt: »Tut mir leid, Gentlemen, aber das ist der einzig mögliche Termin. Sofort nach unserer Besprechung fliege ich nach Südamerika.«

Daraufhin waren sie widerstrebend einverstanden gewesen. Sie erschienen zu viert: klein, höflich und mit messerscharfem Verstand. Früher hatte die amerikanische Finanzwelt die Japaner gewaltig unterschätzt. Diesen Fehler machte man inzwischen längst nicht mehr.

Die Besprechung fand im Cameron Center auf der Sixth Avenue statt. Die Japaner waren hier, um sich mit einhundert

Millionen Dollar an einem Hotelkomplex zu beteiligen, den Lara gerade plante. Sie wurden in den großen Konferenzraum geführt. Jeder der Männer hatte ein Geschenk mitgebracht. Lara dankte ihnen und überreichte ihrerseits jedem ein Geschenk. Sie hatte ihre Sekretärin angewiesen, dafür zu sorgen, daß ihre Geschenke schlicht in braun oder grau verpackt waren. Weiß war für Japaner die Farbe der Trauer, und buntes Geschenkpapier hätte als geschmacklos gegolten.

Tricia, Laras Sekretärin, servierte den Japanern Tee und Lara Kaffee. Den Gästen wäre Kaffee lieber gewesen, aber sie waren zu höflich, um das zu sagen. Als sie ausgetrunken hatten, sorgte Lara dafür, daß ihnen nachgeschenkt wurde.

Dann betrat Howard Keller, Laras engster Mitarbeiter, den Konferenzraum. Er war Mitte Fünfzig, aschblond, blaß und hager, trug einen verknitterten Anzug und schaffte es, den Eindruck zu erwecken, als sei er eben erst aufgestanden. Lara machte ihn mit den Gästen bekannt. Keller verteilte Exposes, die das Hotelprojekt vorstellten.

»Wie Sie sehen, Gentlemen«, sagte Lara, »haben wir schon eine feste Zusage für die erste Hypothek. Der Komplex umfaßt siebenhundertzwanzig Gästezimmer, Restaurants und Tagungsräume mit gut zweieinhalbtausend Quadratmetern Gesamtfläche, eine Tiefgarage mit eintausend Stellplätzen .«

Lara Camerons Stimme klang energiegeladen. Die Japaner studierten die Unterlagen und hatten Mühe, wach zu bleiben.

Die Besprechung ging nach knapp zwei Stunden zu Ende und war ein voller Erfolg. Lara wußte seit langem, daß es leichter war, einen Deal über einhundert Millionen Dollar abzuschließen, als einen Kredit über fünfzigtausend Dollar aufzunehmen.

Sobald die Japaner sich verabschiedet hatten, folgte Laras Besprechung mit Jerry Townsend. Der großgewachsene, stets elegant gekleidete PR-Mann, der in Hollywood sehr erfolgreich gewesen war, leitete die Öffentlichkeitsarbeit der Firma Cameron Enterprises.

»Ihr Interview heute morgen in Good Morning America ist gut angekommen, ich habe schon eine Menge Anrufe erhalten.«

»Wie steht's mit Forbes?«

»Alles arrangiert. People bringt Sie nächste Woche auf der Titelseite. Haben Sie den Artikel über Sie im New Yorker gesehen? Ist der nicht großartig gewesen?«

Lara setzte sich an ihren Schreibtisch. »Nicht schlecht.«

»Das Interview für Fortune ist für heute Nachmittag eingeplant.«

»Ich habe den Termin verschoben.«

Er machte ein überraschtes Gesicht. »Weshalb?«

»Ich habe den Reporter hierher zum Lunch eingeladen.«

»Ah, die berühmte Vorzugsbehandlung?«

Lara drückte die Ruftaste der Gegensprechanlage. »Kommen Sie bitte herein, Kathy.«

Die Lautsprecherstimme antwortete: »Ja, Miss Cameron.«

Lara Cameron sah auf. »Das war's vorerst, Jerry. Ich möchte, daß Sie und Ihre Mitarbeiter sich auf die Cameron Towers konzentrieren.«

»Wir haben schon ...«

»Wir müssen noch mehr tun! Ich möchte, daß sämtliche Zeitungen und Zeitschriften darüber berichten. Schließlich bauen wir das höchste Gebäude der Welt. Der Welt! Ich möchte, daß die Leute darüber reden. Ich möchte, daß sie darum betteln, diese Wohnungen und Läden beziehen zu dürfen.«

Jerry Townsend stand auf. »Okay, wird gemacht.«

Kathy, Laras Assistentin, kam herein. Sie war eine attraktive, unauffällig elegante Schwarze Anfang dreißig.

»Haben Sie herausbekommen, was er am liebsten ißt?«

»Der Mann ist Feinschmecker mit einem Faible für französische Küche. Ich habe im Restaurant Le Cirque angerufen und Sirio gebeten, hier ein Lunch für zwei Personen zu servieren.«

»Gut. Wir essen in meinem privaten Speisezimmer.«

»Wie lange dauert das Interview voraussichtlich? Um vierzehn Uhr dreißig müßten Sie zu einer Besprechung mit den Managern von der Metropolitan Union fahren.«

»Verschieben Sie den Termin auf fünfzehn Uhr - und bitten Sie die Gentlemen hierher.«

Kathy notierte sich die Verschiebung. »Soll ich Ihnen die Post vorlesen.«

»Ja, bitte.«

»Das Kinderhilfswerk möchte Sie zur Sitzung am Achtundzwanzigsten als Ehrengast einladen.«

»Nein. Danken Sie in meinem Namen für die Einladung. Legen Sie einen Scheck bei.«

»Die Besprechung in Tulsa findet am ...«

»Absagen!«

»Eine Frauengruppe aus Manhattan möchte Sie für kommenden Freitag zum Lunch einladen.«

»Nein. Falls sie für wohltätige Zwecke sammeln, legen Sie einen Scheck bei.«

»Das Bildungswerk für Literatur läßt Sie bitten, bei einem Mittagessen am vierten Oktober eine kurze Rede zu halten.«

»Versuchen Sie, das einzurichten.«

»Sie sind als Ehrengast zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten MS-Kranker eingeladen - aber an diesem Termin sind Sie in San Francisco.«

»Schicken Sie ihnen einen Scheck.«

»Die Srbs laden Sie für Samstag zum Abendessen ein.«

»Gut, das muß sich irgendwie einrichten lassen«, entschied Lara. Kristian und Deborah Srb waren amüsante, gute Freunde, mit denen sie gern zusammen war. Dann runzelte sie die Stirn und fragte ihre Assistentin: »Kathy, in wie vielen Ausführungen sitze ich hier?«

»Wie bitte?«

»Sehen Sie genau hin!«

Kathy starrte sie an. »Ich sehe Sie einmal, Miss Cameron.«

»Richtig! Ich existiere nur einmal. Wie können Sie da erwarten, daß ich mich heute um vierzehn Uhr dreißig mit den Bankleuten von Metropolitan Union treffe, um sechzehn Uhr an einer Sitzung des Planungsausschusses teilnehme, um siebzehn Uhr dreißig beim Oberbürgermeister bin, um achtzehn Uhr fünfzehn ein paar Architekten treffe, um achtzehn Uhr dreißig im Bauausschuß sitze, um neunzehn Uhr dreißig mit diesen Leuten aus Dallas Cocktails trinke und ab zwanzig Uhr meinen Geburtstag feiere? Benützen Sie bitte Ihren Verstand, wenn Sie künftig Termine festlegen!«

»Es tut mir leid, aber ich sollte .«

»Sie sollen denken. Mit dummen Leuten kann ich nichts anfangen. Sagen Sie meine Teilnahme an der Sitzung des Bauausschusses ab.«

»Ja, Miss Cameron«, antwortete Kathy steif.

»Wie geht's dem Kleinen?«

Die Frage kam für die Assistentin überraschend. »David? Oh, dem ... dem geht's gut.«

»Er ist bestimmt schon groß.«

»Na ja, er ist fast zwei.«

»Haben Sie schon an eine Schule für ihn gedacht?«

»Nein, dafür ist's noch zu früh.«

»Falsch! Wer sein Kind in eine anständige New Yorker Schule gehen lassen will, meldet es schon vor der Geburt an.« Lara machte sich eine Notiz. »Ich kenne den Direktor der Dalton School. Ich sorge dafür, daß David dort eingeschrieben wird.«

»Ich ... danke Ihnen.«

Lara sah nicht einmal auf. »Gut, das war's vorläufig.«

»Ja. Ma'am.« Als Kathy das Büro verließ, wußte sie nicht, ob sie ihrer Chefin dankbar sein oder sie hassen sollte. Bevor sie sich bei Cameron Enterprises beworben hatte, war sie vor Lara Cameron gewarnt worden. »Der eiserne Schmetterling«, hatte sie gehört. »Ihre Mitarbeiter messen ihre Beschäftigungszeit nicht nach dem Kalender, sondern benützen Stoppuhren. Die frißt dich lebendig!«

An ihr damaliges Einstellungsgespräch erinnerte Kathy sich gut. Sie hatte Fotos von Lara Cameron in einem halben Dutzend Zeitschriften gesehen, aber keines hatte sie so gezeigt, wie sie wirklich war. In Wirklichkeit war Lara Cameron atemberaubend schön gewesen.

Lara Cameron hatte eben Kathys Lebenslauf gelesen. Sie sah auf und sagte: »Nehmen Sie Platz, Kathy.« Ihre klare Stimme klang energisch, und sie strahlte eine kaum gebändigte Kraft aus, die fast überwältigend war.

»Das ist ein eindrucksvoller Lebenslauf.«

»Danke, Miss Cameron.«

»Wieviel davon ist wahr?«

»Wie bitte?«

»Die meisten Lebensläufe, die ich zu lesen bekomme, sind erfunden. Beherrschen Sie Ihre Arbeit?«

»Die beherrsche ich sehr gut, Miss Cameron.«

»Zwei meiner Mitarbeiterinnen haben eben gekündigt. Folglich hat sich ziemlich viel Arbeit angehäuft. Sind Sie unter Streß belastbar?«

»Ich glaube schon.«

»Was Sie glauben, interessiert mich nicht. Werden Sie mit solchen Situationen fertig oder nicht?«

In diesem Augenblick wußte Kathy nicht recht, ob sie noch Wert auf diesen Job legte. »Ja, das werde ich.«

»Gut. Sie haben eine Woche Probezeit. Bevor Sie anfangen, müssen Sie unterschreiben, daß Sie weder über mich noch über Cameron Enterprises in der Öffentlichkeit sprechen werden -also keine Interviews, keine Bücher ... nichts. Alles, was hier passiert, ist streng vertraulich.«

»Ja, ich verstehe.«

»Gut.«

So hatte ihre Zusammenarbeit vor fünf Jahren begonnen. In dieser Zeit hatte Kathy gelernt, ihre Chefin zu lieben, zu hassen, zu bewundern und zu verachten. Gleich zu Anfang hatte Kathys Mann sich erkundigt: »Wie ist deine lebende Legende wirklich?«

Eine schwierige Frage. »Irgendwie überlebensgroß«, hatte Kathy geantwortet. »Sie ist atemberaubend schön. Sie arbeitet fleißiger als jeder andere. Gott allein weiß, wann sie überhaupt schläft. Als Perfektionistin macht sie sämtlichen Mitarbeitern das Leben schwer. Auf ihre Weise ist sie geradezu ein Genie. Sie kann kleinlich und rachsüchtig, aber auch unglaublich großzügig sein.«

Ihr Mann hatte gelächelt. »Mit anderen Worten: Sie ist eine Frau.«

Kathy hatte seinen Blick erwidert und ernst gesagt: »Ich weiß nicht, was sie ist. Manchmal jagt sie mir richtig Angst ein.«

»Komm, Schatz, du übertreibst!«

»Nein. Ich glaube wirklich, daß Lara Cameron imstande wäre, jeden ... umzubringen, der sich ihr in den Weg stellt.«

Als Lara Cameron ihre Telefonate beendet hatte, drückte sie auf die Sprechtaste, die sie mit Charlie Hunter verband. »Kommen Sie herüber, Charlie.«

»Ja, Miss Cameron.«

Eine Minute später betrat er Laras Büro - ein ehrgeiziger junger Mann, der die Finanzplanung der Cameron Enterprises leitete.

»Ja, Miss Cameron?«

»Ich habe vorhin das Interview gelesen, das Sie der New York Times gegeben haben«, sagte Lara.

Er lächelte geschmeichelt. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, es zu lesen. Wie hat's Ihnen gefallen?«

»Sie haben über Cameron Enterprises und bestimmte Probleme gesprochen, die uns in letzter Zeit zu schaffen machen.«

Er runzelte die Stirn. »Nun, wissen Sie, bestimmt hat dieser

Reporter mich falsch zitiert oder .«

»Sie sind fristlos entlassen.«

»Was? Warum? Ich .«

»Bei der Einstellung haben Sie sich schriftlich verpflichtet, keine Interviews zu geben. Ich möchte, daß Sie bis heute Mittag Ihren Schreibtisch räumen.«

»Ich . das können Sie nicht tun! Wer würde meine Arbeit machen?«

»Ihr Nachfolger ist schon eingestellt«, erklärte Lara.

Der Lunch war fast vorüber. Hugh Thompson, der Reporter von Fortune, war ein intellektuell wirkender Mann mit scharfen braunen Augen hinter einer schwarzen Hornbrille.

»Köstlich!« sagte er. »All meine Leibgerichte. Ich danke Ihnen, Miss Cameron.«

»Freut mich, daß es Ihnen geschmeckt hat.«

»Aber Sie hätten sich meinetwegen nicht soviel Mühe zu geben brauchen.«

»Oh, das war keine Mühe«, versicherte Lara ihm lächelnd. »Mein Vater hat immer gesagt, der Weg zum Herzen eines Mannes führt durch seinen Magen.«

»Und Sie wollten dorthin gelangen, bevor wir mit dem Interview anfangen?«

Lara nickte lächelnd. »Genau!«

»Wie groß sind die Schwierigkeiten Ihrer Firma wirklich?«

Das Lächeln verschwand. »Wie bitte?«

»Sie glauben doch nicht etwa, daß sich so etwas geheim halten läßt? An der Börse heißt es, daß einige Ihrer Immobilienfirmen, die Sie über Junk Bonds finanziert haben, kurz vor dem Konkurs stehen. Sie haben ziemlich viel mit Fremdkapital gearbeitet, und wegen des Preisverfalls bei Immobilien löst Cameron Enterprises vermutlich bereits stille Reserven auf, die aber bei weitem nicht ausreichen dürften.«

Lara Cameron lachte. »Ist das der neueste Börsenklatsch?

Glauben Sie mir, Mr. Thompson, Sie wären gut beraten, nicht jedes unsinnige Gerücht für bare Münze zu nehmen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich schicke Ihnen unsere jeweils zum Monatsende erstellte Bilanz, damit Sie verläßliche Zahlen haben. Einverstanden?«

»Besten Dank. Übrigens habe ich Ihren Mann bei der Eröffnung des neuen Hotels nicht gesehen.«

Lara seufzte. »Philip wäre so gern gekommen, aber leider war er gerade auf einer Konzertreise.«

»Ich habe vor drei Jahren einen seiner New Yorker Klavierabende erlebt. Er spielt wundervoll! Wie lange sind Sie schon mit ihm verheiratet?«

»Ein Jahr ... das glücklichste Jahr meines Lebens. Ich habe wirklich Glück. Ich bin viel auf Reisen, und auch Philip reist viel, aber ich kann mir seine Konzerte auf CDs anhören, wo immer ich bin.«

Thompson lächelte. »Und er kann Ihre Gebäude sehen, wo immer er ist.«

»Sie schmeicheln mir!« sagte Lara lachend.

»Aber das stimmt doch beinahe, nicht wahr? Sie haben überall in unserem Land Gebäude errichtet. Ihnen gehören Apartmenthäuser, Einkaufszentren, Bürogebäude, Ladenpassagen, eine Hotelkette . Wie haben Sie das alles geschafft?«

Sie lächelte. »Ich kann hexen.«

»Sie sind ein Phänomen.«

»Tatsächlich? Warum?«

»In diesem Augenblick gehören Sie zu den erfolgreichsten Bauunternehmern New Yorks. Ihr Name steht auf Dutzenden von Bautafeln vor Neubauprojekten. Sie sind dabei, den höchsten Wolkenkratzer der Welt zu bauen. Ihre Konkurrenten haben Ihnen den Spitznamen Eiserner Schmetterling gegeben. Sie haben es in einer Branche, die traditionellerweise von Männern beherrscht wird, erstaunlich weit gebracht.«

»Stört Sie das, Mr. Thompson?«

»Nein. Aber mich stört, Miss Cameron, daß ich nicht herausbekommen kann, wie Sie wirklich sind. Frage ich zwei Leute nach Ihnen, höre ich drei Meinungen. Jeder gesteht Ihnen zu, eine brillante Geschäftsfrau zu sein, aber . Ich meine, der Erfolg ist Ihnen schließlich nicht in den Schoß gefallen. Ich weiß, wie's auf dem Bau zugeht und was für rauhe Sitten dort herrschen. Wie schafft es eine Frau, mit solchen Rabauken fertigzuwerden?«

Sie lächelte. »Vielleicht bin ich als Frau die große Ausnahme. Aber ganz im Ernst: Ich stelle für jeden Job nur die besten Leute ein und bezahle sie gut.«

Zu einfach, dachte Thompson. Viel zu einfach. Die wahre Story liegt in dem, was sie verschweigt. Er beschloß, dem Interview eine andere Wendung zu geben.

»Praktisch alle Zeitschriften haben schon darüber berichtet, wie erfolgreich Sie sind. Ich möchte eine persönlichere Story schreiben. Über Ihre Familie, Ihre Abstammung ist bisher nur wenig geschrieben worden.«

»Auf meine Abstammung bin ich sehr stolz.«

»Gut, dann erzählen Sie mir ein bißchen darüber. Was hat Sie dazu bewogen, Ihr Glück in der Immobilienbranche zu versuchen?«

Lara lächelte, und er sah, daß ihr Lächeln echt war. Sie wirkte plötzlich wie ein kleines Mädchen.

»Es lag mir im Blut.«

»Im Blut?«

»Und in dem meines Vaters.« Lara deutete auf ein Porträt an der Wand hinter ihr. Es zeigte einen gutaussehenden Mann mit silbergrauen Haaren. »Das ist mein Vater - James Hugh Cameron.« Ihre Stimme klang weich. »Meinen Erfolg verdanke ich ihm. Ich bin ein Einzelkind gewesen. Meine Mutter ist früh gestorben, und mein Vater hat mich allein aufgezogen. Meine Familie ist vor vielen Jahren aus Schottland nach NeuSchottland ausgewandert - nach Glace Bay.«

»Glace Bay?«

»Eine Kleinstadt, ein ehemaliges Fischerdorf, im Nordosten von Cape Breton im Atlantik. Ihren Namen verdankt sie französischen Forschungsreisenden. Noch etwas Kaffee?«

»Nein, danke.«

»Mein Großvater hat in Schottland große Ländereien besessen, und mein Vater hat diesen Grundbesitz noch vermehrt. Er ist sehr reich gewesen. Das Schloß unserer Familie am Loch Morlich besitze ich noch heute. Als Achtjährige habe ich ein eigenes Pferd gehabt, meine Kleider sind aus London gekommen, und wir haben in einem weitläufigen alten Haus mit viel Personal gewohnt. Für ein kleines Mädchen ist das ein märchenhaftes Leben gewesen.«

Ihre Stimme klang vertraut, während sie von ihrer Kindheit und Jugend sprach.

»Im Winter sind wir zum Schlittschuhlaufen gegangen oder haben bei Eishockeyspielen zugesehen; im Sommer haben wir im Glace Bay Lake gebadet. Und später sind wir ins Forum oder ins Venetian Gardens zum Tanzen gegangen.«

Der Reporter machte sich eifrig Notizen.

»Mein Vater hat in Edmonton, Calgary und Ontario gebaut. Für ihn ist das Immobiliengeschäft ein faszinierendes Spiel gewesen, das er leidenschaftlich gern gespielt hat. Und ich habe diese Leidenschaft von ihm geerbt.« Ihre Stimme klang ernst. »Eines müssen Sie verstehen, Mr. Thompson: Was ich tue, hat nichts mit dem Geld oder dem Baumaterial zu schaffen, das für ein Gebäude benötigt wird. Mir geht's dabei um die Menschen. Ich verschaffe ihnen eine angenehme Umgebung, in der sie arbeiten, in der sie eine Familie gründen und behaglich leben können. Das ist meinem Vater wichtig gewesen, und es ist auch mir wichtig.«

Hugh Thompson sah auf. »Können Sie sich noch an Ihr erstes Objekt erinnern?«

Lara beugte sich vor. »Natürlich! Als ich achtzehn wurde, fragte mein Vater mich, was ich mir zum Geburtstag wünsche. Damals sind viele Leute neu nach Glace Bay gekommen, und ich hatte mir überlegt, daß sie Wohnungen brauchen würden. Deshalb erklärte ich meinem Vater, daß ich ein kleines Apartmenthaus bauen wollte. Er hat mir das Geld dafür gegeben -aber zwei Jahre später habe ich's ihm wieder zurückzahlen können. Dann habe ich einen Bankkredit aufgenommen, um ein zweites Gebäude zu errichten. Mit einundzwanzig haben mir schon drei Häuser gehört, die alle Gewinn abgeworfen haben.«

»Ihr Vater muß sehr stolz auf Sie gewesen sein.«

Wieder ein leicht wehmütiges Lächeln. »Ja, das ist er gewesen. Er hat mich Lara genannt. Das ist ein alter schottischer Name, der >allbekannt< oder >berühmt< bedeutet. Schon als kleines Mädchen habe ich von meinem Vater gehört, ich würde eines Tages berühmt werden.« Ihr Lächeln verschwand. »Er ist viel zu jung an einem Herzschlag gestorben. Ich reise jedes Jahr nach Schottland, um sein Grab zu besuchen.«

Lara Cameron machte eine Pause.

»Nach . nach seinem Tod ist es mir sehr schwergefallen, allein in unserem Haus zu leben. Deshalb bin ich nach Chicago gegangen. Ich hatte eine Idee, wie kleine, behagliche Hotels aussehen sollten, und konnte einen Bankier dazu überreden, sie zu finanzieren. Die Hotels sind erfolgreich gewesen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Der Rest meiner Geschichte ist bekannt. Ein Psychologe würde vermutlich behaupten, ich hätte dieses Imperium nicht allein für mich geschaffen. In gewisser Beziehung ist es tatsächlich ein Tribut an meinen Vater. James Cameron ist der wundervollste Mann, den ich je gekannt habe.«

»Sie müssen ihn sehr geliebt haben.«

»Ja - und er hat mich sehr geliebt.« Sie lächelte schwach. »Angeblich hat mein Vater nach meiner Geburt der gesamten männlichen Bevölkerung von Glace Bay einen Drink ausgegeben.« »Also«, stellte Thompson fest, »hat alles in Glace Bay angefangen.«

»Richtig«, bestätigte Lara halblaut, »alles hat in Glace Bay angefangen. Vor fast vierzig Jahren ...«

3. KAPITEL


Glace Bay, Neu-Schottland 10. September 1952

In der Nacht, in der sein Sohn und seine Tochter geboren wurden, war James Cameron angetrunken und befand sich in einem Bordell. Dort lag er zwischen den schwedischen Zwillingen im Bett, als Kristie, die Bordellbesitzerin, an die Tür hämmerte.

»James!« rief Kristie. Sie stieß die Tür auf und kam herein.

»Scher dich zum Teufel, alte Hexe!« knurrte James aufgebracht. »Kann man nicht mal hier seine Ruhe haben?«

»Tut mir leid, daß ich dich stören muß, James. Es ist wegen deiner Frau.«

»Was ist mit der?«

»Die kriegt gerade dein Kind, falls du's vergessen haben solltest.«

»Und? Dann soll sie's eben kriegen. Dafür seid ihr Weiber schließlich da.«

»Der Arzt hat gerade angerufen. Er läßt dich schon überall suchen. Deiner Frau geht's schlecht. Du solltest dich lieber beeilen.«

James Cameron setzte sich auf, rutschte auf die Bettkante und schüttelte benommen den Kopf. »Verdammtes Weibsbild! Vor der hat man nirgends Ruhe.« Er sah zu Kristie auf. »Gut, ich geh schon.« Er deutete auf die beiden nackten Mädchen. »Aber für die zahl ich nichts.«

»Mach dir deswegen keine Sorgen. Sieh lieber zu, daß du so schnell wie möglich heimkommst.« Sie wandte sich an ihre

Mädchen. »Ihr kommt am besten gleich mit.«

James Cameron war ein Mann mit verlebten Zügen, der früher einmal sehr gut ausgesehen haben mußte. Er schien Mitte Vierzig zu sein. In Wirklichkeit war er erst Anfang dreißig und verwaltete eines der Fremdenheime, die dem hiesigen Bankier Sean MacAllister gehörten. James Cameron und seine Frau Peggy teilten sich seit fünf Jahren die Arbeit: Sie putzte und kochte für die zwei Dutzend Dauergäste - und James trank für sie alle. Freitags mußte er in vier weiteren Fremdenheimen, die MacAllister in Glace Bay gehörten, die Mieten kassieren. Das war wieder ein Grund - als ob er einen gebraucht hätte -, loszuziehen und sich zu betrinken.

