ZWEITES BUCH

11. KAPITEL

Anfang 1984 beschloß Lara Cameron, daß es an der Zeit war, New York zu erobern. Keller war entsetzt, als sie ihm von ihrem Plan erzählte.

»Die Idee gefällt mir nicht«, sagte er nachdrücklich. »Du kennst New York nicht. Ich kenne es auch nicht. New York ist völlig anders!«

»Das haben auch alle gesagt, als ich aus Glace Bay nach Chicago gekommen bin«, stellte Lara fest. »Aber ob man in Glace Bay, Chicago, New York oder Tokio baut, bleibt sich letztlich gleich. Überall gelten dieselben Spielregeln.«

»Aber du bist hier so erfolgreich!« protestierte Keller. »Was willst du noch?«

»Das habe ich dir schon einmal gesagt. Mehr. Ich will meinen Namen an der New Yorker Skyline sehen. Ich baue dort ein Cameron Plaza und ein Cameron Center. Und eines Tages, Howard, baue ich den höchsten Wolkenkratzer der Welt. Das will ich. Der Firmensitz von Cameron Enterprises wird sofort nach New York City verlegt.«

In New York, das einen Bauboom erlebte, tummelten sich illustre Baulöwen: die Zeckendorfs, Harry Helmsley, Donald Trump und die Familien Uris und Rudin.

»Das ist unser zukünftiger Club«, sagte Lara zu Keller.

Die beiden quartierten sich im Regency ein und begannen, New York zu erkunden. Die Größe und Dynamik dieser Metropole begeisterte Lara. Manhattan bestand zum größten Teil aus Wolkenkratzerschluchten, durch die Tag und Nacht gewaltige Verkehrsströme flossen.

»Im Vergleich dazu sieht Chicago wie Glace Bay aus!« sagte Lara. Sie konnte es kaum noch erwarten, endlich loszulegen.»

Als erstes brauchen wir ein Spitzenteam. Wir müssen den besten Immobilienanwalt New Yorks finden. Dann ein erstklassiges Managerteam. Krieg raus, mit welchen Leuten Rudin arbeitet, und sieh zu, ob du sie wegengagieren kannst.«

»Wird gemacht.«

»Hier ist eine Liste von Gebäuden, die mir gefallen«, fuhr Lara fort, »Stell' bitte fest, wer ihre Architekten gewesen sind. Ich möchte sie kennenlernen.«

Keller ließ sich allmählich von Laras Begeisterung anstekken. »Ich verhandle mit Großbanken, damit sie uns Kreditlinien einräumen. Mit den Sicherheiten, die wir in Chicago zu bieten haben, ist das kein Problem. Und ich nehme Verbindungen zu Versicherungsgesellschaften, Hypothekenbanken und einigen Immobilienmaklern auf.«

»Einverstanden.«

»Aber findest du nicht auch, Lara, daß du wissen müßtest, was dein nächstes Projekt werden soll, bevor wir uns in dieses Abenteuer stürzen?«

Lara blickte auf und fragte unschuldig: »Habe ich dir das nicht erzählt? Wir kaufen das Manhattan Central Hospital.«

Einige Tage zuvor war Lara bei einem Friseur auf der Madison Avenue gewesen. Während die Friseuse mit ihrem Haar beschäftigt war, bekam sie zufällig ein Gespräch mit, das neben ihr geführt wurde.

»Sie werden uns fehlen, Mrs. Walker.«

»Sie mir auch, Darlene. Wie lange bin ich jetzt schon bei Ihnen?«

»Fast fünfzehn Jahre.«

»Wie schnell die Zeit vergeht! Ach, der Abschied von New York fällt mir wirklich schwer!«

»Wann hören Sie denn auf?«

»Wahrscheinlich schon nächste Woche. Die offizielle Mitteilung, daß zugemacht wird, ist erst heute morgen gekommen. Stellen Sie sich das mal vor! Das Manhattan Central Hospital wird wegen Geldmangels geschlossen. Ich bin dort fast zwanzig Jahre Oberschwester gewesen - und dann schicken sie mir diesen Wisch als Kündigung. Das hätten sie einem doch auch persönlich sagen können, nicht wahr? Das ist wieder typisch für unsere herzlose Zeit!«

Lara hörte gespannt zu.

»In der Zeitung hat aber noch nichts über die Schließung gestanden.«

»Nein, die Nachricht wird noch geheimgehalten. Erst soll das Personal informiert werden.«

Die Friseuse wollte anfangen, ihr Haar zu fönen, als Lara ruckartig aufstand.

»Ich bin noch nicht fertig, Miss Cameron.«

»Macht nichts«, sagte Lara. »Ich hab's eilig!«

Das Manhattan Central Hospital war ein häßlicher, ziemlich heruntergekommener Bau, der auf der Hast Side einen ganzen Straßenblock einnahm. Lara Cameron starrte das Gebäude an. Vor ihrem inneren Auge erhob sich dort ein glitzernder neuer Wolkenkratzer mit schicken Geschäften im Erdgeschoß, mehreren Büroetagen und luxuriösen Eigentumswohnungen in den oberen Stockwerken.

Lara betrat das Krankenhaus und fragte in der Verwaltung, welcher Firma es gehörte. Sie wurde an einen Roger Burnham in der Wall Street verwiesen.

»Was kann ich für Sie tun, Miss Cameron?«

»Wie ich höre, ist das Manhattan Central Hospital zu verkaufen.«

Burnham starrte sie überrascht an. »Wo haben Sie das gehört?«

»Stimmt es denn?«

»Schon möglich«, antwortete er ausweichend.

»Ich wäre unter Umständen daran interessiert, es zu kaufen«, sagte Lara. »Was verlangen Sie dafür?«

»Hören Sie, Lady ... ich kenne Sie doch überhaupt nicht! Sie können doch nicht einfach hier reinschneien und erwarten, daß ich mit Ihnen über ein Neunzigmillionengeschäft rede. Ich ...«

»Neunzig Millionen?« Lara fand den Preis etwas hoch, aber sie wollte das Grundstück unbedingt haben. »Ist das die Verhandlungsbasis?«

»Wir verhandeln noch keineswegs.«

Lara drückte dem verblüfften Roger Burnham einen Hundertdollarschein in die Hand.

»Was soll das?«

»Mit dieser Anzahlung sichere ich mir für achtundvierzig Stunden das Vorkaufsrecht. Achtundvierzig Stunden reichen mir aus. Sie wollten den geplanten Verkauf doch ohnehin noch nicht bekanntgeben. Was haben Sie also zu verlieren? Zahle ich den von Ihnen geforderten Preis, haben Sie, was Sie ursprünglich wollten.«

»Aber ich kenne Sie doch gar nicht!«

»Rufen Sie die Mercantile Bank in Chicago an. Lassen Sie sich mit Bob Vance verbinden. Er ist der Präsident.«

Burnham starrte sie sekundenlang an, schüttelte den Kopf und murmelte etwas, das wie »Verrückt!« klang.

Lara wartete geduldig, während seine Sekretärin versuchte, Bob Vance an den Apparat zu bekommen.

»Mr. Vance? Hier ist Roger Burnham in New York. Bei mir im Büro sitzt eine Miss ...« Er sah zu ihr hinüber.

»Lara Cameron.«

»... eine Miss Cameron. Sie interessiert sich für eines unserer Objekte und sagt, daß Sie sie kennen.«

Danach hörte er längere Zeit zu.

»Ja, ich verstehe . Hmm . Tatsächlich .? Nein, das habe ich nicht gewußt . Richtig . Ganz recht .« Zuletzt sagte er: »Besten Dank für die Auskunft, Mr. Vance.«

Er legte auf und sah zu Lara hinüber. »In Chicago scheinen Sie ziemlichen Eindruck gemacht zu haben.«

»Das habe ich auch in New York vor.«

Burnham tippte auf den Hundertdollarschein. »Was soll ich damit?«

»Kaufen Sie sich ein paar kubanische Zigarren. Räumen Sie mir das Vorkaufsrecht ein, wenn ich Ihren Preis zahle?«

Er betrachtete sie nachdenklich. »Das ist ein bißchen unorthodox, aber ... Okay, Sie sollen die achtundvierzig Stunden haben.«

»Diesmal muß alles sehr schnell gehen«, sagte Lara zu Keller. »Wir haben nur achtundvierzig Stunden Zeit, um unsere Finanzierung auf die Beine zu stellen.«

»Gibt es denn schon gesicherte Zahlen?«

»Vorerst bloß Schätzungen. Neunzig Millionen Dollar Grundstückskosten, und für Abbruch und Neubau setze ich pauschal weitere zweihundert Millionen an.«

Keller starrte sie an. »Das wären zweihundertneunzig Millionen Dollar!«

»Im Kopfrechnen warst du schon immer gut«, meinte sie lächelnd.

Er ging nicht auf ihren Scherz ein. »Lara, wo sollen wir soviel Geld auftreiben?«

»Wir leihen es uns«, antwortete sie. »Mein Besitz in Chicago und das neue Grundstück müßten als Sicherheiten ausreichen.«

»Damit riskierst du verdammt viel. Hundert Dinge könnten schiefgehen. Du setzt alles aufs Spiel, um .«

»Spielen macht die Sache erst aufregend«, unterbrach Lara ihn. »Spielen ... und gewinnen.«

Die Finanzierung eines Gebäudes war in New York noch einfacher als in Chicago. Das Steuerprogramm von Oberbürgermeister Koch garantierte Investoren, die überalterte Gebäude durch Neubauten ersetzten, nach zwei steuerfreien Jahren attraktiv hohe Abschreibungssätze.

Sobald die Geschäfts- und Hypothekenbanken Lara Came-rons Bonität überprüft hatten, waren sie eifrig bemüht, mit ihr ins Geschäft zu kommen.

Lange vor Ablauf der achtundvierzig Stunden kam Lara in Burnhams Büro und legte ihm einen Scheck über drei Millionen Dollar auf den Schreibtisch.

»Das ist meine Anzahlung«, sagte sie. »Ich zahle den von Ihnen geforderten Preis. Die hundert Dollar dürfen Sie übrigens auch behalten.«

Im folgenden halben Jahr arbeitete Keller mit den Banken die Finanzierung aus, während Lara gemeinsam mit den Architekten die Planung erstellte.

Alles klappte wie vorgesehen. Architekten, Bauunternehmen und Vertriebsorganisationen hielten ihre Termine ein. Nach dem Abbruch des alten Krankenhauses konnte im April mit dem Neubau begonnen werden.

Lara Cameron war ruhelos. Sie stand jeden Morgen um sechs Uhr auf der Baustelle und beobachtete, wie der Neubau in den Himmel wuchs. Sie war frustriert, weil das Gebäude in diesem Stadium den Bauarbeitern gehörte. Für sie gab es dort nichts zu tun. Die erzwungene Untätigkeit war sie nicht gewöhnt. Bisher hatte sie meist mehrere Projekte gleichzeitig betrieben.

»Warum sehen wir uns nicht nach etwas anderem um?« fragte sie Keller.

»Weil du bis über beide Ohren in dieser Sache steckst. Du darfst nicht mal tief Luft holen, sonst fällt alles wie ein Kartenhaus zusammen. Bist du dir eigentlich darüber im klaren, daß du deine letzten Reserven mobilisiert hast, um diesen Bau

hochzuziehen? Sollte irgendwas schiefgehen ...«

»Es geht aber nichts schief.« Lara beobachtete seinen Gesichtsausdruck. »Was macht dir Sorgen?«

»Deine Vereinbarung mit den Hypothekenbanken .«

»Was ist damit? Unsere Finanzierung steht, nicht wahr?«

»Die Fertigstellungsklausel gefällt mir nicht. Ist das Gebäude nicht bis 15. März fertiggestellt, geht es ins Eigenkapital der Banken über, und du riskierst, dein gesamtes Kapital zu verlieren.«

Lara dachte an ihr erstes Gebäude in Glace Bay. Dort hatten ihre Freunde sich zusammengetan, um es rechtzeitig fertigzustellen. Aber dieser Fall lag anders.

»Keine Angst, Howard«, sagte sie lächelnd, »es wird termingerecht fertig. Weißt du bestimmt, daß wir uns nicht schon nach einem neuen Projekt umsehen können?«

Lara sprach mit den Vertriebsleuten.

»Die Geschäftslokale im Erdgeschoß sind verkauft«, berichtete der Marketingdirektor stolz. »Und wir haben schon über die Hälfte der Büroflächen und der Eigentumswohnungen an den Mann gebracht. Wir rechnen damit, noch vor Fertigstellung des Gebäudes drei Viertel aller Büros und Wohnungen verkaufen zu können - und das restliche Viertel dann unmittelbar nach Fertigstellung.«

»Ich möchte, daß alles verkauft wird, bevor das Gebäude bezugsfertig ist«, sagte Lara. »Verstärken Sie unsere Anzeigenkampagne.«

»Wie Sie wünschen, Miss Cameron.«

Als die Vertriebsleute gegangen waren, kam Keller in ihr Büro. »Eines muß man dir lassen, Lara. Du hast recht gehabt. Auf der Baustelle klappt alles nach Plan.«

»Warte nur ab, das wird die reinste Geldmaschine!«

Am 15. Dezember, neunzig Tage vor dem vertraglichen Fertigstellungstermin, war das Stahlgerüst des Wolkenkratzers errichtet und zu neun Zehnteln mit Fassadenelementen verkleidet. Auch der Innenausbau mit Elektro-, Klima- und Sanitäranlagen hatte begonnen und ging planmäßig voran.

Lara stand vor dem Gebäude und beobachtete die hoch über ihr auf den Stahlträgern arbeitenden Männer. Ein Bauarbeiter bückte sich nach den Zigaretten in seinem Werkzeugkasten. Dabei rutschte ihm ein Schraubenschlüssel, den er nachlässig eingesteckt hatte, aus einer Tasche seines Overalls und fiel ins Leere. Laras Augen weiteten sich ungläubig, als sie das Werkzeug genau auf sich zufallen sah. Ihr Herz jagte, als sie sich mit einem Sprung in Sicherheit brachte. Der Bauarbeiter, der diese Szene beobachtet hatte, machte eine knappe Handbewegung, die wohl als Entschuldigung gedacht war.

Lara trat aufgebracht in den Personenkorb des Aufzugs, um in das Stockwerk hinaufzufahren, in dem der Mann arbeitete. Sie ignorierte den schwindelerregenden Blick in die Tiefe und ging übers Gerüst auf den Arbeiter zu.

»Haben Sie den Schraubenschlüssel fallen lassen?«

»Yeah, tut mir leid.«

Lara holte aus und schlug ihn ins Gesicht. »Sie sind entlassen! Verschwinden Sie von meiner Baustelle!«

»He«, sagte er, »das is' keine Absicht gewesen. Ich wollte bloß .«

»Sie sollen verschwinden!«

Der Mann starrte sie sekundenlang an. Dann ging er an ihr vorbei zum Aufzug und fuhr nach unten.

Lara holte tief Luft, um ihre Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Die Kollegen des Entlassenen beobachteten sie.

»Weiterarbeiten!« wies sie die Männer an.

Lara saß beim Mittagessen mit Sam Godsen, dem New Yorker Anwalt, der ihre Verträge ausarbeitete.

»Wie ich höre, klappt alles gut«, stellte Godsen fest.

Lara nickte lächelnd. »Sogar sehr gut. Wir werden termingerecht fertig.«

»Darf ich Ihnen was gestehen?«

»Ja, aber passen Sie auf, denn alles, was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden.«

Ihr Gegenüber lachte. »Ich habe eine Wette verloren. Ich habe gewettet, daß Sie's nicht schaffen würden.«

»Tatsächlich? Und warum nicht?«

»Auf der Ebene, auf der Sie sich bewegen, ist die Baubranche eine Domäne der Männer. Die einzigen Frauen, die mit Immobilien Erfolg haben, sind kleine alte Damen mit blaugefärbtem Haar, die ihr Geld in Immobilienfonds anlegen.«

»Sie haben also gegen mich gewettet«, stellte Lara fest.

Sam Godsen lächelte. »Yeah.«

Lara beugte sich nach vorn. »Sam ...«

»Ja?«

»In meinem Team wettet niemand gegen mich. Sie sind entlassen.«

Als Lara an diesem Nachmittag wie gewohnt zur Baustelle fuhr, spürte sie, daß irgend etwas nicht stimmte. Dann merkte sie plötzlich, was auffällig war: die Stille. Der vertraute Arbeitslärm fehlte. Und als sie die Baustelle erreichte, wollte sie ihren Augen nicht trauen. Überall sammelten Arbeiter ihr Werkzeug ein und gingen damit zu ihren Fahrzeugen. Auch der Polier war dabei, seine Sachen zusammenzupacken. Lara hastete zu ihm hinüber.

»Was geht hier vor«, fragte sie scharf. »Es ist erst drei Uhr!«

»Ich ziehe meine Leute ab.«

»Was soll das heißen?«

»Es hat 'ne Beschwerde gegeben, Miss Cameron.«

»Was für eine Beschwerde?«

»Haben Sie einen Arbeiter geohrfeigt?«

»Was?« Sie hatte den Vorfall schon vergessen. »Ja. Er hatte es verdient. Ich habe ihn entlassen.«

»Hat die Stadtverwaltung Ihnen eine Genehmigung erteilt, daß Sie rumgehen und Leute, die für Sie arbeiten, ohrfeigen dürfen?«

»Augenblick!« sagte Lara. »So ist's nicht gewesen. Er hat von ganz oben einen Schraubenschlüssel fallen lassen und mich fast damit getroffen. Und dann muß ich die Beherrschung verloren haben. Das tut mir leid, aber ich will ihn nicht wieder auf meiner Baustelle sehen.«

»Der kommt nicht wieder«, versprach ihr der Polier. »Keiner von uns kommt wieder.«

Lara starrte ihn an. »Soll das ein Witz sein?«

»Meine Gewerkschaft nimmt den Fall sehr ernst«, antwortete der Polier. »Sie hat uns angewiesen, die Arbeit einzustellen. Also stellen wir sie ein.«

»Aber Sie haben einen Vertrag!«

»Den haben Sie gebrochen«, sagte der Polier nüchtern. »Für Beschwerden ist die Gewerkschaft zuständig.«

Er wollte gehen.