James Cameron war ein verbitterter Mann, der seine Verbitterung genoß. Er war ein Versager und suchte die Schuld für sein Versagen bei allen anderen, nur nicht bei sich selbst. Im Laufe der Jahre war es soweit gekommen, daß er sein Versagen genoß, weil er sich als Märtyrer fühlen konnte. Als James ein Jahr alt gewesen war, waren seine Eltern mit ihrer geringen Habe aus Schottland nach Glace Bay ausgewandert und hatten versucht, sich dort durchzuschlagen. Der Vater hatte den Jungen schon mit vierzehn Jahren zur Arbeit ins Kohlebergwerk geschickt. Zwei Jahre später hatte James sich bei einem Grubenunglück eine leichte Rückenverletzung zugezogen und seine Arbeit prompt aufgegeben. Wieder ein Jahr später waren seine Eltern bei einer Zugkatastrophe umgekommen.

Das alles hatte James Cameron zu der Überzeugung gebracht, daß er für sein Versagen nicht selbst verantwortlich, sondern das Schicksal gegen ihn war. Aber er besaß zwei wichtige Vorzüge: Er sah blendend aus und konnte sehr charmant sein. Während eines Wochenendes in Sydney, der nächsten etwas größeren Stadt, lernte er eine leicht zu beeindruk-kende junge Amerikanerin namens Peggy Maxwell kennen, die dort mit ihren Eltern Urlaub machte. Sie war nicht besonders hübsch, aber die Maxwells waren sehr wohlhabend, und James

Cameron war sehr arm. Er bezauberte Peggy Maxwell, die ihn gegen den Rat ihres Vaters vom Fleck weg heiratete.

»Als Mitgift bekommt Peggy fünftausend Dollar«, erklärte ihr Vater James. »Das ist deine Chance, etwas aus dir zu machen. Du kannst das Geld in Immobilien anlegen und binnen fünf Jahren verdoppeln. Dabei helfe ich dir gern.«

Aber James hatte keine Lust, fünf Jahre zu warten. Er investierte das Geld in ein zweifelhaftes Ölbohrungsprojekt, dessen Risiken er nicht beurteilen konnte, und war zwei Monate später pleite. Sein wütender Schwiegervater war nicht bereit, ihm noch einmal zu helfen. »Du bist ein Dummkopf, James, und ich habe keine Lust, schlechtem Geld gutes nachzuwerfen.«

Die Ehe, die James Camerons Rettung hatte sein sollen, erwies sich als Katastrophe, denn nun hatte er eine Frau, und keine Arbeit.

Schließlich kam Sean MacAllister ihm zur Hilfe. Der einzige Bankier von Glace Bay war um die Fünfzig, ein stämmiger, schwerfälliger Mann, der stets Anzüge mit Weste und einer dicken goldenen Uhrkette trug. Er war zwanzig Jahre zuvor nach Glace Bay gekommen und hatte sofort erkannt, welche Möglichkeiten sich hier boten. Für die in die Stadt strömenden Bergleute und Holzfäller gab es nicht genügend Unterkünfte. MacAllister hätte ihnen Häuser finanzieren können, aber er hatte eine bessere Idee gehabt. Er wußte, daß mehr zu verdienen war, wenn er diese Männer in Fremdenheimen zusammenpferchte. Schon zwei Jahre später gehörten ihm ein Hotel und fünf Fremdenheime, die ständig überfüllt waren.

Verwalter für diese Objekte waren schwer zu finden, denn die Arbeit war anstrengend. Der Verwalter sorgte dafür, daß die Zimmer vermietet waren, beaufsichtigte die Küche, gab das Essen aus und kümmerte sich darum, daß alles halbwegs sauber war. Was das Gehalt betraf, war Sean MacAllister kein Mann, der Geld zum Fenster hinauswarf.

Der Verwalter eines seiner Fremdenheime hatte eben gekün-digt, und MacAllister fand, James Cameron sei der geeignete Nachfolger für ihn. Cameron, der gelegentlich kleine Kredite bei ihm aufgenommen hatte, war mit den Tilgungszahlungen im Rückstand. Der Bankier ließ den jungen Mann zu sich kommen.

»Ich habe einen Job für Sie«, sagte MacAllister.

»Wirklich?«

»Sie sind ein Glückspilz! Sie kriegen eine wunderbare Stellung, die soeben frei geworden ist.«

»Bei Ihnen in der Bank?« frage James Cameron. Die Idee, in einer Bank zu arbeiten, gefiel ihm. Wo viel Geld herumlag, bestand immer die Möglichkeit, daß etwas hängenblieb.

»Nicht in der Bank«, erklärte MacAllister. »Sie sind ein liebenswürdiger junger Mann, James, und ich glaube, daß Ihnen der Umgang mit Menschen liegt. Ich möchte, daß Sie mein Fremdenheim in der Cablehead Avenue führen.«

»Ich soll ein Fremdenheim führen?« fragte Cameron mit Verachtung in der Stimme.

»Sie brauchen ein Dach über dem Kopf«, stellte der Bankier fest. »Außer Kost und Logis für Sie und Ihre Frau gibt es auch ein kleines Gehalt.«

»Wie klein?«

»Ich will großzügig sein, James. Fünfundzwanzig Dollar die Woche.«

»Fünfundzwanzig ...?«

»Sie brauchen den Job nicht anzunehmen. Es gibt genügend andere Bewerber.«

Zuletzt blieb James Cameron nichts anderes übrig, als zu sagen: »Ich nehme ihn.«

»Gut. Übrigens erwarte ich, daß Sie freitags in allen meinen Pensionen die Mieten kassieren und das Geld samstags bei mir abliefern.«

Peggy Cameron war entsetzt, als James ihr von seiner neuen Stellung erzählte. »Aber wir haben keine Ahnung, wie man ein

Fremdenheim führt, James!«

»Das lernen wir schon. Die Arbeit teilen wir uns.«

Und sie glaubte ihm. »Gut, irgendwie kommen wir schon zurecht«, sagte sie.

Tatsächlich waren sie auf ihre Weise bisher irgendwie zurechtgekommen.

Im Laufe der Jahre boten sich James Cameron mehrmals Gelegenheiten, einen besseren Job zu bekommen, der zugleich mehr Ansehen und höheres Gehalt gebracht hätte, aber er genoß sein Versagen zu sehr, um seinen Verwalterposten aufzugeben.

»Warum soll ich mich abstrampeln?« brummte er. »Ist das Schicksal gegen dich, hast du sowieso nie Glück.«

Und jetzt, in dieser Septembernacht, dachte er bei sich: Nicht mal bei meinen Nutten darf ich mich in Ruhe amüsieren! Der Teufel soll Peggy holen.

Als er Madame Kristies Etablissement verließ, spürte er eisigen Herbstwind im Gesicht.

Am besten stärke ich mich erst mal für die Unannehmlichkeiten, die vor mir liegen, überlegte James Cameron sich und kehrte im Ancient Mariner ein.

Eine Stunde später wankte er in Richtung Fremdenheim, das in New Aberdeen stand - dem ärmsten Viertel von Glace Bay.

Als er schließlich dort eintraf, wurde er von einem halben Dutzend Gäste besorgt erwartet.

»Der Arzt ist bei Peggy«, sagte einer der Männer. »Beeil dich, Mann!«

James torkelte in das kleine, dürftig möblierte Schlafzimmer, das er sich mit Peggy teilte. Von nebenan war das Quäken eines Neugeborenen zu hören. Peggy lag mit geschlossenen Augen reglos im Bett. Doktor Duncan beugte sich über sie. Er drehte sich um, als er James hereinpoltern hörte.

»Was geht hier vor?« fragte James undeutlich.

Der Arzt richtete sich auf und musterte James angewidert. »Sie hätten Ihre Frau zur Untersuchung zu mir schicken sollen«, sagte er.

»Und gutes Geld zum Fenster rauswerfen? Sie kriegt bloß 'n Kind. Was gibt's da ...?«

»Peggy ist tot. Ich habe alles Menschenmögliche getan. Sie hat Zwillinge bekommen. Den Jungen habe ich nicht retten können.«

»Jesus!« flüsterte James Cameron. »Wieder mal das Schicksal!«

»Was?«

»Das Schicksal, Doktor. Es war schon immer gegen mich. Und jetzt hat's mir meinen Stammhalter genommen. Ich hab nicht gewußt, daß .«

Eine Krankenschwester betrat den Raum mit einem winzigen in eine Wolldecke gehüllten Bündel auf dem Arm. »Dies ist Ihre Tochter, Mr. Cameron.«

»Mein' Tochter?« fragte er undeutlich. »Wassum Teufel soll ich minner Tochter?«

»Sie sind ja widerwärtig, Mann!« sagte Duncan scharf.

Die Schwester nickte Cameron zu. »Ich übernachte hier und zeige Ihnen morgen, wie Sie sie versorgen müssen.«

James Cameron starrte das in die Wolldecke gehüllte verschrumpelte Neugeborene an und dachte hoffnungsvoll: Na ja, vielleicht stirbt's auch.

In den ersten drei Wochen wußte niemand, ob die Kleine durchkommen würde. Eine Säuglingsschwester schaute täglich mehrmals vorbei, um sie zu versorgen. Dann konnte der Arzt eines Tages endlich sagen: »Jetzt hat Ihre Tochter das Schlimmste überstanden.«

Er musterte James Cameron und fügte halblaut hinzu: »Gott sei dem armen Kind gnädig.«

»Mr. Cameron, Sie müssen Ihrer Tochter einen Namen ge-ben«, sagte die Säuglingsschwester.

»Mir ist's gleich, wie der Balg heißt. Geben Sie ihm doch 'nen Namen!«

»Was halten Sie von Lara? Das ist ein so hübscher .«

»Nennen Sie den Balg von mir aus, wie Sie wollen!«

Und so erhielt sie den Namen Lara.

Die Kleine wuchs auf, ohne daß sich jemand um sie gesorgt oder sie gefördert hätte. Das Fremdenheim war voller Männer, die nie auf die Idee gekommen wären, sich um Lara zu kümmern. Die einzige Frau im Haus war Bertha, die dicke Schwedin, die als Köchin oder Zimmermädchen fungierte.

James Cameron war entschlossen, nichts mit seiner Tochter zu schaffen zu haben. Das verdammte Schicksal hatte ihn einmal mehr betrogen, indem es sie am Leben gelassen hatte. Oft saß er abends mit seiner Flasche Whisky im Salon und jammerte: »Der Balg hat meine Frau und meinen Sohn auf dem Gewissen.«

»Das darfst du nicht sagen, James.«

»Es stimmt aber! Mein Sohn wäre ein großer, starker Mann geworden. Er wäre clever und reich und würde gut für seinen alten Vater sorgen.«

Und die Gäste ließen ihn weiterschwatzen.

James Cameron versuchte mehrmals, sich mit seinem Schwiegervater in Verbindung zu setzen, weil er hoffte, der Alte werde ihm das Kind abnehmen. Aber Maxwells Aufenthaltsort war nicht festzustellen. Bei meinem Pech ist der alte Trottel inzwischen vermutlich gestorben, dachte James resigniert.

Glace Bay war eine Stadt der Durchreisenden. Sie kamen aus China und Frankreich und der Ukraine. Sie waren Griechen und Iren und Italiener; sie waren gelernte Zimmerer und Klempner und Schuhmacher. Sie wohnten in den Fremdenhei-men am unteren Ende der Main Street, in der Bell Street, in der North Street und in der Water Street am Hafen. Sie kamen, um in Bergwerken Kohle zu fördern, in den Wäldern Bauholz zu schlagen und zum Fischfang aufs Meer hinauszufahren. Glace Bay war eine primitive, lärmende Siedlung von Pionieren in einem Gebiet mit harten Wintern und kurzen, regenreichen Sommern.

In der Stadt gab es achtzehn Fremdenheim und Pensionen. In dem von James Cameron verwalteten Fremdenheim waren es vierundzwanzig Gäste, die vor allem aus Schottland stammten.

Lara hungerte nach Zuneigung, ohne zu wissen, was dieser Hunger bedeutete. Sie besaß kein Spielzeug, keine Puppen, die sie hätte lieben können, und keine Spielgefährten. Sie hatte nur ihren Vater. In ihrem verzweifelten Bemühen, ihm zu gefallen, machte sie ihm kindliche kleine Geschenke, die er jedoch ignorierte oder ins Lächerliche zog.

Als Fünfjährige hörte Lara, wie ihr Vater einem der Gäste erklärte: »Das falsche Kind ist gestorben, verstehst du? Mein Sohn hätte am Leben bleiben sollen.«

An diesem Abend weinte Lara sich in den Schlaf. Sie liebte ihren Vater so sehr. Und sie haßte ihn so sehr.

Mit sechs Jahren erinnerte Lara an ein Kinderbildnis von Keane: riesige Augen in einem schmalen blassen Gesicht. In diesem Jahr zog ein neuer Dauergast ein. Er hieß Mungo McSween und war ein Bär von einem Mann, der das kleine Mädchen sofort in sein Herz schloß.

»Wie heißt du, Kind?«

»Lara.«

»Ah, das ist ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen. Du gehst wohl schon zur Schule?«

»Schule? Nein.«

»Und warum nicht?«

»Weiß ich nicht.« »Na, das müssen wir rauskriegen.«

Und er machte sich auf die Suche nach James Cameron. »Ich hab gehört, daß deine Kleine nicht zur Schule geht.«

»Wozu denn auch? Sie ist bloß 'n Mädchen. Die braucht keine Schule.«

»Das stimmt nicht, Mann. Sie muß was lernen. Sie muß ihre Chancen im Leben kriegen.«

»Nicht nötig«, wehrte James ab. »Wär' bloß Zeitverschwendung.«

Aber McSween ließ nicht locker, bis James Cameron endlich zustimmte, um seine Ruhe zu haben. Außerdem brauchte er den Balg dann jeden Tag wenigstens ein paar Stunden lang nicht zu sehen.

Die Vorstellung, zur Schule gehen zu müssen, versetzte Lara in Angst und Schrecken. Sie hatte ihr ganzes bisheriges Leben in Gesellschaft Erwachsener verbracht und fast keinen Umgang mit Kindern gehabt.

Am folgenden Montag lieferte Bertha sie in der St. Anne's Grammar School ab, wo Lara ins Dienstzimmer der Rektorin geführt wurde.

»Das ist Lara Cameron.«

Mrs. Cummings, die Rektorin, war eine verwitwete grauhaarige Frau, die selbst drei Kinder hatte. Sie musterte das schlechtgekleidete kleine Mädchen, das schüchtern vor ihr stand. »Lara. Was für ein hübscher Name!« sagte sie lächelnd. »Wie alt bist du, meine Liebe?«

»Sechs.« Lara kämpfte gegen die Tränen an.

Das Kind hat schreckliche Angst, dachte Mrs. Cummings. »Nun, wir freuen uns, dich bei uns zu haben, Lara. Die Schule wird dir Spaß machen - und du wirst eine Menge lernen.«

»Ich kann nicht bleiben«, stieß Lara hervor.

»Oh? Warum denn nicht?«

»Mein Papa hat zuviel Sehnsucht nach mir.« Lara war fest

entschlossen, nicht zu weinen.

»Weißt du, wir behalten dich jeden Tag nur ein paar Stunden hier.«

Lara ließ sich in ein Klassenzimmer voller Kinder führen und bekam einen Platz in der letzten Bankreihe zugewiesen.

Die Lehrerin war damit beschäftigt, Buchstaben an die Tafel zu schreiben.

»Mit A fängt Apfel an«, sagte sie. »B bedeutet Ball. Weiß jemand, was mit C anfängt?«

Eine Kinderhand hob sich. »Chicago.«

»Sehr gut. Und weiter mit D?«

»Dach.«

»Und mit E?«

»Essen.«

»Ausgezeichnet. Fällt jemand ein Wort ein, das mit F anfängt?«

Lara meldete sich. »Ficken.«

Lara Cameron war die Jüngste in ihrer Klasse, aber ihre Lehrerin hatte den Eindruck, als sei sie in vieler Beziehung die Älteste. Sie war geradezu beunruhigend frühreif.

»Sie ist eine kleine Erwachsene, die darauf wartet, größer zu werden«, erklärte sie Mrs. Cummings.

An ihrem ersten Schultag klappten die anderen Kinder mittags ihre farbigen kleinen Blechdosen auf und holten Äpfel, Kekse und in Wachspapier eingewickelte Sandwiches heraus.

Niemand hatte daran gedacht, Lara etwas zu essen mitzugeben.

»Wo ist dein Mittagessen, Lara?« fragte die Lehrerin.

»Ich bin nicht hungrig«, sagte sie trotzig. »Ich hab ganz viel gefrühstückt.«

Die meisten ihrer Mitschülerinnen waren hübsch angezogen und trugen saubere Röcke und Blusen. Lara war aus ihren verschossenen Kleidern und fadenscheinigen Blusen heraus-gewachsen. Sie ging zu ihrem Vater.

»Ich brauche ein paar Anziehsachen für die Schule«, sagte Lara.

»Ach, wirklich? Für so was hab ich kein Geld. Hol dir was von der Heilsarmee.«

»Das wären Almosen, Papa.«

Ihr Vater holte aus und schlug ihr ins Gesicht.

Die Kinder in der Schule kannten Spiele, von denen Lara noch nie gehört hatte. Die Mädchen hatten Puppen und Spielsachen, und obwohl einige von ihnen bereit waren, diese Schätze mit Lara zu teilen, wurde ihr schmerzlich bewußt, daß ihr nichts davon gehörte. Aber das war noch nicht alles. In den folgenden Jahren konnte Lara gelegentlich einen Blick in eine andere Welt werfen, in der Kinder Väter und Mütter hatten, die sie liebten, küßten, umarmten, ihnen Geschenke machten und Geburtstagsparties für sie gaben. Allmählich wurde ihr klar, wie armselig ihr Leben war. Das alles trug noch dazu bei, daß sie sich noch einsamer fühlte.

Mit fünfzehn kam Lara in die St. Michael's High-School. Sie war schlaksig und unbeholfen - mit langen Beinen, strähnigem schwarzen Haar und hellwachen grauen Augen, die noch immer zu groß für ihr blasses, schmales Gesicht zu sein schienen. Noch konnte niemand sagen, wie sie sich später entwik-keln würde. Sie stand an der Schwelle zum Erwachsensein und durchlebte gerade eine Metamorphose, aus der sie häßlich oder schön hervorgehen konnte.

James Cameron hielt seine Tochter für häßlich. »Am besten heiratest du gleich den ersten, der blöd genug ist, dir 'nen Antrag zu machen«, riet er ihr. »Bei deinem Aussehen kriegst du vielleicht nie 'ne zweite Chance.«

Lara stand schweigend da.

»Und sag' dem Kerl, daß er von mir keine Mitgift zu erwarten hat.«

Eben war Mungo McSween hereingekommen. Er mußte sich beherrschen, um nicht dazwischenzufahren.

»Das war's, Mädchen«, sagte James Cameron. »Ab mit dir in die Küche!«

Lara stürzte hinaus.

»Mußt du deine Tochter so behandeln?« fragte McSween aufgebracht.

James Cameron starrte ihn mit blutunterlaufenen Augen an. »Was ich tue, ist meine Sache!«

»Du bist betrunken.«

»Genau. Was bleibt mir sonst übrig? Sind's nicht die Weiber, ist's der Whisky.«

McSween ging in die Küche, wo Lara das Geschirr spülte. Ihre roten Augen zeigten, daß sie geweint hatte. McSween legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter. »Nimm's nicht so tragisch, Kleine«, sagte er. »Er meint's nicht wirklich so.«

»Er haßt mich!«

»Nein, das tut er nicht.«

»Er hat mir noch nie ein freundliches Wort gegönnt. Niemals. Kein einziges!«

Darauf wußte McSween keine Antwort.

Im Sommer kamen Touristen nach Glace Bay. Sie reisten mit ihren teuren Autos an, trugen elegante Kleidung, kauften in der Castle Street ein, dinierten im Cedar House oder in Jasper's Restaurant und besuchten Ingonish Beach, Cape Smokey und Bird Island. Lara beneidete diese höheren Wesen aus einer anderen Welt und sehnte sich danach, mit ihnen zu entkommen, wenn sie am Ende des Sommers abreisten. Aber wie sollte ihr das gelingen?

Lara hatte viele Geschichten von Großvater Maxwell gehört.

»Der alte Hundesohn hat versucht, mich daran zu hindern, seine kostbare Tochter zu heiraten«, erzählte James Cameron jedem Gast, der die Geduld aufbrachte, sich seine Tiraden

anzuhören. »Er ist stinkreich gewesen, aber glaubst du, er hätte mir was abgegeben? Der doch nicht! Aber seine Peggy hat's bei mir immer gut gehabt ...«

Und Lara träumte von dem Tag, an dem ihr Großvater kommen und sie holen würde, um mit ihr in die herrlichen Städte zu reisen, von denen sie gelesen hatte: London, Rom, Paris ...

Und er kauft mir lauter schöne Sachen, dachte sie. Dutzende von Kleidern und neuen Schuhen.

Aber als Monate und Jahre verstrichen, ohne daß Großvater Maxwell von sich hören ließ, erkannte Lara schließlich, daß er niemals kommen würde. Sie war dazu verdammt, ihr Leben in Glace Bay zu verbringen.

4. KAPITEL

Für Teenager gab es in Glace Bay eine Vielzahl von Freizeitbeschäftigungen: Fußball und Eishockey, Bowling und Eislauf, im Sommer Angeln und Schwimmen. Jeden Tag nach der Schule war Carl's Drugstore ein beliebter Treffpunkt. In der Stadt gab es zwei Kinos, und im Venetian Garden wurde getanzt.

Für solche Vergnügungen hatte Lara nie Zeit. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, um Bertha beim Frühstück zu helfen und alle Gästebetten zu machen, bevor sie in die Schule ging. Nachmittags hastete sie nach Hause, um bei den Vorbereitungen fürs Abendessen zu helfen. Sie servierte gemeinsam mit Bertha, räumte nach dem Essen den Tisch ab, wusch das Geschirr und trocknete ab.

Die Gespräche der Schotten beim Abendessen bewirkten, daß Lara das schottische Hochland deutlich vor Augen standen. Ihre eigenen Vorfahren stammten aus dem Hochland, und die Erzählungen davon gaben Lara das einzige Heimatgefühl, das sie kannte. Die Gäste erzählten von einem tiefen Tal, in dem der Loch Ness lag, von Lochy, Linnhe und den unwirtlichen Inseln vor der Küste.

Im Salon stand ein verstimmtes Klavier, um das sich abends nach dem Essen manchmal ein halbes Dutzend Gäste versammelte, um Volkslieder aus der Heimat zu singen: »Annie Laurie«, »Comin' Through the Rye«, »The Hills of Home« und »Loch Lomond«.

Einmal im Jahr fand in der Stadt ein Festumzug statt, und alle Schotten in Glace Bay trugen stolz ihre Kilts und Tartans und marschierten zu schriller Dudelsackmusik durch die Straßen.

»Warum tragen die Männer Röcke?« wollte Lara von Mungo McSween wissen.

Er runzelte die Stirn. »Das ist kein Rock, Mädchen, sondern ein Kilt. Den haben unsere Vorfahren vor Jahrhunderten erfunden. Im Hochland hat der Kilt seinen Träger vor bitterer Kälte geschützt, aber ihm auch Beinfreiheit gelassen, damit er über Moor und Heide rennen und seinen Feinden entkommen konnte. Und wenn er nachts im Freien übernachten mußte, hat sein langer Kilt ihm als Bett und Zelt zugleich gedient.«

In Laras Ohren klangen die Namen schottischer Dörfer wie Musik ... Llandaff und Breadalbane, Glenfinnal und Kilbride, Kilninver und Kilmichael. Sie erfuhr, daß die Vorsilbe »Kil« auf eine Einsiedlerklause aus dem Mittelalter hindeutete. Begann ein Ortsname mit »Inver« oder »Aber«, lag das Dorf an einer Flußmündung. »Strath«, bezeichnete ein Tal, und die Vorsilbe »Bad« bedeutete, daß das Dorf im Wald lag.

Bei jedem Abendessen kam es zu lautstarken Auseinandersetzungen. Die Schotten stritten sich über fast alles. Ihre Vorfahren hatten stolzen Clans angehört, deren Ehre sie noch immer erbittert verteidigten.

»Das Haus Bruce hat nur Feiglinge hervorgebracht. Die haben vor den Engländern gekuscht wie winselnde Hunde.«

»Du weißt wieder mal nicht, wovon du redest, Ian! Der große Bruce hat sich den Engländern persönlich entgegengestellt. Aber das Haus Stuart hat gekuscht.«

»Ach, du bist ein Dummkopf wie alle aus deinem Clan!«

Dann verlagerte der Streit sich auf eine andere Ebene.

»Weißt du, was Schottland gebraucht hätte? Mehr Führer wie Robert den Zweiten. Das ist ein großer Mann gewesen! Der hat einundzwanzig Kinder gezeugt.«

»Ja - und die Hälfte davon sind Bastarde gewesen.«

Und wieder brach ein neuer Streit aus.

Lara konnte nicht fassen, daß die Männer sich über Ereignisse stritten, die über sechshundert Jahre zurücklagen.

»Mach' dir nichts daraus, Mädchen«, riet Mungo McSween ihr. »Ein Schotte fängt sogar in einem leeren Haus Streit an.«

Ein Gedicht von Sir Walter Scott regte Laras Phantasie besonders an. Er erzählte von dem kühnen jungen Ritter Lochinvar, der sein Leben aufs Spiel setzte, um seine Geliebte zu retten, die gezwungen werden sollte, einen anderen zu heiraten.

Eines Tages, dachte Lara, kommt ein schöner Lochinvar, um mich zu retten.

Einmal, bei der Küchenarbeit, fand Lara in einer Zeitschrift eine Anzeige, die ihr den Atem stocken ließ. Sie zeigte einen großen, blonden, gutaussehenden Mann, der einen eleganten Frack trug. Er hatte blaue Augen, lächelte strahlend und war jeder Zoll ein Prinz.

So wird mein Lochinvar aussehen, dachte Lara. Er ist irgendwo dort draußen auf der Suche nach mir. Eines Tages kommt er, um mich von hier zu entführen. Ich werde am Ausguß stehen und Geschirr waschen, und er wird von hinten an mich herantreten, die Arme um mich schlingen und flüstern: »Kann ich dir helfen?« Und ich werde mich umdrehen und ihm in die Augen sehen. Und ich werde fragen: »Hilfst du mir abtrocknen?«

»Was soll ich tun?« fragte Berthas Stimme.

Lara fuhr herum. Hinter ihr stand Bertha. Lara hatte nicht gemerkt, daß sie laut gesprochen hatte.

»Nichts«, stieß Lara errötend hervor.

Fasziniert war Lara bei diesen abendlichen Unterhaltungen auch von Erzählungen über die Vertreibung der schottischen Kleinbauern aus dem Hochland. Obwohl sie diese traurigen Geschichten schon oft gehört hatte, konnte sie nie genug davon

bekommen.

»Erzähl mir mehr davon«, bat sie, und Mungo McSween kam ihrem Wunsch nur allzu gern nach .

»Nun, alles hat im Jahre 1792 begonnen und hat mehr als sechzig Jahre lang gedauert. Die Großgrundbesitzer in den Highlands hatten gemerkt, daß Schafzucht mehr einbringen würde als die Verpachtung ihres Landes an Kleinbauern. Also haben sie Schafherden ins Hochland geholt, die die kalten Winter dort überleben konnten. Zuerst waren es hundert Schafe, dann tausend, dann zehntausend. Eine regelrechte Invasion!

Danach hat die große Vertreibung eingesetzt. Die Grundbesitzer hatten plötzlich ungeahnten Reichtum vor Augen - aber zuerst mußten sie die Kleinbauern loswerden, die auf winzigen Stücken Pachtland saßen. Weiß Gott, bettelarme Leute! Sie haben in elenden Hütten gehaust, ohne Fenster, ohne Schornsteine. Aber die Landbesitzer haben sie trotzdem verjagt.«

Lara hörte gespannt zu, mit großen Augen fest auf McSween gerichtet.

»Die Regierung wies das Militär an, die Dörfer zu besetzen und die Kleinbauern zu vertreiben. Die Soldaten rückten ins Dorf ein und gaben den Bauern sechs Stunden Zeit, mit ihrem Vieh und ihrer wenigen Habe abzuziehen. Ihre Ernte mußten sie auf dem Halm zurücklassen. Danach hat das Militär ihre Hütten niedergebrannt. So sind über eine Viertelmillion Männer, Frauen und Kinder aus der Heimat verjagt und an die Küsten getrieben worden.«

»Aber wie konnten sie von ihrem eigenen Besitz vertrieben werden?«

»Ah, das Land hat ihnen nie wirklich gehört, weißt du. Sie haben ein Stück von einem Großgrundbesitzer gepachtet, aber es ist nie ihr Eigentum gewesen. Sie haben dem Führer ihres Clans eine Gebühr bezahlt, um das Land bestellen und ein paar Stück Vieh aufziehen zu dürfen.«

»Was passierte, wenn Leute sich geweigert haben?« fragte Lara atemlos.

»Familien, die ihre Hütten nicht rechtzeitig geräumt hatten, sind mit ihnen verbrannt worden. Die Soldaten haben keinen Pardon gegeben. Ach, es ist eine Schreckenszeit gewesen! Die Menschen haben Hunger gelitten. Dann ist die Cholera ausgebrochen, und andere Krankheiten haben wie Lauffeuer um sich gegriffen.«

»Wie schrecklich!« sagte Lara.

»Genau, Mädchen. Unsere Leute haben von Brot, Rüben und Haferbrei gelebt - wenn überhaupt was zu bekommen war. Aber eines hat die Regierung den Hochländern nie rauben können: ihren Stolz. Sie haben sich gewehrt, so gut sie konnten. Auch nachdem ihre Hütten niedergebrannt waren, sind die Obdachlosen noch tagelang in der Nähe geblieben und haben versucht, irgendwas aus den Ruinen zu bergen. Meine Vorfahren sind dabeigewesen und haben alles durchlitten. Das ist Teil unserer Geschichte und hat sich in unsere Seelen eingebrannt.«

Lara sah Tausende von verzweifelten Obdachlosen vor sich, die alles verloren hatten und kaum begreifen konnten, was ihnen zugestoßen war. Sie hörte das Wehklagen der Trauernden und die Angstschreie der Kinder.

»Was ist aus all den Leuten geworden?« fragte sie betroffen.

»Sie sind ausgewandert - auf Schiffen, die wahre Seelenverkäufer gewesen sind. Viele der zusammengepferchten Passagiere sind an der Ruhr gestorben. Manchmal sind die Schiffe in Stürme geraten und wochenlang aufgehalten worden, so daß an Bord Hungersnot herrschte. Nur die Stärksten waren noch am Leben, als die Schiffe endlich in Kanada angelegt haben. Aber dort erwartete sie etwas, das sie noch nie gesehen hatten.«

»Ihr eigenes Land», sagte Lara.

»Ganz genau, Mädchen.«

Eines Tages, nahm Lara sich fest vor, besitze ich eigenes Land, das mir niemand - niemand! - mehr wegnehmen wird.

An einem Juliabend war James Cameron mit einem Mädchen in Kristies Bordell im Bett, als er einen Herzanfall bekam. Er war ziemlich betrunken, und als er plötzlich zur Seite kippte, nahm seine Gespielin an, er sei lediglich eingeschlafen.

»Nein, so geht das nicht! Unten warten noch andere Kunden auf mich. Wach auf, James! Komm, wach auf!«

Cameron griff sich, nach Atem ringend, an die Brust.

»Um Himmels willen«, ächzte er, »hol mir 'nen Arzt!«

Ein Krankenwagen brachte ihn in das kleine Krankenhaus in der Quarry Street. Doktor Duncan ließ Lara holen.

»Was ist passiert?« fragte sie aufgeregt. »Ist mein Vater tot?«

»Nein, Lara, aber er hat einen schweren Herzanfall gehabt.«

Sie stand wie vor den Kopf geschlagen da. »Bleibt er ... bleibt er am Leben?«

»Schwer zu sagen. Wir tun jedenfalls, was wir können.«

»Darf ich zu ihm?«

»Am besten kommst du morgen früh wieder, Mädchen.«

Sie ging heim, vor Angst wie benommen. Bitte, lieber Gott, laß ihn nicht sterben, dachte sie. Er ist alles, was ich habe.

Zu Hause wurde sie von Bertha erwartet. »Was ist passiert?«

Lara erzählte es ihr.

»O Gott!« sagte Bertha. »Und heute ist Freitag!«

»Was?«

»Freitag. Der Tag, an dem die Mieten kassiert werden müssen. Wie ich Sean MacAllister kenne, benützt er das als Ausrede, um uns alle auf die Straße zu setzen.«

In letzter Zeit war es häufiger vorgekommen, daß James Cameron, wenn er wieder einmal betrunken war, Lara damit beauftragt hatte, die Mieten in Sean MacAllisters übrigen Fremdenheimen zu kassieren. Lara hatte das Geld bei ihrem Vater abgeliefert, der es am nächsten Tag dem Bankier gebracht hatte.

»Was sollen wir bloß machen?« jammerte Bertha.

Und plötzlich wußte Lara, was getan werden mußte.

»Keine Angst«, sagte sie, »ich kümmere mich darum.«

Beim Abendessen sagte Lara: »Gentlemen, hören Sie mir bitte einen Augenblick zu!« Die Unterhaltung verstummte. Alle sahen sie an: »Mein Vater hat einen . einen kleinen Schwindelanfall erlitten. Er liegt im Krankenhaus. Die Ärzte wollen ihn ein paar Tage beobachten. Bis er zurückkommt, kassiere ich die Mieten. Nach dem Essen erwarte ich Sie in der Halle.«

»Kommt er wieder auf die Beine?« wollte einer der Mieter wissen.

»Ja, natürlich«, antwortete Lara mit gezwungenem Lächeln.

Nach dem Essen kamen die Männer nacheinander in die Halle und zahlten bei Lara ihre Wochenmiete.

»Hoffentlich erholt dein Vater sich bald, Mädchen .«

»Falls ich irgendwas für dich tun kann, brauchst du's nur zu sagen .«

»Du bist ein braves Mädchen, daß du das für deinen Vater tust .«

»Was ist mit den übrigen Häusern?« fragte Bertha. »Er muß noch in den vier anderen kassieren.«

»Ja, ich weiß«, sagte Lara. »Wenn du inzwischen abspülst, gehe ich die Mieten kassieren.«

Bertha machte ein zweifelndes Gesicht. »Na, dann viel Erfolg!«

Es war leichter, als Lara gedacht hatte. Die meisten Mieter fanden mitfühlende Worte und freuten sich, dem jungen Mädchen helfen zu können.

Am nächsten Morgen ging Lara mit den Umschlägen, in denen die Mieteinnahmen steckten, zu Sean MacAllister. Der Bankier saß in seinem Büro, als Lara hereinkam.

»Meine Sekretärin hat gesagt, daß du mich sprechen willst.«

»Ja, Sir.«

MacAllister betrachtete das magere, ungepflegte Wesen vor seinem Schreibtisch. »Du bist James Camerons Tochter, nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Sarah.«

»Lara.«

»Tut mir leid, was deinem Vater passiert ist«, behauptete MacAllister. Aus seinem Tonfall aber klang kein Mitgefühl. »Nachdem er jetzt zu krank ist, um seine Arbeit zu tun, muß ich mich natürlich nach Ersatz umsehen. Ihr .«

»Nein, Sir!« sagte Lara hastig. »Er hat mich gebeten, ihn zu vertreten.«

»Dich?«

»Ja, Sir.«

»Tut mir leid, aber das .«

Lara legte die Umschläge auf den Schreibtisch. »Hier sind die Wochenmieten.«

MacAllister starrte sie überrascht an. »Alle?«

Sie nickte wortlos.

»Und du hast sie kassiert?«

»Ja, Sir. Und ich kassiere sie jede Woche, bis Papa wieder auf den Beinen ist.«

»Mal sehen.« Er öffnete die Umschläge und zählte sorgfältig das Geld. Lara beobachtete ihn, als er die Gesamtsumme in ein großes grünes Journal eintrug.

Sean MacAllister, der seit einiger Zeit vorgehabt hatte, James Cameron zu entlassen, weil er trank und unzuverlässig war, sah jetzt eine Gelegenheit, sich die Familie vom Hals zu schaffen.

Die Kleine, die da vor ihm stand, würde bestimmt nicht imstande sein, die Aufgaben ihres Vaters zu übernehmen. Andererseits wußte der Bankier, wie die Stadt reagieren würde, wenn er den kranken James Cameron und seine Tochter auf die Straße setzte. MacAllister traf seine Entscheidung.

»Gut, ich will's einen Monat lang mit dir versuchen«, sagte

er. »Danach wissen wir, wo wir stehen.«

»Danke, Mr. MacAllister. Vielen Dank!«

»Augenblick.« Er gab Lara fünfundzwanzig Dollar. »Hier ... dein Wochenlohn.«

Als Lara das Geld in der Hand hielt, hatte sie das Gefühl, an der Schwelle der Freiheit zu stehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie für ihre Arbeit entlohnt worden.

Nach ihrem Besuch bei MacAllister ging Lara ins Krankenhaus. Doktor Duncan trat eben aus dem Zimmer ihres Vaters. Lara hatte plötzlich panische Angst. »Er ist doch nicht ...?«

»Nein, nein ... ihm geht's bald wieder gut, Lara.« Duncan zögerte. »Wenn ich >gut< sage, meine ich damit, daß er nicht sterben wird ... zumindest nicht gleich. Aber er muß noch einige Wochen das Bett hüten und braucht jemanden, der ihn pflegt.«

»Ich pflege ihn«, erbot sich Lara.

Der Arzt musterte sie prüfend und sagte dann: »Dein Vater ist sich nicht darüber im klaren, Kind, aber er kann sich sehr glücklich schätzen, so eine Tochter zu haben.«

»Darf ich jetzt zu ihm?«

»Gewiß.«

Lara betrat das Zimmer, blieb am Fußende des Krankenbetts stehen und starrte ihn an. James Cameron, der blaß, hilflos und mit geschlossenen Augen vor ihr lag, schien um viele Jahre gealtert zu sein. Eine Woge neuer Zärtlichkeit durchflutete Lara. Endlich würde sie etwas für ihn tun können, das ihr seinen Dank und seine Liebe sichern würde. Sie trat näher ans Bett heran.

»Papa .«

Er öffnete die Augen und murmelte: »Was tust du hier, verdammt noch mal? Daheim wartet Arbeit auf dich!«

Lara erstarrte. »Ich ... ich weiß, Papa. Ich wollte dir bloß erzählen, daß ich bei Mr. MacAllister gewesen bin. Ich hab' ihm gesagt, daß ich die Mieten kassiere, bis du wieder aufstehen darfst, und .«

»Du willst die Mieten kassieren? Daß ich nicht lache!« Er bekam einen heftigen Hustenanfall. Als er wieder sprechen konnte, klang seine Stimme schwach. »Das Schicksal ist wieder mal gegen mich«, ächzte er. »Ich weiß, daß ich auf der Straße enden werde.«

Er vergeudete keinen Gedanken darauf, was aus seiner Tochter werden würde. Lara starrte ihn lange schweigend an. Dann wandte sie sich ab und ging hinaus.

Drei Tage später wurde James Cameron nach Hause gebracht.

»Sie müssen noch ein paar Wochen lang im Bett bleiben«, erklärte der Arzt ihm. »Ich komme alle paar Tage vorbei und sehe nach Ihnen.«

»Ich kann nicht im Bett bleiben!« protestierte James Came-ron. »Ich hab' viel zu tun.«

Der Arzt zuckte die Achseln. »Sie haben die Wahl«, stellte er fest. »Sie können im Bett bleiben und weiterleben oder aufstehen und sterben.«

MacAllisters Mieter hatten anfangs ihren Spaß daran, daß nun ein junges Mädchen vorbeikam, um die Miete zu kassieren. Aber sobald der Reiz des Neuen verflogen war, brachten sie alle möglichen Ausreden vor:

»Ich bin diese Woche krank gewesen und hab' die Arztrechnung bezahlen müssen .«

»Mein Sohn schickt mir jede Woche Geld, aber die Post hat sich verspätet .«

»Ich hab' mir neues Werkzeug kaufen müssen ...«

»Bis nächste Woche hab' ich das Geld ganz bestimmt ...«

Aber Lara kämpfte um ihr Leben. Nachdem sie höflich zugehört hat , sagte sie: »Tut mir leid, aber Mr. MacAllister sagt, daß die Miete heute fällig ist. Falls Sie nicht zahlen können,

müssen Sie sofort ausziehen.«

Und irgendwie brachten sie das Geld dann doch auf.

Lara machte keinerlei Zugeständnisse.

»Mit deinem Vater bin ich besser ausgekommen«, klagte einer der Mieter. »Der ist immer bereit gewesen, ein paar Tage zu warten.«

Aber letzten Endes nötigte die Courage des jungen Mädchens allen Bewunderung ab.

Laras anfängliche Hoffnung auf ein engeres Verhältnis zu ihrem kranken Vater wurde bitter enttäuscht. Sie bemühte sich, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen - aber je mehr sie ihn umsorgte, desto unausstehlicher wurde er.

Sie brachte ihm jeden Tag frische Blumen und kleine Lek-kerbissen.

»Was soll der Unsinn?« rief er aus. »Mußt du dauernd hier rumhängen? Hast du sonst nichts zu tun?«

»Ich hab' bloß gedacht, du ...«

»Raus!« Er drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.

Ich hasse ihn, dachte Lara. Ich hasse ihn.

Als Lara nach Ablauf ihrer Probezeit von einem Monat die Umschläge mit den Mieteinnahmen abgeliefert und Sean MacAllister das Geld gezählt hatte, sagte er: »Ich gebe ehrlich zu, junge Dame, daß du mich sehr überrascht hast. Du hast bessere Arbeit geleistet als dein Vater.«

Das war Musik in Laras Ohren. »Danke, Mr. MacAllister.«

»Tatsächlich ist dies der erste Monat, in dem jeder rechtzeitig und vollständig gezahlt hat.«

»Dann dürfen mein Vater und ich also bleiben?« fragte Lara gespannt.

Der Bankier musterte sie prüfend. »Warum nicht? Du liebst deinen Vater offenbar sehr.«

»Gut, dann bis nächsten Samstag, Mr. MacAllister.«

5. KAPITEL

Mit siebzehn war aus dem einst mageren, schlaksigen Mädchen eine junge Frau geworden. Ihr Gesicht trug die Züge ihrer schottischen Vorfahren, die ihr einen makellosen Teint, elegant geschwungene Augenbrauen, graue Augen, deren Farbe an Gewitterwolken erinnerte, und üppiges schwarzes Haar vererbt hatten. Dazu kam eine gewisse Melancholie, von der sie ständig umgeben war - ein fernes Echo der tragischen Geschichte ihres Volkes. Es fiel schwer, den Blick von Lara Camerons Gesicht zu wenden.

Die meisten Mieter lebten allein, wenn man von den Gefährtinnen absah, die sie sich bei Madame Kristie oder in anderen Bordellen stundenweise kauften, und ein schönes junges Mädchen im Haus weckte natürlich Begierden. So kam es manchmal vor, daß einer der Männer ihr in der Küche oder in seinem Zimmer, wenn sie gerade putzte, den Weg vertrat und fragte: »Willst du nicht nett zu mir sein, Lara? Ich könnte viel für dich tun.«

Oder: »Du hast noch keinen festen Freund, stimmt's? Komm, ich zeig' dir, wie's mit 'nem richtigen Mann ist.«

Oder: »Hättest du nicht Lust, dir Kansas City anzusehen? Ich reise nächste Woche ab und würde dich gern mitnehmen.«

Wann immer ein Mieter versucht hatte, Lara ins Bett zu bekommen, ging sie in das kleine Zimmer, in dem ihr Vater hilflos lag, und erklärte ihm: »Du hast dich getäuscht, Vater. Alle Männer wollen mich.« Und sie verließ den Raum, während er ihr nachstarrte.

James Cameron starb an einem Dezembermorgen, und Lara begrub ihn auf dem Friedhof im Stadtteil Passionadale. Außer ihr nahmen nur Bertha an der Beisetzung teil. Es flossen keine Tränen.

Ein neuer Mieter zog ein: ein Amerikaner namens Bill Rogers. Er war Anfang siebzig, dick und kahlköpfig, ein freundlicher, redseliger Mann. Nach dem Abendessen saß er oft im Salon und unterhielt sich mit Lara. »Sie sind zu verdammt hübsch, um in diesem Nest zu versauern«, erklärte er ihr. »Sie sollten nach New York oder Chicago gehen. Dort ist richtig was los!«

»Das tue ich eines Tages«, antwortete Lara.

»Sie haben Ihr ganzes Leben noch vor sich. Wissen Sie denn schon, was Sie damit anfangen wollen?«

»Ich möchte Dinge besitzen.«

»Ah, schöne Kleider und ...«

»Nein, Land. Ich möchte Land besitzen. Mein Vater hat nie etwas besessen. Er hat sein Leben lang von den Almosen anderer leben müssen.«

Bill Rogers strahlte. »Ich bin mein Leben lang in der Immobilienbranche gewesen.«

»Tatsächlich?«

»Überall im mittleren Westen haben meine Häuser gestanden. Mir hat sogar 'ne Hotelkette gehört.« Sein Tonfall klang bedauernd.

»Und dann?«

Rogers zuckte mit den Schultern. »Ich hab' den Hals nicht vollkriegen können. Zuletzt war dann alles futsch. Aber Spaß gemacht hat's doch!«

Danach sprachen sie fast jeden Abend über die Immobilienbranche.

»Die Grundregel im Immobiliengeschäft lautet: anderer Leute Geld. Das Schöne an Immobilien ist, daß man Zinsen und Abschreibung steuerlich absetzen kann, während ihr Wert weiter steigt. Die drei wichtigsten Gesichtspunkte für die Beurteilung von Immobilien sind: erstens die Lage, zweitens die Lage und drittens die Lage. Ein schönes Gebäude irgendwo auf einem Hügel ist Zeitverschwendung. Ein häßlicher Bau in der Innenstadt macht reich.«

Rogers weihte Lara in die Geheimnisse der Hypothekenfinanzierung, der Finanzierung durch Steuervergünstigung und der Zusammenarbeit mit Hypothekenbanken ein. Lara hörte aufmerksam zu, lernte viel und merkte sich alles. Ihr Gehirn war wie ein Schwamm, der alle Informationen aufsog.

Die für sie wichtigste Entscheidung traf Rogers eher beiläufig: »Hier in Glace Bay gibt's längst nicht genug Wohnungen. Das wäre eine riesige Gelegenheit. Wäre ich zwanzig Jahre jünger .«

Von diesem Augenblick an betrachtete Lara die kleine Stadt mit anderen Augen. Sie stellte sich auf unbebauten Grundstük-ken Wohn- und Bürogebäude vor. Das war aufregend und frustrierend zugleich. Sie hatte ihre Träume, aber kein Geld, um sie zu verwirklichen.

Als Bill Rogers weiterzog, hatte er noch einen guten Rat für sie: »Denk immer daran: anderer Leute Geld. Alles Gute, Kleine!«

Eine Woche später quartierte sich Charles Cohn bei Lara ein. Er war ein schlanker, kleiner Mann von etwa sechzig Jahren, gepflegt und gut angezogen. Obwohl er wie die anderen Gäste am gemeinsamen Abendessen teilnahm, blieb er auffällig schweigsam. Er schien in einer eigenen Welt zu leben.

Er beobachtete Lara bei der Arbeit, lächelte stets freundlich und beschwerte sich nie.

»Wie lange werden Sie bei uns bleiben?« fragte Lara ihn.

»Schwer zu sagen. Zwei Wochen, zwei Monate ...«

Charles Cohn war Lara ein Rätsel. Er paßte so gar nicht zu den übrigen Mietern. Sie versuchte zu erraten, was er beruflich machte. Er war ganz bestimmt kein Bergmann oder Fischer, sah nicht wie ein Handelsreisender aus und wirkte vornehmer und gebildeter als die anderen Gäste. Lara hatte er erzählt, er habe versucht, ein Zimmer im einzigen Hotel der Stadt zu bekommen, aber es sei ausgebucht gewesen. Ihr fiel auf, daß Cohn bei den Mahlzeiten fast nichts aß.

»Wenn Sie etwas Gemüse hätten«, sagte er entschuldigend, »oder etwas Obst .«

»Halten Sie eine bestimmte Diät?« fragte Lara ihn nach einigen Tagen.

»In gewisser Beziehung. Ich esse nur koschere Speisen, und in Glace Bay gibt's leider keine.«

Als Charles Cohn sich am nächsten Abend an den Eßtisch setzte, wurden ihm Lammkoteletts serviert. Er sah überrascht zu Lara auf. »Tut mir leid, aber die kann ich nicht essen«, sagte er. »Ich dachte, ich hätte Ihnen erklärt, daß .«

»Ja, das haben Sie«, unterbrach Lara ihn lächelnd. »Aber die sind koscher.«

»Was?«

»In Sydney gibt's einen koscheren Fleischer, bei dem ich für Sie eingekauft habe. Guten Appetit! Zum Zimmerpreis gehören Frühstück und Abendessen. Morgen bekommen Sie zur Abwechslung ein Steak.«

Von da an suchte Cohn das Gespräch mit Lara, wenn sie gerade Zeit hatte, und horchte sie geschickt aus. Ihre rasche Auffassungsgabe und ihre für ihr Alter erstaunliche Selbständigkeit imponierten ihm.