»Augenblick! Ich habe doch gesagt, daß mir die Sache leid tut. Ich . ich bin bereit, mich bei dem Mann zu entschuldigen. Und seinen Job kann er auch wiederhaben.«

»Miss Cameron, Sie sehen die Dinge noch immer nicht richtig. Er will seinen Job nicht wiederhaben. Auf uns alle wartet längst andere Arbeit. In dieser Stadt wird viel gebaut. Und ich will Ihnen noch was verraten, Lady. Wir haben viel zuviel um die Ohren, um uns von Leuten wie Ihnen eine kleben zu lassen!«

Sie stand sprachlos da und sah dem Polier nach, der zu seinem Wagen ging. Ihr schlimmster Alptraum schien Wirklichkeit zu werden.

Lara fuhr sofort ins Büro, um Keller diese Hiobsbotschaft zu überbringen.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Howard, als sie hereingestürmt kam. »Ich habe bereits mit einem Mann aus der Gewerkschaftsspitze telefoniert.«

»Was hat er gesagt?« fragte Lara gespannt.

»Daß nächsten Monat eine Anhörung stattfinden soll.«

»Nächsten Monat!« rief Lara aus. »Aber wir müssen in weniger als neunzig Tagen fertig sein!«

»Das habe ich ihm auch gesagt.«

»Und was hat er geantwortet?«

»Daß das nicht sein Problem ist.«

Lara sank in einen Sessel. »O Gott, was tun wir jetzt?«

»Keine Ahnung«, gab Keller zu.

»Vielleicht können wir die Banken überreden, uns . « Sie verstummte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Nein, wohl eher nicht.« Aber dann hellte ihre Miene sich plötzlich auf. »Ich weiß, was wir machen! Wir stellen neue Bauarbeiter ein und .«

»Lara, in ganz New York gibt's keinen Gewerkschaftler, der dort arbeiten würde.«

»Ich hätte den Kerl umbringen sollen!«

»Genau«, bestätigte Keller trocken. »Damit wäre der Fall erledigt gewesen.«

Lara stand auf und ging zwischen Tür und Fenster hin und her. »Ich könnte Sam Godsen damit beauftragen, uns ...« Dann fiel ihr die Szene beim Mittagessen ein. »Nein, den habe ich heute entlassen.«

»Weshalb?«

»Ich kann nur Leute gebrauchen, die zu mir halten.«

Keller überlegte laut. »Vielleicht finden wir einen guten Anwalt, der auf Arbeitsrecht spezialisiert ist und einen gewissen Einfluß hat.«

»Richtig! Wir brauchen sofort einen tatkräftigen Fachmann.

Kennst du einen?«

»Nein, aber Sam Godsen hat mal von einem gesprochen. Von einem gewissen Martin. Paul Martin.«

»Wer ist er?«

»Das weiß ich selbst nicht genau - aber sein Name ist gefallen, als von Schwierigkeiten mit der Gewerkschaft die Rede war.«

»Weißt du, bei welcher Firma er ist?«

»Nein, aber er hat seine Kanzlei in Manhattan?«

Lara drückte auf die Ruftaste der Gegensprechanlage. »Ka-thy, in Manhattan gibt es einen Rechtsanwalt namens Paul Martin«, sagte sie, als ihre Assistentin sich meldete. »Besorgen Sie mir seine Adresse.«

»Willst du nicht seine Telefonnummer, um einen Termin vereinbaren zu können?« fragte Keller.

»Dafür ist die Sache zu eilig. Ich kann nicht herumsitzen und auf einen Termin warten. Ich muß noch heute mit ihm reden. Kann Martin uns helfen, ist alles in Ordnung. Kann er's nicht, müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.«

Aber er ist unsere letzte Hoffnung, überlegte Lara bei sich.

12. KAPITEL

Paul Martins Kanzlei befand sich im vierundzwanzigsten Stock eines Bürogebäudes in der Wall Street. In die Glasscheibe der Eingangstür war sein Name eingeschliffen.

Lara Cameron holte tief Luft und trat ein. Das Vorzimmer war kleiner, als sie erwartet hatte. Es enthielt einen ziemlich abgenützten Schreibtisch, hinter dem eine blondgefärbte Sekretärin saß.

»Guten Tag, was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte zu Mr. Martin«, sagte Lara.

»Haben Sie einen Termin bei ihm?«

»Ja«, behauptete Lara. Sie hatte keine Zeit für lange Erklärungen.

»Ihr Name, bitte?«

»Cameron. Lara Cameron.«

Die Blondine musterte sie skeptisch. »Sekunde, ich frage mal nach, ob Mr. Martin zu sprechen ist.«

Die Sekretärin stand auf und verschwand im Chefbüro.

Er muß mich empfangen! dachte Lara.

In diesem Augenblick kam die Sekretärin zurück. »Mr. Martin läßt bitten.«

»Danke«, sagte Lara und unterdrückte einen erleichterten Seufzer.

Sie betrat das kleine, sehr schlicht möblierte Büro, dessen ganze Einrichtung aus Bücher- und Aktenschränken, einem Schreibtisch, einer Sitzgruppe mit einem Couchtisch und zwei Besuchersesseln bestand. Wirkt nicht gerade wie ein Zentrum der Macht, überlegte Lara.

Der Mann hinter dem Schreibtisch schien Anfang sechzig zu sein. Er hatte ein von tiefen Falten durchschnittenes Gesicht, eine Adlernase und eine schlohweiße Mähne, die nicht recht zu der animalischen Vitalität paßte, die er ausstrahlte. Zu seinem altmodisch geschnittenen grauen Zweireiher mit Nadelstreifen trug er ein weißes Hemd mit schmalem Kragen. Er sprach mit heiserer, ziemlich leiser Stimme, die jeden Zuhörer sofort in ihren Bann schlug.

»Meine Sekretärin hat gesagt, daß Sie einen Termin bei mir haben.«

»Entschuldigung«, murmelte Lara. »Ich mußte Sie unbedingt sprechen. Es handelt sich um einen Notfall.«

»Nehmen Sie doch Platz, Miss ...«

»Cameron. Lara Cameron.« Sie nahm in einem der Besuchersessel Platz.

»Was kann ich für Sie tun?«

Lara atmete tief durch. »Ich habe ein Problem.« Wenn Sie mir nicht helfen können, bleibt mein Wolkenkratzer eine Bauruine, dachte sie. »Im Zusammenhang mit einem Gebäude.«

»Ich höre.«

»Ich bin als Bauträgerin tätig, Mr. Martin. Ich bin gerade dabei, auf der East Side ein Wohn- und Bürogebäude zu errichten - und jetzt habe ich Schwierigkeiten mit der Gewerkschaft.«

Der Anwalt hörte schweigend zu.

Lara sprach hastig weiter. »Heute morgen habe ich die Beherrschung verloren und einen Bauarbeiter geohrfeigt. Dafür werde ich jetzt von der Gewerkschaft bestreikt.«

Er musterte sie verständnislos. »Miss Cameron . was hat das alles mit mir zu tun?«

»Ich habe gehört, Sie könnten mir vielleicht helfen.«

»Da haben Sie leider etwas Falsches gehört. Ich bin Fachanwalt für Wirtschaftsrecht. Ich verstehe nichts von Immobilien und habe keinen Umgang mit Gewerkschaften.«

Laras Herz sank. »Oh, ich dachte . können Sie mir wirklich nicht helfen?«

Martin legte beide Handflächen auf die Schreibtischplatte, als wolle er aufstehen. »Nein, aber ich will Ihnen zwei Ratschläge geben. Suchen Sie sich einen Anwalt, der auf Arbeitsrecht spezialisiert ist. Er soll die Gewerkschaft verklagen und .«

»Soviel Zeit habe ich nicht! Das Gebäude muß zu einem bestimmten Termin fertiggestellt sein. Ich . Und wie lautet Ihr zweiter Ratschlag?«

»Lassen Sie die Finger von der Baubranche.« Martins Blick streifte ihren Busen. »Sie haben nicht die richtigen Voraussetzungen dafür.«

»Wie bitte?«

»Das ist kein Ort für Frauen.«

»Und welches ist Ihrer Meinung nach der Ort für uns Frauen?« fragte Lara aufgebracht. »Barfuß und schwanger in der Küche zu stehen?«

»In etwa. Yeah.«

Lara stand auf. Sie hatte Mühe, sich zu beherrschen. »Sie scheinen der letzte noch lebende Dinosaurier zu sein. Vielleicht haben Sie's noch nicht mitbekommen, aber Frauen sind jetzt frei!«

Paul Martin schüttelte den Kopf. »Nein, bloß lauter.«

»Leben Sie wohl, Mr. Martin. Bitte entschuldigen Sie, daß ich Ihre kostbare Zeit in Anspruch genommen habe.«

Lara machte kehrt, stolzierte hinaus und knallte beide Türen hinter sich zu. Draußen im Flur blieb sie stehen und atmete tief durch. Das war ein Fehler, dachte sie. Sie war am Ende ihres Weges angelangt. Sie hatte alles, was sie in jahrelanger Arbeit aufgebaut hatte, aufs Spiel gesetzt - und in einem einzigen Augenblick verloren. Es gab keinen Ausweg mehr; sie hatte niemanden mehr, an den sie sich hilfesuchend hätte wenden können.

Das Spiel war aus.

Nach einer schlaflosen Nacht irrte Lara schon bei Tagesanbruch im kalten Nieselregen durch die Straßenschluchten. Sie nahm weder den eisigen Wind noch ihre Umgebung wahr, sondern war nur mit der Katastrophe beschäftigt, die über sie hereingebrochen war. Howard Kellers Worte klangen ihr in den Ohren: Das Ganze gleicht einer auf der Spitze stehenden Pyramide ... Geht irgend etwas schief, kann deine Pyramide einstürzen und dich unter sich begraben .

Nun war es soweit. Die Banken in Chicago würden ihre als Sicherheit übereigneten Vermögenswerte einbehalten, und sie würde jeden Cent verlieren, den sie in ihr neues Gebäude investiert hatte. Das bedeutete, daß sie noch einmal ganz von vorn anfangen mußte. Der arme Howard! dachte sie. Er hat an meine Zukunft geglaubt, und ich habe ihn enttäuscht.

Der Regen hatte aufgehört, und der Himmel begann, sich aufzuhellen. Durch die aufreißenden Wolken drang blasser Sonnenschein. Lara sah sich um und nahm erst jetzt wahr, wo sie sich befand; keine zwei Straßen von der Baustelle ihres Wolkenkratzers entfernt. Einmal sehe ich ihn mir noch an, dachte sie.

Lara hatte noch gut einen Block weit zu gehen, als plötzlich der gewohnte Baulärm an ihr Ohr drang! Sie blieb einen Augenblick wie angenagelt stehen. Dann rannte sie zur Baustelle. Als sie ankam, blieb sie schweratmend stehen und starrte ungläubig in die Höhe.

Die Bauarbeiter waren vollzählig erschienen und schufteten wie im Akkord.

Der Polier kam freundlich lächelnd auf sie zu. »Guten Morgen, Miss Cameron.«

Lara fand endlich ihre Stimme wieder. »Was ... wie kommt das? Ich dachte, Sie ... wollten Ihre Leute abziehen?«

»Das ist ein Mißverständnis gewesen, Miss Cameron«, antwortete er verlegen. »Bruno hätte Sie umbringen können, als

ihm der Schraubenschlüssel aus der Tasche gefallen ist.«

Lara schluckte trocken. »Aber er .«

»Denken Sie nicht mehr an ihn. Den hab' ich entlassen. So was passiert nicht wieder. Und machen Sie sich keine Sorgen mehr. Wir liegen wieder genau im Plan.«

Lara fühlte sich wie im Traum. Sie stand da, beobachtete die schuftenden Männer und dachte: Du hast alles zurückbekommen. Alles! Und das verdankst du ... Paul Martin.

Lara Cameron rief ihn an, sobald sie in ihrem Büro war. Seine Sekretärin sagte: »Tut mir leid, Mr. Martin ist nicht zu sprechen.«

»Bestellen Sie ihm bitte, daß er zurückrufen möchte?« Lara gab ihre Nummer an.

Als sie bis zum Nachmittag nichts von ihm gehört hatte, rief sie erneut an.

»Tut mir leid, Mr. Martin ist nicht zu sprechen.«

Auch danach rief er nicht zurück.

Kurz nach siebzehn Uhr erschien Lara in Paul Martins Vorzimmer und forderte die blonde Sekretärin auf: »Bitte sagen Sie Mr. Martin, daß Lara Cameron ihn sprechen möchte.«

Die Sekretärin machte ein zweifelndes Gesicht. »Ich weiß nicht, ob ... Augenblick!« Sie verschwand nach nebenan, kam gleich wieder heraus und hielt Lara die Tür auf. »Mr. Martin läßt bitten.«

Paul Martin sah auf, als Lara hereinkam.

»Ja, Miss Cameron?« Sein Tonfall war kühl, weder freundlich noch unfreundlich. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich bin gekommen, um Ihnen zu danken.«

»Wofür zu danken?«

»Daß Sie die Sache mit der Gewerkschaft ins Lot gebracht haben.«

Er runzelte die Stirn. »Bedauere, aber ich weiß nicht, wovon Sie reden.« »Die Arbeiter sind heute morgen zurückgekommen, und alles ist wieder in Ordnung. Die Bauarbeiten gehen planmäßig weiter.«

»Meinen Glückwunsch!«

»Wenn Sie mir Ihre Liquidation schicken wollen ...«

»Miss Cameron, Sie müssen irgend etwas mißverstanden haben. Sollte Ihr Problem gelöst sein, freue ich mich für Sie. Aber ich habe nichts damit zu tun gehabt.«

Lara betrachtete ihn forschend. »Schön, Mr. Martin. Entschuldigen Sie, daß ich Sie belästigt habe.«

»Kein Problem.« Er sah ihr nach, als sie hinausging.

Im nächsten Augenblick kam seine Sekretärin herein. »Das hat Miss Cameron für Sie dagelassen, Mr. Martin.«

Sie legte ein kleines Päckchen in Geschenkpapier auf den Schreibtisch.

Er machte es neugierig auf. Es enthielt eine wundervoll gearbeitete Statuette eines Ritters aus massivem Silber. Statt einer Entschuldigung.

Wie hat sie mich genannt? Einen Dinosaurier. Er bildete sich ein, wieder die Stimme seines Großvaters zu hören: Das waren gefährliche Zeiten, Paul. Die jungen Männer wollten die Mafia unter ihre Herrschaft bringen und die verknöcherten Alten, die Schnauzbärtigen, die Dinosaurier entmachten. Es war ein blutiger Kampf, aber zuletzt haben sie's geschafft.

Alles das hatte sich vor langer, langer Zeit in der alten Heimat abgespielt. Damals in Sizilien ...

13. KAPITEL

Ghibellina, Sizilien -1879

Die Martinis waren stranieri, Fremde in dem kleinen siziliani-schen Dorf Ghibellina. Dort war das Land karg, ein dürrer, wenig fruchtbarer Landstrich unter erbarmungslos herabbrennender Sonne. In diesem Land, in dem die großen Güter den gabelotti, reichen Grundbesitzern, gehörten, hatten die Martinis einen kleinen Bauernhof gekauft, den sie selbst zu bewirtschaften versuchten.

Eines Tages suchte der soprintendente Giuseppe Martini auf.

»Euer kleiner Hof wirft nicht viel ab«, sagte er. »Der Boden ist viel zu schlecht. Von dem bißchen Wein- und Olivenanbau werdet ihr nie anständig leben können.«

»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen«, wehrte Martini ab. »Ich bin mein Leben lang Bauer gewesen.«

»Wir machen uns alle Sorgen um dich«, behauptete der soprintendente. »Don Vito besitzt gutes Land, das er Ihnen verpachten würde.«

Giuseppe Martini schnaubte. »Die Geschichte mit Don Vito und seinem Land kenne ich. Verpflichte ich mich, seinen Boden zu bestellen, nimmt er sich drei Viertel der Ernte und berechnet mir fürs Saatgut hundert Prozent Zinsen. Dann stehe ich eines Tages mit ebenso leeren Händen da wie die anderen Dummköpfe, die sich darauf eingelassen haben. Nein, richten Sie ihm aus, daß ich bestens danke!«

»Du machst einen großen Fehler, mein Lieber. Dies ist ein gefährliches Land. Hier kann's schlimme Unfälle geben.«

»Soll das eine Drohung sein?«

»Natürlich nicht, mein Lieber. Ich habe nur darauf aufmerksam machen wollen .«

»Verschwinden Sie von meinem Land!« rief Giuseppe Martini aufgebracht.

Der Gutsverwalter schüttelte betrübt den Kopf. »Du bist sehr halsstarrig, mein Lieber.«

Als er fortgeritten war, fragte Martinis zehnjähriger Sohn Salvatore: »Wer ist das gewesen, Papa?«

»Der Verwalter eines der großen Gutsbesitzer.«

»Ich mag ihn nicht«, sagte der Junge.