Eines Tages vertraute Charles Cohn ihr an, warum er nach Glace Bay gekommen war. »Ich bin im Auftrag der Firma Continental Supplies unterwegs.« Das war eine große Supermarktkette. »Ich soll hier ein Grundstück für einen neuen Laden finden.«

»Wie aufregend!« sagte Lara, und bei sich dachte sie: Ich habe gleich gewußt, daß Cohn aus irgendeinem wichtigen Grund nach Glace Bay gekommen ist. »Sie wollen also ein Gebäude errichten?«

»Nein, das überlassen wir anderen. Wir mieten unsere Ladenlokale nur.«

Um drei Uhr morgens schreckte Lara aus tiefem Schlaf hoch und setzte sich mit wildem Herzjagen im Bett auf. War das ein Traum gewesen? Nein. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren. Sie war zu aufgeregt, um wieder einschlafen zu können.

Als Charles Cohn morgens zum Frühstück kam, wartete Lara bereits auf ihn.

»Mr. Cohn . ich weiß ein wunderbares Grundstück«, stieß sie hervor.

Er zog die Augenbrauen hoch. »Wie bitte?«

»Ein Grundstück für Ihren neuen Laden.«

»Oh? Wo denn?«

Lara wich seiner Frage aus. »Ich möchte Sie etwas fragen. Nehmen wir mal an, ich besäße ein Grundstück, das Ihnen gefällt, und würde darauf ein für Ihre Firma geeignetes Gebäude errichten - bekäme ich dann einen Fünfjahresmietvertrag?«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine ziemlich hypothetische Frage, nicht wahr?«

»Bekäme ich den Vertrag?« fragte Lara unbeirrt.

»Lara, was verstehen Sie denn vom Bauen?«

»Ich würde das Gebäude nicht selbst hinstellen«, antwortete sie. »Dafür würde ich mir einen Architekten und eine gute Baufirma nehmen.«

Charles Cohn musterte sie prüfend. »Aha. Und wo liegt dieses wunderbare Grundstück?«

»Ich zeig's Ihnen«, sagte Lara. »Es wird Ihnen gefallen! Es ist wirklich ideal.«

Nach dem Frühstück fuhr Lara Cameron mit Charles Cohn in die Stadt. Mitten in Glace Bay war ein ganzer Straßenblock unbebaut. Dieses Baugrundstück hatte Cohn erst vor zwei Tagen besichtigt.

»Das ist das Grundstück, an das ich gedacht habe«, erklärte Lara ihm.

Cohn stand da und gab vor, das Grundstück zu begutachten.

»Sie haben eine gute Nase«, sagte er anerkennend. »Wirklich ein erstklassiges Grundstück.«

Er hatte bereits diskrete Nachforschungen angestellt und erfahren, daß dieses Grundstück dem Bankier Sean MacAllister gehörte. Cohn hatte den Auftrag, ein geeignetes Grundstück zu finden, den Bau des Ladenlokals zu veranlassen und es anschließend zu mieten. Wer das Gebäude errichtete, war seiner Firma letztlich gleichgültig, solange es ihren Erfordernissen entsprach.

Cohn betrachtete Lara nachdenklich. Sie ist noch viel zu jung, dachte er. Das ist eine verrückte Idee. Andererseits ... >In Sydney gibt es einen koscheren Fleischer, bei dem ich für Sie eingekauft habe ... Morgen bekommen Sie zur Abwechslung ein Steak. < Damit hatte sie Charles Cohn für sich eingenommen.

Lara fragte ihn aufgeregt: »Würden Sie einen Mietvertrag für fünf Jahre mit mir abschließen, wenn es mir gelingt, dieses Grundstück zu erwerben und darauf ein für Sie geeignetes Gebäude zu errichten?«

»Nein, Lara«, sagte er langsam. »Es müßte schon ein Zehnjahresmietvertrag sein.«

Nachmittags ging Lara Cameron zu MacAllister, der überrascht aufsah, als sie sein Büro betrat.

»Du kommst viel zu früh, Lara«, stellte der Bankier fest. »Heute ist erst Montag.«

»Ja, ich weiß. Aber ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Mr. MacAllister.«

Sean MacAllister starrte sie mit unverhohlener Bewunderung an. Sie ist wirklich ein verdammt hübsches Mädchen geworden, dachte er. Nein, schon eine richtige Frau. Er sah die Rundung ihrer Brüste unter ihrer Baumwollbluse.

»Setz dich, meine Liebe. Was kann ich für dich tun?«

Aber Lara war viel zu aufgeregt, um sitzen zu können. »Ich möchte einen Kredit aufnehmen.«

Das überraschte ihn. »Wie bitte?«

»Ich möchte mir Geld von Ihnen leihen.«

Der Bankier lächelte gönnerhaft. »Warum auch nicht? Falls du ein neues Kleid oder sonst was brauchst, bin ich gerne bereit, dir .«

»Ich möchte mir zweihunderttausend Dollar leihen.«

MacAllisters Lächeln verschwand. »Soll das ein Witz sein?«

»Keineswegs, Sir.« Lara nahm Platz, beugte sich nach vorn und sagte ernsthaft: »Ich möchte in Glace Bay ein Grundstück kaufen, um darauf ein Gebäude zu errichten. Ich habe bereits einen finanzkräftigen Mieter, der einen Zehnjahresvertrag unterschreiben will. Damit wäre der Kredit für Grunderwerb und Baukosten abgesichert.«

MacAllister betrachtete sie stirnrunzelnd. »Hast du darüber schon mit dem Grundstücksbesitzer gesprochen?«

»Das tue ich gerade«, antwortete Lara.

Der Bankier brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was sie gesagt hatte. »Augenblick! Soll das heißen, daß das Grundstück mir gehört?«

»Ja. Es handelt sich um Ihr Grundstück in der Main Street an der Ecke zur Commercial Street.«

»Du willst dir von mir Geld leihen, um damit mein Grundstück zu kaufen?«

»Das Grundstück ist schätzungsweise zwanzigtausend Dollar wert, ich habe mich erkundigt. Ich biete Ihnen dreißigtausend. Sie verdienen also zehntausend Dollar am Grundstücksverkauf und bekommen noch dazu Zinsen für die zweihunderttausend Dollar, die ich bei Ihnen aufnehme.«

Sean MacAllister schüttelte den Kopf. »Ich soll dir zweihunderttausend Dollar ohne irgendwelche Sicherheiten leihen? Ausgeschlossen!«

»Doch, Sie haben Sicherheiten«, erklärte Lara ihm ernsthaft.

»Auf Ihren Namen wird eine Hypothek auf Grundstück und Gebäude eingetragen, und ich habe bereits einen Mieter. Also riskieren Sie nichts.«

MacAllister starrte die junge Frau an, während er über ihren Vorschlag nachdachte. Dann lächelte er. »Nicht übel, was du dir da ausgedacht hast. Aber ein Darlehen dieser Art würden die Gesellschafter meiner Bank nie genehmigen.«

»Sie haben keine Gesellschafter«, stellte Lara fest.

Das Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Stimmt!«

Lara beugte sich etwas weiter vor, und er sah, wie ihre Brüste die Schreibtischkante berührten.

»Bitte sagen Sie ja, Mr. MacAllister. Sie werden's nie bereuen, das verspreche ich Ihnen!«

Er starrte fasziniert ihre Brüste an. »Du bist ganz anders als dein Vater, nicht wahr?«

»Ja, Sir.« Ich habe überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihm, dachte Lara zufrieden.

»Nehmen wir spaßeshalber mal an«, sagte der Bankier langsam, »ich wäre interessiert. Wer ist also dein solventer Mieter?«

»Er heißt Charles Cohn und verhandelt im Auftrag von Continental Supplies.«

»Du meinst die Supermarktkette?«

»Ja.«

MacAllister war plötzlich sehr interessiert.

»Seine Firma will einen großen Lebensmittel- und Baumarkt in Glace Bay eröffnen«, fügte Lara hinzu.

MacAllister witterte schnelles Geld.

»Wo hast du diesen Mann kennengelernt?« fragte er beiläufig.

»Er wohnt bei mir im Fremdenheim.«

»Aha. Schön, ich will's mir überlegen, Lara. Morgen reden wir weiter.«

Lara zitterte beinahe vor Aufregung. »Danke, Mr. MacAlli-

ster. Sie werden's nicht bereuen!« Der Bankier lächelte. »Davon bin ich überzeugt.«

Noch am selben Nachmittag fuhr Sean MacAllister zum Fremdenheim, um Charles Cohn kennenzulernen.

»Ich wollte bloß mal vorbeischauen, um Sie in Glace Bay zu begrüßen«, sagte er. »Ich bin Sean MacAllister. Mir gehört die hiesige Bank. Sie sind geschäftlich hier, stimmt's? Aber Sie sollten nicht in meinem Fremdenheim, sondern in meinem Hotel wohnen. Dort hätten Sie allen Komfort.« »Es war ausgebucht«, erklärte Cohn ihm. »Aber nur, weil wir nicht gewußt haben, wer Sie sind.« »Wer bin ich denn?« fragte Cohn freundlich. Sean MacAllister lächelte. »Wir brauchen nicht Rätselraten zu spielen, Mr. Cohn. So was spricht sich herum. Wie ich höre, sind Sie daran interessiert, ein Gebäude zu mieten, das auf einem mir gehörenden Grundstück errichtet werden soll.« »Welches Grundstück wäre das?«

»Der Bauplatz zwischen Main Street und Commercial Street. Eine erstklassige Lage, nicht wahr? Ich glaube, daß wir uns rasch einigen werden.« »Ich habe schon eine Vereinbarung getroffen.« Sean MacAllister lachte. »Etwa mit Lara? Sie ist ein hübsches kleines Ding, nicht wahr? Wollen wir gleich in die Bank fahren und einen Vertrag aufsetzen?«

»Sie haben mich anscheinend nicht richtig verstanden, Mr. MacAllister. Ich habe schon eine Vereinbarung getroffen.«

»Ich glaube, daß Sie mich nicht richtig verstanden haben, Mr. Cohn. Das Grundstück gehört nicht Lara. Es gehört mir.« »Sie hat versucht, es Ihnen abzukaufen, nicht wahr?« »Richtig. Aber ich brauche es ihr nicht zu verkaufen.« »Und ich bin nicht auf dieses Grundstück angewiesen. Ich habe drei weitere besichtigt, die ebensogut geeignet sind. Besten Dank für Ihren Besuch.«

Sean MacAllister starrte ihn an. »Ist das Ihr Ernst?«

»Mein völliger Ernst. Ich mache nie Geschäfte, die nicht koscher sind, und halte immer Wort.«

»Aber Lara versteht nichts vom Bauen. Sie ...«

»Sie will Fachleute hinzuziehen. Natürlich wird nichts gebaut, was wir nicht genehmigt haben.«

Der Bankier machte ein nachdenkliches Gesicht. »Stimmt es, daß Continental Supplies bereit ist, einen Zehnjahresvertrag zu unterschreiben?«

»Ja, das stimmt.«

»Ah. Unter diesen Umständen ... Lassen Sie mich bis morgen darüber nachdenken.«

Als Lara ins Fremdenheim zurückkam, erzählte Charles Cohn ihr von seinem Gespräch mit dem Bankier.

Lara war empört. »Mr. MacAllister hat hinter meinem Rük-ken versucht, Sie .«

»Keine Angst«, beruhigte Cohn sie, »er schließt den Handel mit Ihnen ab.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Er ist Bankier. Er macht Geschäfte, um Gewinne zu erzielen.«

»Und was ist mit Ihnen?« fragte Lara. »Warum tun Sie das alles für mich?«

Diese Frage hatte er sich auch gestellt. Weil du so herrlich jung bist, dachte er. Weil ich gern eine Tochter wie dich hätte.

Aber das alles behielt er für sich.

»Ich habe nichts zu verlieren, Lara. Hier gibt es weitere Grundstücke, die ebenso geeignet wären. Sollten Sie den Bauplatz kaufen können, möchte ich Ihnen diesen Gefallen tun. Meiner Firma ist es egal, wer unser Partner ist. Sobald die Finanzierung steht und ich mit Ihrem Bauträger einverstanden bin, sind wir im Geschäft.«

Lara atmete erleichtert auf. »Ich . ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll! Ich gehe gleich zu Mr. MacAllister und .«

»Das täte ich an Ihrer Stelle nicht«, riet Cohn ihr. »Warten Sie, bis er zu Ihnen kommt.«

Sie machte ein sorgenvolles Gesicht. »Aber wenn er nicht kommt?«

Charles Cohn lächelte. »Keine Angst, er kommt!«

Cohn gab Lara einen gedruckten Mietvertrag. »So sieht der Zehnjahresvertrag aus, von dem wir gesprochen haben. Voraussetzung ist natürlich, daß das Gebäude allen unseren Anforderungen entspricht.« Er drückte ihr einen Stapel Blaupausen in die Hand. »Das sind unsere Spezifikationen.«

Lara verbrachte die ganze Nacht damit, die Unterlagen zu studieren.

Am nächsten Morgen rief Sean MacAllister Lara an.

»Hättest du Zeit, in mein Büro zu kommen, Lara?«

Ihr Herz schlug schneller. »Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.«

»Ich habe über unser Gespräch nachgedacht«, begann Ma-cAllister. »Vor allem interessiert mich, was für einen Zehnjahresvertrag Mr. Cohn unterschreiben will.«

»Den habe ich hier«, sagte Lara. Sie öffnete ihre Handtasche und nahm den Vertrag heraus.

Sean MacAllister studierte ihn sorgfältig. »Er scheint in Ordnung zu sein.«

»Dann sind wir uns also einig?« Sie hielt unwillkürlich den Atem an.

MacAllister schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Aber ich dachte .«

Seine Finger trommelten auf der Schreibtischplatte. »Ehrlich gesagt, ich hab's mit dem Verkauf von Grundstücken nicht besonders eilig, Lara. Je länger ich es behalte, desto mehr steigt der Wert.«

Sie starrte ihn verständnislos an. »Aber Sie wollten ...«

»Dein Darlehenswunsch fällt völlig aus dem Rahmen. Du hast kaum einschlägige Erfahrungen. Für die Gewährung dieses Darlehens müßte schon ein ganz besonderer Grund vorliegen.«

»Ich verstehe nicht, was . welcher Grund?«

»Nun, ich denke dabei an einen kleinen Bonus . Sag mal, Lara, hast du schon einen Liebhaber?«

»Ich ... nein.« Sie spürte, wie ihr das Geschäft zu entgleiten drohte. »Was hat das mit unserem ...«

MacAllister beugte sich vor. »Ich will ganz ehrlich sein, Lara. Ich finde dich sehr attraktiv. Ich möchte mit dir ins Bett gehen. Quid pro quo. Das bedeutet ...«

»Ich weiß, was das bedeutet.« Ihr Gesicht war maskenhaft starr geworden.

»Du solltest die Sache folgendermaßen sehen: Dies ist deine große Chance, etwas aus dir zu machen, nicht wahr? Etwas zu besitzen, jemand zu sein. Dir selbst zu beweisen, daß du anders als dein Vater bist.«

Lara überlegte fieberhaft.

»Wahrscheinlich bekommst du nie wieder eine vergleichbare Chance, Lara. Ich nehme an, daß du erst mal darüber nachdenken willst, bevor du .«

»Nein.« Ihre Stimme klang hohl. »Ich kann Ihnen die Antwort gleich geben.« Sie preßte beide Arme seitlich an den Oberkörper, um ihr Zittern zu unterdrücken. Ihre ganze Zukunft, beinahe ihr Leben, hing von ihren nächsten Worten ab. »Ich gehe mit Ihnen ins Bett.«

MacAllister stand grinsend auf und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

»Nicht jetzt«, wehrte Lara ab. »Erst will ich den Vertrag sehen.«

Am nächsten Tag legte Sean MacAllister ihr den Darlehensver-trag vor.

»Ein ganz einfacher Vertrag, meine Liebe. Du erhältst ein Darlehen von zweihunderttausend Dollar zu acht Prozent.« Er gab Lara seinen Füllfederhalter. »Du brauchst nur auf Seite drei zu unterschreiben.«

»Ich möchte ihn erst in aller Ruhe durchlesen«, wehrte Lara ab. Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Aber dafür fehlt mir im Augenblick die Zeit. Darf ich den Vertrag mitnehmen? Sie bekommen ihn morgen wieder.«

Der Bankier zuckte mit den Schultern. »Wie du willst.« Er sprach etwas leiser. »Was unsere kleine Verabredung betrifft ... Ich muß am kommenden Samstag geschäftlich nach Halifax. Wie wär's, wenn du mitfahren würdest?«

Lara wurde fast schlecht, als sie sein lüsternes Grinsen sah. »Einverstanden«, sagte sie tonlos.

»Schön. Sobald ich den Vertrag mit deiner Unterschrift zurückbekomme, sind wir im Geschäft.« MacAllister machte eine nachdenkliche Pause. »Als nächstes brauchst du eine gute Baufirma. Schon mal von der Nova Scotia Construction Company gehört?«

Laras Miene hellte sich auf. »Ja. Ich kenne Buzz Steele, den Bauleiter.«

Er hatte einige der größten Gebäude in Glace Bay errichtet und während der Bauzeit jeweils bei ihr gewohnt.

»Gut. Das ist ein solides Unternehmen. Ich kann es sehr empfehlen.«

»Ich rede gleich morgen mit Buzz«, sagte Lara.

An diesem Abend zeigte sie Charles Cohn den Darlehensvertrag. Sie wagte jedoch nicht, ihm von ihrer privaten Vereinbarung mit MacAllister zu erzählen. Cohn las den Vertrag sorgfältig durch, gab ihn Lara zurück und schüttelte den Kopf. »Ich würde Ihnen raten, diesen Vertrag nicht zu unterschreiben.«

Lara war entsetzt. »Aber warum nicht?«

»Er enthält zwei für Sie höchst riskante Klauseln. Das Gebäude muß bis einunddreißigsten Dezember fertiggestellt sein und darf nicht mehr als einhundertsiebzigtausend Dollar kosten, sonst fällt das Eigentumsrecht an die Bank zurück. Mit anderen Worten: Es gehört dann MacAllister, und meine Firma mietet es von ihm. Sie verlieren alles und müssen das aufgenommene Darlehen trotzdem verzinsen und zurückzahlen. Verlangen Sie, daß er diese Klauseln streicht.«

Lara glaubte, MacAllisters Stimme zu hören. >Ich hab's mit dem Verkauf des Grundstücks nicht besonders eilig. Je länger ich es behalte, desto mehr steigt der Wert.<

Sie schüttelte den Kopf. »Das tut er nicht.«

»Dann riskieren Sie gefährlich viel, Lara. Sie könnten zuletzt mit leeren Händen und zweihunderttausend Dollar Schulden dastehen.«

»Aber wenn das Gebäude rechtzeitig steht .«

»Darin liegt eben das Risiko! Als Bauherr sind Sie von vielen anderen Leuten abhängig. Sie haben keine Ahnung, was beim Bauen alles schiefgehen kann!«

»In Sydney gibt's ein sehr gutes Bauunternehmen, das hier schon viel gebaut hat. Ich kenne den Bauleiter und rede morgen mit ihm. Wenn er sagt, daß er das Gebäude termingerecht fertigstellen kann, möchte ich's versuchen.«

Das verzweifelte Drängen in ihrer Stimme bewog Cohn dazu, seinen Zweifel zu unterdrücken. »Gut«, sagte er schließlich, »reden Sie mit ihm.«

Lara fand Buzz Steele in luftiger Höhe auf den Stahlträgern eines vierstöckigen Bürogebäudes, das er in Sydney errichtete. Steele hatte graue Haare und ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht. Er begrüßte sie herzlich. »Das ist eine nette Überraschung«, sagte er. »Wie kommt's, daß ein so hübsches Mädchen wie Sie aus Glace Bay fortgelassen wird?«

»Ich hab' mich weggeschlichen«, behauptete Lara. »Ich habe

einen Auftrag für Sie, Mr. Steele.«

Er lächelte. »Tatsächlich? Was bauen wir denn - ein Puppenhaus?«

»Nein.« Sie zog die Blaupausen, die Charles Cohn ihr gegeben hatte, aus ihrer Umhängetasche. »Dieses Gebäude hier.«

Nach einem Blick auf die Pläne hob Buzz Steele überrascht den Kopf. »Das ist aber ein ziemlich großes Projekt. Was haben Sie damit zu tun?«

«Ich habe es auf die Beine gestellt«, sagte Lara stolz. »Das wird mein Gebäude.«

Steele pfiff anerkennend durch die Zähne. »Na, das freut mich für Sie, Schätzchen.«

»Die Sache hat nur einen Haken.«

»Oh?«

»Das Gebäude muß bis einunddreißigsten Dezember bezugsfertig sein.«

»Das sind nur zehn Monate.«

»Ja, ich weiß. Ist das zu schaffen?«

Steele blätterte erneut in den Plänen. Lara verfolgte gespannt, wie seine Lippen sich bewegten, während er im Kopf rechnete.

Zuletzt sagte er: »Das müßte sogar bis Mitte Dezember zu machen sein - wenn wir den Auftrag sofort bekommen.«

»Der ist hiermit erteilt.«

»Gut, abgemacht.«

Lara mußte sich beherrschen, um nicht laut zu jubeln. Ich hab's geschafft! dachte sie. Ich hab's geschafft!

Sie gaben einander die Hand. »Sie sind der hübscheste Boss, den ich je gehabt habe«, sagte Steele dabei.

»Danke, Buzz. Wann können Sie anfangen?«

»Ich komme morgen nach Glace Bay und sehe mir den Bauplatz an. Wir stellen Ihnen ein Gebäude hin, auf das Sie stolz sein werden.«

Als Lara ging, schwebte sie wie auf Wolken.

Lara fuhr nach Glace Bay zurück und berichtete Charles Cohn von ihrem Gespräch mit Steele.

»Ist diese Firma auch bestimmt zuverlässig, Lara?«

»Ganz bestimmt!« versicherte sie ihm. »Sie hat schon überall gebaut: in Glace Bay, in Sydney, in Halifax, in ...«

Ihre Begeisterung war ansteckend.

Charles Cohn lächelte. »Schön, dann sind wir offenbar im Geschäft.«

»Allerdings!« strahlte Lara. Aber dann erinnerte sie sich an ihre Abmachung mit Sean MacAllister, und ihr Lächeln verschwand. >Ich muß am kommenden Samstag geschäftlich nach Halifax. Wie wär's, wenn du mitfahren würdest?< Samstag war schon übermorgen.

Am nächsten Morgen unterschrieb Lara Cameron den Darlehensvertrag. Sean MacAllister war sehr mit sich selbst zufrieden, als sie sein Büro verließ. Er hatte keineswegs die Absicht, ihr das neue Gebäude zu überlassen. Bei dem Gedanken an ihre Naivität mußte er beinahe laut lachen. Das Geld, das sie von ihm als Darlehen erhielt, lieh er praktisch sich selbst. Er dachte daran, wie es sein würde, ihren wunderbaren Leib im Bett zu haben, und spürte, wie er eine Erektion bekam.

In Halifax war Lara erst zweimal gewesen. Im Vergleich zu Glace Bay war es eine Großstadt mit überfüllten Gehsteigen, lärmendem Autoverkehr und Luxusgeschäften mit üppigen Auslagen. Sean MacAllister fuhr mit Lara zu einem Motel am Stadtrand. Nachdem er seinen Wagen geparkt hatte, tätschelte er ihr Knie. »Schätzchen, du wartest hier, bis ich uns angemeldet habe.«

Lara blieb sitzen und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Ich verkaufe mich, dachte sie. Wie eine Nutte. Aber ich habe nichts anderes zu verkaufen, und er findet immerhin, daß ich zweihunderttausend Dollar wert bin. Mein Vater hat sein

Leben lang keine zweihunderttausend Dollar auf einmal zu sehen bekommen. Er ist immer viel zu ...

Die Autotür wurde geöffnet, und MacAllister stand grinsend neben ihr. »Alles klar. Komm, wir gehen.«

Lara bekam plötzlich kaum noch Luft. Ihr Puls begann wie rasend zu schlagen, als wollte ihr Herz aus ihrer Brust fliegen. Ich habe einen Herzanfall, dachte sie erschrocken.

»Lara ...« Er starrte sie forschend an. »Geht's dir nicht gut?«

Nein, dachte sie. Ich bin todkrank. Sie bringen mich ins Krankenhaus, und dort sterbe ich. Unberührt. »Mir geht's gut«, behauptete sie tapfer.

Lara stieg langsam aus und folgte ihm in einen schäbigen Bungalow mit geblümten Vorhängen, einem Doppelbett, zwei Sesseln, einer zerschrammten Spiegelkommode und einem winzigen Bad.

Sie fühlte sich wie in einem Alptraum.

»Für dich ist's also das erste Mal, was?« fragte MacAllister.

Lara dachte an die Jungen aus der Schule, die sie geküßt, ihre Brüste gestreichelt und dabei versucht hatten, ihr zwischen die Beine zu greifen. »Ja«, sagte sie.

»Das ist trotzdem kein Grund, nervös zu sein. Sex ist die natürlichste Sache der Welt.«

Sie beobachtete, wie MacAllister sich auszukleiden begann. Sein Körper war schwammig.

»Zieh dich aus!« befahl er ihr.

Lara streifte langsam Schuhe, Rock und Bluse ab. Darunter trug sie Slip und Büstenhalter.

MacAllister starrte sie bewundernd an und kam langsam auf sie zu. »Du bist schön, weißt du das, Baby?«

Sie spürte, wie sein aufgerichtetes Glied sich gegen ihren Körper preßte. Als er sie dann küßte, wurde ihr beinahe schlecht.

»Los, zieh dich ganz aus!« verlangte MacAllister. Er trat ans Bett und streifte seine Unterhose ab. Sein Glied war rot und hart.

Das kann ich niemals in mich aufnehmen, dachte Lara. Das bringt mich um.

»Beeil dich!«

Sie hakte langsam ihren Büstenhalter auf und zog den Slip aus.

»Mein Gott«, sagte er, »du bist phantastisch! Komm, setz dich hierher.«

Lara setzte sich gehorsam auf die Bettkante. MacAllisters Hände kneteten ihre Brüste so grob, daß sie vor Schmerz aufschrie.

»Das hat gut getan, was? Wird allmählich Zeit, daß du 'nen richtigen Mann kriegst.« MacAllister stieß sie aufs Bett zurück und zog ihr mit Gewalt die Beine auseinander.

Lara bekam es mit der Angst zu tun. »Müssen wir nicht irgendwas nehmen?« fragte sie. »Ich meine . ich könnte schwanger werden.«

»Keine Angst«, versprach MacAllister ihr, »ich komme nicht in dir.«

Im nächsten Augenblick spürte Lara, wie er in sie eindrang. Es tat weh.

»Nicht so schnell!« rief sie. »Ich ...«

Aber MacAllister konnte und wollte nicht länger warten. Er stieß mit Gewalt in sie hinein, und der Schmerz wurde fast unerträglich. Sein Körper klatschte fester und fester gegen ihren, und Lara mußte sich den Mund zuhalten, um nicht laut zu kreischen. Gleich ist's vorbei, sagte sie sich, und dann gehört mir mein Gebäude. Und ich baue noch eines. Und noch eines .

Es schmerzte immer schlimmer.

»Los, beweg deinen Arsch!« verlangte MacAllister. »Lieg nicht einfach so da. Beweg dich gefälligst!«

Sie versuchte sich, unter ihm zu bewegen, aber das war unmöglich. Es tat zu weh.

Plötzlich begann MacAllister zu keuchen, und Lara fühlte seinen Körper zucken. Im nächsten Augenblick sank er befriedigt stöhnend zur Seite.

Lara war entsetzt. »Sie haben mir versprochen .«

MacAllister richtete sich auf einem Ellbogen auf und sagte ernsthaft: »Darling, ich hab' mich nicht beherrschen können, weil du so verdammt schön bist. Aber mach dir deswegen keine Sorgen. Solltest du schwanger werden, weiß ich 'nen guten Arzt, der das wieder in Ordnung bringt.«

Lara drehte den Kopf zur Seite, damit er ihren angewiderten Gesichtsausdruck nicht sah. Sie hinkte wund und blutend ins Bad. Unter der warmen Dusche dachte sie: Jetzt ist's vorbei! Ich hab's überstanden. Das Grundstück gehört mir. Ich werde reich!

Sie brauchte sich nur noch anzuziehen, nach Glace Bay zurückzufahren und dafür zu sorgen, daß die Bauarbeiten sofort begannen.

Als sie aus dem Bad kam, sagte MacAllister: »Das hat so gut getan, das müssen wir gleich noch mal machen!«

6. KAPITEL

Charles Cohn hatte fünf von der Nova Scotia Construction Company errichtete Gebäude begutachtet.

»Eine erstklassige Firma«, hatte er Lara versichert. »Mit der dürften Sie keine Schwierigkeiten haben.«

Jetzt besichtigten Lara, Charles Cohn und Buzz Steele gemeinsam den Bauplatz.

»Von der Größe her ideal«, sagte Buzz Steele. »Etwas über viertausend Quadratmeter. Mehr als genug Platz für ein Gebäude mit neunzehnhundert Quadratmetern Grundfläche.«

»Können Sie das Gebäude bis zum einunddreißigsten Dezember bezugsfertig erstellen?« fragte Charles Cohn, der entschlossen war, Lara mit allen Mitteln zu beschützen.

»Sogar schon früher«, antwortete Steele. »Ich garantiere Ihnen die Fertigstellung bis Weihnachten.«

Lara strahlte. »Wie bald können Sie anfangen?«

Buzz Steele überlegte kurz. »Mitte nächster Woche«, sagte er dann. »Bleibt's also dabei?«

Cohn sah zu Lara hinüber und nickte.

»Ja, es bleibt dabei«, antwortete sie zufrieden.

Das Entstehen des Neubaus war das Aufregendste, was Lara jemals erlebt hatte. Sie war jeden Tag auf der Baustelle. »Ich möchte dazulernen«, erklärte sie Charles Cohn. »Für mich ist das bloß der Anfang. Ich werde noch Dutzende von Gebäuden errichten!«

Cohn fragte sich, ob Lara wirklich wußte, worauf sie sich eingelassen hatte.

Als erstes kamen die Vermesser. Sie bestimmten die genauen

Grenzen des Grundstücks und bezeichneten seine Eckpunkte mit in Leuchtfarben angestrichenen Pflöcken. Am nächsten Morgen traf schon sehr früh eine Planierraupe auf der Baustelle ein, die auf einem Tieflader transportiert wurde.

Auch Lara Cameron war bereits draußen. »Und was passiert jetzt?« fragte sie Buzz Steele.

»Wir räumen ab und planieren.«

Lara zog die Augenbrauen hoch. »Was bedeutet das?«

»Die Raupe gräbt Baumstümpfe aus und macht das Gelände ungefähr eben.«

Als nächstes kam ein Hydraulikbagger, der nahe den Fundamentgräben weitere Gräben für Strom, Wasser und Abwasser aushob.

Inzwischen hatten die Mieter im Fremdenheim mitbekommen, was im Gange war, und der Baufortschritt wurde morgens und abends zum Hauptthema ihrer Tischgespräche. Natürlich drückten alle Lara die Daumen.

»Na, wie weit seid ihr jetzt?« erkundigten sie sich oft.

Lara, die allmählich zur Expertin wurde, hatte ihren Spaß daran, diese Fragen zu beantworten.

Der Bau machte rasche Fortschritte. Sobald die baustahlbewehrte Fundamentplatte betreten werden konnte, trafen große Lastwagen mit Bauholz ein, und die Zimmerer machten sich daran, die hölzernen Wandelemente zu erstellen. Ihr Hämmern und das Kreischen der Motorsägen waren ohrenbetäubend - aber Musik in Laras Ohren. Zwei Wochen später wurden die von Tür- und Fensteröffnungen durchbrochenen Wandelemente aufgestellt, als sei das Gebäude plötzlich aufgeblasen worden.

Passanten mochte der Bau als Labyrinth aus Holz und Stahl erscheinen, aber für Lara bedeutete er ihren Wirklichkeit gewordenen Traum. Sie fuhr jeden Morgen und Abend daran vorbei und starrte ihren Neubau an. Das alles wird in meinem Auftrag gebaut, dachte Lara. Das alles gehört mir!

Nach dem Wochenendausflug mit MacAllister hatte Lara panische Angst gehabt, sie könnte schwanger geworden sein. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihr bereits übel. Als ihre Tage pünktlich einsetzten, atmete sie erleichtert auf. Jetzt brauche ich mir nur noch wegen meines Gebäudes Sorgen zu machen, dachte sie.

Um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, kassierte Lara weiterhin die Mieten für Sean MacAllister, aber es kostete sie viel Überwindung, sein Büro zu betreten und das Geld bei ihm abzuliefern.

»In Halifax haben wir uns gut amüsiert, nicht wahr, mein Schätzchen? Wollen wir's nicht mal wieder versuchen?«

»Ich bin mit dem Bau ausgelastet«, wehrte Lara energisch ab.

Die Hektik auf der Baustelle verstärkte sich, weil jetzt Dachdecker, Fassadenmonteure und Installateure gleichzeitig tätig waren, so daß sich die Zahl der Männer, die Materialmengen und der Lastwagenverkehr verdreifachten.

Charles Cohn war längst abgereist, aber er rief Lara einmal in der Woche an.

»Wie kommt der Bau voran?« hatte er sich beim letzten Mal erkundigt.

»Großartig!« antwortete Lara begeistert.

»Wird der Zeitplan eingehalten?«

»Nicht nur das, sondern wir haben sogar schon ein paar Tage Vorsprung.«

»Wunderbar. Jetzt kann ich Ihnen ja verraten, daß ich mir nicht sicher gewesen bin, ob Sie's schaffen würden.«

»Aber Sie haben mir trotzdem eine Chance gegeben. Danke, Charles.«

»Eine gute Tat ist eine andere wert. Wären Sie nicht gewesen, wäre ich in Glace Bay möglicherweise verhungert.«

Gelegentlich kam Sean MacAllister auf die Baustelle, um kurz mit Lara zu sprechen.

»Alles läuft genau nach Plan, was?«

»Ja«, antwortete sie.

Der Bankier schien wirklich zufrieden zu sein, so daß Lara dachte: Mr. Cohn hat ihn doch falsch eingeschätzt. Er versucht gar nicht, mich zu übervorteilen.

Ende November näherte Laras Neubau sich der Fertigstellung. Die Außenwände waren längst verkleidet, die Türen und Fenster eingebaut. Nun konnte der Innenausbau beschleunigt in Angriff genommen werden.

Am Montag der ersten Dezemberwoche ging das Arbeitstempo drastisch zurück. Als Lara frühmorgens auf die Baustelle kam, traf sie dort nur zwei Männer an, die nicht gerade fleißig zu sein schienen.

»Wo sind die anderen alle?« fragte Lara.

»Auf 'ner anderen Baustelle«, erklärte ihr einer der Männer. »Aber morgen sind sie wieder hier.«

Am nächsten Morgen war überhaupt niemand da.

Lara fuhr mit dem Bus nach Halifax, um mit Buzz Steele zu reden. »Was ist passiert?« fragte sie ihn. »Die Arbeit bleibt liegen.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte Steele. »Wir sind auf einer anderen Baustelle etwas in Verzug geraten, und ich hab' meine Männer für ein paar Tage abordnen müssen.«

»Wann kommen sie zu mir zurück?«

»Nächste Woche. Wir halten unseren Termin trotzdem ein.«

»Buzz, Sie wissen, wieviel für mich auf dem Spiel steht!«

»Natürlich, Lara.«

»Wird das Gebäude nicht termingerecht fertig, fällt es an MacAllister zurück. Dann verliere ich alles!«

»Keine Angst, Kleine. Da sei Buzz Steele davor!«

Als Lara sich von ihm verabschiedete, war ihr unbehaglich zumute.

In der nächsten Woche ließen sich noch immer keine Arbeiter blicken. Lara fuhr erneut nach Halifax, um mit Steele zu reden.

»Tut mir leid«, sagte seine Sekretärin, »aber Mr. Steele ist nicht da.«

»Ich muß ihn dringend sprechen. Wann erwarten Sie ihn zurück?«

»Mr. Steele ist den ganzen Tag unterwegs. Ich weiß nicht, ob er überhaupt noch mal ins Büro kommt.«

Lara spürte, wie ihr Magen sich verkrampfte. »Ich muß ihn unbedingt sprechen«, sagte sie. »Er errichtet ein Gebäude für mich, das in drei Wochen fertig sein muß.«

»Da würde ich mir keine Sorgen machen, Miss Cameron. Wenn Mr. Steele sagt, daß es fertig wird, wird es fertig.«

»Aber auf der Baustelle passiert nichts!« rief Lara aufgebracht. »Dort arbeitet kein Mensch!«

»Möchten Sie mit Mr. Ericksen, seinem Assistenten, sprechen?«

»Ja, bitte.«

Ericksen war ein breitschultriger, liebenswürdiger Riese, der beruhigende Zuversicht ausstrahlte.

»Ich weiß, warum Sie hier sind«, sagte er, »aber Buzz hat mich gebeten, Ihnen zu versichern, daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Ihr Bauvorhaben hat etwas gelitten, weil wir mit einigen Großbauprojekten in Verzug geraten waren -aber Ihr Gebäude steht drei Wochen vor der Fertigstellung.«

»Trotzdem ist noch soviel zu tun ...«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Unsere Leute sind am Montagmorgen wieder draußen.«

»Danke«, sagte Lara erleichtert. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie belästigt habe, aber ich bin ein bißchen nervös. Dieses Projekt ist für mich sehr wichtig.«

»Kein Problem«, antwortete Ericksen lächelnd. »Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen. Sie sind in guten Händen.«

Am Montagmorgen war kein einziger Arbeiter auf der Baustelle. Lara rief in heller Aufregung Charles Cohn an.

»Hier arbeitet niemand mehr«, berichtete sie ihm, »und ich kann nicht rauskriegen, warum die Arbeiter abgezogen worden sind. Die leitenden Männer machen dauernd Versprechungen, die sie dann nicht halten.«

»Wie heißt die Firma gleich wieder - Nova Scotia Construction Company?«

»Richtig.«

»Ich rufe zurück«, sagte Cohn und legte auf.

Zwei Stunden später war er wieder am Apparat. »Wer hat Ihnen die Nova Scotia Construction Company empfohlen?«

Lara überlegte kurz. »Sean MacAllister.«

»Das wundert mich nicht. Die Firma gehört ihm, Lara.«

Sie mußte sich setzen. »Und er hindert seine Leute daran, den Bau termingerecht fertigzustellen?«

»Ja, so sieht's leider aus.«

»Großer Gott!«

»Der Kerl ist mit allen Wassern gewaschen.« Cohn erwähnte absichtlich nicht, daß er Lara vor dem Bankier gewarnt hatte. Aber auch er konnte nur sagen: »Vielleicht . vielleicht ergibt sich irgend etwas.«

Charles Cohn bewunderte Laras Ehrgeiz und Tatkraft - und verabscheute Sean MacAllister. Trotzdem war er unter diesen Umständen hilflos. Was hätte er tun können, um seinem Schützling zu helfen?

Lara Cameron lag die ganze Nacht wach und dachte über ihre Torheit nach. Ihr Gebäude würde Sean MacAllister gehören, und sie würde auf einem Schuldenberg sitzenbleiben, den sie ihr Leben lang nicht abtragen konnte. Allein der Gedanke, in welcher Form der Bankier auf Schuldentilgung bestehen könnte, jagte ihr kalte Schauder über den Rücken.

Am nächsten Morgen ging Lara zu Sean MacAllister.

»Guten Morgen, meine Liebe. Hübsch siehst du heute aus!«

Lara kam sofort zur Sache. »Ich brauche eine Fristverlängerung. Das Gebäude wird nicht bis Ende Dezember fertig.«

MacAllister lehnte sich in seinen Sessel zurück und runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Das ist keine gute Nachricht, Lara.«

»Ich brauche Zeit bis Ende Januar.«

Der Bankier seufzte. »Nein, das ist leider nicht möglich. Du hast einen Vertrag unterschrieben, meine Liebe. Abgemacht ist abgemacht.«

»Aber .«

»Tut mir leid, Lara, aber am einunddreißigsten Dezember fällt das Grundstück mitsamt dem angefangenen Gebäude an die Bank zurück.«

Ihre Mieter waren empört, als sie erfuhren, wie Lara hereingelegt worden war.

»Dieses Schwein!« rief einer der Männer aus. »Das kann er Ihnen nicht antun!«

»Er hat's aber getan«, stellte Lara trübselig fest. »Ich weiß keinen Ausweg mehr.«

»Wollen wir ihm das durchgehen lassen?«

»Kommt nicht in Frage! Wieviel Zeit haben Sie noch - drei Wochen?«

Lara schüttelte den Kopf. »Leider nur zweieinhalb.«

Der Mann, der zuerst gesprochen hatte, wandte sich an die anderen. »Kommt, wir gehen mal hin und sehen uns das Gebäude an«.

»Was habt ihr davon, wenn ihr .«

»Warten Sie's nur ab!«

Wenig später standen Lara und ein halbes Dutzend Männer auf der Baustelle und begutachteten sie.

»Wasser und Sanitärinstallation fehlen noch«, stellte einer der Männer fest.

»Strom und Heizung auch.«

Sie standen im eisigen Dezemberwind fröstelnd da und besprachen, was alles noch getan werden mußte.

Einer der Männer wandte sich an Lara. »Ihr Bankier ist ein trickreicher Bursche. Das Gebäude ist weitgehend fertig, damit nicht viel zu tun bleibt, wenn es an ihn zurückfällt.« Er wandte sich an die anderen. »Ich behaupte, daß es in zweieinhalb Wochen bezugsfertig sein kann.«

Alle stimmten zu.

Lara schüttelte den Kopf. »Nein, das habt ihr nicht richtig verstanden! Die Bauarbeiter lassen mich im Stich.«

»Paß auf, Mädchen, in deinem Fremdenheim wohnen Klempner, Zimmerer und Elektriker - und wir haben in der ganzen Stadt Freunde, die für den Rest zuständig sind.«

»Ich kann euch nicht bezahlen«, sagte Lara. »Mr. MacAlli-ster weigert sich, mir .«

»Das wird unser Weihnachtsgeschenk für dich.«

Die Sache entwickelte sich lawinenartig. Ganz Glace Bay wußte, worum es ging, und Facharbeiter kamen von anderen Baustellen herüber, um sich Laras Gebäude anzusehen. Die einen kamen, weil sie Lara Cameron gern hatten, und die anderen, weil sie Sean MacAllister haßten.

»Dem Dreckskerl werden wir's zeigen!« sagten sie.

Sie kamen nach Feierabend vorbei, um mitzuhelfen, und arbeiteten bis nach Mitternacht, und auch samstags und sonntags. Die Arbeit gegen die Uhr glich bald einem Wettkampf, an dem sich Dutzende von Facharbeitern beteiligten. Als Sean MacAllister erfuhr, bei Lara werde weitergebaut, hastete er zur Baustelle hinaus.

Dort blieb er verblüfft stehen. »Was geht hier vor?« erkundigte er sich. »Das sind nicht meine Arbeiter!«

»Das sind meine«, sagte Lara trotzig. »Der Vertrag verbietet mir nicht, eigene Leute einzusetzen.«

»Nun, ich . « MacAllister brachte den Satz nicht zu Ende.

»Ich kann bloß hoffen, daß das Gebäude den Anforderungen des Mieters entspricht.« »Darauf können Sie Gift nehmen«, sagte Lara. Am Tag vor Silvester war das Gebäude fertiggestellt. Es ragte solide und standfest in den Himmel auf - der schönste Bau, fand Lara, den sie jemals gesehen hatte. Sie stand benommen davor.

»Nun gehört alles dir«, sagte einer der Bauarbeiter. »Und jetzt wird gefeiert, Mädchen.«

An diesem Abend schien ganz Glace Bay Lara Camerons erstes Gebäude zu feiern. Das war der Anfang.

Danach war Lara Cameron nicht mehr zu bremsen. Sie sprudelte geradezu von Ideen über.

»Ihre neuen Angestellten müssen irgendwo in Glace Bay wohnen«, erklärte sie Charles Cohn. »Ich möchte Häuser für sie bauen. Sind Sie daran interessiert?« Er nickte. »Sogar sehr interessiert.«

Lara ging zu einer Bank in Sydney und nahm einen weiteren Kredit zur Finanzierung ihres neuen Projekts auf.

Als die Häuser vermietet waren, sagte Lara zu Cohn: »Wissen Sie, was diese Stadt noch braucht? Bungalows für Sommerurlauber. Ich weiß eine wunderschöne kleine Bucht, an der ich eine Feriensiedlung bauen könnte ...«

Charles Cohn wurde Laras inoffizieller Finanzberater, und in den folgenden drei Jahren baute Lara Cameron ein Bürogebäude, ein Dutzend Strandbungalows und eine Ladenpassage. Banken in Sydney und Halifax waren gern bereit, ihr Kredite zu gewähren.

Als Lara zwei Jahre später ihren Immobilienbesitz verkaufte, hielt sie schließlich einen bestätigten Scheck über drei Millio-nen Dollar in der Hand. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt.

Am nächsten Tag verließ sie Glace Bay für immer und reiste nach Chicago.

7. KAPITEL

Chicago war eine Offenbarung. Halifax, die größte Stadt, die Lara jemals gesehen hatte, war ein Dorf gegen dieses Zentrum des Mittleren Westens. Chicago war laut und lärmend, lebhaft und hektisch, und alle schienen dauernd zu irgendwelchen wichtigen Terminen unterwegs zu sein.

Lara nahm sich eine Suite im Hotel Palmer House am Michigan Boulevard. Ein Blick auf die eleganten Frauen in der Halle machte ihr klar, daß ihre eigene Garderobe bestenfalls für Glace Bay geeignet war. Also begab Lara sich am nächsten Morgen auf einen Einkaufsbummel. Sie kaufte Modellkleider bei Ultimo und Kane's, Schuhe bei Joseph's, Unterwäsche bei Marshall Field und Saks Fifth Avenue, Schmuck bei Trabert und Hoeffer, einen Nerzmantel bei Ware . Und bei jedem Einkauf hörte sie die Stimme ihres Vaters: Für so was hab' ich kein Geld. Hol dir was von der Heilsarmee.

Als ihr Kaufrausch vorüber war, hingen die Kleiderschränke ihrer Hotelsuite voll schöner Sachen.

Als nächstes schlug Lara im Telefonbuch die Immobilienmakler nach. Sie entschied sich für die Firma mit der größten Anzeige, Parker und Partners, wählte die Nummer und verlangte Mr. Parker.

»Darf ich um Ihren Namen bitten?«

»Lara Cameron.«

Sekunden später meldete sich eine Stimme. »Bruce Parker. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin auf der Suche nach einem Grundstück für ein schönes neues Hotel«, sagte Lara.

Die Stimme am anderen Ende klang gleich freundlicher. »Auf diesem Gebiet kennen wir uns aus, Mrs. Cameron.«

»Miss Cameron.«

»Ganz recht. Haben Sie an eine bestimmte Gegend gedacht?«

»Nein. Ehrlich gesagt kenne ich mich in Chicago nicht sonderlich gut aus.«

»Das macht nichts, Miss Cameron. Ich bin sicher, daß wir Ihnen ein paar sehr interessante Objekte präsentieren können. Darf ich fragen - nur zur Information, versteht sich -, über wieviel Eigenkapital Sie verfügen?«

»Drei Millionen Dollar«, antwortete Lara stolz.

Am anderen Ende entstand eine längere Pause. »Drei Millionen Dollar?«

»Ja.«

»Und Sie möchten ein schönes neues Hotel bauen?«

»Ja.«

Erneute Pause.

»Denken Sie an Bau oder Kauf eines Objekts irgendwo in der Innenstadt, Miss Cameron?«

»Natürlich nicht«, sagte Lara. »Ich denke an genau das Gegenteil! Ich möchte in einer guten Gegend ein exklusives Hotel mit individueller Atmosphäre bauen, das .«

»Mit drei Millionen Dollar?« unterbrach Bruce Parker sie. »Tut mir leid, aber dabei werden wir Ihnen nicht helfen können.«

»Danke«, sagte Lara. Sie legte auf. Offenbar hatte sie den falschen Makler angerufen.

Sie blätterte erneut im Branchenverzeichnis und führte ein halbes Dutzend weiterer Telefongespräche. Eine Stunde später mußte Lara sich eingestehen, daß kein Makler daran interessiert war, ihr ein erstklassiges Grundstück zu vermitteln, auf dem sie mit nur drei Millionen Dollar Kapital ein Hotel bauen konnte. Statt dessen hatten sie verschiedene Vorschläge gemacht, die alle aufs selbe hinausliefen: ein billiges Hotel in der

Innenstadt.

Niemals! nahm Lara sich vor. Eher gehe ich nach Glace Bay zurück!

Sie träumte seit Monaten von diesem Hotel. In ihrer Vorstellung existierte es bereits - elegant, luxuriös, ein wahres Zuhause in der Fremde. Es würde hauptsächlich aus Suiten bestehen, zu denen jeweils ein Kaminzimmer mit Bücherwänden, bequemen Sofas und sogar einem Flügel gehörte. Die beiden großen Schlafzimmer jeder Suite würden auf einen gemeinsamen Balkon hinausführen. Lara wußte genau, was sie wollte. Die Frage war nur, wie sie es bekommen würde.

Sie betrat einen Print Shop in der Lake Street. »Ich möchte hundert Visitenkarten drucken lassen.«

»Gern. Und mit welchem Text?«

»Nur zwei Zeilen in der Mitte. Lara Cameron und darunter Immobilien und Baubetreuung.«

»Gut, Miss Cameron. Ihre Karten sind übermorgen fertig.«

»Nein. Ich brauche sie heute nachmittag.«

Als nächstes machte sie sich daran, Chicago besser kennenzulernen. Lara wanderte die State Street, den Michigan Boulevard und die La Salle Street auf und ab, spazierte den Lakeshore Drive entlang und durchquerte den Lincoln Park mit seinem Zoo, dem Golfplatz und dem künstlichen See. Sie betrat mehrere Buchläden, um sich Bücher über Chicago zu kaufen, in denen sie las, welche Berühmtheiten hier gelebt hatten: Carl Sandburg, Theodore Dreiser, Frank Lloyd Wright, Louis Sullivan, Saul Bellow ... Und sie besuchte die Southside, wo sie sich wegen der vielen verschiedenen Menschen, die dort lebten - Schweden, Polen, Iren, Litauer -, sofort wie zu Hause fühlte. Die bunte Vielfalt erinnerte sie an Glace Bay.