»Ich auch nicht, Salvatore.«

In der darauffolgenden Nacht wurden Giuseppe Martinis Felder in Brand gesetzt, und die wenigen Stücke Vieh, die er besaß, verschwanden spurlos.

Nun machte Martini den zweiten Fehler. Er ging zu den ca-rabinieri in der nächsten Stadt.

»Ich verlange polizeilichen Schutz«, sagte er.

Der Polizeichef betrachtete ihn ausdruckslos. »Dazu sind wir da«, antwortete er. »Was führt Sie zu uns, signore?«

»Letzte Nacht haben Don Vitos Leute meine Felder angezündet und mein Vieh gestohlen.«

»Das ist ein schwerwiegender Vorwurf. Können Sie ihn beweisen?«

»Sein soprintendente ist auf meinem Hof gewesen und hat mich bedroht.«

»Hat er Ihnen gedroht, Ihre Felder anzuzünden und Ihr Vieh zu stehlen?«

»Natürlich nicht«, sagte Giuseppe Martini.

»Was hat er zu Ihnen gesagt?«

»Er wollte, daß ich meinen Hof aufgebe und Land von Don Vito pachte.«

»Und Sie haben abgelehnt?«

»Selbstverständlich.«

»Signore, Don Vito ist ein sehr wichtiger Mann. Soll ich ihn verhaften, nur weil er angeboten hat, sein fruchtbares Land mit Ihnen zu teilen?«

»Ich verlange, daß Sie mich schützen«, antwortete Giuseppe Martini. »Ich werde mich nicht von meinem Land vertreiben lassen!«

»Signore, dafür habe ich volles Verständnis. Ich tue, was ich kann.«

»Dafür danke ich Ihnen im voraus.«

»Nichts zu danken, Signore.«

Als der junge Salvatore am folgenden Nachmittag aus dem Dorf kam, sah er ein halbes Dutzend Männer zum Hof seines Vaters reiten. Sie stiegen ab und gingen ins Haus. Die Besucher waren ihm unheimlich, und er versteckte sich.

Wenige Minuten später sah der Junge erschrocken, wie sein Vater über den Hof aufs Feld geschleppt wurde.

Einer der Männer zog seinen Revolver. »Wir geben dir 'ne Chance zu fliehen. Los, lauf schon!«

»Nein! Dies ist mein Land! Ich .«

Salvatore beobachtete entsetzt, wie der Mann seinem Vater vor die Füße schoß.

»Lauf!«

Giuseppe Martini rannte los.

Die campieri schwangen sich in ihre Sättel und umkreisten den Flüchtenden, wobei sie laute Schreie ausstießen.

Salvatore hielt sich vor Angst zitternd verborgen und beobachtete das grausige Schauspiel.

Die Reiter verfolgten den übers Feld laufenden Mann, der ihnen zu entkommen versuchte. Immer wenn er fast die Straße erreicht hatte, galoppierte einer hinter ihm her und ritt ihn nieder. Schon nach kurzer Zeit war der Gejagte erschöpft und blutete aus mehreren Wunden. Er wurde merklich langsamer.

Dann hatten die campieri genug. Einer von ihnen warf dem Mann eine Seilschlinge um den Hals und schleppte ihn hinter seinem Pferd her zum Ziehbrunnen. Dort schwangen die Männer sich aus den Sätteln und umringten ihn drohend.

»Was wollt ihr von mir?« keuchte Martini. »Was habe ich getan?«

»Du bist zu den carabinieri gegangen. Das hättest du nicht tun sollen.«

Sie zogen ihm die Hose herunter, und einer der Männer ließ sein Messer aufschnappen, während die anderen ihr Opfer festhielten.

»Laß dir das als Warnung dienen!«

»Nein!« kreischte der Mann erschrocken. »Bitte nicht! Es tut mir leid, daß ich ...«

»Das kannst du deiner Frau erzählen«, unterbrach der cam-piero ihn grinsend.

Er griff nach unten, bekam das Glied des Mannes zu fassen und schnitt es ab.

Martinis Schreie erfüllten die Luft.

Der Anführer der campieri zog ihm die blutgetränkte Hose hoch und füllte die Hosentaschen mit schweren Steinen, die er vom Erdboden auflas.

»Hinauf mit dir!« Sie hoben Martini auf den Brunnenrand. »Gute Reise!«

Und sie stießen ihn in den Brunnen.

»Von diesem Wasser trinkt so schnell niemand mehr«, sagte einer der Männer.

Ein anderer lachte. »Hier im Dorf merkt das keiner!«

Sie warteten noch einige Zeit, bis die schwächer werdenden Geräusche aus dem Brunnen verstummt waren, bestiegen dann ihre Pferde und ritten zum Hof zurück.

Salvatore Martini hatte diese schreckliche Szene vor Entsetzen sprachlos von seinem Versteck aus beobachtet. Sobald die

Männer davongeritten waren, rannte der Zehnjährige zum Brunnen.

Er blickte hinein und rief halblaut: »Papa .«

Aber der Brunnen war tief, und er hörte nichts.

Nachdem die campieri Giuseppe Martini umgebracht hatten, machten sie sich auf die Suche nach seiner Frau Maria. Sie war in der Küche, als die Männer hereinstürmten.

»Wo ist mein Mann?« fragte sie scharf.

Der Anführer der Eindringlinge grinste. »Der trinkt gerade einen Schluck Wasser.«

Zwei Männer bedrängten sie. »Du bist zu hübsch, um mit einem so häßlichen Kerl verheiratet zu sein«, sagte einer von ihnen.

»Verlaßt sofort mein Haus!« forderte Maria sie auf.

»Geht man so mit Gästen um?« fragte der andere. Er griff in den Ausschnitt ihres Kleides und riß es mit einem kräftigen Ruck bis zur Taille auf. »Witwen müssen Trauer tragen - also brauchst du das hier nicht mehr.«

»Ihr Bestien!«

Auf dem Herd kochte Wasser. Maria griff nach dem Topf und schüttete dem Mann das Wasser ins Gesicht.

Er schrie vor Schmerzen auf. »Fica!« Er zog seinen Revolver und drückte ab.

Sie war tot, bevor sie auf dem Fußboden aufschlug.

»Idiot!« brüllte der Anführer der campieri. »Erst vögelt man sie, dann erschießt man sie. Kommt, wir machen Don Vito Meldung.«

Eine halbe Stunde später waren sie wieder auf Don Vitos Landsitz.

»Wir haben Martini und seine Frau erledigt«, meldete der Anführer.

»Was ist mit dem Sohn?«

Der Mann starrte Don Vito überrascht an. »Von einem Sohn

haben Sie nichts gesagt.«

»Cretino! Ihr solltet die Familie aus dem Weg räumen.«

»Aber er ist noch ein Kind, Don Vito«, mischte sich einer der Männer ein.

»Kinder wachsen zu Männern heran, Männer wollen Rache nehmen. Legt ihn um!«

»Wie Sie befehlen, Don Vito.«

Zwei der Männer ritten zum Hof der Martinis zurück.

Salvatore dachte und handelte wie in Trance. Er hatte miterleben müssen, wie seine Eltern ermordet wurden. Nun war er auf der Welt allein und wußte nicht, wohin er gehen, an wen er sich wenden sollte. Doch dann fiel ihm ein Mensch ein, der ihm helfen würde: Nunzio Martini, der in Palermo lebende Bruder seines Vaters.

Der Junge wußte, daß er sich beeilen mußte. Don Vitos Männer würden zurückkommen, um ihn zu töten. Daß sie es nicht gleich getan hatten, grenzte an ein Wunder. Salvatore packte etwas Essen in seinen Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und verließ hastig den elterlichen Hof.

Auf der unbefestigten Landstraße, die vom Dorf wegführte, schritt Salvatore rasch aus. Wann immer er hinter sich Hufschläge oder ein Knarren hörte, verließ er die Straße und suchte Schutz unter den Bäumen.

Nach etwa einer Stunde beobachtete der Junge zwei campieri, die auf der Suche nach ihm die Straße entlangritten. Salvato-re blieb unbeweglich in seinem Versteck und wagte sich erst heraus, als die beiden längst verschwunden waren. Dann marschierte er weiter. Er schlief nachts in Obstgärten und ernährte sich überwiegend von Obst. So war er drei Tage lang unterwegs.

Als er glaubte, vor Don Vito sicher zu sein, wagte er sich in ein kleines Dorf. Eine Stunde später saß er hinten auf einem Fuhrwerk, das nach Palermo unterwegs war.

Es war schon nach Mitternacht, als Salvatore das Haus seines Onkels erreichte. Nunzio Martini besaß ein großes, vornehmes Haus mit Balkon, Terrassen und schattigem Innenhof. Salvato-re hämmerte mit beiden Fäusten an die massive Holztür. Er mußte lange warten, bis eine tiefe Stimme brummte: »Wer, zum Teufel, ist dort draußen?«

»Ich bin's, Onkel Nunzio - Salvatore!«

Im nächsten Augenblick öffnete Nunzio Martini die Haustür und erschien im Nachthemd auf der Schwelle. Salvatores Onkel war etwa fünfzig Jahre alt, ein rundlicher Mann mit kräftiger Adlernase und silbergrauer Mähne. Er starrte seinen Neffen erstaunt an. »Salvatore! Wo kommst du her mitten in der Nacht? Wo sind deine Eltern?«

»Die sind tot«, schluchzte der Junge.

»Tot? Komm, komm rasch ins Haus!«

Salvatore stolperte ins Haus.

»Wie schrecklich!« rief sein Onkel aus. »Sind sie verunglückt?«

Salvatore schüttelte den Kopf. »Don Vito hat sie ermorden lassen.«

»Ermorden? Aber warum?«

»Mein Vater hat sich geweigert, Land von ihm zu pachten.«

»Ah .«

»Warum hat er sie umbringen lassen? Sie haben ihm nie was getan!«

»Das ist nichts Persönliches«, behauptete Nunzio Martini.

Salvatore starrte ihn an »Nichts Persönliches?« wiederholte er ungläubig. »Das verstehe ich nicht!«

»Don Vito ist weithin bekannt. Er genießt einen gewissen Ruf und ist ein Uomo rispettato - ein geachteter, einflußreicher Mann. Hätte er zugelassen, daß dein Vater sich gegen ihn auflehnt, wären andere diesem Beispiel gefolgt, was den Verlust seiner Macht bedeutet hätte. In diesem Fall ist nichts zu machen.«

Der Junge starrte ihn entgeistert an. »Nichts?«

»Nicht gleich, Salvatore. Vielleicht später. Schlaf dich erst mal aus, dann sehen wir weiter.«

Am nächsten Morgen frühstückten sie gemeinsam.

»Wie würde es dir gefallen, in diesem schönen Haus zu wohnen und für mich zu arbeiten?« Nunzio Martini war Witwer.

»Das wäre nicht schlecht, glaube ich«, antwortete Salvatore.

»Ich könnte einen aufgeweckten Jungen wie dich brauchen. Und du siehst kräftig aus.«

»Ich bin kräftig«, versicherte sein Neffe ihm.

»Gut.«

»In welcher Branche bist du tätig, Onkel?« fragte Salvatore.

Nunzio Martini lächelte. »Ich beschütze Leute.«

In Sizilien und weiteren armen Landstrichen Italiens war die Mafia zum Schutz der Bevölkerung vor der rücksichtslos autokratischen Regierung entstanden. Die Mafia korrigierte Ungerechtigkeiten, rächte Unrecht, und sie erpreßte Schutzgelder von Bauern, Kaufleuten und Gewerbetreibenden.

Nunzio Martini war der capo der Mafia in Palermo. Er trieb die Schutzgelder ein und ließ Zahlungsverweigerer bestrafen. Die Strafe konnte aus einem Arm- oder Beinbruch bis hin zu einem qualvoll langsamen Tod bestehen.

Salvatore trat in die Dienste seines Onkels.

In den folgenden fünfzehn Jahren war Palermo die Schule des Jungen - und sein Onkel Nunzio sein Lehrer. Salvatore Martini begann als Laufbursche, brachte es später zum Geldeintreiber und wurde zuletzt die vertraute rechte Hand seines Onkels.

Mit fünfundzwanzig Jahren heiratete er Carmela, ein üppig gebautes sizilianisches Mädchen. Nun zog Salvatore mit Frau und Kind in ein eigenes prächtiges Haus. Als sein Onkel starb, übernahm er dessen Position als capo und wurde noch erfolgreicher und wohlhabender. Aber er hatte noch eine offene

Rechnung zu begleichen.

Eines Tages forderte er seine Frau auf: »Pack' unsere Sachen zusammen. Wir wandern nach Amerika aus.«

Carmela starrte ihn überrascht an. »Was willst du in Amerika?«

Er war es nicht gewöhnt, sich ausfragen zu lassen. »Tu gefälligst, was ich sage! Ich muß verreisen. In zwei, drei Tagen bin ich wieder da.«

»Salvatore ...«

»Du sollst packen.«

Eine schwarze Kutsche hielt vor dem Polizeirevier der Kleinstadt, in deren Nähe Ghibellina lag. Der capitano, der inzwischen zehn Kilo zugelegt hatte, saß an seinem Schreibtisch, als sechs Männer hereinkamen. Sie waren gut angezogen und sahen wohlhabend aus.

»Guten Morgen, signori. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir sind gekommen, um etwas für Sie zu tun«, antwortete Salvatore. »Erinnern Sie sich an mich? Ich bin der Sohn Giuseppe Martinis.«

Der Uniformierte starrte ihn an. »Sie!« rief er aus. »Was tun Sie hier? Das ist gefährlich für Sie!«

»Ich bin wegen Ihrer Zähne gekommen.«

»Wegen meiner Zähne?«

»Ja.« Salvatore zog seinen Revolver. Zwei der Männer rissen den Polizeibeamten hoch und hielten ihn an den Armen fest. »Sie müssen mal zum Zahnarzt. Aber ich nehme Ihnen die Mühe gern ab.«

Salvatore Martini steckte ihm die Revolvermündung zwischen die Zähne und drückte ab.

Dann nickte er seinen Leuten zu. »Los, wir müssen weiter!«

Eine halbe Stunde später erreichten sie Don Vitos Haus. Die beiden Wachen sahen der Kutsche mißtrauisch entgegen. Als sie hielt, stieg zunächst nur Salvatore aus.

»Guten Morgen«, sagte er. »Don Vito erwartet uns.«

Der Angesprochene runzelte die Stirn. »Wir wissen nichts von irgendeinem .«

Im nächsten Augenblick waren die beiden Wachposten von Kugeln durchsiebt.

Im Haus hörte Don Vito die Schüsse. Er sah durch ein Fenster, was geschehen war, lief an den Schreibtisch und holte eine Pistole aus der Schublade. »Francesco!« rief er laut. »Antonio! Schnell!«

Draußen fielen weitere Schüsse.

Eine Stimme sagte: »Don Vito .«

Er fuhr herum.

An der Tür stand Salvatore Martini mit seinem Revolver in der Hand. »Weg mit der Waffe!«

»Ich .«

»Weg damit!«

Don Vito ließ die Pistole fallen. »Nimm dir, was du haben willst, und verschwinde!«

»Ich will nichts«, antwortete Salvatore, indem er langsam näherkam. »Tatsächlich bin ich hier, weil ich Ihnen etwas schuldig bin.«

Don Vito hob abwehrend die Hände. »Geschenkt! Ich verzichte gern darauf.«

»Aber ich nicht. Wissen Sie, wer ich bin?«

»Nein.«

»Salvatore Martini.«

Der Alte runzelte die Stirn, während er sich zu erinnern versuchte. Dann zuckte er mit den Schultern. »Der Name sagt mir nichts.«

»Vor über fünfzehn Jahren haben Ihre Leute meine Eltern ermordet.«

»Eine Schande!« rief Don Vito aus. »Ich sorge dafür, daß sie bestraft werden! Ich .«

Salvatore holte aus und zerschmetterte ihm mit dem Revol-vergriff das Nasenbein. Ein Blutstrom schoß aus der Nase des Alten. »Aufhören!« keuchte Don Vito. »Ich ...«

Der Eindringling zog sein Messer. »Runter mit der Hose!«

»Wozu? Du kannst mich nicht .«

Salvatore hob den Revolver. »Los, runter mit der Hose!«

»Nein!« Don Vitos Stimme überschlug sich beinahe. »Überleg' dir gut, was du tust! Ich habe Brüder und Söhne. Wenn du mir etwas antust, spüren sie dich auf und erschlagen dich wie einen tollwütigen Hund.«

»Erst müssen sie mich finden«, stellte Salvatore Martini fest. »Runter mit der Hose!«

»Nein.«

Salvatore drückte ab und traf die linke Kniescheibe. Don Vito schrie gellend auf.

»Ich helfe Ihnen«, sagte Salvatore. Er streifte dem Alten erst die Hose, dann die Unterhose herunter. »Viel ist nicht mehr da, was? Aber das muß reichen.« Er packte Don Vitos Glied und schnitt es ab.

Der Alte wurde ohnmächtig.

»Schade, daß es hier keinen Brunnen gibt, in den ich dich werfen könnte«, erklärte Salvatore dem Bewußtlosen. Er jagte ihm eine Kugel durch den Kopf, machte kehrt und verließ das Haus. Seine Männer warteten in der Kutsche auf ihn.

»Los!«

»Er hat eine große Familie, Salvatore. Die machen bestimmt Jagd auf dich.«

»Von mir aus.«

Zwei Tage später befand Salvatore sich mit Frau und Sohn an Bord eines Schiffes nach New York.

Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts waren die Vereinigten Staaten das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. New York hatte einen hohen italienischen Bevölkerungsanteil. Viele von Salvatores Freunden waren schon früher dorthin ausge-wandert und lebten von dem, was sie am besten verstanden: Schutzgelderpressung. Die Mafia begann, ihre Fühler auszustrecken. Salvatore machte aus Martini den amerikanischen Namen Martin und blieb auch in seiner neuen Heimat reich und angesehen.

Gian Carlo Martin, der träge und arbeitsscheu war, erwies sich als große Enttäuschung für seinen Vater. Er schwängerte ein italienisches Mädchen und mußte überstürzt heiraten. Sechs Monate später kam sein Sohn Paul auf die Welt.

Mit seinem Enkel hatte Salvatore Großes vor. Da Rechtsanwälte in Amerika sehr wichtige Leute waren, sollte auch Paul einer werden. Der junge Paul Martin war intelligent und ehrgeizig und wurde schon mit zweiundzwanzig Jahren in Harvard zum Jurastudium zugelassen. Nachdem er es abgeschlossen hatte, sorgte sein Großvater dafür, daß er in eine sehr angesehene Anwaltsfirma eintreten konnte, in der er es bald zum Partner brachte.

Fünf Jahre später eröffnete Paul Martin sein eigenes Anwaltsbüro. Salvatore hatte inzwischen einen Großteil seines Vermögens in legale Geschäfte investiert, aber er behielt seine Kontakte zur Mafia. Paul fungierte als sein Geschäftsführer. In Salvatores Todesjahr 1967 heiratete Paul Nina, ein italienisches Mädchen, und im Jahr darauf schenkte seine Frau ihm Zwillinge.

In den siebziger Jahren war Paul Martin ein vielbeschäftigter Mann. Seine wichtigsten Mandanten waren die Gewerkschaften - und das verschaffte ihm Macht und Einfluß. Selbst Industriebosse hatten Respekt vor ihm.

Eines Tages saß Paul mit seinem Mandanten Bill Rohan, einem angesehenen Bankier, der nichts von Martins Familiengeschichte wußte, beim Mittagessen zusammen.

»Sie sollten in meinem Golfclub eintreten«, sagte Bill Rohan. »Sie spielen doch Golf, nicht wahr?«

»Gelegentlich«, antwortete Paul. »Wenn ich Zeit habe.«

»Ausgezeichnet. Ich gehöre dem Aufnahmeausschuß von Sunnyvale an. Soll ich Sie als Mitglied vorschlagen?«

»Das wäre nett von Ihnen.«

Eine Woche später trat der Ausschuß zusammen, um über die Aufnahme neuer Mitglieder zu beraten.

»Ich kann Paul Martin empfehlen«, sagte Bill Rohan. »Er würde gut zu uns passen.«

John Hammond, ein weiteres Ausschußmitglied, fragte ihn: »Er ist Italiener, stimmt's? In unserem Club können wir keine Spaghettis brauchen, Bill.«

Der Bankier starrte ihn an. »Willst du ihn etwa ablehnen?«

»Allerdings will ich das!«

»Okay, dann wird dieser Antrag nicht behandelt. Der nächste Bewerber heißt ...«

Die Sitzung ging weiter.

Zwei Wochen später aß Paul Martin erneut mit dem Bankier zu Mittag. »Ich habe inzwischen fleißig auf dem Golfplatz trainiert«, sagte Paul lachend.

Bill Rohan lächelte verlegen. »Die Sache hat leider einen kleinen Haken, Paul.«

»Welchen Haken?«

»Ich habe Sie zur Aufnahme vorgeschlagen. Aber ein anderes Ausschußmitglied hat Sie abgelehnt.«

»Oh? Warum denn?«

»Sie dürfen das nicht persönlich nehmen. Er hat ganz allgemein etwas gegen Italiener.«

Paul winkte ab. »Das stört mich nicht weiter, Bill. Viele Leute haben etwas gegen Italiener. Dieser Mr. .«

»Hammond. John Hammond.«

»Der große Fleischverarbeiter?«

»Ja. Er läßt sich sicher umstimmen. Ich rede noch mal mit ihm.«

Paul schüttelte den Kopf. »Sparen Sie sich die Mühe, Bill. Unter uns gesagt: So scharf bin ich gar nicht auf Golf.«

Etwa ein halbes Jahr später, mitten im Juli, stoppten vier Kühllaster der Hammond Meat Packing Company, die mit Fleisch aus Minnesota zu Supermärkten in Buffalo und New York unterwegs waren, auf Autobahnparkplätzen. Die Fahrer stellten die Kühlaggregate ab, öffneten die Hecktüren und gingen davon.

Als John Hammond das erfuhr, bekam er einen Wutanfall. Er ließ sofort seinen Geschäftsführer kommen.

»Verdammt noch mal, was geht hier vor?« fragte er scharf. »Fleisch für 'ne Dreiviertelmillion Dollar ist in der Sonne verdorben! Wie hat das passieren können?«

»Die Gewerkschaft hat zum Streik aufgerufen«, antwortete der Geschäftsführer.

»Ohne uns ein Wort zu sagen? Wofür streikt sie denn? Für höhere Löhne?«

Der Betriebsleiter zuckte ratlos mit den Schultern. »Keine Ahnung. Mir hat niemand was gesagt. Die Leute sind einfach gegangen.«

»Schicken Sie jemanden von der Gewerkschaft zu mir«, verlangte Hammond. »Ich rede selbst mit ihm.«

Nachmittags wurde ein Gewerkschaftsvertreter in John Hammonds Büro geführt.

»Warum hat mir niemand gesagt, daß gestreikt werden sollte?« fragte Hammond ihn.

»Davon habe ich nichts gewußt, Mr. Hammond«, entschuldigte sich der Gewerkschaftsvertreter. »Die Männer sind einfach wütend geworden und haben die Arbeit verweigert. Das ist auch für mich überraschend gekommen.«

»Sie wissen, daß man mit mir immer vernünftig reden kann. Was wollen die Leute? Mehr Lohn?«

»Nein, Sir. Es geht um die Seife.«

Hammond starrte ihn an. »Haben Sie Seife gesagt?«

»Richtig. Die Seife in den Waschräumen paßt ihnen nicht. Sie ist zu scharf.«

Hammond wollte seinen Ohren nicht trauen. »Die Seife ist ihnen zu scharf? Und das kostet mich 'ne Dreiviertelmillion Dollar?«

»Ich kann nichts dafür«, beharrte der Gewerkschaftsvertreter. »Das liegt an den Leuten.«

»Jesus!« ächzte Hammond. »Das darf doch nicht wahr sein! Was für Seife wollen sie denn - Babyseife?« Er schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Sollte es mal wieder ein Problem geben, kommen Sie sofort zu mir, verstanden?« »Ja, Mr. Hammond.«

»Sorgen Sie dafür, daß die Leute weiterarbeiten. Bis spätestens heute abend kriegen sie die beste Seife, die man für Geld kaufen kann. Ist das klar?« »Ich werd's ihnen sagen, Mr. Hammond.« John Hammond konnte sich noch lange nicht beruhigen. Kein Wunder, daß dieses Land zum Teufel geht, dachte er. Seife!

Zwei Wochen später, kurz nach Mittag an einem heißen Tag im August, hielten fünf Kühllaster der Hammond Meat Pakking Company, die mit Fleisch nach Syracuse und Boston unterwegs waren, auf Autobahnparkplätzen. Die Fahrer stellten die Kühlaggregate ab, öffneten die Hecktüren und gingen davon.

John Hammond erhielt diese neue Hiobsbotschaft am frühen Abend.

»Was soll das, verdammt noch mal?« brüllte er. »Haben Sie die Seife denn nicht auswechseln lassen?«

»Natürlich«, antwortete sein Geschäftsführer. »Noch am selben Tag.« »Um welchen Schwachsinn geht es diesmal?« »Keine Ahnung.« Der Geschäftsführer zuckte hilflos mit den

Schultern. »Beschwerden hat's keine gegeben. Niemand hat auch nur ein Wort zu mir gesagt.«

»Der gottverdammte Kerl von der Gewerkschaft soll zu mir kommen!«

Keine Viertelstunde später sprach Hammond mit dem Gewerkschaftsvertreter.

»Ihre Männer sind daran schuld, daß mir heute nachmittag Fleisch für 'ne Million Dollar verdorben ist!« schrie Hammond ihn an. »Sind die Kerle übergeschnappt?«

»Möchten Sie, daß ich dem Vorsitzenden unserer Gewerkschaft sage, daß Sie das gefragt haben, Mr. Hammond?«

»Nein, nein«, wehrte Hammond rasch ab. »Hören Sie, wir haben bisher nie Schwierigkeiten miteinander gehabt. Wenn Ihre Leute mehr Geld wollen, können wir uns einfach zusammensetzen und vernünftig darüber reden. Wieviel fordern sie denn?«

»Sie wollen keine Lohnerhöhung.«

»Was soll das heißen?«

»Hier geht es nicht um Geld, Mr. Hammond.«

»Oh? Worum sonst?«

»Die Beleuchtung.«

»Die Beleuchtung?« Hammond glaubte, nicht richtig verstanden zu haben.

»Ja. Die Männer beschweren sich darüber, daß das Licht in den Waschräumen zu düster ist.«

Nachdenklich lehnte sich Hammond in seinen Sessel zurück. »Was wird hier gespielt?« fragte er ruhig.

»Die Männer beschweren sich darüber, daß .«

»Den Blödsinn können Sie sich sparen! Ich will endlich wissen, was hier gespielt wird!«

»Wenn ich's wüßte, würde ich's Ihnen sagen, Mr. Hammmond«, antwortete der Gewerkschaftsvertreter.

»Versucht irgend jemand, mich in die Pleite zu treiben? Steckt das dahinter?«

Der andere schwieg.

»Okay«, sagte John Hammond, »nennen Sie mir einen Namen. An wen kann ich mich wenden?«

»Es gibt einen Anwalt, mit dem Sie reden sollten. Die Gewerkschaft arbeitet eng mit ihm zusammen. Er heißt Paul Martin.«

»Paul Martin ...?« Hammond fiel plötzlich ein, wo er diesen Namen zuletzt gehört hatte. »Dieser verdammte italienische Erpresser! Raus mit Ihnen!« brüllte er. »Raus!«

John Hammond blieb vor Wut kochend zurück. Ich bin nicht erpreßbar, dachte er. Auch nicht von diesem Kerl!

Eine Woche später wurden erneut sechs Kühllaster der Hammmond Meat Packing Company auf Nebenstraßen stehengelassen.

John Hammond verabredete sich mit Bill Rohan zum Mittagessen. »Ich habe über deinen Freund Paul Martin nachgedacht«, sagte Hammond dabei. »Vielleicht ist's ein bißchen voreilig von mir gewesen, seinen Aufnahmeantrag abzulehnen.«

»Freut mich, daß du das einsiehst, John.«

»Ich weiß, was wir machen, Bill. Du schlägst ihn nächste Woche noch mal vor, und ich stimme für ihn.«

In der folgenden Woche wurde Paul Martin einstimmig in den Golfclub aufgenommen.

John Hammond rief ihn persönlich an. »Meinen Glückwunsch, Mr. Martin. Sie sind soeben in Sunnyvale aufgenommen worden. Wir freuen uns, Sie an Bord zu haben.«

»Danke«, sagte Paul. »Und vielen Dank für Ihren Anruf.«

Als nächstes telefonierte John Hammond mit dem Staatsanwalt. Sie vereinbarten einen Gesprächstermin für Anfang der Woche.

Am Sonntag trafen sich John Hammond und Bill Rohan auf dem Golfplatz.

»Du kennst Paul Martin noch nicht persönlich, nicht wahr?« erkundigte Rohan sich.

Hammond schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich glaube nicht, daß er viel Zeit fürs Golfen haben wird. Die Gerichte dürften deinen Freund in Atem halten.«

»Was soll das heißen, John?«

»Nächste Woche erhält der Staatsanwalt von mir Informationen über Martin, die ihn vor Gericht bringen werden.«

Bill Rohan war entsetzt. »Hast du dir das gut überlegt?«

»Allerdings! Martin ist eine Kakerlake, Bill. Und ich werde ihn zerquetschen!«

Am Montagmorgen wurde John Hammond auf dem Weg zur Staatsanwaltschaft auf dem Fußgängerübergang überfahren. Er war sofort tot. Unfallzeugen meldeten sich keine. Der geflüchtete Fahrer wurde nie ermittelt.

Danach fuhr Paul Martin jeden Sonntag mit seiner Frau und den Zwillingen zum Lunch in den Golfclub Sunnyvale. Das dortige Büfett war immer köstlich.

Paul Martin nahm sein Eheversprechen sehr ernst. Bei spiel sweise wäre es ihm nie eingefallen, seine Frau zu kränken, indem er sie in ein Restaurant führte, in das er sonst mit seinen Geliebten ging. Seine Ehe bildete einen Teil seines Lebens; seine Affären bildeten einen anderen. Alle seine Freunde hatten ständig Affären - das gehörte einfach zu ihrem Lebensstil.

Was Paul Martin störte, waren alte Männer, die mit jungen Frauen ausgingen. Das war unwürdig, und Martin legte größten Wert auf Würde. Deshalb beschloß er, ab sechzig keine Geliebte mehr zu haben. Und seitdem er vor zwei Jahren sechzig geworden war, hatte er keine mehr. Seine Frau Nina war ihm eine gute Lebensgefährtin. Das mußte genügen.

Zu diesem Mann war Lara Cameron gekommen, um Hilfe zu erbitten. Martin hatte sie dem Namen nach gekannt - aber ihre Jugend und Schönheit hatten ihn überrascht. Eine ehrgeizige, höchst selbstbewußte Frau, die trotzdem sehr weiblich wirkte. Er hatte sich sofort zu ihr hingezogen gefühlt. Nein, hatte er gedacht, sie ist eine junge Frau. Du bist ein alter Mann. Viel zu alt für sie.

Nachdem Lara bei ihrem ersten Besuch aus seinem Büro gestürmt war, hatte Paul Martin lange dagesessen und über sie nachgedacht. Und dann hatte er nach dem Telefonhörer gegriffen und eine Nummer gewählt.

14. KAPITEL

Der Neubau näherte sich termingerecht seiner Fertigstellung. Lara Cameron, die morgens und nachmittags auf ihrer Baustelle war, fühlte sich von den Arbeitern mit neuem Respekt behandelt, der sich darin zeigte, wie die Männer sie ansahen, mit ihr sprachen und für sie arbeiteten. Sie wußte, daß Paul Martin diesen Umschwung bewirkt hatte, und mußte neuerdings beunruhigend häufig an den häßlich attraktiven Mann mit der seltsam ausdrucksvollen Stimme denken.

Lara rief ihn erneut an.

»Könnten wir vielleicht einmal miteinander zu Mittag essen, Mr. Martin?«

»Gibt's denn wieder Probleme?«

»Nein. Ich . ich fände es nur nett, einander besser kennenzulernen.«

»Tut mir leid, Miss Cameron, aber ich esse nie zu Mittag.«

»Wie wäre es dann mit einem Abendessen?«

»Ich bin ein verheirateter Mann, Miss Cameron. Abends esse ich mit meiner Frau und meinen Kindern.«

»Ja, ich verstehe. Wenn ...« Am anderen Ende wurde aufgelegt. Was hat er bloß? fragte Lara sich enttäuscht. Ich versuche doch nicht, ihn ins Bett zu kriegen. Ich will mich nur irgendwie bei ihm bedanken. Sie bemühte sich, nicht mehr an ihn zu denken.

Paul Martin war beunruhigt, nachdem ihm bewußt geworden war, wie sehr er sich gefreut hatte, Lara Camerons Stimme zu hören. Er wies seine Sekretärin an: »Sollte Miss Cameron noch einmal anrufen, sagen Sie, daß ich nicht da bin.« Er konnte keine Versuchung brauchen, und Lara war eine große Versuchung.

Howard Keller war von den Baufortschritten begeistert.

»Ich gebe zu, daß ich mehrere schlaflose Nächte verbracht habe«, sagte er. »Ich hatte das Gefühl, als seien wir erledigt. Aber du hast ein Wunder bewirkt.«

Das ist nicht mein Wunder gewesen, dachte Lara. Paul Martin hat das bewirkt. Vielleicht war er gekränkt, weil er kein Honorar für seine Bemühungen erhalten hatte.

Lara stellte impulsiv einen Scheck über fünfzigtausend Dollar aus und schickte ihn Paul Martin.

Am nächsten Tag kam der Scheck ohne Begleitschreiben zurück.

Sie rief ihn erneut an. Seine Sekretärin sagte: »Tut mir leid, Mr. Martin ist nicht da.«

Ein weiterer Affront. Als sei sie Luft für ihn. Aber wenn er nichts mit mir zu tun haben will, fragte Lara sich, warum hat er sich dann soviel Mühe gegeben, mir zu helfen? In dieser Nacht träumte sie von ihm.

Howard Keller kam in Laras Büro.

»Ich habe zwei Karten für das neue Musical von Andrew Lloyd Webber. Aber ich muß geschäftlich nach Chicago. Hättest du Verwendung für die Karten?«

»Nein, ich ... Augenblick!« Sie überlegte kurz. »Doch, ich kann sie wahrscheinlich brauchen. Vielen Dank, Howard.«

Nachmittags steckte Lara eine der Karten in einen Umschlag und adressierte ihn an Paul Martins Büro.

Als Martin am nächsten Morgen die Karte erhielt, betrachtete er sie verständnislos. Wer schickt dir eine einzelne Theaterkarte? dachte er. Ah, die kleine Cameron! Damit muß endlich Schluß sein.