Lara war wieder in der Stadt unterwegs, besichtigte Gebäude an denen »Zu verkaufen« stand und rief die jeweils genannten

Makler an. »Wieviel kostet das Gebäude?«

»Achtzig Millionen Dollar .«

»Sechzig Millionen Dollar ...«

»Hundert Millionen Dollar .«

Ihre drei Millionen schrumpften fast zur Bedeutungslosigkeit zusammen. Lara saß in ihrer Suite und überlegte, welche Möglichkeiten ihr noch blieben. Sie konnte in einem der schlechteren Viertel ein kleines Hotel bauen - oder nach Glace Bay zurückkehren. Beides war wenig verlockend.

Für mich steht zuviel auf dem Spiel, als daß ich einfach aufgeben könnte, dachte Lara.

Am nächsten Morgen betrat Lara Cameron eine Bank in der La Salle Street. Sie wandte sich an einen der Angestellten hinter der Theke. »Ich möchte gern Ihren stellvertretenden Direktor sprechen.«

Sie gab dem jungen Mann ihre Visitenkarte.

Fünf Minuten später saß sie im Büro von Tom Peterson, einem schwammigen Mittvierziger, dessen linkes Augenlid nervös zuckte. Er studierte ihre Karte.

»Was kann ich für Sie tun, Miss Cameron?«

»Ich möchte in Chicago ein Hotel bauen. Dazu brauche ich ein größeres Darlehen.«

Der Bankier lächelte freundlich. »Das ist unser Geschäft, Miss Cameron. Was für ein Hotel schwebt Ihnen denn vor?«

»Ein individuell geführtes Hotel der gehobenen Klasse.«

»Klingt interessant.«

»Ich muß Ihnen allerdings sagen«, fuhr Lara fort, »daß ich nur drei Millionen Dollar Eigenkapital habe und .«

Tom Peterson lächelte. »Kein Problem.«

Laras Herz schlug höher. »Wirklich nicht?«

»Wenn man's richtig anfängt, können drei Millionen Dollar weit reichen.« Er sah auf seine Uhr. »Tut mir leid, aber ich habe jetzt einen anderen Termin. Treffen wir uns heute abend zum Essen, um ausführlicher darüber zu reden?«

»Gern«, sagte Lara. »Das würde mich freuen.«

»Wo wohnen Sie?«

»Im Palmer House.«

»Soll ich Sie um acht abholen?«

Lara nickte lächelnd und stand auf. »Vielen Dank, Mr. Peter-son. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie erleichtert ich mich jetzt fühle. Ich war, ehrlich gesagt, fast schon ein bißchen entmutigt gewesen.«

»Nicht nötig«, lächelte er. »Ich kümmere mich um Sie.«

Peterson holte Lara pünktlich um acht ab und fuhr mit ihr zum

Abendessen in Henrici's Restaurant. »Wissen Sie, ich bin froh, daß Sie zu mir gekommen sind«, begann er, als sie am Tisch saßen. »Wir können viel füreinander tun.«

»Können wir das?«

»Ja. In dieser Stadt gibt's reichlich Miezen - aber keine, die so verdammt hübsch ist wie Sie, Schätzchen. Sie können ein Luxusbordell für einen exklusiven Kundenkreis aufmachen und .«

Lara erstarrte. »Wie bitte?«

»Wenn Sie ein halbes Dutzend Mädchen auftreiben, garantieren wir Ihnen, daß wir .«

Lara war verschwunden.

Am folgenden Tag besuchte Lara Cameron weitere Banken. Nachdem sie dem Manager der ersten Bank ihren Plan erläutert hatte, sagte er: »Ich will Ihnen den besten Rat geben, den Sie je bekommen werden: Lassen Sie die Finger davon. Die Immobilienbranche ist was für Männer. Frauen haben da nichts zu suchen.«

»Und warum nicht?«

»Weil Sie es mit einer Bande rauhbeiniger Machos zu tun hätten. Die würden Hackfleisch aus Ihnen machen.«

»In Glace Bay haben sie kein Hackfleisch aus mir gemacht«,

stellte Lara fest.

Er beugte sich vor. »Ich will Ihnen ein kleines Geheimnis verraten. Chicago ist nicht Glace Bay.«

In der nächsten Bank erklärte ihr der Manager: »Wir sind Ihnen gern behilflich, Miss Cameron. Was Sie vorhaben, kommt natürlich nicht in Frage. Ich schlage vor, daß Sie uns Ihr Kapital verwalten und investieren lassen, damit .«

Lara verließ sein Büro, noch bevor er den Satz zu Ende gebracht hatte.

In der dritten Bank wurde sie in das Büro von Bob Vance geführt. Er war ein freundlicher, grauhaariger Mann Mitte Sechzig, der genau so aussah, wie sie sich einen Bankdirektor vorstellte. Bei ihm im Büro war ein blasser, hagerer, aschblonder Mann, Anfang dreißig, der einen verknitterten Anzug trug und völlig fehl am Platz zu sein schien.

»Das hier ist Howard Keller, Miss Cameron - einer unserer stellvertretenden Direktoren.«

»Angenehm.«

»Was kann ich für Sie tun?« fragte Bob Vance freundlich.

»Ich möchte in Chicago ein Hotel bauen«, antwortete Lara, »und bin dabei, die Finanzierung auf die Beine zu stellen.«

Bob Vance lächelte. »Da sind Sie bei uns richtig, Miss Cameron. Haben Sie schon ein bestimmtes Grundstück ins Auge gefaßt?«

»Ich weiß, wo es ungefähr stehen sollte. Irgendwo am Loop, nicht zu weit vom Michigan Boulevard entfernt .«

»Ausgezeichnet.«

Lara erzählte ihm, wie sie sich ihr Hotel vorstellte.

»Das klingt interessant«, sagte der Bankier. »Und wieviel Eigenkapital haben Sie?«

»Drei Millionen Dollar. Den Rest möchte ich als Darlehen aufnehmen.«

Vance machte eine nachdenkliche Pause. »Da werden wir leider nichts für Sie tun können. Ihr Problem ist, daß Sie große Ideen, aber nur wenig Geld haben. Aber wenn Sie möchten, daß wir Ihr Kapital für Sie investieren ...«

»Nein, danke«, wehrte Lara ab und stand auf. »Vielen Dank, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben. Guten Tag, Gentlemen.« Sie verließ aufgebracht sein Büro. In Glace Bay waren drei Millionen Dollar ein großes Vermögen. Hier schienen die Leute zu glauben, es sei gar nichts.

Als Lara die Straße erreichte, rief eine Stimme: »Miss Cameron!«

Lara drehte sich um und erblickte den Mann, den sie eben kennengelernt hatte - Howard Keller. »Ja?«

»Ich möchte gern mit Ihnen reden«, sagte er. »Trinken wir eine Tasse Kaffee miteinander?«

Sie starrte ihn mißtrauisch an. War denn jeder Mann in Chicago nur hinter den Frauen her?

»Gleich um die Ecke ist ein guter Coffee Shop.«

Lara zuckte mit den Schultern. »Gut, meinetwegen.«

Nachdem er bestellt hatte, sagte Howard Keller: »Ich will nicht aufdringlich sein, aber ich möchte Ihnen ein paar Ratschläge geben.«

Sie beobachtete ihn mißtrauisch. »Bitte sehr.«

»Als erstes muß ich Ihnen sagen, daß Sie die Sache völlig falsch anpacken.«

»Sie glauben also nicht, daß meine Idee Zukunft hat?« erkundigte sie sich steif.

»Ganz im Gegenteil! Ich halte ein Hotel, wie es Ihnen vorschwebt, für eine großartige Idee.«

Lara war überrascht. »Aber warum ...?«

»Chicago könnte ein Hotel dieser Art brauchen - aber Sie sollten es nicht bauen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Mein Vorschlag wäre, lieber ein altes Hotel in guter Lage

zu kaufen und nach Ihren Ideen umzubauen. Hier gibt's viele heruntergekommene Hotels, die nicht viel kosten würden. Ihre drei Millionen Dollar Eigenkapital würden als Anzahlung genügen. Danach könnten Sie ein Darlehen aufnehmen, um es umzubauen.«

Lara hörte ihm nachdenklich zu. Howard Keller hatte recht. Das war der bessere Weg.

»Und noch etwas: Keine Bank wird bereit sein, Ihr Vorhaben zu finanzieren, solange Sie keinen guten Architekten und ein solides Bauunternehmen vorweisen können. Die Banken wollen ein komplettes Paket sehen.«

Lara dachte an Buzz Steele. »Ja, ich verstehe. Kennen Sie einen guten Architekten und ein solides Bauunternehmen?«

Howard Keller lächelte. »Sogar mehrere.«

»Danke für Ihren guten Rat«, sagte Lara. »Nehmen wir mal an, ich hätte das richtige Objekt gefunden - darf ich dann zu Ihnen kommen, um mit Ihnen darüber zu reden?«

»Jederzeit. Und viel Glück!«

Lara war darauf gefaßt, daß er vorschlagen würde: »Wollen wir das nicht in aller Ruhe in meinem Apartment besprechen?« Aber statt dessen fragte Howard Keller nur: »Möchten Sie noch einen Kaffee, Miss Cameron?«

Lara Cameron nahm ihre Streifzüge durch die Stadt wieder auf- aber diesmal hielt sie Ausschau nach etwas anderem. In der Delaware Street, nur wenige Straßen vom Michigan Boulevard entfernt, kam sie an einem ziemlich heruntergekommenen Hotel aus der Vorkriegszeit vorbei. Cong essi nal Hotel verkündete eine defekte Leuchtschrift über dem Eingang. Lara war schon fast daran vorbei, als sie stehenblieb, um sich den alten Bau genauer anzusehen.

Die achtgeschossige Klinkerfassade war so schmutzig, daß ihre ursprüngliche Farbe sich kaum noch feststellen ließ. Lara überquerte die Straße und betrat die Hotelhalle. Drinnen sah es noch schlimmer aus. Ein junger Mann in Jeans und einem zerrissenen Pullover - offenbar ein Hotelangestellter - stieß einen Betrunkenen auf die Straße. Die Rezeption erinnerte an einen altmodischen Fahrkartenschalter. Aus der Halle führte eine Treppe zu den ehemaligen Gesellschaftsräumen hinauf, die jetzt als Büros vermietet waren. Im Hochparterre hatte sich ein Reisebüro, eine Vorverkaufsstelle für Konzert- und Theaterkarten und eine Stellenvermittlung eingemietet.

Der Hotelangestellte kam an die Rezeption zurück. »Woll'n Sie 'n Zimmer?«

»Danke. Mich interessiert, wem . « Lara wurde von einer aufreizend geschminkten jungen Frau in einem Lederminirock unterbrochen. »Gib mir 'nen Schlüssel, Mike.« Neben ihr stand ein älterer Herr.

Der Angestellte gab ihr einen Schlüssel.

Lara beobachtete, wie die beiden zum Aufzug gingen.

»Was kann ich für Sie tun?« fragte der junge Mann.

»Ich interessiere mich für dieses Hotel«, sagte Lara. »Ist es zu verkaufen?«

»An sich ist alles zu verkaufen, schätze ich. Ist Ihr Vater in der Immobilienbranche?«

»Nein«, antwortete Lara. »Ich bin selbst in der Branche.«

Er musterte sie erstaunt. »Oh. Na ja, dann müßten Sie mal mit einem der Brüder Diamond reden. Denen gehört 'ne ganze Reihe solcher Bruchbuden.«

»Und wo finde ich die Herren?« fragte Lara.

Der Angestellte nannte ihr eine Adresse in der State Street.

»Stört es Sie, wenn ich mich mal umsehe?«

Der junge Mann zuckte mit den Schultern. »Bitte sehr.« Er grinste. »Vielleicht sind Sie schon bald mein Boss.«

Nur über meine Leiche, dachte sie.

Lara machte einen Rundgang durch die Hotelhalle. Der Eingang wurde von schönen alten Marmorsäulen flankiert. Als sie, einer Eingebung folgend, eine Ecke des schmutzigen, abgetre-tenen Teppichbodens anhob, kam darunter ein glanzloser Marmorfußboden zum Vorschein. Sie ging ins Hochparterre hinauf. Die senfgelbe Tapete war an vielen Stellen abgeblättert. Lara zog einen Streifen ab und entdeckte auch darunter Marmor. Allmählich wurde die Sache aufregend!

Das Treppengeländer war mattschwarz gestrichen. Lara überzeugte sich davon, daß der junge Mann nicht hersah, nahm einen Schlüssel aus ihrer Handtasche und kratzte damit etwas Farbe ab. Darunter fand sie, was sie gehofft hatte, ein massives Messinggeländer. Auch die altmodischen Aufzüge waren schwarz gestrichen. Lara kratzte daran und legte wieder blankes Messing frei.

Lara hatte Mühe, ihre Aufregung zu verbergen, als sie erneut an die Rezeption trat. »Könnte ich mir eines der Zimmer ansehen?«

Der Angestellte zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen.« Er gab ihr einen Schlüssel. »Vier-eins-null.«

»Danke.«

Der altmodische Aufzug rumpelte nach oben. Äußerlich muß er so bleiben, dachte Lara. Aber die Technik muß erneuert werden.

In Gedanken war sie schon dabei, das gesamte Hotel zu renovieren.

Zimmer 410 war eine Katastrophe, aber sein Potential war augenfällig. Ein überraschend großer Raum mit veraltetem Bad und geschmackloser Einrichtung. Laras Herz begann rascher zu schlagen. Nahezu ideal! sagte sie sich.

Sie ging zu Fuß die Treppe hinunter. Das Treppenhaus war verwahrlost und roch nach Moder. Die Teppiche waren abgetreten, aber darunter entdeckte sie wieder Marmor.

Lara brachte den Schlüssel zurück.

»Na, haben Sie genug gesehen?« fragte der Angestellte.

»Ja«, antwortete sie. »Besten Dank.«

Er musterte sie grinsend. »Und Sie wollen diese Bruchbude

wirklich kaufen?«

»Ja«, bestätigte Lara. »Ich will diese Bruchbude wirklich kaufen.«

»Cool«, sagte er.

In diesem Moment öffnete sich die Aufzugstür, und die junge Nutte betrat mit ihrem Freier die Hotelhalle. Sie drückte dem jungen Mann an der Rezeption den Schlüssel und ein paar Scheine in die Hand. »Danke, Mike.«

»Schönen Tag noch!« rief Mike ihr nach. Er wandte sich erneut an Lara. »Sie kommen also zurück?«

»O ja«, versicherte sie, »ich komme zurück!«

Als nächstes fuhr Lara Cameron zum Stadtarchiv, um im Grundbuch die Unterlagen über das Objekt einzusehen, für das sie sich interessierte. Gegen eine Gebühr von zehn Dollar händigte man ihr die Akte über das Congressional Hotel aus. Es war vor fünfeinhalb Jahren an die Brüder Diamond verkauft worden - für sechs Millionen Dollar.

Die Brüder Diamond hatten ihr Büro in einem alten Gebäude an der Ecke von State Street und Lake Street. Eine orientalisch aussehende hübsche Sekretärin in einem roten Minirock begrüßte Lara, als sie eintrat.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte Mr. Diamond sprechen.«

»Welchen?«

»Einen von beiden.«

»Dann geb' ich Ihnen John.«

Sie nahm den Telefonhörer ab und sprach hinein. »Hier ist 'ne Dame, die dich sprechen will, John.« Nachdem sie kurz zugehört hatte, sah sie zu Lara auf. »Worum geht's denn?«

»Ich möchte eines seiner Hotels kaufen.«

Die Sekretärin sprach wieder in den Hörer. »Sie sagt, daß sie eines deiner Hotels kaufen will ... Okay.« Sie legte auf. »Sie

können gleich reingehen.«

John Diamond war ein bärtiger Riese Anfang vierzig mit dem eingedrückten Gesicht eines Mannes, der viel Football gespielt hat. Er trug ein kurzärmeliges Hemd und rauchte eine dicke Zigarre. Er sah auf, als Lara sein Büro betrat.

»Meine Sekretärin sagt, daß Sie eines meiner Hotels kaufen wollen.« Er musterte sie prüfend. »Sind Sie schon alt genug, um wählen zu dürfen?«

»Darum machen Sie sich keine Sorgen«, gab Lara zurück. »Und ich bin alt genug, um eines Ihrer Hotels zu kaufen.«

»Yeah? Welches denn?«

»Das Cong essi nal Hotel.«

»Das was?«

»So steht's über dem Eingang. Vermutlich soll es >Congres-sional< heißen.«

»Oh. Yeah.«

»Ist es zu verkaufen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ach, ich weiß nicht recht. Gerade mit diesem Hotel verdienen wir 'ne Menge Geld. Vielleicht sollten wir uns lieber nicht davon trennen.«

»Sie sollten sich aber davon trennen«, sagte Lara.

»Ha?«

»Es ist schrecklich baufällig. Regelrecht einsturzgefährdet, wenn Sie mich fragen.«

»Yeah? Was zum Teufel wollen Sie denn damit?«

»Ich möchte es kaufen und renovieren. Natürlich müßte es mir leer übergeben werden.«

»Das wäre kein Problem. Für unsere Mieter gilt eine wöchentliche Kündigungsfrist.«

»Wie viele Zimmer hat das Hotel?«

»Hundertfünfundzwanzig. Die Gesamtfläche beträgt ungefähr neuntausend Quadratmeter.«

Zu viele Zimmer, dachte Lara. Aber wenn ich sie zu Suiten zusammenlege, kämen sechzig bis fünfundsiebzig Einheiten

heraus. Das könnte hinkommen.

Nun wurde es Zeit, über den Preis zu sprechen.

»Nehmen wir mal an, ich wäre bereit, das Gebäude zu kaufen - wieviel würden Sie dafür wollen?«

»Falls ich bereit wäre, es zu verkaufen«, antwortete Diamond, »würde ich zehn Millionen Dollar wollen - davon sechs Millionen als Anzahlung in bar.«

Lara schüttelte den Kopf. »Ich biete Ihnen .«

»Mein Preis steht fest. Zehn Millionen!«

Lara saß da und berechnete überschlägig, was die Renovierung kosten würde. Zwischen neunhundert und eintausend Dollar pro Quadratmeter, acht bis neun Millionen Dollar, dazu die völlig neue Einrichtung .

Sie rechnete eifrig. Ein Bankdarlehen für die Renovierung war sicher zu bekommen. Das Problem bestand darin, daß sie sechs Millionen Eigenkapital brauchte, aber nur drei Millionen hatte. Diamonds Preis war zu hoch, aber sie wollte dieses Hotel. Sie wollte es mehr als irgend etwas anderes in ihrem bisherigen Leben.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Lara.

Er hörte aufmerksam zu. »Yeah?«

»Sie bekommen, was Sie verlangen ...«

Diamond grinste zufrieden. »Das läßt sich hören.«

»Und ich gebe Ihnen als Anzahlung drei Millionen in bar.«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts zu machen. Ich brauche die sechs Millionen Dollar in bar.«

»Die bekommen Sie auch.«

»Yeah? Von wem kommen die anderen drei?«

»Von Ihnen.«

»Was?«

»Sie geben mir eine zweite Hypothek über drei Millionen.«

»Sie wollen sich von mir Geld leihen, um mein Hotel zu kaufen?«

Das hatte Sean MacAllister sie schon damals in Glace Bay

gefragt.

»Sie müssen die Sache folgendermaßen sehen«, erklärte Lara ihm. »Tatsächlich leihen Sie sich dieses Geld selbst. Das Hotel bleibt zumindest teilweise Ihr Eigentum, bis ich meine Schulden bezahlt habe. Sicherer können Sie Ihr Geld gar nicht anlegen!«

Er dachte darüber nach. Dann grinste er plötzlich. »Lady, ab sofort gehört Ihnen ein Hotel.«

Howard Kellers Büro in der Bank war nur ein Glaskasten in einem Großraumbüro mit seinem Namen an der Tür. Als Lara hereinkam, war sein Anzug noch verknitterter als bei ihrem ersten Besuch.

»Schon wieder da?«

»Sie haben gesagt, ich sollte kommen, sobald ich ein Hotel gefunden habe. Ich habe eines gefunden.«

Keller lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Schön, erzählen Sie mir davon.«

»Es ist das alte Congressional Hotel in der Delaware Street -nicht weit vom Michigan Boulevard entfernt. Es ist ziemlich heruntergekommen, aber ich möchte es kaufen und daraus das beste Hotel Chicagos machen.«

»Zu welchen Bedingungen kaufen?«

Lara berichtete, was sie mit Diamond vereinbart hatte.

Keller runzelte die Stirn. »Okay, mal sehen, was Bob Vance dazu sagt.«

Vance hörte aufmerksam zu und machte sich dabei Notizen.

»Das könnte gehen«, meinte er dann, »aber . « Er sah zu Lara hinüber. »Haben Sie schon mal ein Hotel geführt, Miss Cameron?«

Lara erinnerte sich an die vielen Jahre, in denen sie in Glace Bay Betten gemacht, Böden geschrubbt, Wäsche gewaschen, Essen serviert und Geschirr gespült hatte.

»Ich habe ein Fremdenheim voller Bergleute und Holzfäller geführt. Im Vergleich dazu ist die Führung eines Hotels ein Kinderspiel.«

Howard Keller sagte: »Ich möchte mir das Objekt mal ansehen.«

Laras Begeisterung war ansteckend. Howard Keller beobachtete ihr Gesicht, während sie gemeinsam die schäbigen Hotelzimmer besichtigten. Er sah die Räume mit ihren Augen.

»Dies wird eine Luxussuite mit Sauna«, erklärte Lara ihm aufgeregt. »Der Kamin kommt hierher, der Flügel steht dort drüben.« Sie ging im Zimmer auf und ab. »Reiche Leute, die nach Chicago kommen, wohnen in den besten Hotels - aber auch dort bekommen sie nur nüchterne, unpersönliche Zimmer. Was wir zu bieten haben, kostet vielleicht etwas mehr, aber dafür ist es dann wirklich ein >Zuhause in der Fremde<.«

»Eindrucksvoll«, murmelte Howard Keller. Lara blieb vor ihm stehen. »Glauben Sie, daß die Bank mir das Geld leiht?« »Das werden wir gleich herausbekommen.«

Eine Dreiviertelstunde später konferierte Keller bereits wieder mit Bob Vance. »Was halten Sie von ihrem Projekt?« fragte Vance. »Ich glaube, daß das Mädchen eine gute Idee gehabt hat. Ihre Vorstellung von einem Luxushotel gefällt mir.«

»Mir auch«, gab Vance zu. »Problematisch ist nur, daß sie so jung und unerfahren ist. Das macht die Sache riskanter.«

Die folgende halbe Stunde verbrachten sie damit, über Kosten und Gewinnchancen zu diskutieren.

»Ich glaube, wir sollten's mit ihr versuchen«, sagte Keller zuletzt. »Verlieren können wir dabei nicht.« Er grinste. »Schlimmstenfalls können Sie und ich ja dann selbst in das neue Hotel ziehen.«

Howard Keller rief Lara im Palmer House an. »Unser Haus hat

soeben Ihren Kredit bewilligt.«

Lara stieß einen Schrei aus. »Ist das Ihr Ernst? Oh, wie wunderbar! Danke, vielen Dank!«

»Wir müssen noch einiges besprechen«, sagte Keller. »Darf ich Sie zum Abendessen einladen?«

»Gern.«

»Gut, dann hole ich Sie um halb acht ab.«

Sie aßen im Imperial House. Lara war so aufgeregt, daß sie kaum einen Bissen herunterbrachte.

»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie glücklich ich bin«, jubelte sie. »Ich baue das schönste Hotel Chicagos!«

»Vorsicht«, sagte Keller warnend, »der Weg ist noch lang.« Er zögerte. »Darf ich ganz offen sein, Miss Cameron?«

»Lara.«

»Lara. Sie sind hier völlig unbekannt. Niemand weiß, wie er Sie einzuschätzen hat.«

»In Glace Bay ...«

»Chicago ist nicht Glace Bay. Hier müssen Sie erneut zeigen, was Sie können.«

»Warum ist Ihre Bank dann bereit, mir zu helfen?« wollte Lara wissen.

»Verstehen Sie mich bitte richtig. Wir sind nicht die Wohlfahrt. Schlimmstenfalls riskieren wir, keinen Gewinn zu machen. Aber ich habe das Gefühl, daß Sie's schaffen und noch mehr Erfolg haben werden. Sie wollen sich doch nicht mit diesem einen Hotel begnügen?«

»Natürlich nicht!« sagte Lara.

»Das habe ich vermutet. Normalerweise bedeutet eine Kreditgewährung nicht, daß wir uns selbst für das jeweilige Projekt engagieren. Aber in diesem Fall möchte ich Ihnen helfen, wo immer ich kann.«

Howard Kellers Engagement hatte sehr persönliche Gründe. Er hatte sich vom ersten Augenblick an zu Lara Cameron

hingezogen gefühlt. Der Enthusiasmus und das Durchsetzungsvermögen dieser schönen Kindfrau fesselten ihn. Er wünschte sich nichts mehr, als ihr zu imponieren. Vielleicht, dachte Keller, erzähle ich ihr eines Tages, wie nah ich daran gewesen bin, berühmt zu werden ...

8. KAPITEL

Es war das letzte Spiel der World Series, und Wrigley Field war mit 38960 kreischenden Fans ausverkauft. »In der zweiten Hälfte des neunten Innings führen die Cubs gegen die Yankees mit eins zu null. Die Yankees sind am Schlag und haben zwei Strike Outs. Alle Bases sind besetzt: Tony Kubek am ersten, Whitey Ford am zweiten und Yogi Berra am dritten.«

Ein Aufschrei ging durch die Menge, als Mickey Mantle an die Home Plate trat. »The Mick« hatte in dieser Saison einen Durchschnitt von .304 erzielt und im laufenden Jahr schon zweiundvierzig Home Runs geschlagen.

Jack Brickhouse, der populäre Stadionsprecher von Wrigley Field, sagte auf geregt: »Oh, oh ... anscheinend soll der Pitcher ausgewechselt werden. Moe Drabowsky wird aus dem Spiel genommen ... Bob Scheffing, der Manager der Cubs, redet mit dem Schiedsrichter ... mal sehen, wer jetzt reinkommt ... Howard Keller! Keller ist auf dem Weg zur Pitcher 's Plate, und die Fans sind aus dem Häuschen! Die gesamte Verantwortung für die World Series ruht auf den Schultern dieses jungen Mannes. Kann er das Duell gegen den großen Mickey Mantle gewinnen? Wir werden es bald wissen! Keller steht auf dem Mound . er sieht sich nach den Bases um . er atmet tief durch und holt aus. Da kommt der Ball! Mantle holt aus ... schlägt gewaltig zu ... und verfehlt den Ball! Strike one!«

Im Stadion war es still geworden. Mantle trat mit grimmiger Miene etwas weiter vor und hielt seinen Schläger bereit. Howard Keller sah erneut nach den Runners. Trotz des auf ihm lastenden Drucks wirkte er ganz gelassen. Er drehte sich nach dem Catcher um, wartete auf sein Zeichen und holte zum

nächsten Wurf aus.

»Da kommt der Ball!« rief der Stadionsprecher ins Mikrofon. »Kellers berühmter Kurvenball . Mantle schlägt zu . und verfehlt wieder! Strike two! Bleibt der junge Keller gegen >The Mick siegreich, haben die Chicago Cubs die World Series gewonnen! Wir sehen einen Kampf zwischen David und Goliath, meine Damen und Herren! Keller spielt erst seit einem Jahr in den Big Leaques, aber er hat sich in dieser Zeit einen bemerkenswerten Ruf erworben. Mickey Mantle ist Goliath ... Kann der Neuling Keller gegen ihn gewinnen? Nun hängt alles von seinem nächsten Wurf ab.

Keller sieht sich noch mal nach den Runners um . er holt aus . und jetzt kommt der Ball! Wieder sein Kurvenball . Mantle verfehlt ihn, obwohl er mitten über die Home Plate segelt. Strike three wird gegeben!« Die Stimme des Stadionsprechers überschlug sich beinahe. »Mantle hat diesen Ball falsch berechnet! Der große Mick ist geschlagen, meine Damen und Herren! Der junge Howard Keller bleibt Sieger gegen Mickey Mantle! Damit ist die Entscheidung gefallen: Die Chicago Cubs gewinnen die World Series! Und die Fans sind aufgesprungen und jubeln wie verrückt!«

Howard Kellers Mannschaftskameraden stürmten übers Feld, hoben den siegreichen Pitcher auf ihre Schultern und trugen ihn im Triumph über die .

»Howard, was um Himmels willen machst du da?«

»Meine Hausaufgaben, Mom.« Schuldbewußt stellte der fünfzehnjährige Howard Keller den Fernseher ab.

Baseball war Howards große Leidenschaft. Er wußte, daß er eines Tages in der Nationalliga spielen würde. Als Sechsjähriger hatte er Stickball gespielt mit Jungens, die doppelt so alt waren wie er, und mit zwölf Jahren war er schon Pitcher in einem Schülerteam. Als er fünfzehn war, wurde ein Trainer auf den Jungen aufmerksam, dessen Wurf in höchsten Tönen gelobt wurde.

Der Trainer war skeptisch. »Gut, ich seh' ihn mir mal an«, sagte er widerstrebend. Er ging zum nächsten Spiel der Schülerliga, für das Howard Keller aufgestellt war, und war begeistert. Nach dem Spiel sprach er mit dem Jungen. »Was hast du später mal vor, mein Sohn?«

»Baseball spielen«, antwortete Keller prompt.

»Freut mich, daß du das sagst. Wir bieten dir einen Vertrag für unser Zweitligateam.«

Howard konnte es kaum erwarten, seinen Eltern diese aufregende Nachricht zu erzählen.

Die Kellers waren eine katholische Familie mit starkem Zusammenhalt. Die Eltern gingen jeden Sonntag in die Messe und sorgten dafür, daß ihr Sohn mitkam. Als Vertreter für eine Schreibmaschinenfirma mußte Howard Keller senior viel reisen, aber wenn er daheim war, verbrachte er möglichst viel Zeit mit seinem Sohn. Howards Mutter ging zu jedem Baseballspiel, für das er aufgestellt war, und jubelte ihm zu. Den ersten Baseballhandschuh und die Spielkleidung hatte er zum sechsten Geburtstag bekommen.

Baseball war Howard Kellers große Leidenschaft. Er hatte ein unglaubliches Gedächtnis für Spiele, die teilweise lange vor seiner Geburt stattgefunden hatten. Seine Spezialität waren die Statistiken der siegreichen Pitcher - ihre Strikes, Outs, Saves und Home Runs. Howard behauptete, die Starting Pitchers sämtlicher Mannschaften bei den World Series zu benennen -und gewann Wetten gegen seine Klassenkameraden.

»Neunzehnhundertneunundvierzig?«

»Das ist einfach«, sagte Howard. »Newcombe, Roe und Branca bei den Dodgers. Reynolds, Raschi, Byrne und Lopat bei den Yankees.«

»Jetzt mal was anderes«, schlug einer seiner Mannschaftskameraden vor. »Wer hat in den Big Leagues die meisten Spiele nacheinander bestritten?« Der Fragesteller hatte das

Guiness Buch der Rekorde aufgeschlagen vor sich liegen.

Howard Keller brauchte nicht mal nachzudenken. »Lou Gehrig - zweitausendeinhundertdreißig.«

»Wer hält den Rekord für die meisten Shut Outs?«

»Walter Johnson - hundertdreizehn.«

»Wer hat die meisten Home Runs geschlagen?«

»Babe Ruth - siebenhundertvierzehn.«

Die Nachricht von den Fähigkeiten des jungen Spielers machte die Runde, und professionelle Talentsucher kamen, um sich das junge Phänomen anzusehen, das jetzt im Zweitligateam der Chicago Cubs spielte. Sie waren begeistert. Als Siebzehnjähriger hatte Keller bereits Angebote von den St. Louis Cardinais, den Baltimore Orioles und den New York Yankees.

Howards Vater war stolz auf ihn. »Das hat er bestimmt von mir«, prahlte er. »Ich hab' als Junge auch viel Baseball gespielt.«

Im Sommer vor seinem letzten Jahr in der High-School arbeitete Howard Keller als Aushilfe in einer Bank, die einem der Sponsoren seines ehemaligen Schülerteams gehörte.

Howard hatte eine feste Freundin: seine hübsche Mitschülerin Betty Quinlan. Die beiden waren sich darüber einig, daß sie nach dem College heiraten würden. Er erzählte ihr stundenlang von Baseball, und da Betty ihn liebte, hörte sie geduldig zu.

Der junge Keller wußte, daß er bald in die Ruhmeshalle der Baseball-Größen aufsteigen würde. Aber die Götter hatten ihm ein anderes Schicksal bestimmt.

Eines Tages, als Howard mit seinem besten Freund Jesse, der in ihrer Mannschaft Shortstop spielte, aus der Schule heimkam, lagen dort zwei Briefe für ihn. Einer bot ihm ein BaseballStipendium in Princeton an, der andere bot ihm ein BaseballStipendium in Harvard an.

»He, das ist großartig!« rief Jesse aus. »Meinen Glück-wunsch!« Und das meinte er ernst, denn Howard Keller war sein Vorbild.

»Welches willst du nehmen?« fragte Howards Vater.

»Wozu soll ich überhaupt studieren?« überlegte der Junge laut. »Ich könnte sofort bei einer guten Profimannschaft anfangen.«

»Das hat Zeit bis später, mein Junge«, sagte seine Mutter energisch. »Erst brauchst du eine vernünftige Ausbildung, mit der dir alle Möglichkeiten offen stehen, wenn du mal nicht mehr Baseball spielst.«

»Gut, dann Harvard«, entschied Howard. »Betty studiert in Wellesley, und dort bin ich in ihrer Nähe.«

Betty Quinlan war begeistert, als Howard ihr erzählte, wofür er sich entschieden hatte.

»Dann können wir uns jedes Wochenende sehen!« sagte sie.

Howards Freund Jesse sagte: »Du wirst mir verdammt fehlen.«

Am Tag vor Howard Kellers Abreise nach Harvard brannte sein Vater mit der Sekretärin eines seiner Kunden durch.

Der Junge war wie vor den Kopf geschlagen. »Wie hat er uns das bloß antun können?«

Seine Mutter stand unter Schock. »Er ... er macht offenbar eine Krise durch«, stammelte sie. »Ich weiß, daß er mich sehr liebt. Er ... er kommt bestimmt zurück. Du wirst sehen ...«

Am nächsten Tag erhielt Howards Mutter ein Schreiben eines Rechtsanwalts, der ihr förmlich mitteilte, daß sein Mandant, Howard Keller senior, sich scheiden lassen wolle und bereit sei, ihr das kleine Haus zu überlassen, da er kein Geld für Alimente habe.

Howard umarmte seine Mutter. »Keine Angst, Mom, ich bleibe hier und kümmere mich um dich.«

»Nein! Ich will nicht, daß du meinetwegen das Studium aufgibst. Dein Vater und ich hatten uns von Anfang an vorge-nommen, dich studieren zu lassen.« Nach kurzer Pause fügte sie leiser hinzu: »Darüber können wir morgen reden. Ich bin sehr müde.«

Howard tat die ganze Nacht kein Auge zu, weil er über die Möglichkeiten nachdachte, die sich ihm boten. Er konnte mit dem Baseball-Stipendium nach Harvard gehen oder eines der Angebote aus der Nationalliga annehmen. In beiden Fällen blieb seine Mutter allein zurück. Es war eine schwierige Entscheidung.

Als seine Mutter morgens nicht zum Frühstück kam, sah Howard in ihrem Schlafzimmer nach. Sie saß im Bett, konnte sich nicht bewegen und hatte ein halbseitig gelähmtes schiefes Gesicht. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten.

Da Howard kein Geld für die Arzt- und Krankenhausrechnungen hatte, arbeitete er jetzt wieder ganz in der Bank. Jeden Nachmittag hastete er nach Büroschluß heim, um seine Mutter zu versorgen.

Zum Glück war der Schlaganfall nicht schwer gewesen, und der Arzt versicherte Howard, daß seine Mutter sich davon erholen werde. »Sie hat einen schlimmen Schock erlitten, aber sie kommt bestimmt wieder auf die Beine.«

Howard bekam noch immer Anrufe von Talentsuchern aus der Nationalliga, aber er war sich darüber im klaren, daß er seine Mutter nicht verlassen durfte. Später, wenn's ihr wieder besser geht, nahm er sich vor.

Die Arztrechnungen stapelten sich.

Anfangs telefonierte er jede Woche mit Betty Quinlan, aber nach ein paar Monaten wurden ihre Anrufe immer seltener.

Der Zustand von Howards Mutter schien sich nicht zu bessern. Howard sprach mit dem Arzt. »Wann kann sie wieder aufstehen?«

»Schwer zu sagen, mein Junge. Sie kann noch Monate, vielleicht Jahre so daliegen. Tut mir leid, aber mehr kann ich

vorläufig nicht sagen.«

Das Jahr ging zu Ende, ein neues begann, und Howard lebte noch immer bei seiner Mutter und arbeitete in der Bank. Eines Tages kam ein Brief von Betty Quinlan, die ihm mitteilte, sie habe sich in einen anderen Mann verliebt, und hinzugefügt, sie hoffe, daß es seiner Mutter besser gehe. Das Interesse, das die Nationalligateams an ihm gehabt hatten, versickerte. Howard konzentrierte sich ganz auf die Pflege seiner Mutter. Er kaufte ein, führte den Haushalt und arbeitete in der Bank. An seine Karriere als Baseballspieler dachte er längst nicht mehr. Es war schon schwierig genug, von Tag zu Tag durchzukommen.

Als seine Mutter vier Jahre nach ihrem Schlaganfall starb, interessierte Howard Keller sich nicht mehr für Baseball. Er war jetzt Bankier von Beruf.

Seine Chance, berühmt zu werden, war verflogen.

9. KAPITEL

Howard Keller und Lara Cameron saßen beim Abendessen.

»Wie gehen wir die Sache an?« fragte Lara.

»Als erstes stellen wir das beste Team zusammen, das für Geld zu haben ist. Den Anfang machen wir mit einem Rechtsanwalt, der den Vertrag mit den Brüdern Diamond aushandeln muß. Dann bekommst du einen erstklassigen Architekten. Ich denke dabei an einen ganz bestimmten Mann. Und zuletzt brauchst du einen zuverlässigen Bauunternehmer . Ich habe selbst ein bißchen gerechnet. Die Umbaukosten betragen etwa dreihunderttausend Dollar pro Zimmer. So kommt das Hotel auf rund sieben Millionen Dollar. Bei vernünftiger Planung kann eigentlich nichts schiefgehen.«

Der Architekt hieß Ted Tuttle. Als er von Laras Plänen hörte, sagte er grinsend: »Gott segne Sie! Ich warte schon seit Jahren darauf, daß jemand mit so einer Idee zu mir kommt.«

Zehn Arbeitstage später legte er ihr seine Entwürfe vor. Sie zeigten genau das, wovon Lara immer geträumt hatte.

»Gegenwärtig hat das Hotel hundertfünfundzwanzig Zimmer«, sagte der Architekt. »Wie Sie sehen, habe ich daraus auf Ihren Wunsch fünfundsiebzig Einheiten gemacht.«

In seinen Entwürfen hatte er fünfzig Suiten und fünfundzwanzig luxuriös eingerichtete Zimmer vorgesehen.

»Perfekt!« sagte Lara anerkennend.

Sie zeigte die Entwürfe Howard Keller, der ebenso begeistert war.

»Jetzt können wir weitermachen. Ich habe einen Termin mit einem Bauunternehmer vereinbart. Er heißt Steve Rice.«

Rice war einer der erfolgreichsten Bauunternehmer Chicagos. Lara gefiel er sofort. Rice war kein Blender, sondern ein stämmiger, nüchterner Mann vom Fach.

»Howard Keller hat mir erzählt, daß Sie der beste sind«, erklärte Lara ihm.

»Stimmt«, sagte Rice. »Unser Motto lautet: >Wir bauen für die Nachwelt.««

»Das ist ein gutes Motto.«

Steve Rice grinste. »Offengestanden - ich hab's gerade erst erfunden.«

Die Arbeit begann damit, daß für alle Lose Ausschreibungsunterlagen und Vergabepläne erstellt wurden. Diese Unterlagen gingen an potentielle Subunternehmer: Maurer, Schreiner, Glaser, Installateure, Heizungsbauer, Elektriker ... Insgesamt forderten über sechzig Firmen Ausschreibungsunterlagen an.

Am letzten Tag der Ausschreibungsfrist nahm Howard Keller sich den Nachmittag frei, um mit Lara zu feiern.

»Hat die Bank nichts dagegen, wenn du dir soviel Zeit für mich nimmst?« fragte Lara.

»Nein«, log Keller, »das gehört zu meinem Job.« In Wirklichkeit machte ihm dieses Projekt mehr Spaß als alles, was er in den letzten Jahren getan hatte. Er genoß Lara Camerons Gesellschaft; er genoß es, mit ihr zu reden und sie ansehen zu können. Und er fragte sich, wie Lara auf einen Heiratsantrag reagieren würde.

»Heute morgen habe ich gelesen, daß der Sears Tower beinahe fertig ist«, sagte Lara. »Er hat einhundertzehn Stockwerke -das höchste Gebäude der Welt.«

»Richtig«, bestätigte Keller.

»Eines Tages baue ich ein noch höheres, Howard«, erklärte sie ihm glaubhaft.

Er glaubte ihr.

Sie saßen mit Steve Rice im Whitehall beim Mittagessen. »Erzählen Sie mir, wie's weitergeht«, forderte Lara ihn auf.

»Nun«, sagte Rice, »als erstes wird das Gebäude entkernt, aber was aus Marmor und Messing ist, bleibt natürlich erhalten. Wir brechen alle Fenster heraus, räumen die Bäder aus, legen neue Wasserleitungen und tauschen die Elektroinstalla-tionen aus. Sobald die Vorarbeiten abgeschlossen sind, können wir mit dem Innenausbau und der Fassadenrenovierung beginnen.«

»Wie viele Leute setzen Sie dafür ein?«

Steve Rice lachte. »Ganze Horden, Miss Cameron! Wir stellen spezialisierte Trupps zusammen: ein Fenster-Team, ein Bäder-Team, ein Korridor-Team und so weiter. Diese Teams nehmen sich ein Stockwerk nach dem anderen vor - meistens von oben nach unten. Das spart 'ne Menge Zeit.«

»Wie lange dauert das alles?«

»Hmmm . umgebaut und neu eingerichtet . fünfzehn Monate.«

»Ich zahle einen Bonus, wenn Sie's in zwölf Monaten schaffen«, versprach Lara ihm.

»Abgemacht. Das Congressional dürfte ...«

»Dieser Name wird geändert. Das Hotel wird Cameron Pala-ce heißen.« Lara fand es herrlich, den neuen Namen auch nur auszusprechen. Er bewirkte bei ihr eine fast sinnliche Erregung. Ihr Name würde an einem Gebäude stehen, und alle Welt würde ihn sehen können.

An einem regnerischen Septembermorgen um sechs Uhr begann der Umbau des Hotels. Lara Cameron war natürlich da und beobachtete zufrieden, wie die Bauarbeiter anfingen, die Hotelhalle auseinanderzunehmen.

Zu Laras Überraschung tauchte auch Howard Keller auf.

»Du bist früh auf den Beinen«, sagte sie.

»Ich konnte nicht mehr schlafen«, antwortete Keller grin-send. »Ich habe das Gefühl, daß dies nur der Auftakt zu noch größeren Dingen ist.«

Zwölf Monate später wurde das neue Cameron Palace eröffnet, erhielt eine begeisterte Presse und hatte sofort alle Hände voll zu tun. Der Architekturkritiker der Chicago Tribune schrieb: »Nun hat Chicago endlich ein Hotel, das dem Motto >Ihr Zuhause in der Fremde !< gerecht wird. Lara Cameron - ein Name, den man sich merken sollte .«

Nach vier Wochen war das Hotel ausgebucht und hatte eine ellenlange Warteliste.

Howard Keller war begeistert. »Wenn's so weitergeht«, sagte er, »amortisiert es sich in zwölf Jahren. Das ist phantastisch! Wir .«

»Nicht gut genug«, entschied Lara. »Ich setze die Zimmerpreise herauf.« Sie lächelte über Kellers besorgtes Gesicht. »Keine Angst, auch das zahlen die Leute. Wo sonst kriegen sie zwei offene Kamine, eine Sauna und einen Flügel?«

Zwei Monate nach der Eröffnung des Hotels Cameron Palace saß Lara mit Bob Vance und Howard Keller zusammen.

»Ich habe einen großartigen Bauplatz für ein weiteres Hotel gefunden«, berichtete Lara. »Es soll wie das Cameron Palace werden - nur größer und besser.« Howard Keller grinste. »Gut, ich sehe ihn mir mal an.«

Das Grundstück war ideal - aber es gab ein kleines Problem.

»Sie kommen leider zu spät«, erklärte der beauftragte Makler Lara. »Heute morgen ist ein Bauträger namens Steve Murchi-son dagewesen und hat mir ein Angebot gemacht. Er will das Grundstück kaufen.« »Wieviel hat er Ihnen geboten?« »Drei Millionen.«

»Ich zahle vier. Setzen Sie den Vertrag auf.«

Der Makler zuckte nicht mit der Wimper. »Wird gemacht.«

Am nächsten Morgen bekam Lara einen Anruf.

»Lara Cameron?«

»Ja.«

»Hier ist Steve Murchison. Ich will's Ihnen noch mal durchgehen lassen, Sie Schlampe, weil Sie vermutlich nicht wissen, mit wem Sie's zu tun haben. Aber kommen Sie mir ja nicht wieder in die Quere - das könnte ungesund sein!«

Am anderen Ende wurde aufgelegt.

Man schrieb 1974, ein Jahr großer Ereignisse in aller Welt. Präsident Nixon trat zurück, um einem Amtsenthebungsverfahren zuvorzukommen, und Gerald Ford folgte ihm ins Weiße Haus nach. Die OPEC beendete ihr Ölembargo, und Isabel Peron wurde Präsidentin Argentiniens. Und in Chicago legte Lara Cameron den Grundstein für ihr zweites Hotel, das Chicago Cameron Plaza. Es wurde nach achtzehn Monaten Bauzeit eingeweiht und erwies sich als noch erfolgreicher als das Cameron Palace.

Danach war Lara nicht mehr aufzuhalten. Später schrieb das Magazin Forbes ganz richtig: »Lara Cameron ist ein Phänomen. Ihre Innovationen haben unsere Auffassung von Luxushotels erheblich verändert. Miss Cameron hat sich in der traditionell von Männern beherrschten Baubranche durchgesetzt und so den Beweis geführt, daß Frauen auch dort mindestens soviel leisten können wie Männer.«

Lara bekam einen Anruf von Charles Cohn.

»Meinen Glückwunsch!« sagte Cohn. »Ich bin stolz auf Sie. Ich hatte vor Ihnen noch nie einen Schützling gehabt.«

»Und ich hatte nur einen Mentor. Ohne Sie wäre das alles nicht passiert.«

»Sie hätten Ihren Weg auch ohne mich gemacht«, antwortete Cohn.

Im Jahr 1975 war der Film »Der weiße Hai« ein Kassenschlager, und viele Amerikaner trauten sich nicht mehr, im Ozean zu baden. Die Weltbevölkerung überschritt die Viermilliardengrenze und verringerte sich um einen Menschen, als der amerikanische Gewerkschaftsführer James Hoffa auf rätselhafte Weise verschwand. Als Lara von vier Milliarden Menschen hörte, fragte sie Keller: »Kannst du dir vorstellen, wieviel Wohnraum die brauchen werden?« Er war nicht ganz sicher, ob das als Scherz gemeint war.

In den folgenden drei Jahren wurden zwei Apartmentgebäude und eine Eigentumsanlage fertiggestellt. »Als nächstes möchte ich ein Bürogebäude errichten«, erklärte Lara Keller. »In bester Innenstadtlage.«

»Wie ich gehört habe, kommt ein interessantes Grundstück auf den Markt«, sagte Keller. »Wenn es dir gefällt, übernehmen wir die Finanzierung.«

Nachmittags fuhren sie los, um das Grundstück in Bestlage am Lake Michigan zu besichtigen.

»Was soll es kosten?« fragte Lara.

»Ich habe mich inzwischen erkundigt. Hundertzwanzig Millionen Dollar.«

Lara schluckte trocken. »Das macht mir angst.«

»Lara, im Immobiliengeschäft kommt es nur darauf an, mit fremdem Geld zu arbeiten.«

Anderer Leute Geld, dachte Lara. Das hatte Bill Rogers ihr in Glace Bay gepredigt. Alles das schien Ewigkeiten zurückzuliegen, und seitdem hatte sich unglaublich viel ereignet.

Und das ist erst der Anfang, sagte sie sich. Das ist erst der Anfang.

»Manche Bauträger stellen ihre Gebäude praktisch ohne Eigenkapital hin.«

»Klingt verlockend.«

»Es ist wichtig, das Gebäude so teuer zu vermieten oder zu verkaufen, daß nach der Schuldentilgung Geld übrigbleibt, mit dem das nächste Grundstück erworben werden kann, das sich wiederum beleihen läßt. Das Ganze gleicht einer auf der Spitze stehenden Pyramide, die sich mit sehr wenig Eigenkapital errichten läßt.«

»Ja, ich verstehe«, sagte Lara.