»Habe ich am Freitagabend schon einen Termin?« fragte er seine Sekretärin. »Da sind Sie zum Abendessen bei Ihrem Schwager eingela-

den, Mr. Martin.« »Sagen Sie ab.«

Während des ersten Akts blieb der Platz neben Lara frei. Also kommt er nicht, sagte sie sich. Gut, dann zum Teufel mit ihm! Ich habe getan, was ich konnte.

Als nach dem ersten Akt der Vorhang fiel, überlegte Lara, ob sie bleiben oder gehen sollte. Im nächsten Augenblick drängte sich eine vertraute Gestalt durch die Sitzreihen.

»Gehen wir!« sagte Paul Martin in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Sie gingen in ein kleines Bistro auf der Hast Side. Er saß ihr am Tisch gegenüber und beobachtete sie aufmerksam, sogar etwas mißtrauisch. Ein Ober kam an ihren Tisch, um die Getränkebestellung aufzunehmen. »Ich möchte einen Scotch mit Soda«, sagte Lara. »Mir bringen Sie bitte ein Mineralwasser.« Lara sah überrascht zu ihm hinüber. »Ich trinke keinen Alkohol.«

Nachdem sie das Essen bestellt hatten, fragte Paul Martin: »Miss Cameron, was wollen Sie von mir?«

»Ich bin Leuten nicht gern etwas schuldig«, antwortete Lara. »Ihnen schulde ich etwas, und Sie lassen mich nicht bezahlen. Das stört mich.«

»Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt, daß Sie mir nichts schuldig sind.« »Aber ich .«

»Wie ich höre, ist Ihr Gebäude inzwischen fast fertiggestellt.« »Ja.« Dank Ihrer Hilfe, wollte sie hinzufügen, aber sie schluckte es hinunter. »Sie verstehen etwas von dem Geschäft, nicht wahr?« Lara nickte. »Nichts bedeutet mir mehr. Ich finde es aufregend, eine Idee zu haben und dann zu verfolgen, wie sie aus

Beton und Stahl zu einem Gebäude wird, in dem Menschen leben und arbeiten. Damit entsteht jedesmal fast eine Art Denkmal, finden Sie nicht auch?«

Sie sprach lebhaft und mit ausdrucksvoller Mimik.

»Wahrscheinlich haben Sie recht. Und so führt ein Denkmal zum anderen?«

»Aber sicher!« sagte Lara energisch. »Ich will in der New Yorker Baubranche die Größte werden.«

Ihre sinnliche Ausstrahlung übte einen fast hypnotischen Einfluß auf ihn aus.

Paul Martin lächelte. »Das traue ich Ihnen sogar zu.«

»Warum sind Sie heute abend doch noch ins Theater gekommen?« fragte Lara.

Er war gekommen, um sie aufzufordern, ihn nicht weiter zu belästigen, doch als sie ihm jetzt gegenübersaß, fehlte ihm der Mut, es ihr ins Gesicht zu sagen. »Ich hatte gehört, daß das Musical gut sein soll.«

Lara Cameron lächelte. »Wir könnten noch mal hingehen und es uns wirklich ansehen, Paul.«

Er schüttelte den Kopf. »Miss Cameron, ich bin nicht nur verheiratet, sondern sogar sehr verheiratet. Zufällig liebe ich nämlich meine Frau.«

»Das finde ich bewundernswert«, sagte Lara. »Mein Gebäude ist am fünfzehnten März bezugsfertig. Das feiern wir mit einer großen Party. Kommen Sie auch?«

Er zögerte sekundenlang, während er versuchte, seine Ablehnung möglichst wenig kränkend zu formulieren. Zuletzt sagte er: »Ja, ich komme.«

Die Party zur Einweihung des neuen Gebäudes war ein mäßiger Erfolg. Lara Cameron war noch nicht bekannt genug, um allzu viele Reporter oder die Spitzen der Stadtverwaltung anzulocken. Aber ein Assistent des Oberbürgermeisters war da, und die Post hatte einen Reporter geschickt.

»Das Gebäude ist zu über neunzig Prozent vermietet«, berichtete Keller Lara. »Und wir bekommen täglich weitere Anfragen.«

»Gut«, sagte Lara geistesabwesend. Sie dachte an Paul Martin und fragte sich, ob er noch kommen würde. Aus irgendeinem Grund war ihr das wichtig. Das Geheimnisvolle an ihm reizte sie. Er bestritt, ihr geholfen zu haben, und trotzdem . Sie machte Jagd auf einen Mann, der seinem Alter nach ihr Vater hätte sein können. Lara bemühte sich, diesen Gedanken wieder zu verdrängen.

Lara mußte sich um ihre Gäste kümmern. Bei Hors d'reuvres und Drinks schienen sich doch alle gut zu amüsieren. Als die Party richtig in Gang gekommen war, erschien Paul Martin -und bewirkte sofort einen Stimmungsumschwung. Die Bauarbeiter begrüßten ihn wie ein gekröntes Haupt. Sie hatten offenbar großen Respekt vor ihm.

Ich bin Fachanwalt für Wirtschaftsrecht ... Ich habe keinen Umgang mit Gewerkschaften.

Nachdem Martin einige Bekannte begrüßt hatte, gesellte er sich zu Lara.

»Ich freue mich, daß Sie kommen konnten«, sagte Lara.

Paul Martin sah sich in der Eingangshalle des Wolkenkratzers um. »Meinen Glückwunsch! Sie haben erstklassige Arbeit geleistet.«

»Danke.« Sie sprach etwas leiser. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Paul.«

Er starrte die schöne junge Frau bewundernd an und genoß das Herzklopfen, das sie bei ihm auslöste.

»Die Party ist schon fast vorbei«, behauptete Lara. »Ich hatte gehofft, Sie würden mich zum Abendessen einladen.«

»Sie wissen doch, daß ich mit meiner Frau und meinen Kindern zu Abend esse.« Er sah ihr in die Augen. »Aber ich spendiere Ihnen einen Drink.«

»Und ich nehme dankend an«, sagte Lara lächelnd.

Sie saßen in einer kleinen Bar auf der Third Avenue. Auf der Fahrt dorthin hatten sie sich zwar unterhalten, aber später wußte keiner von ihnen, worüber sie geredet hatten. Die Worte dienten nur dazu, die zwischen ihnen herrschende erotische Spannung zu tarnen.

»Erzählen Sie mir von sich«, sagte Paul Martin. »Wer sind Sie? Wo kommen Sie her? Wie sind Sie in diese Branche geraten?«

Lara dachte an Sean MacAllister und seinen häßlichen Körper auf ihrem. Das hat so gutgetan, das müssen wir gleich noch mal machen!

»Ich komme aus Glace Bay, einer Kleinstadt in NeuSchottland«, erzählte sie. »Mein Vater hat dort ein Fremdenheim geführt. Nach seinem Tod habe ich es weitergeführt. Einer der Gäste hat mir geholfen, ein Grundstück zu kaufen, auf dem ich einen Supermarkt errichtet habe. Damit hat alles angefangen.«

Paul hörte aufmerksam zu.

»Dann bin ich nach Chicago gegangen und habe dort weitere Gebäude umgebaut oder neu errichtet. Ich habe Erfolg gehabt und bin nach New York gekommen.« Sie lächelte. »Das ist eigentlich schon die ganze Story.« Außer den Leiden eines Kindes, das von seinem Vater gehaßt wird, einer jämmerlichen Existenz in bitterer Armut, dem Verkauf meines Körpers an Sean MacAllister, dachte sie bitter.

»Ganz so leicht ist es bestimmt nicht gewesen«, sagte Paul Martin, als habe er ihre Gedanken gelesen.

»Ich kann nicht klagen.«

»Was ist Ihr nächstes Projekt?«

Lara zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich selbst noch nicht. Ich habe verschiedene Projekte geprüft, aber wirklich begeistert hat mich keines.«

Martin konnte den Blick nicht von ihr wenden.

»Woran denken Sie, Paul?« fragte Lara.

Er holte tief Luft. »Wollen Sie die Wahrheit hören? Wäre ich nicht verheiratet, würde ich Ihnen jetzt sagen, daß Sie die aufregendste Frau sind, die ich je kennengelernt habe. Aber ich bin verheiratet, also können wir nur Freunde sein. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Sehr klar.«

Martin sah auf seine Uhr. »Tut mir leid, ich muß gehen.« Er gab dem Ober ein Zeichen. »Die Rechnung, bitte.« Er stand auf.

»Treffen wir uns nächste Woche mal zum Lunch?« fragte Lara.

»Nein. Vielleicht sehen wir uns bei der Einweihung Ihres nächsten Wolkenkratzers wieder.«

Und dann war er verschwunden.

In dieser Nacht träumte Lara, daß sie sich liebten. Paul Martin lag auf ihr, streichelte ihren Körper und flüsterte ihr Liebesworte ins Ohr.

»Ich muß dich haben, weißt du - dich und keine andere ... Verzeih mir, mein süßer Liebling, daß ich dir nie gesagt habe, wie sehr ich dich liebe, liebe, liebe .«

Und dann war er in ihr, und sie schien dahinzuschmelzen. Lara stöhnte und wachte davon auf. Danach saß sie zitternd im Bett.

Zwei Tage später kam ein Anruf von Paul Martin. »Ich glaube, ich habe ein Grundstück, das Sie interessieren könnte«, sagte er geschäftsmäßig knapp. »Es liegt auf der West Side - in der neunundsechzigsten Straße. Vorerst ist es noch nicht auf dem Markt. Es gehört einem meiner Mandanten, der es rasch verkaufen möchte.«

Gemeinsam mit Howard Keller besichtigte Lara es am selben Vormittag. Ein erstklassiges Baugrundstück.

»Wie hast du davon erfahren?« wollte Keller wissen.

»Von Paul Martin.«

»Oh, ich verstehe.« Das klang deutlich mißbilligend. »Was soll das heißen?«

»Lara . ich habe mich nach Martin erkundigt. Er gehört zur Mafia. Laß die Finger von ihm!«

»Er ist kein Mafioso«, stellte sie aufgebracht fest. »Er ist ein Freund. Was hat das außerdem mit diesem Grundstück zu tun? Gefällt es dir nicht?« »Ich finde es großartig.« »Dann kaufen wir's doch.« Zehn Tage später war das Geschäft perfekt. Lara schickte Paul Martin einen großen Blumenstrauß. Auf einem beigelegten Kärtchen stand: Bitte nicht zurückschicken, Paul. Sie sind sehr empfindlich.

Nachmittags rief er an.

»Danke für die Blumen. Ich bin's nicht gewöhnt, daß schöne Frauen mir Blumen schicken.« Seine Stimme klang noch barscher als sonst.

»Wissen Sie, was Ihr Problem ist?« fragte Lara. »Sie sind niemals genug verwöhnt worden.« »Haben Sie denn vor, mich zu verwöhnen?« »Und wie!« Paul Martin lachte. »Das ist mein Ernst.« »Ja, ich weiß.«

»Wollen wir beim Lunch weiter darüber reden?« schlug Lara vor.

Paul Martin hatte es nicht geschafft, Lara aus seinen Gedanken zu verdrängen. Er wußte, daß es ganz leicht gewesen wäre, sich in sie zu verlieben. Und obwohl er sich darüber im klaren war, daß es besser gewesen wäre, sie nicht wiederzusehen, konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Laras Anziehungskraft war

stärker als seine Willenskraft.

Sie trafen sich zum Lunch im Club »21«.

»Wer etwas geheimzuhalten versucht«, stellte Paul Martin fest, »sollte es immer öffentlich tun. Dann kommt niemand auf die Idee, man täte etwas Verbotenes.«

»Versuchen wir denn, etwas geheimzuhalten?« erkundigte Lara sich halblaut.

Er traf seine Entscheidung. Sie ist klug und schön - aber das sind tausend andere Frauen auch, überlegte er. Es kann nicht schwierig sein, sie anschließend zu vergessen. Einmal gehst du mit ihr ins Bett, und damit ist der Fall erledigt.

Ein Irrtum, wie sich zeigen sollte.

In Laras Apartment war Paul unerklärlich nervös.

»Ich komme mir wie ein Schuljunge vor«, sagte er. »Ich bin außer Übung.«

»Liebe ist wie Radfahren«, murmelte Lara. »Das verlernt man nie. Komm, laß dich ausziehen.«

Sie zog ihm die Jacke aus, löste den Krawattenknoten und machte sich daran, sein Hemd aufzuknöpfen.

»Du weißt, daß daraus nichts Ernstes werden kann, Lara.«

»Ja, ich weiß.«

»Ich bin zweiundsechzig. Ich könnte dein Vater sein!«

Sie machte eine kurze Pause, weil sie sich an ihren Traum erinnerte. »Ja, ich weiß.« Sie zog ihn weiter aus. »Du hast einen schönen Körper.«

»Oh ... danke.« Das hatte ihm noch keine Frau gesagt.

Laras Hände glitten über seine Oberschenkel. »Du bist sehr stark, nicht wahr?«

Er richtete sich unwillkürlich etwas auf. »Im College habe ich Basketball gespielt und .«

Ihre Lippen lagen auf seinen, und dann waren sie im Bett, und er erlebte etwas, das er noch nie in seinem Leben an sich erfahren hatte. Er hatte das Gefühl, sein Körper stehe in Flam-men. Sie liebten sich, und er glaubte, auf einem Fluß dahinzu-treiben, der ihn schneller und schneller mitriß - in samtschwarzes Dunkel, das zu tausend Sternen explodierte. Und das Wunder war, daß sich das noch einmal und noch einmal wiederholte, bis er atemlos und erschöpft neben ihr lag.

»Unglaublich!« keuchte er.

Sein eheliches Liebesleben war stets ziemlich konventionell gewesen. Mit Lara wurde daraus ein unerhört sinnliches Erlebnis. Paul hatte schon mit vielen Frauen geschlafen, aber Lara war anders als alle anderen. Sie schenkte ihm etwas, das ihm noch keine Frau gegeben hatte: Bei ihr fühlte er sich jung.

Während Paul sich anzog, fragte Lara: »Sehen wir uns wieder?«

»Ja.« Gott steh' mir bei, dachte er. »Ja.«

Die achtziger Jahre waren eine Zeit des Wechsels. Ronald Reagan wurde zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, und die Wall Street erlebte den umsatzstärksten Tag ihrer Geschichte. Der Schah von Persien starb im Exil, und der ägyptische Präsident Anwar As Sadat wurde ermordet. Die amerikanische Staatsverschuldung überschritt eine Billion Dollar, und die US-Geiseln im Iran kamen frei. Sandra Day O'Connor wurde als erste Frau Richterin des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten.

Lara Cameron war zur rechten Zeit am rechten Ort. Die Immobilienbranche erlebte einen Boom. Geld war reichlich vorhanden, und die Banken waren bereit, selbst hochspekulative und mit sehr wenig Eigenkapital in Angriff genommene Projekte zu finanzieren.

Die amerikanischen Sparbanken erwiesen sich als ergiebige Kapitalquelle. Als Junk Bonds bekannte Schuldenverschreibungen mit hohem Ertrag und hohem Risiko, die das junge Finanzgenie Mike Milken populär gemacht hatte, waren Manna für die Immobilienbranche. Baudarlehen konnte jeder bekommen, der nur danach fragte.

»Auf meinem Grundstück in der neunundsechzigsten Straße baue ich statt eines Bürogebäudes ein Hotel«, entschied Lara.

»Weshalb?« fragte Howard Keller. »Für ein Bürogebäude wäre das die ideale Lage. Ein Hotel braucht Tag und Nacht eine Menge Personal, und die Gäste wechseln ständig. Ein Bürogebäude wird gleich für fünf oder zehn Jahre vermietet.«

»Ich weiß, aber mit einem Hotel ist einfach mehr anzufangen, Howard. Man kann wichtige Leute in Suiten unterbringen und ins eigene Restaurant einladen. Diese Idee gefällt mir -also wird es ein Hotel. Ich möchte, daß du Gesprächstermine mit den New Yorker Toparchitekten vereinbarst: Skidmore, Owings und Merrill, Peter Eisenman und Philip Johnson.«

Die Gespräche fanden in den folgenden zwei Wochen statt. Manche der Architekten traten etwas gönnerhaft auf. Sie hatten noch nie für einen weiblichen Auftraggeber gearbeitet.

Einer von ihnen sagte: »Am besten kopieren wir .«

»Nein«, unterbrach Lara ihn energisch. »Wir bauen ein Hotel, das andere kopieren. Versuchen Sie's mal mit >Eleganz<, falls Sie ein Stichwort brauchen. Ich sehe ein von zwei Fontänen flankiertes Portal vor mir, das in eine Hotelhalle aus italienischem Marmor führt. Unmittelbar neben der Halle liegen großzügige Konferenzräume für .«

Nach jeder Besprechung waren die Teilnehmer beeindruckt.

Lara Cameron stellte ein neues Team zusammen. Sie entschied sich für den Anwalt Terry Hill, stellte Jim Belon als ihren persönlichen Assistenten ein, gewann Tom Chriton als Projektmanager und übertrug die Werbung der Agentur Tom Scott. Nachdem das Büro Higgins, Almont & Clark den Planungsauftrag erhalten hatte, konnte das Projekt anlaufen.

»Wir treffen uns einmal in der Woche«, erklärte Lara ihrem Team, »aber ich will von allen tägliche Berichte. Das Hotel soll

termingerecht und ohne Kostenüberschreitung entstehen. Ich habe Sie ausgewählt, weil Sie in Ihren jeweiligen Fachgebieten Spitze sind. Lassen Sie mich also nicht im Stich! Noch Fragen, Gentlemen?« Es dauerte gut zwei Stunden, alles zu beantworten. Später fragte Lara Keller: »Wie ist die Besprechung deiner Ansicht nach gelaufen?« »Prima, Boss.«

Das war das erste Mal, daß Howard sie so nannte. Es gefiel ihr.

Charles Cohn rief sie an. »Ich bin in New York. Können wir uns zum Lunch treffen?« »Und ob wir das können.« Sie saßen bei Sardi's.

»Sie sehen wundervoll aus«, sagte Cohn. »Erfolg steht Ihnen gut, Lara.«

»Es geht erst los!« versicherte sie. »Charles . hätten Sie nicht Lust, zu Cameron Enterprises zu kommen? Ich beteilige Sie an der Firma, und Sie .«

Er schüttelte den Kopf. »Vielen Dank, aber das wäre nichts für mich. Sie sind auf dem Weg nach oben. Ich bin fast am Ende der Straße angelangt. Nächstes Jahr trete ich in den Ruhestand.«

»Auch dann müssen wir in Verbindung bleiben«, sagte Lara. »Ich möchte Sie nicht verlieren.«

Als Paul Martin wieder in Laras Apartment war, sagte sie lächelnd: »Ich habe eine Überraschung für dich, Darling.« Sie zeigte auf ein Dutzend Schachteln auf ihrem Bett. »He, ich habe doch gar nicht Geburtstag!« protestierte er. »Komm, mach' sie auf.«

Jede Schachtel enthielt ein Hemd von Bergdorf-Goodman und eine dazu passende Krawatte von Gucci.

»Hemden und Krawatten habe ich reichlich!« sagte er lachend.

»Aber nicht solche«, stellte Lara fest. »Darin fühlst du dich garantiert jünger. Und ich habe dir den Namen eines guten Schneiders besorgt.«

In der folgenden Woche schickte sie ihn zu einem Friseur.

Paul Martin musterte sich im Spiegel und dachte: Du siehst tatsächlich jünger aus. Das Leben war wieder aufregend geworden. Und das alles hatte er Lara zu verdanken.

Seine Frau bemühte sich, die an ihrem Ehemann vorgegangenen Veränderungen zu übersehen.

Lara Cameron hatte ihr wichtigsten Mitarbeiter zu einer Besprechung versammelt.

»Wir werden das Hotelprojekt durch gleichzeitige Vergabe von Baulosen beschleunigen«, kündigte Lara an.

Die Männer wechselten besorgte Blicke. »Das ist verdammt riskant«, wandte Howard Keller ein.

»Nicht, wenn man's richtig anfängt.«

Tom Chriton meldete sich zu Wort. »Miss Cameron, nach der bewährten Methode folgt ein Bauabschnitt dem anderen. Erst kommen die ...«

»Danke, das weiß ich alles«, unterbrach Lara ihn.

»Aber warum wollen Sie dann ...?«

»Weil es dann zwei Jahre dauert. Ich will keine zwei Jahre warten.«

»Beschleunigen können wir den Bau nur, indem wir mehrere Abschnitte gleichzeitig beginnen«, warf Jim Belon ein. »Geht dabei etwas schief, paßt zuletzt nichts mehr richtig zusammen. Und solcher Pfusch kann astronomische Mehrkosten für Nacharbeiten erfordern .«

»Dann müssen wir eben aufpassen, daß nichts schiefgeht«, beharrte Lara. »So können wir die restliche Bauzeit auf ein Jahr halbieren und fast zwanzig Millionen Dollar einsparen.«

»Richtig, aber damit riskieren Sie enorm viel.« »Das bin ich gewohnt.«

15. KAPITEL

Lara erzählte Paul Martin von ihrer Entscheidung, den Hotelbau zu beschleunigen, und von der Diskussion mit ihren Beratern.

»Vielleicht haben sie recht«, meinte Paul. »Was du tust, könnte gefährlich sein.«

»Trump macht es so. Uris macht es so.«

»Baby, du bist aber nicht Trump oder Uris«, sagte Paul lächelnd.

»Eines Tages bin ich größer als die beiden, Paul. Ich werde in New York mehr bauen als irgend jemand vor mir. Dies wird meine Stadt!«

Er betrachtete sie nachdenklich. »Das glaube ich dir sogar.«

Lara ließ sich ein weiteres Telefon in ihr Büro legen. Nur Paul kannte die Nummer. Auch er ließ sich im Büro einen neuen Anschluß einrichten. Sie telefonierten jeden Tag mehrmals miteinander.

Wenn sie nachmittags etwas Zeit erübrigen konnten, trafen sie sich in Laras Apartment. Paul Martin freute sich mehr auf diese Begegnungen, als er jemals für möglich gehalten hätte. Er war verrückt nach Lara Cameron.

Als Keller mitbekam, was sich zwischen den beiden abspielte, war er besorgt.

»Lara«, sagte er warnend, »du machst einen Fehler, fürchte ich. Er ist gefährlich.«

»Du kennst ihn nicht, Howard. Er ist wundervoll!«

»Liebst du ihn?«

Lara dachte darüber nach. Paul Martin erfüllte ein Bedürfnis

in ihrem Leben. Aber liebte sie ihn?

»Nein.«

»Liebt er dich?«

»Ich glaube schon.«

»Sei bitte vorsichtig! Sehr vorsichtig!«

Lara Cameron lächelte. Dann küßte sie Keller impulsiv auf die Wange. »Lieb von dir, daß du dir Sorgen um mich machst, Howard.«

Lara war im Baubüro in der neunundsechzigsten Straße und blätterte in den Bestellunterlagen. »Mir fällt auf, daß wir schrecklich viel Baustahl bestellen«, sagte sie zu Pete Reese, dem neuen Projektmanager.

»Ich wollte nicht davon sprechen, Miss Cameron, weil ich mir meiner Sache noch nicht sicher bin ... Aber Sie haben recht - dieser Schwund ist auffällig. Wir haben schon mehrmals nachbestellen müssen.«

Sie sah zu ihm auf. »Soll das heißen, daß auf der Baustelle gestohlen wird?«

»Sieht so aus.«

»Haben Sie einen bestimmten Verdacht?«

»Nein.«

»Wir beschäftigen hier Nachtwächter, nicht wahr?«

»Einen.«

»Und er hat nichts gesehen?«

»Nein. Aber in dem Betrieb, der hier herrscht, könnte der Stahl auch tagsüber abtransportiert werden. Der Kreis möglicher Täter ist riesig.«

Lara nickte nachdenklich. »Aha. Danke, daß Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben, Pete. Ich kümmere mich selbst darum.«

Noch am selben Nachmittag engagierte Lara einen Privatdetektiv, namens Steve Kane.

»Wie schafft es jemand, am hellichten Tag eine Ladung Bau-stahl zu klauen?« fragte Kane.

»Das möchte ich von Ihnen wissen.«

»Und Sie haben einen Nachtwächter auf der Baustelle?«

»Ja.«

»Vielleicht steckt er mit den Dieben unter einer Decke.«

»Ein bloßer Verdacht interessiert mich nicht«, wehrte Lara ab. »Melden Sie sich bei mir, wenn Sie den oder die Täter aufgespürt haben.«

»Können Sie dafür sorgen, daß ich als Bauarbeiter eingestellt werde?«

»Gut, wird gemacht.«

Schon am nächsten Tag nahm Steve Kane die Arbeit auf der Baustelle auf.

Als Lara Keller erzählte, was sie veranlaßt hatte, sagte er: »Darum hättest du dich nicht selbst zu kümmern brauchen. Das hätte ich dir abnehmen können.«

»Manche Dinge mache ich gern selbst«, antwortete Lara.

Damit war das Gespräch beendet.

Fünf Tage später erschien Kane in Laras Büro.

»Haben Sie schon was rausbekommen?«

»Alles«, sagte er stolz.

»Der Nachtwächter?«

»Nein. Das Material ist nicht von der Baustelle verschwunden.«

»Was soll das heißen?«

»Der Stahl ist dort nie angekommen. Er ist auf eine andere Baustelle in New Jersey geliefert, aber Ihnen in Rechnung gestellt worden.«

»Wer steckt dahinter?« fragte Lara.

Kane sagte es ihr.

Nachmittags fand in Laras Büro eine Besprechung statt. Anwesend waren Howard Keller, der Anwalt Terry Hill, ihr persönlicher Assistent Jim Belon und der Projektmanager Pete Reese.

Am Konferenztisch saß auch ein Unbekannter, den Lara als Mr. Conroy vorstellte.

»Wie steht's mit dem Baufortschritt?« fragte Lara.

»Alles läuft genau nach Plan«, versicherte Pete Reese ihr. »Wir rechnen mit weiteren sieben Monaten Bauzeit. Die gleichzeitige Vergabe von Baulosen hat sich bewährt, Miss Cameron. Natürlich treten kleinere Probleme auf, aber im allgemeinen läuft alles erstaunlich reibungslos.«

»Gut«, sagte Lara.

»Was ist mit den Diebstählen?« fragte Howard Keller.

»Da tappen wir weiter im dunkeln«, antwortete Pete Reese. »Aber wir halten die Augen offen.«

»Wegen dieser Sache brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen«, kündigte Lara an. »Wir kennen den Täter.« Sie nickte zu dem Unbekannten hinüber. »Mr. Conroy kommt vom Betrugsdezernat der Kriminalpolizei. Detective Conroy.«

»Was tut er hier?« fragte Pete Reese.

»Er ist gekommen, um Sie mitzunehmen.«

Reese starrte sie verblüfft an. »Was?«

Lara wandte sich an die anderen. »Mr. Reese hat Baustahl, der uns berechnet worden ist, auf eine andere Baustelle liefern lassen. Als er gemerkt hat, daß ich die Bestellmenge kontrolliere, hat er die Flucht nach vorn angetreten und mich auf dieses >Problem< aufmerksam gemacht.«

»Augenblick!« sagte Pete Reese. »Ich ... ich ... Sie irren sich, Miss Cameron.«

Sie wandte sich an Conroy. »Schaffen Sie ihn bitte fort?« Lara wartete, bis die Tür sich hinter den beiden geschlossen hatte. »So, es wird Zeit, daß wir über die Eröffnung des Hotels diskutieren.«

Als der Eröffnungstermin des Hotels näherrückte, verstärkte sich der Druck, der auf allen lastete. Lara benahm sich unmöglich. Sie war ständig hinter ihren engsten Mitarbeitern her und

dachte sich nichts dabei, sie mitten in der Nacht anzurufen.

»Howard, weißt du eigentlich, daß die Tapeten noch immer nicht geliefert sind?«

»Um Himmels willen, Lara, es ist vier Uhr morgens!«

»Die Eröffnung ist in drei Monaten. Ohne Tapeten können wir das Hotel nicht eröffnen.«

»Gut, ich kümmere mich morgen früh darum.«

»Jetzt ist morgen früh. Ich möchte, daß du dich sofort darum kümmerst.«

Je näher der entscheidende Tag kam, desto nervöser wurde Lara. Sie ließ Tom Scott, den Direktor ihrer Werbeagentur, zu sich kommen.

»Haben Sie kleine Kinder, Mr. Scott?«

Er war sichtlich überrascht. »Nein. Warum?«

»Ich habe mir eben die neue Werbekampagne angesehen, die von einem geistig behinderten Kleinkind zu stammen scheint. Ich kann nicht glauben, daß erwachsene Männer sich hingesetzt und solchen Schwachsinn zu Papier gebracht haben sollen.«

Scott runzelte die Stirn. »Wenn Ihnen irgend etwas daran mißfällt .«

»Alles daran mißfällt mir«, sagte Lara. »Sie ist langweilig. Sie ist einfallslos. Sie wäre für jedes beliebige Hotel passend. Dies ist nicht irgendein Hotel, Mr. Scott, sondern das schönste und modernste Hotel New Yorks. Sie schildern es als kalten, gesichtslosen Prachtbau. Dabei ist es ein warmes, behagliches Zuhause in der Fremde. Das muß rüberkommen! Können Sie unseren zukünftigen Gästen das vermitteln?«

»Ich versichere Ihnen, daß wir das können. Wir arbeiten eine neue Kampagne aus, und in vierzehn Tagen .«

»Montag«, unterbrach Lara ihn. »Ich möchte die neue Kampagne bis Montag sehen.«

Die neu gestalteten Anzeigen erschienen in Zeitungen und Zeitschriften in ganz Amerika.

»Unsere Werbekampagne schlägt großartig ein«, berichtete Tom Scott. »Sie haben recht gehabt.«

»Ich will aber nicht recht haben«, stellte Lara fest. »Ich möchte, daß Sie recht haben. Dafür bezahle ich Sie nämlich.«

Sie wandte sich an Jerry Townsend, ihren PR-Mann.

»Sind alle Einladungen verschickt?«

»Ja, Miss Cameron. Die Rücklaufquote ist erstaunlich hoch. Alle Welt kommt zur Eröffnung. Das wird 'ne tolle Party!«

»Hoffentlich«, warf Howard Keller ein. »Schließlich kostet sie uns ein Vermögen.«

»Hör auf, immer wie ein Bankier zu denken«, wies Lara ihn zurecht. »Allein die Publicity ist Hunderttausende wert. Mit Dutzenden von Prominenten sind wir .«

Keller hob abwehrend die Hand. »Schon gut, schon gut.«

Drei Wochen vor dem Eröffnungstermin schien alles gleichzeitig zu passieren. Die Tapeten waren inzwischen längst an den Wänden; jetzt wurden Teppichböden verlegt, Korridore gestrichen und Bilder aufgehängt. Mit einem Stab von fünf Mitarbeitern inspizierte Lara jeden einzelnen Raum.

In einer Suite gefielen ihr die Vorhänge nicht. »Sie passen nicht zu den Möbeln. Tauschen Sie sie gegen die aus der Suite nebenan aus.«

In einer anderen Suite probierte sie den Flügel. »Der ist verstimmt. Lassen Sie einen Klavierstimmer kommen.«

In einer weiteren Suite funktionierte der elektrische Kamin nicht. »Sorgen Sie dafür, daß er repariert wird.«

Ihre gestreßten Mitarbeiter hatten den Eindruck, Lara Came-ron versuche, alles selbst zu erledigen. Sie war in der Hotelküche, der Wäscherei und den Besenkammern. Sie war überall gleichzeitig, überprüfte alles, beanstandete vieles und gab ständig Anweisungen.

»Nehmen Sie's nicht so genau, Miss Cameron«, riet ihr der neue Hotel direktor. »Bei jeder Hotel er öffnung gibt's kleinere

Pannen.«

»Nicht in meinem Hotel«, sagte Lara. »Nicht in meinem Hotel!«

Am Eröffnungstag war Lara, die vor Nervosität nicht mehr schlafen konnte, schon um vier Uhr auf den Beinen. Sie hatte das Bedürfnis, mit Paul Martin zu reden, aber sie wußte, daß sie ihn jetzt unmöglich anrufen konnte. Also zog sie sich an und machte einen Spaziergang.

Alles klappt tadellos, sagte sie sich. Der Computer für die Reservierung wird instandgesetzt. Der dritte Herd links wird repariert. Das Schloß von der Suite sieben wird ausgetauscht. Für Zimmermädchen, die gestern gekündigt haben, findet sich auch Ersatz. Die Klimaanlage im Penthouse funktioniert wieder .

Ab achtzehn Uhr trafen die Gäste ein. Uniformierte Portiers an den Hoteleingängen kontrollierten die Einladungen. Lara Cameron hatte die Liste sorgfältig durchgesehen, eine Mischung aus Berühmtheiten, bekannten Sportlern und prominenten Geschäftsleuten, und die Namen aller bekannten Trittbrettfahrer und Möchtegern-Prominenten gestrichen.

Jetzt stand sie in der geräumigen Hotelhalle, um ihre Gäste zu begrüßen. »Ich bin Lara Cameron. Ich freue mich, daß Sie gekommen sind ... Sie können sich gern überall umsehen.«

Lara nahm Keller beiseite. »Warum kommt der Oberbürgermeister nicht?«

»Weißt du, er ist ein vielbeschäftigter Mann und .«

»Er hält mich nicht für wichtig genug, willst du sagen.«

»Eines Tages wird er seine Meinung ändern.«

Immerhin kreuzte einer der Assistenten des Oberbürgermeisters auf.

»Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte Lara zur Begrüßung. »Das ist eine Ehre für mein Hotel.«

Lara hielt nervös nach Todd Grayson Ausschau, den sie als Architekturkritiker der New York Times ebenfalls eingeladen hatte. Gefällt ihm das Hotel, überlegte sie sich, kann nichts mehr schiefgehen.

Paul Martin erschien mit seiner Frau. Lara, die Mrs. Martin noch nicht kannte, sah sich einer attraktiven, eleganten Dame gegenüber. Die Begegnung weckte in Lara unerwartete Schuldgefühle.

Paul trat auf sie zu. »Miss Cameron, ich bin Paul Martin. Und das ist meine Frau Nina. Danke für Ihre Einladung.«

Sie drückte seine Hand eine Sekunde länger als notwendig. »Ich freue mich, daß Sie kommen konnten. Fühlen Sie sich bitte ganz wie zu Hause.«

Er sah sich in der Hotelhalle um, die er schon dutzendmal besichtigt hatte. »Wunderbar!« rief er aus. »Damit werden Sie sehr erfolgreich sein.«

Mrs. Martin starrte Lara an. »Davon bin ich überzeugt.«

Und Lara fragte sich, ob sie von ihrem Verhältnis mit Paul wußte.

Die Gäste kamen jetzt in Scharen.