»Natürlich mußt du dabei vorsichtig sein. Die Pyramide ist auf Papier errichtet - auf Hypotheken. Geht irgend etwas schief, reichen die Gewinne aus einem Projekt nicht mehr aus, um die Kosten des nächsten zu decken, kann deine Pyramide einstürzen und dich unter sich begraben.«

»Richtig. Wie kann ich dieses Grundstück finanzieren?«

»Wir suchen dir einen Partner. Darüber muß ich mit Vance reden. Sollte das Kreditvolumen für unsere Bank zu hoch sein, gehen wir zu einer Versicherungsgesellschaft oder einer Sparbank. Du nimmst ein Hypothekendarlehen über fünfzig Millionen Dollar zu Vorzugsbedingungen auf: fünf Millionen Disagio, zehn Prozent Gewinnbeteiligung und natürlich die Tilgung. In der Praxis heißt das, daß du zehn Prozent deines Gewinns abgeben mußt, aber dafür bekommst du dein Projekt voll finanziert. Du kannst dein Eigenkapital wieder entnehmen und die Abschreibung zu hundert Prozent selbst beanspruchen, weil institutionelle Anleger keine Verwendung für steuerliche Verluste haben.«

Lara hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

»Bis hierher alles klar?«

»Alles klar, Howard.«

»Nach fünf, sechs Jahren verkaufst du das inzwischen voll vermietete Gebäude. Bekommst du fünfundsiebzig Millionen dafür, bleibt dir nach Zurückzahlung der Hypothek ein Reingewinn von zwölfeinhalb Millionen Dollar. Außerdem stehen dir Abschreibungen von acht Millionen Dollar zu, die sich steuermindernd auswirken. Und das alles bei einem Eigenkapital von zehn Millionen!«

»Phantastisch!« sagte Lara.

Keller nickte grinsend. »Der Staat will, daß seine Bürger Geld verdienen.«

»Möchtest du nicht auch Geld verdienen, Howard? Massenhaft Geld?«

»Wie meinst du das?«

»Ich möchte, daß du in Zukunft für mich arbeitest.«

Keller antwortete nicht gleich. Er wußte, daß er vor einer der wichtigsten Entscheidungen seines Lebens stand, aber sie nichts mit Geld zu tun hatte. Es ging um Lara. Er hatte sich in sie verliebt ...

Noch jetzt war ihm der Augenblick peinlich, in dem er versucht hatte, ihr das zu sagen. Er hatte seinen Heiratsantrag die ganze Nacht lang geprobt, war am nächsten Morgen zu ihr gegangen und hatte gestammelt: »Lara, ich liebe dich.« Aber bevor er hatte weitersprechen können, hatte sie ihn auf die Wange geküßt und dabei gesagt: »Ich liebe dich auch, Howard. Hier, sieh dir mal die neue Produktionsplanung an.« Er hatte nie den Mut zu einem zweiten Versuch gehabt.

Jetzt bot sie ihm an, ihr Partner zu werden. Er würde jeden Tag in ihrer Nähe arbeiten, ohne sie auch nur berühren zu dürfen, ohne sie .

»Glaubst du an meinen Erfolg, Howard?«

»Ich wäre verrückt, wenn ich es nicht täte.«

»Ich verdopple dein jetziges Gehalt und beteilige dich mit fünf Prozent an meinem Unternehmen.«

»Kann ich . kann ich mir das noch überlegen?«

»Was gibt's da viel zu überlegen?«

Sein Entschluß stand fest. »Eigentlich nichts ... Partnerin.«

Lara umarmte ihn impulsiv. »Wunderbar! Du wirst sehen, gemeinsam bauen wir die schönsten Sachen! Es gibt so viele häßliche Gebäude, die gar nicht sein müßten. Jedes Gebäude sollte dieser Stadt Tribut zollen.«

Howard legte ihr eine Hand auf den Arm. »Bleib' immer, wie

du bist, Lara.« Sie starrte ihn an.

»Darauf kannst du dich verlassen!«

10. KAPITEL

Die späten siebziger Jahre waren eine Zeit des Wachstums, der aufregenden Veränderungen. Im Jahre 1976 fand ein erfolgreiches israelisches Kommandounternehmen in Entebbe statt, Mao Tsetung starb, und James Earl Carter wurde zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt.

Lara baute ein weiteres Bürogebäude.

Im Jahre 1977 starb Charlie Chaplin, die erste amerikanische Raumfähre startete auf dem Rücken einer Boeing 747 zum Probeflug, und Elvis Presley starb, auch wenn seine Fans das nicht wahrhaben wollten.

Lara baute das größte Einkaufszentrum Chicagos.

Im Jahre 1978 begingen der Reverend Jim Jones und 911 seiner Anhänger in Guyana Massenselbstmord. Die Vereinigten Staaten erkannten China an, und der Vertrag über den Panamakanal wurde ratifiziert.

Lara baute in Rogers Park eine Kette von Hochhäusern mit Eigentumswohnungen.

Im Jahre 1979 unterzeichneten Israel und Ägypten in Camp David den Friedensvertrag, im Kernkraftwerk Three Mile Island ereignete sich ein Unfall, und iranische Fundamentalisten besetzten die amerikanische Botschaft in Teheran.

Lara baute einen Wolkenkratzer und in Deerfield, nördlich von Chicago, eine Freizeitanlage mit einem luxuriösen Country Club.

Lara Cameron ging selten zu ihrem Vergnügen aus - und wenn, dann meistens in einen Club, in dem guter Jazz gespielt wurde. Am besten gefiel ihr Andy's, wo wirkliche Stars auftra-ten. Dort spielte der große Saxophonist von Freeman, der Schlagzeuger Eric Schneider, der Klarinettist Anthony Braxton und der Pianist Art Hodes.

Lara hatte gar keine Zeit, sich einsam zu fühlen. Sie verbrachte jeden Tag mit ihrer Familie: mit Architekten und Statikern, mit Maurern, Zimmerleuten, Elektrikern und Installateuren. Die Gebäude, die sie gerade baute, nahmen ihre gesamte Zeit in Anspruch. Chicago war ihre Bühne, und sie war der Star.

Der berufliche Erfolg übertraf ihre kühnsten Träume, aber sie kannte kein Privatleben. Ihr traumatisches Erlebnis mit Sean MacAllister ließ Lara vor sexuellen Beziehungen zurückschrecken, und keine neue Eroberung interessierte sie länger als ein, zwei Abende. Im Hinterkopf hatte sie eine unbestimmte Vorstellung von einem Mann, den sie einmal kennengelernt hatte und gern wiedersehen würde. Aber sein Bild blieb immer undeutlich, auch wenn es ihr manchmal für Bruchteile von Sekunden vor Augen stand.

An Verehrern herrschte kein Mangel. Sie reichten von Geschäftsleuten über Ölindustrielle bis hin zu Dichtern. Sogar ein paar ihrer eigenen Angestellten waren darunter. Lara war zu allen gleichmäßig freundlich, aber sie ließ sich nie auf mehr als einen Händedruck zum Abschied vor ihrer Wohnungstür ein.

Dann fühlte Lara sich jedoch zu Pete Ryan, dem Bauleiter eines ihrer Projekte, hingezogen. Ryan war ein gutaussehender junger Ire, dessen weißen Zähne blitzten, wenn er lächelte, und Lara merkte, daß sie immer öfter zu seiner Baustelle hinausfuhr. Ihr Thema war immer der Baufortschritt, aber insgeheim wußten beide, daß sie über andere Dinge sprachen.

»Gehen Sie heute abend mit mir essen?« fragte Ryan eines Tages. Er sprach das Wort »essen« bedeutungsvoll gedehnt aus.

Lara spürte, wie ihr Herz rascher schlug. »Ja, gern.«

Ryan holte Lara in ihrem Apartment ab, aber sie kamen nie dazu, ins Restaurant zu gehen. »Mein Gott, bist du hübsch!« sagte er. Und seine starken Arme umfaßten sie.

Sie war bereit für ihn. Ihr Vorspiel hatte sich monatelang hingezogen. Ryan hob sie hoch und trug sie ins Schlafzimmer, wo sie sich gegenseitig die Sachen vom Leib rissen. Ryan war athletisch gebaut, und Lara verglich seinen Körper für Augenblicke unwillkürlich mit Sean MacAllisters schwammiger Fettleibigkeit. Dann lag sie auf dem Bett, und Ryan war über ihr, und seine Zunge, seine Hände schienen überall gleichzeitig zu sein, und sie schrie vor Lust und Freude laut auf.

Später hielten sie einander erschöpft in den Armen. »Mein Gott«, sagte Ryan, »du bist ein wahres Wunder!«

»Du aber auch«, flüsterte Lara.

Sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal so glücklich gewesen zu sein. Ryan war alles, was sie sich erträumt hatte. Er war intelligent und herzlich, sie verstanden einander, sie sprachen dieselbe Sprache.

Ryan drückte ihre Hand. »Ich bin hungrig wie ein Wolf.«

»Ich auch«, sagte Lara. »Ich mache uns ein paar Sandwiches.«

»Morgen abend«, versprach Ryan ihr, »lade ich dich richtig zum Essen ein.«

Lara drückte ihn an sich. »Abgemacht!«

Am nächsten Morgen fuhr Lara auf die Baustelle, um Ryan zu sehen. Sie konnte ihn hoch oben auf einem der Stahlträger sehen, wo er seinen Leuten Anweisungen gab. Als Lara zum Aufzugkorb ging, grinste einer der Arbeiter sie an. »Morgen, Miss Cameron.« In seiner Stimme klang ein seltsamer Unterton.

Auch der nächste Bauarbeiter grinste, als sie vorüberging. »Morgen, Miss Cameron.«

Zwei weitere Arbeiter schmunzelten sie an. »Morgen, Boss.«

Lara sah sich um. Auch die anderen Männer in ihrer Nähe starrten zu ihr herüber. Lara wurde rot. Sie bestieg den Aufzug und fuhr in das Stockwerk hinauf, in dem Ryan stand. Er sah Lara aus dem Aufzugkorb treten und lächelte ihr zu.

»Guten Morgen, mein Schatz«, begrüßte er sie. »Wann gehen wir heute abend essen?«

»Überhaupt nicht!« sagte Lara aufgebracht. »Sie sind entlassen!«

Jedes Gebäude, das Lara Cameron errichtete, war eine Herausforderung. Sie baute kleine Bürogebäude, Verwaltungspaläste, Ladenpassagen und Luxushotels. Aber unabhängig davon, um welche Art Gebäude es sich handelte, achtete sie vor allem darauf, daß es in guter Lage stand.

Bill Rogers hatte recht gehabt. Lage, Lage, Lage.

Laras Imperium wuchs stetig. Das bewirkte, daß die Stadtväter, die Medien und die Öffentlichkeit sich für sie zu interessieren begannen. Lara war eine Schönheit, und wenn sie auf Wohltätigkeitsveranstaltungen, in der Oper oder auf Vernissa-gen erschien, war sie ständig von Fotografen umlagert. Alle ihre Projekte waren erfolgreich - und trotzdem war sie nicht zufrieden. Man hätte glauben können, sie warte darauf, von einer noch unbekannten Magie angerührt und verwandelt zu werden.

Keller stand vor einem Rätsel. »Was willst du eigentlich, Lara?«

»Mehr.«

Das war alles, was ihr zu entlocken war.

Eines Tages stellte Lara Keller die Frage: »Howard, weißt du, wieviel wir jeden Monat für Hausmeister, Wäschereiservice und Fensterputzer zahlen?«

»Das sind unvermeidliche Betriebskosten«, sagte Keller.

»Die sich aber bestimmt senken lassen.«

»Wie willst du das anstellen?«

»Wir gründen eine Tochtergesellschaft, die solche Dienstleistungen für uns und andere Hausverwaltungen erbringt.«

Laras Idee war von Anfang an erfolgreich. Die Gewinne waren sehr ansehnlich.

Keller hatte den Eindruck, daß Lara einen Schutzwall um sich errichtet hatte. Obwohl er ihr näher als jeder andere stand, erzählte sie ihm nie von ihrer Familie oder ihrem Werdegang. Man hätte glauben können, sie sei eines Tages als Millionärin aus dem Nichts aufgetaucht. Anfangs hatte Keller Lara angeleitet, ihr Ratschläge gegeben - aber jetzt traf sie alle Entscheidungen selbst. Die Schülerin war dem Meister über den Kopf gewachsen.

Lara Cameron setzte sich überall durch. Sie war ein Energiebündel, durch nichts zu bremsen. Und sie war eine Perfektioni-stin. Sie wußte, was sie wollte, und ließ nicht locker, bis sie es hatte.

Anfangs bildeten manche Bauarbeiter sich ein, Lara nicht für voll nehmen zu müssen. Sie hatten noch nie für eine Frau gearbeitet und fanden diese Vorstellung belustigend. Als Lara einen Polier dabei erwischte, daß er Arbeitsstunden aufschrieb, die nicht geleistet worden waren, feuerte sie ihn vor versammelter Mannschaft. Sie war jeden Morgen vor sechs Uhr auf der Baustelle, damit die Männer den Boss sahen, wenn sie zur Arbeit kamen.

An den rauhen Umgangston am Bau gewöhnte Lara sich -aber es gab auch körperliche Belästigungen. Gelegentlich streifte der Arm eines Arbeiters im Vorbeigehen »versehentlich« ihren Busen oder ihr Gesäß.

»Oh, Entschuldigung!«

»Kein Problem«, sagte Lara kühl. »Holen Sie sich Ihre Papiere und verschwinden Sie.«

Nach einiger Zeit verwandelte die Belustigung der Männer sich in ehrlichen Respekt.

Als Lara eines Tages mit Howard Keller die Kedzie Avenue entlangfuhr, kamen sie an einer Häuserzeile vorbei, die nur aus kleinen Läden bestand. Lara bremste scharf.

»Das ist reine Geldverschwendung«, sagte Lara. »Hier sollte ein viel höherer Gebäudekomplex stehen. Diese kleinen Läden können nicht viel Rendite bringen.«

»Richtig, aber das Problem dabei ist, daß du alle Mieter zum Ausziehen bewegen mußt«, antwortete Keller. »Und manche wollen vielleicht nicht.«

»Wir können sie rauskaufen«, meinte Lara.

»Lara, wenn sich auch nur ein Mieter querlegt, verlierst du 'ne Menge Geld«, wandte Keller ein. »Dann hast du lauter kleine Läden gekauft, die du nicht willst, und kannst trotzdem nicht bauen. Und sobald diese Leute mitkriegen, daß hier ein Hochhaus entstehen soll, weigern sie sich erst recht, um mehr Geld rauszuschinden.«

»Aber wir verraten ihnen nicht, was wir vorhaben«, sagte Lara energisch. »Wir schicken verschiedene Leute los, die mit den Ladenbesitzern verhandeln.«

»So was mache ich nicht zum ersten Mal mit«, sagte Keller warnend. »Falls dein Vorhaben bekannt wird, werden sämtliche Mieter versuchen, dich zu schröpfen.«

»Dann müssen wir eben verschwiegen sein. Als erstes lassen wir uns eine Option auf das Grundstück einräumen.«

Die Häuserzeile in der Kedzie Avenue, die Lara kaufen wollte, bestand aus über einem Dutzend kleiner Lädchen. Es gab eine Bäckerei, ein Haushaltswarengeschäft, einen Frisiersalon, eine Fleischerei, eine Apotheke, eine Änderungsschneiderei, ein Schreibwarengeschäft, einen Coffee Shop und weitere Läden.

»Denk an das Risiko!« mahnte Keller. »Bleibt auch nur einer stur, ist das Geld, mit dem du die anderen Geschäfte aufgekauft hast, praktisch verloren.«

»Mach' dir keine Sorgen«, antwortete Lara. »Ich habe schon einen Plan.«

Eine Woche später betrat ein Unbekannter den kleinen Frisiersalon, in dem nur zwei leere Frisiersessel standen. Der Friseur las ein Magazin. Als die Tür sich öffnete, sah er auf und nickte. »Sie wünschen, Sir? Haarschnitt?«

Der Unbekannte lächelte. »Nein«, sagte er. »Ich bin erst vor ein paar Wochen nach Chicago gezogen. Ich hatte einen Frisiersalon in New Jersey, aber meine Frau wollte näher bei ihrer Mutter wohnen. Jetzt suche ich einen Frisiersalon, den ich kaufen könnte.«

»Dies ist der einzige Salon in diesem Viertel«, sagte der Friseur. »Er ist nicht zu verkaufen.«

Der Mann lächelte erneut. »Wissen Sie, im Prinzip ist alles zu verkaufen, nicht wahr? Natürlich muß der Preis stimmen. Was ist Ihr Geschäft wert ... ungefähr fünfzig-, sechzigtausend Dollar?«

»Das könnte hinkommen«, gab der Friseur zu.

»Ich hätte wirklich gern wieder ein eigenes Geschäft. Passen Sie auf, ich mache Ihnen ein Angebot: Ich zahle fünfundsieb-zigtausend Dollar für Ihren Laden.«

»Nein, ich will ihn nicht verkaufen.«

»Hunderttausend.«

»Wirklich, Mister, ich habe nicht die Absicht .«

»Und Sie könnten die gesamte Einrichtung mitnehmen.«

Der Friseur starrte ihn an. »Ich kriege hundert Riesen und darf die ganze Einrichtung mitnehmen?«

»Richtig. Ich möchte alles neu einrichten.«

»Geben Sie mir etwas Bedenkzeit? Darüber muß ich erst mit meiner Frau reden.«

»Klar. Ich komme morgen wieder vorbei.«

Zwei Tage später war der Frisiersalon gekauft.

»Das war der erste Streich«, sagte Lara zufrieden.

Als nächstes kam die Bäckerei an die Reihe: ein kleiner Familienbetrieb, der einem Ehepaar gehörte. Gebacken wurde direkt hinter dem Verkaufsraum, so daß es im Laden stets appetitlich nach frischem Brot roch. Eine gutgekleidete Frau redete mit dem Besitzer.

»Mein Mann ist gestorben und hat mir eine Lebensversicherung hinterlassen. Wir haben in Florida eine Bäckerei gehabt. Ich bin auf der Suche nach einem Betrieb wie Ihrem. Ich würde ihn gern kaufen.«

»Wir leben nicht schlecht davon«, sagte der Bäcker. »Meine Frau und ich haben nie daran gedacht, unseren Betrieb zu verkaufen.«

»Nehmen wir mal an, Sie wollten verkaufen - wieviel würden Sie dann verlangen?«

Der Besitzer zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

»Glauben Sie, daß Ihr Betrieb sechzigtausend Dollar wert wäre?«

»Oh, mindestens fünfundsiebzig«, antwortete der Bäcker.

»Ich mache Ihnen ein Angebot«, sagte die Frau. »Ich gebe Ihnen hunderttausend dafür.«

Der Besitzer starrte sie an. »Ist das Ihr Ernst?«

»Mein voller Ernst«, bestätigte sie.

Am nächsten Morgen stellte Lara fest: »Und das war der zweite Streich.«

Die übrigen Kaufverhandlungen liefen ebenso glatt. In Laras Auftrag waren über ein Dutzend Männer und Frauen unterwegs, die sich als Schneider, Bäcker, Apotheker und Fleischer ausgaben. Innerhalb von sechs Monaten kaufte Lara die Geschäfte auf und stellte Leute an, die sie zur Tarnung vorläufig weiterführten. Ihr Architekt war längst dabei, das zukünftige Hochhaus zu planen.

Lara blätterte in den Kaufverträgen. »Wir scheinen's geschafft zu haben«, sagte sie zu Keller.

»Es gibt noch ein kleines Problem.«

»Warum? Jetzt noch den Coffee Shop - dann haben wir alle aufgekauft.«

»Das ist gerade das Problem. Der Besitzer hat einen Fünfjahresmietvertrag, den er aber nicht aufgeben will.«

»Bietet ihm mehr Geld .«

»Er will seinen Coffee Shop um keinen Preis der Welt aufgeben.«

Lara starrte Keller an. »Weiß er von unserer Planung?«

»Nein.«

»Gut, dann rede ich selbst mit ihm. Der geht auch, darauf kannst du dich verlassen! Und du stellst inzwischen fest, wer sein Vermieter ist.«

Am nächsten Morgen kam Lara unauffällig gekleidet in Ha-ley's Coffee Shop in der Kedzie Avenue. Das winzige Cafe hatte keine dreißig Sitzgelegenheiten: ein halbes Dutzend Barhocker vor der Theke und vier Fenstertische zwischen halbhohen Trennwänden. Hinter der Theke sah Lara einen Mann, den sie für den Besitzer hielt. Sie schätzte ihn auf Ende sechzig.

Lara nahm am Fenster Platz.

»Guten Morgen«, sagte der Mann freundlich. »Was darf ich Ihnen bringen?«

»Orangensaft und Kaffee, bitte.«

»Kommt sofort.«

Sie sah zu, wie er Orangen auspreßte.

»Meine Serviererin ist heute morgen nicht gekommen. Gutes Personal ist heute schwer zu kriegen.« Er goß den Kaffee ein und kam hinter der Theke hervor. Erst jetzt war zu sehen, daß seine beiden Beine amputiert waren und er in einem Rollstuhl saß. Lara beobachtete ihn schweigend, während er mit der Bestellung an ihren Tisch kam.

»Danke«, sagte Lara. Sie sah sich um. »Hübsch haben Sie's

hier.«

»Yeah. Mir gefällt's auch.«

»Seit wann sind Sie hier?«

»Seit zehn Jahren.«

»Haben Sie schon mal daran gedacht, sich zur Ruhe zu setzen?«

Er schüttelte den Kopf. »Das bin ich diese Woche schon mal gefragt worden. Nein, ich setze mich nicht zur Ruhe.«

»Vielleicht ist Ihnen nicht genug geboten worden«, meinte Lara freundlich.

»Das hat nichts mit Geld zu tun, Miss. Bevor ich hierher kam, habe ich nach meiner Verwundung zwei Jahre im Lazarett gelegen - ohne Freunde, ohne große Zukunftsaussichten. Und dann hat mich jemand dazu überredet, diesen Coffee Shop zu mieten.« Er lächelte. »Das hat mein ganzes Leben verändert. Alle Leute aus der Nachbarschaft kommen zu mir. Sie sind meine Freunde geworden - und dadurch hat mein Leben wieder einen Sinn bekommen.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, mit Geld hat das nichts zu tun. Möchten Sie noch etwas Kaffee?«

Lara saß in einer Besprechung mit Howard Keller und dem Architekten. »Wir brauchen seinen Mietvertrag nicht einmal abzulösen«, berichtete Keller. »Er wird automatisch hinfällig, wenn der Coffee Shop einen vertraglich festgelegten Monatsumsatz unterschreitet. In den letzten Monaten ist er darunter geblieben, deshalb können wir ihn einfach auf die Straße setzen.«

Lara wandte sich an den Architekten. »Ich möchte Sie etwas fragen.« Sie strich die auf dem Tisch vor ihnen liegenden Pläne glatt und deutete auf die Südwestecke der Häuserzeile. »Was wäre, wenn wir diesen Flügel kürzen, diese Fläche aussparen und den Coffee Shop an Ort und Stelle belassen würden? Könnten wir das Gebäude trotzdem bauen?«

Der Architekt runzelte die Stirn. »Hm, das wäre nicht einfach. Um das optische Gleichgewicht zu erhalten, müßten wir beide Flügel kürzen und dafür etwas mehr in die Höhe gehen. Besser würde es natürlich aussehen, wenn das nicht nötig wäre ...«

»Aber es wäre möglich?« drängte Lara.

»Ja.«

Keller warf ein: »Lara, ich hab' dir doch gesagt, daß wir ihn raussetzen können.«

Lara schüttelte den Kopf. »Den Rest des Blocks haben wir aufgekauft, nicht wahr?«

Howard Keller nickte. »Richtig! Du bist stolze Besitzerin eines Jeansladens, einer Änderungsschneiderei, eines Schreibwarengeschäfts, einer Apotheke, einer Bäckerei, eines .«

»Gut«, sagte Lara Cameron. »Die Mieter des neuen Hochhauses sollen einen Coffee Shop haben, in den sie gehen können. Haley bleibt, wo er ist.«

Am Todestag ihres Vaters sagte Lara zu Keller: »Howard, ich möchte, daß du mir einen Gefallen tust.«

»Jeden.«

»Ich möchte, daß du für mich nach Schottland reist.«

»Bauen wir jetzt auch dort?«

»Nein, wir kaufen dort ein Schloß.«

Keller zog wortlos die Augenbrauen hoch.

»Im Hochland liegt ein bekannter See, der Loch Morlich. Du findest ihn an der Straße nach Glenmore. Dort stehen überall Schlösser. Kauf mir eines davon.«

»Als eine Art Sommersitz?«

»Ich habe nicht vor, es zu bewohnen. Ich möchte meinen Vater im Schloßpark beisetzen lassen.«

Keller fragte langsam: »Ich soll dir ein Schloß in Schottland kaufen, damit du deinen Vater dort beerdigen kannst?«

»Richtig. Mir fehlt die Zeit, um selbst hinzufliegen. Du bist der einzige, der das für mich erledigen kann. Mein Vater liegt auf dem Friedhof in Glace Bay.«

Für Keller schien das der erste Einblick in Laras Gefühle und Empfindungen für ihre Familie zu sein.

»Du mußt deinen Vater sehr geliebt haben.«

»Tust du das für mich?«

»Gewiß.«

»Und nachdem er beigesetzt ist, sorgst du dafür, daß der Schloßverwalter die Grabpflege übernimmt.«

Drei Wochen später kam Keller aus Schottland zurück. »Alles erledigt, Lara«, berichtete er. »Du besitzt ein wundervolles Schloß. Dein Vater ist im Schloßpark beigesetzt. Das Schloß liegt auf einem Hügel mit herrlichem Seeblick. Es gefällt dir bestimmt! Wann fliegst du hin?«

Lara sah überrascht auf. »Ich? Gar nicht«, sagte sie.

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