Eine Stunde später stand Lara noch immer in der Hotelhalle, als Keller auf sie zugehastet kam. »Um Himmels willen«, sagte er, »alle fragen sich schon, wo du bleibst! Die Gäste sind alle beim Dinner im Ballsaal. Was tust du hier draußen?«

»Todd Grayson ist noch nicht da. Ich warte auf ihn.«

»Du meinst den Architekturkritiker der Times. Den habe ich schon vor einer Stunde gesehen.«

»Was?«

»Ja. Er hat eine der Führungen durchs Hotel mitgemacht.«

»Warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Ich dachte, du hättest ihn längst begrüßt.«

»Was hat er gesagt?« fragte Lara gespannt. »Ist er beeindruckt gewesen?«

»Gesagt hat er eigentlich nichts. Ob er beeindruckt gewesen ist, weiß ich nicht.«

»Hat er nicht irgend etwas gesagt?«

»Nein.«

Lara runzelte die Stirn. »Hätte ihm mein Hotel gefallen, hätte er bestimmt irgend etwas gesagt. Das ist ein schlechtes Zeichen, Howard.«

Die Eröffnungsparty war ein Riesenerfolg. Die Gäste aßen und tranken und ließen ihre Gastgeberin hochleben. Beim Abschied wurde Lara mit Komplimenten überhäuft.

»Wirklich ein wundervolles Hotel, Miss Cameron .«

»In Zukunft wohne ich immer hier, wenn ich nach New York komme .«

»Eine großartige Idee, in jede Suite einen Flügel zu stellen .«

»Am besten gefallen mir die offenen Kamine .«

»Ich werde das neue Haus allen Freunden empfehlen .«

Nun, dachte Lara, selbst wenn die New York Times es nicht mag, wird es sensationell erfolgreich.

Paul Martin und seine Frau kamen an ihr vorbei.

»Damit ist Ihnen ein großer Wurf gelungen, Miss Cameron. Ganz New York wird davon schwärmen.«

»Sehr freundlich von Ihnen, Mr. Martin«, antwortete Lara. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind.«

»Gute Nacht, Miss Cameron«, sagte Nina Martin.

»Gute Nacht.«

Als die beiden zur Drehtür gingen, hörte Lara sie fragen: »Sie ist eine Schönheit, findest du nicht auch, Paul?«

Als am nächsten Donnerstag die Morgenausgabe der New York Times ausgeliefert wurde, war Lara schon um Viertel nach vier am Zeitungskiosk an der Kreuzung zweiundvierzigste Straße und Broadway, um ein druckfrisches Exemplar zu kaufen. Sie schlug hastig den Lokalteil auf. Todd Graysons Artikel begann mit den Worten: Manhattan hat schon lange ein Hotel gebraucht, das Reisende nicht an die Tatsache erinnert, daß sie in einem Hotel wohnen. Die Suiten im Cameron Plaza sind großzügig geschnitten, elegant ausgestattet und mit Geschmack eingerichtet. Dank Lara Camerons Engagement besitzt New York endlich ...

Lara stieß einen Freudenschrei aus. Sie rief sofort Keller an.

»Wir haben's geschafft!«jubelte sie am Telefon. »Die Times findet uns gut!«

Er setzte sich benommen auf. »Großartig. Was schreiben sie denn?«

Lara las ihm den ganzen Artikel vor. »Schön«, sagte Keller, »darf ich jetzt weiterschlafen?«

»Schlafen? Soll das ein Witz sein? Ich bin längst dabei, das nächste Projekt zu planen. Ich möchte, daß du heute wegen neuer Kredite .«

Das Cameron Plaza in New York war ein triumphaler Erfolg. Es war sofort ausgebucht, so daß neue Gäste sich auf eine Warteliste setzen lassen mußten.

»Das ist erst der Anfang«, erklärte Lara ihrem Vertrauten Howard Keller. »In dieser Stadt gibt es Zehntausende von Bauunternehmern - aber nur eine Handvoll großer Namen wie Tisch, Rudin, Rockefeller und Stern. Wir werden in ihrem Sandkasten spielen, ob es ihnen nun paßt oder nicht. Unsere Bauten werden die Skyline verändern. Wir erfinden die Zukunft!«

Lara begann, Anrufe von Banken zu erhalten, die ihr Kredite anboten. Zur Kontaktpflege lud sie wichtige Immobilienmakler zum Dinner und ins Theater ein. Bei ihren Arbeitsessen im Regency hörte sie von Objekten, die noch auf den Markt kommen sollten. Lara kaufte zwei weitere Grundstücke in bester Lage in Manhattan und gab die Planung für neue Bürogebäude in Auftrag.

Paul Martin rief sie im Büro an. »Hast du die letzte Ausgabe der Business Week gelesen?« fragte er. »Du bist ein ganz heißer Tip. Lara Cameron, die große Macherin!«

»Ich gebe mir Mühe.«

»Hast du Zeit, mit mir zu Abend zu essen?«

»Die Zeit nehme ich mir.«

Lara Cameron war in einer Besprechung mit den Partnern eines großen Architekturbüros. Sie begutachtete die Entwürfe, die sie mitgebracht hatten.

»Die werden Ihnen gefallen«, sagte der Chefarchitekt. »Wir haben die von Ihnen geforderte großzügige Eleganz konsequent verwirklicht. Lassen Sie mich Ihnen ein paar Detaillösungen zeigen, die ...«

»Danke, das ist nicht nötig«, sagte Lara. »Ich kann Baupläne lesen.« Sie sah auf. »Ich möchte, daß Sie diese Pläne einem Künstler geben.«

»Wie bitte?«

»Ich möchte große Farbzeichnungen des Gebäudes. Ich möchte Zeichnungen von der Eingangshalle, den Fluren und den Büros. Bankleute haben keine Phantasie. Ich will ihnen zeigen, wie das Gebäude aussehen wird.«

»Eine großartige Idee!«

Laras Sekretärin kam herein. »Entschuldigen Sie, daß ich so spät komme, aber .«

»Die Besprechung war für neun Uhr angesetzt, Kathy. Jetzt ist es neun Uhr fünfzehn.«

»Entschuldigen Sie, Miss Cameron, aber mein Wecker hat nicht geklingelt, und ich .«

»Darüber können wir später reden.« Sie wandte sich wieder an die Architekten. »Ich möchte ein paar Dinge geändert haben .«

Zwei Stunden später waren alle gewünschten Änderungen besprochen. Nachdem die Architekten gegangen waren, nickte Lara ihrer Sekretärin zu. »Bleiben Sie noch. Setzen Sie sich.«

Kathy nahm Platz.

»Gefällt Ihnen Ihr Job?«

»Ja, Miss Cameron.«

»Diese Woche sind Sie schon dreimal zu spät ins Büro gekommen. Ich hasse Unpünktlichkeit und habe nicht die Absicht, mich damit abzufinden.«

»Tut mir schrecklich leid, aber ich . ich fühle mich in letzter Zeit nicht besonders.«

»Wo liegt das Problem?«

»Ach, es ist weiter nichts.«

»Aber offensichtlich ernst genug, um Sie daran zu hindern, pünktlich ins Büro zu kommen. Los, raus mit der Sprache!«

»Ich schlafe in letzter Zeit sehr schlecht. Ich habe ehrlich gesagt Angst.«

»Angst wovor?« fragte Lara ungeduldig.

»Ich . ich habe einen Knoten in der Brust.«

»Oh.« Lara schwieg einen Augenblick. »Und was hat der Arzt gesagt?«

Kathy schluckte. »Ich bin bei keinem Arzt gewesen.«

»Bei keinem Arzt gewesen!« wiederholte Lara aufgebracht. »Sie können doch nicht einfach den Kopf in den Sand stecken! Natürlich müssen Sie zu einem Arzt.«

Sie griff nach dem Telefonhörer. »Verbinden Sie mich mit Dr. Peters.«

Lara legte auf. »Wahrscheinlich ist Ihr Knoten gutartig, aber trotzdem muß er untersucht werden.«

»Meine Mutter ist an Krebs gestorben«, murmelte Kathy bedrückt. »Ich will von keinem Arzt hören, daß ich auch Krebs habe.«

Das Telefon klingelte. Lara nahm den Hörer ab. »Hallo? ... Was ist er? ... Das ist mir egal. Sagen Sie ihm, daß ich ihn sofort sprechen will.«

Sie legte wieder auf.

Eine halbe Minute später klingelte das Telefon erneut. Sie nahm den Hörer ab. »Hallo, Alan ... Nein, mir geht's gut. Ich schicke Ihnen Kathy Turner, meine Sekretärin. Sie ist in einer halben Stunde drüben. Ich möchte, daß Sie sie noch heute morgen untersuchen und sich persönlich um ihren Fall kümmern ... Ja, ich weiß, daß Sie das sind ... Vielen Dank, Alan. Bis bald!«

Lara legte auf. »Kathy, Sie fahren sofort ins Sloan-Kettering-Hospital. Dort werden Sie von Dr. Peters erwartet.«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Miss Cameron.«

»Sagen Sie, daß Sie morgen pünktlich kommen werden.«

Howard Keller kam in ihr Büro. »Wir haben ein Problem, Boss.«

»Ja?«

»Es geht um das Grundstück in der vierzehnten Straße. Wir haben den ganzen Block geräumt - bis auf dieses alte Apartmentgebäude, die Dorchester Apartments. Sechs der Mieter wollen nicht ausziehen, und die Stadt genehmigt uns keine Zwangsräumung.«

»Dann müssen wir ihnen mehr Geld bieten.«

»Um Geld geht es hier nicht. Diese Leute wohnen schon lange dort. Sie wollen nicht ausziehen. Sie leben dort sehr behaglich.«

»Dann müssen wir's ihnen unbehaglich machen.«

»Wie meinst du das?«

Lara stand auf. »Komm, wir sehen uns das Gebäude mal an.«

Unterwegs sahen sie Obdachlose, die in Mülltonnen wühlten und Passanten anbettelten.

»Für ein so reiches Land ist das eine Schande!« sagte Lara aufgebracht.

Die Dorchester Apartments waren ein fünfstöckiger Klinkerbau zwischen abbruchreifen Gebäuden, die alle bereits geräumt waren.

Lara stand auf der anderen Straßenseite und begutachtete den alten Bau kritisch. »Wie viele Apartments sind das dort drüben?«

»Sechzehn stehen schon leer, aber sechs Mietparteien wollen nicht ausziehen.«

»Wir könnten also über sechzehn Wohnungen verfügen?«

Keller warf ihr einen fragenden Blick zu. »Ja, das stimmt. Warum?«

»Ich möchte, daß in diese freien Apartments Leute einziehen.«

»Wir sollen sie vermieten? Was hätten wir davon, wenn sie doch bald wieder .«

»Wir vermieten sie nicht. Wir stellen sie Obdachlosen zur Verfügung. In dieser Stadt gibt es Zehntausende von Obdachlosen. Wir verschaffen wenigstens einigen von ihnen ein Dach über dem Kopf. Du sorgst dafür, daß möglichst viele reingepackt und anständig verpflegt werden.«

Keller runzelte die Stirn. »Was bringt mich auf die Idee, daß das keiner deiner besseren Einfälle ist?«

»Howard, so erweisen wir uns als Wohltäter. Wir tun etwas, wozu die Stadtverwaltung nicht imstande ist: Wir beherbergen die Obdachlosen.«

Lara begutachtete die Dorchester Apartments erneut. »Und ich will, daß die Fenster aller leerstehenden Wohnungen mit Brettern verschalt werden.«

»Wozu denn das?«

»Wir sorgen dafür, daß das Gebäude abbruchreif aussieht. Ist die Wohnung ganz oben - die mit der Dachterrasse - noch vermietet?«

»Ja.«

»Laß eine große Reklametafel anbringen, um dem Mieter die Aussicht zu versperren.«

»Aber .«

»An die Arbeit, Howard!«

Als Lara in ihr Büro zurückkam, hatte Dr. Peters angerufen. »Er möchte, daß Sie zurückrufen«, sagte Tricia. »Verbinden Sie mich mit ihm.« Der Arzt war sofort am Apparat.

»Lara, ich habe Ihre Assistentin untersucht. Wir haben eine Gewebeprobe entnommen.« »Ja?«

»Sie hat leider einen bösartigen Tumor. Ich empfehle eine sofortige Operation.«

»Ich möchte, daß Kathy von einem zweiten Arzt untersucht wird«, sagte Lara.

»Schön, wie Sie wollen, aber ich bin hier der Chefarzt und .«

»Ich möchte trotzdem eine zweite Untersuchung. Lassen Sie die Gewebeprobe bitte noch einmal analysieren. Und rufen Sie mich möglichst bald wieder an. Wo ist Kathy jetzt?« »Auf dem Rückweg ins Büro.« »Danke, Alan.«

Lara legte den Hörer auf. Sie drückte die Sprechtaste ihrer Gegensprechanlage. »Schicken Sie Kathy bitte herein, sobald sie zurückkommt.«

Lara Cameron studierte den Terminkalender auf ihrem Schreibtisch. Ihr blieben nicht einmal mehr dreißig Tage, um die Dorchester Apartments vor Baubeginn räumen zu lassen.

Sechs hartnäckige Mieter. Na schön, dachte Lara, wir werden ja sehen, wie lange ihr durchhaltet!

Kathy kam in Laras Büro. Sie war blaß und hatte rotgeweinte Augen.

»Ich habe gehört, was Dr. Peters festgestellt hat«, sagte Lara. »Das tut mir schrecklich leid, Kathy.« »Ich muß sterben!« heulte Kathy los.

Lara stand auf, umarmte sie und drückte sie tröstend an sich.

»Sie müssen überhaupt nichts. Im Kampf gegen den Krebs sind in den letzten Jahren erstaunliche Fortschritte gemacht worden. Sie werden operiert und wieder gesund.«

»Miss Cameron, ich kann mir keine teure Operation .«

»Die Kosten übernehme ich«, unterbrach Lara sie. »Dr. Peters veranlaßt eine Kontrolluntersuchung. Bestätigt sie seine Diagnose, sollten Sie sich schnell operieren lassen. Und jetzt fahren Sie nach Hause und ruhen sich nach all der Aufregung aus.«

Kathy hatte wieder Tränen in den Augen. »Ich . ich danke Ihnen!«

Als sie Laras Büro verließ, dachte sie: Niemand kennt diese Lady wirklich.

16. KAPITEL

Am darauffolgenden Montag bekam Lara Cameron Besuch.

»Ein Mr. O'Brian von der Stadtverwaltung möchte Sie sprechen, Miss Cameron.«

»In welcher Sache?«

»Das hat er nicht gesagt.«

Lara drückte auf eine der Tasten ihrer Gegensprechanlage. »Kommst du bitte zu mir, Howard?« Zu ihrer Sekretärin sagte sie: »Schicken Sie Mr. O'Brian herein.«

Andy O'Brian war ein stämmiger, rotgesichtiger Ire. »Miss Cameron?«

Lara blieb an ihrem Schreibtisch sitzen. »Ja. Was kann ich für Sie tun, Mr. O'Brian?«

»Sie haben gegen mehrere städtische Verordnungen verstoßen, fürchte ich, Miss Cameron.«

»Tatsächlich? Worum geht's denn?«

»Ihnen gehören die Dorchester Apartments in der vierzehnten Straße?«

»Richtig.«

»Uns ist gemeldet worden, daß in den Wohnungen etwa hundert Obdachlose zusammengepfercht leben.«

»Oh, das meinen Sie.« Lara Cameron lächelte. »Nachdem die Stadt offenbar nicht in der Lage ist, die Obdachlosen unterzubringen, wollte ich privat etwas für sie tun, anstatt diese Wohnungen leerstehen zu lassen.«

Howard Keller kam herein.

»Das ist Mr. Keller ... Mr. O'Brian.«

Die beiden gaben sich die Hand.

Lara wandte sich an Keller. »Ich habe Mr. O'Brian gerade erklärt, wie wir der Stadt geholfen haben, ihren Aufgaben nachzukommen, indem wir Obdachlose von der Straße geholt haben.«

»Sie haben sie eingeladen, Miss Cameron?«

»Ganz recht.«

»Haben Sie eine städtische Genehmigung?«

»Eine Genehmigung wofür?«

»Jedes Obdachlosenheim muß von der Stadtverwaltung genehmigt sein und bestimmte Auflagen erfüllen, deren Einhaltung streng überwacht wird.«

»Tut mir leid, das habe ich nicht gewußt. Ich werde diese Genehmigung sofort einholen.«

»Ich bezweifle, daß Sie sie bekommen werden.«

»Wie meinen Sie das?«

»Bei uns sind Beschwerden der Mieter eingegangen. Angeblich versuchen Sie, die letzten Mietparteien zu vergraulen.«

»Unsinn!«

»Miss Cameron, die Stadt gibt Ihnen achtundvierzig Stunden Zeit, um diese Obdachlosen aus dem Haus zu schaffen. Und sie ordnet an, daß die Bretter, mit denen Sie die Fenster haben verschalen lassen, sofort entfernt werden müssen.«

Lara starrte ihn wütend an. »Ist das alles?«

»Nein, Ma'am. Der Mieter in der Dachwohnung sagt, daß Ihre Reklametafel ihm die Aussicht von der Terrasse versperrt. Die müssen Sie also auch abbauen lassen.«

»Und wenn ich's nicht tue?«

»Ich denke, daß Sie's tun werden. Sie ersparen sich hohe Kosten und unangenehme Publicity, wenn Sie uns nicht zwingen, Sie zu verklagen.« Andy O'Brian nickte den beiden zu. »Schönen Tag noch.«

Sie sahen ihm nach, als er das Büro verließ.

Keller wandte sich an Lara. »Wir müssen zusehen, wie wir die Leute dort wieder rauskriegen.«

»Nein.« Sie runzelte nachdenklich die Stirn.

»Was soll das heißen? Der Mann hat gesagt, daß .«

»Ich weiß, was der Mann gesagt hat. Ich will, daß du dort noch mehr Obdachlose unterbringst. Wir stopfen das ganze Gebäude mit ihnen voll. Außerdem rufst du Terry Hill an und erklärst ihm das Problem. Er soll einen Aufschub oder dergleichen erwirken. Diese sechs Mietparteien müssen bis Monatsende raus, sonst kostet uns jeder Monat drei Millionen Dollar!«

Die Gegensprechanlage summte. »Dr. Peters ist am Telefon.«

Lara nahm den Hörer ab. »Hallo, Alan.«

»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß die Operation beendet und gut verlaufen ist. Wir haben den Tumor restlos entfernt. Kathy wird wieder ganz gesund.«

»Wunderbar! Wann kann ich sie besuchen?«

»Sie können heute nachmittag vorbeikommen.«

»Das tue ich gern. Nochmals vielen Dank, Alan. Sie sorgen dafür, daß alle Rechnungen an mich gehen?«

»Wird gemacht.«

»Und Sie können Ihrem Verwaltungsrat sagen, daß das Krankenhaus eine Spende zu erwarten hat. Fünfzigtausend Dollar.«

Zu ihrer Sekretärin sagte Lara: »Lassen Sie Kathy Blumen schicken.« Sie sah auf ihren Terminkalender. »Ich fahre gegen sechzehn Uhr zu ihr.«

Terry Hill kam in ihr Büro. »Lara, gegen Sie ist Haftbefehl erlassen.«

»Wie bitte?«

»Sind Sie nicht aufgefordert worden, die Obdachlosen aus den Dorchester Apartments zu schaffen?«

»Ja, aber .«

»Damit kommen Sie nicht durch, Lara. Die Stadtverwaltung sitzt am längeren Hebel.«

»Will sie mich tatsächlich verhaften lassen?«

»Darauf können Sie Gift nehmen! Sie haben achtundvierzig

Stunden Zeit, diese Leute auf die Straße zu setzen.«

»Schön«, sagte Lara, »dann müssen sie eben doch wieder raus.« Sie wandte sich an Keller. »Sorg' dafür, daß sie das Gebäude verlassen, aber setz' sie nicht auf die Straße. Das wäre schäbig ... Auf der West Side, zwanzigste Straße, steht ein Dutzend Häuser leer, die wir in Eigentumswohnungen umbauen wollen. Dort kannst du sie vorläufig unterbringen. Ich will, daß sie in spätestens einer Stunde aus dem Haus sind!«

Sie sah zu Terry Hill hinüber. »Ich verschwinde, damit sie mir den Haftbefehl nicht eröffnen können. Bis es dazu kommt, hat sich der Fall erledigt.«

Dann summte die Gegensprechanlage. »Zwei Gentlemen von der Staatsanwaltschaft möchten Miss Cameron sprechen.«

Lara nickte Howard Keller zu. Er drückte auf die Sprechtaste und sagte: »Miss Cameron ist nicht da.«

Daraufhin entstand eine Pause. »Wann erwarten Sie sie zurück?«

Keller sah zu Lara hinüber, die den Kopf schüttelte, und antwortete: »Keine Ahnung, wann sie zurückkommt.« Er ließ die Sprechtaste los.

»Ich benütze den Hinterausgang«, sagte Lara.

Lara Cameron haßte Krankenhäuser, weil sie ihr das Bild ihres Vaters, der blaß und plötzlich gealtert in einem weißen Bett lag, ins Gedächtnis zurückriefen. Was tust du hier, verdammt noch mal? Daheim wartet Arbeit auf dich!

Sie betrat Kathys Zimmer, in dem ihre Blumen standen. Kathy war wach, aber sichtlich angegriffen.

»Na, wie geht's?« fragte Lara.

Kathy lächelte schwach. »Dr. Peters sagt, daß ich wieder ganz gesund werde.«

»Das will ich hoffen! Im Büro liegt eine Menge Arbeit für Sie. Ich brauche Sie dringend.«

»Ich ... ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.« »Sie brauchen sich nicht zu bedanken.«

Lara nahm den Hörer des Telefons auf Kathys Nachttisch ab und wählte die Nummer ihres Büros. Sie sprach mit Terry Hill.

»Sind sie noch da?«

»Sie sind noch da. Sie wollen bleiben, bis Sie zurückkommen.«

»Stellen Sie fest, wie weit Keller schon ist. Sobald das Gebäude geräumt ist, komme ich zurück.«

Lara legte auf.

»Rufen Sie mich an, falls Sie irgendwas brauchen«, sagte sie zu Kathy. »Ich schaue morgen wieder vorbei. Gute Besserung!«

Als nächstes fuhr Lara zum Architekturbüro Higgins, Almont & Clark. Dort wurde sie von Mr. Clark empfangen, der aufstand, als sie sein Büro betrat.

»Was für eine angenehme Überraschung! Was kann ich für Sie tun, Miss Cameron?«

»Haben Sie die Pläne für das Bauvorhaben in der vierzehnten Straße hier?«

»Ja, natürlich.« Clark trat an die Wand zwischen den Fenstern. »Bitte sehr!«

Der große Ansichtsplan zeigte einen von Apartmentgebäuden und Geschäften umgebenen eleganten Wohnturm.

»Ich möchte, daß Sie die Pläne ändern«, sagte Lara.

»Wie bitte?«

Lara zeigte auf die Stelle, wo die Dorchester Apartments standen. »Hier steht ein Gebäude, das nicht abgerissen werden darf. Ich möchte, daß Sie die Planung so abändern, daß unser Komplex um dieses Gebäude herum entsteht.«

»Sie wollen um eines der alten Gebäude herumbauen? Unmöglich! Das würde scheußlich aussehen und .«

»Tun Sie bitte, was ich sage. Schicken Sie mir die neuen Pläne bis morgen mittag ins Büro.«

Sie nickte Clark freundlich zu und ging.

Aus dem Auto telefonierte sie erneut mit Terry Hill. »Haben Sie schon von Howard gehört?«

»Ja. Die Obdachlosen sind alle umquartiert.«

»Schön. Rufen Sie den Staatsanwalt an. Erklären Sie ihm, daß ich die Obdachlosen schon vor zwei Tagen aufgefordert habe, die Dorchester Apartments zu räumen. Leider hat es dabei eine Übermittlungspanne gegeben, aber als ich heute davon erfahren habe, sind sie sofort ausquartiert worden. Im Augenblick bin ich auf der Rückfahrt ins Büro. Fragen Sie ihn, ob er mich noch immer verhaften lassen will.«

Zu ihrem Chauffeur sagte sie: »Wir fahren durch den Park. Lassen Sie sich Zeit.«

Als Lara eine halbe Stunde später ins Büro zurückkam, waren die Männer mit dem Haftbefehl fort.

Lara Cameron war in einer Besprechung mit Howard Keller und Terry Hill.

»Die Mieter bleiben leider stur«, berichtete Keller. »Ich habe sie einzeln aufgesucht und ihnen mehr Geld geboten. Sie wollen auf keinen Fall ausziehen. Dabei sollen die Abbrucharbeiten schon in fünf Tagen beginnen!«

»Ich habe Mr. Clark gebeten, das Projekt umzuplanen«, sagte Lara.

»Den neuen Plan kenne ich«, antwortete Keller. »Aber auch der hilft uns nicht weiter. Das alte Gebäude kann unmöglich mitten in dem neuen Komplex stehenbleiben. Wir müssen mit der Bank verhandeln, damit sie einer Verschiebung des Baubeginns zustimmt.«

»Nein«, widersprach Lara. »Ich will, daß er sogar vorverlegt wird.«

»Wie bitte?«

»Sieh zu, daß du den Abbruchunternehmer erreichst. Er soll morgen früh mit der Arbeit anfangen.«

»Morgen? Lara ...«

»Gleich morgen früh. Und nimm diesen Plan für den Vorarbeiter der Abrißkolonne mit.«

»Was soll das nützen?« fragte Keller.

»Wart's nur ab!«

Am frühen Morgen des nächsten Tages wurden die verbliebenen Bewohner der Dorchester Apartments durch ratternde Preßlufthämmer, dumpfe Schläge einer Abrißbirne und das Poltern einstürzender Mauern aus dem Schlaf gerissen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihnen, daß mit dem Abriß der Nachbarhäuser begonnen worden war. Die Mieter waren zunächst sprachlos.

Mr. Hershey aus der Dachwohnung stürmte aus dem Haus und fragte sich zum Vorarbeiter der Abrißkolonne durch. »Was machen Sie da?« kreischte er aufgeregt. »Das dürfen Sie nicht!«

»Wer sagt das?«

»Die Stadt hat den Abriß verboten!« Er zeigte auf das Gebäude, in dem er wohnte. »Das Haus dort drüben darf nicht abgerissen werden.«

Der Vorarbeiter warf einen Blick auf den vor ihm liegenden Plan. »Stimmt«, bestätigte er. »Dieses Gebäude sollen wir stehenlassen.«

Hershey runzelte die Stirn. »Wie bitte? Moment, das will ich selbst sehen!« Nach einem Blick auf den Plan holte er erschrocken tief Luft. »Sie wollen den neuen Komplex um unser Gebäude herum bauen?«

»Richtig, Mister.«

»Aber das dürfen Sie nicht! Der Lärm, der Dreck, das ...«

»Das ist nicht mein Problem. Lassen Sie mich jetzt bitte durch, ich muß weiterarbeiten.«

Eine halbe Stunde später sagte Laras Sekretärin: »Auf Leitung

zwei möchte Sie ein Mr. Hershey sprechen, Miss Cameron.«

»Ich bin im Augenblick nicht da.«

Als Hershey nachmittags zum dritten Mal anrief, nahm Lara endlich den Hörer ab und sprach mit ihm.

»Ja, Mr. Hershey? Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern mal bei Ihnen vorbeikommen, Miss Came-ron.«

»Tut mir leid, aber ich bin sehr beschäftigt. Was Sie zu sagen haben, können Sie mir am Telefon sagen.«

Hershey räusperte sich. »Nun, ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß ich mit den übrigen Mietern gesprochen habe. Wir sind uns darüber einig, daß es vielleicht doch besser wäre, Ihr Angebot anzunehmen und auszuziehen.«

»Mein Angebot gilt nicht mehr, Mr. Hershey. Sie können alle bleiben, wo Sie sind.«

»Aber solange um uns herumgebaut wird, können wir keine Nacht mehr ruhig schlafen!«

»Wer hat Ihnen gesagt, daß wir um Sie herumbauen wollen?« fragte Lara scharf. »Woher haben Sie diese Information?«

»Der Vorarbeiter hat mir einen Plan gezeigt und ...«

»Das kostet ihn seinen Job«, sagte Lara aufgebracht. »Diese Information ist vertraulich gewesen.«

»Augenblick! Reden wir wie zwei vernünftige Menschen miteinander, okay? Für Ihr Projekt war's besser, wenn wir ausziehen würden - und für uns vermutlich auch. Ich will nicht mitten in einem Hochhauskomplex wohnen.«

»Ob Sie gehen oder bleiben, ist mir eigentlich egal, Mr. Hershey«, sagte Lara. »Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag zur Güte. Wird das Gebäude bis zum kommenden Ersten geräumt, bin ich bereit, bei unserem ersten Angebot zu bleiben.«

Am anderen Ende entstand eine lange Pause.

»Gut«, sagte Hershey dann zögernd. »Ich rede mit den anderen, aber ich bin sicher, daß sie zustimmen werden. Nochmals vielen Dank, Miss Cameron.« »Es war mir ein Vergnügen, Mr. Hershey«, antwortete Lara.

Nach dem Monatsersten begannen die Bauarbeiten mit Nachdruck.

Laras Ruf wuchs ständig. Ihre Firma Cameron Enterprises baute ein Hochhaus in Brooklyn, ein Einkaufszentrum in Westchester, eine Ladenpassage in Washington, D.C., Sozialwohnungen in Dallas und eine Eigentumswohnanlage in Los Angeles. Banken, Sparkassen und private Investoren stellten ihr bereitwillig Kapital zur Verfügung. Lara Cameron hatte sich einen Namen gemacht.

Kathy Turner nahm ihre Arbeit wieder auf.

»Miss Cameron, da bin ich wieder.«

Lara musterte sie prüfend. »Na, wie fühlen Sie sich?«

Kathy lächelte verlegen. »Großartig!«

»Sind Sie richtig energiegeladen?«

Diese Frage überraschte Kathy. »Ja. Ich ...«

»Gut. Sie werden viel Energie brauchen. Ich mache Sie zu meiner persönlichen Assistentin. Natürlich inklusive Gehaltserhöhung.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich ...«

»Sie haben sich's verdient.« Lara deutete auf das Schreiben in Kathys Hand. »Was ist das?«

»Die Zeitschrift Gourmet möchte Ihr Lieblingsrezept veröffentlichen. Sind Sie daran interessiert?«

»Nein. Schreiben Sie der Redaktion, daß ich zu ... Augenblick!« Lara starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Dann sagte sie halblaut: »Doch, ich weiß ein gutes Rezept.«

Ein Vierteljahr später veröffentlichte Gourmet Lara Came-rons Lieblingsrezept:

Black Bun: Eine schottische Spezialität in einem dünnen Teigmantel, der aus einem halben Pfund Mehl, einem Viertelpfund Butter, etwas kaltem Wasser und einem halben Teelöffel Backpulver besteht. Für die Füllung nehmen wir zwei Pfund

Rosinen, ein Dreiviertelpfund Mehl, ein halbes Pfund Zucker, ein halbes Pfund gehackte Mandeln, zwei Teelöffel Nelkenpfeffer, einen Teelöffel gemahlenen Ingwer, einen Teelöffel Zimt, einen halben Teelöffel Backpulver und einen kleinen Schuß Cognac .

Lara starrte das Rezept lange an und glaubte beinahe, diesen Geschmack auf der Zunge zu spüren, die vertrauten Küchendüfte zu riechen und die Stimmen der Gäste beim Abendessen zu hören. Und sie sah ihren Vater hilflos im Bett. Sie legte die Zeitschrift weg.

Lara Cameron war jetzt so prominent, daß sie von Leuten auf der Straße erkannt wurde und kein Restaurant mehr betreten konnte, ohne erregtes Tuscheln auszulösen. Sie wurde von einem halben Dutzend Verehrer umworben und bekam schmeichelhafte Heiratsanträge, die sie jedoch freundlich dankend ablehnte. Auf seltsame, fast unheimliche Weise hielt sie weiter Ausschau nach einem ganz bestimmten Mann, den sie erkennen würde, obwohl sie ihm noch nie begegnet war.

An manchen Tagen war sie schon um fünf Uhr morgens auf den Beinen und ließ sich von Max, ihrem Chauffeur, zu einer ihrer Baustellen fahren. Dort stand Lara dann, betrachtete ihr Werk und flüsterte in Gedanken: Du hast dich geirrt, Vater. Ich kann die Mieten sehr wohl kassieren!

Für Lara begannen alle Werktage mit dem Rattern von Niethämmern, dem Dröhnen von Baumaschinen und dem Scheppern von Stahlträgern. Dann fuhr sie mit dem klapprigen Bauaufzug bis ganz nach oben, stand in luftiger Höhe auf den Stahlträgern, spürte den Wind im Gesicht und dachte dabei: Diese Stadt gehört mir.

Paul Martin und Lara lagen im Bett.

»Wie ich höre, hast du einige deiner Bauarbeiter angeschrien.«

»Sie hatten's verdient, sie haben schlampig gearbeitet.«

Paul grinste. »Immerhin hast du dir abgewöhnt, sie zu ohrfeigen.«

»Denk lieber daran, was passiert ist, als ich's mal getan habe.« Sie schmiegte sich an ihn. »Dadurch habe ich dich kennengelernt.«

»Nächste Woche muß ich nach L. A.«, sagte Paul. »Wie war's, wenn du mitkommen würdest? Kannst du dir ein paar Tage freinehmen?«

»Ich würde liebend gern, Paul, aber das ist unmöglich. Ich lebe praktisch nach der Stoppuhr.«

Er setzte sich auf und blickte auf sie herab. »Vielleicht machst du einfach zuviel, Baby. Ich fürchte, daß du eines Tages keine Zeit mehr für mich hast.«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Sei ganz unbesorgt, soweit kommt es nie.«

Lara hatte das Grundstück schon oft gesehen, ohne es richtig wahrzunehmen: ein riesiges Areal am Hast River zwischen Wall Street und World Trade Center. Und es war zu verkaufen. Obwohl Lara schon Dutzende von Malen daran vorbeigefahren war, erschien vor ihrem inneren Auge erst jetzt, was dort längst hätte stehen sollen - das höchste Gebäude der Welt. Sie wußte genau, was Howard Keller sagen würde: >Du übernimmst dich, Lara. Das ist eine Nummer zu groß für dich.< Aber sie wußte auch, daß sie ihr Vorhaben gegen alle Widerstände verwirklichen würde.

Sobald Lara wieder im Büro war, bat sie Howard Keller zu sich.

»Ich habe das Grundstück zwischen Wall Street und Hast River besichtigt«, sagte sie. »Wir kaufen es und bauen darauf den höchsten Wolkenkratzer der Welt.«

»Lara .«

»Bevor du Bedenken vorbringst, Howard, möchte ich ein paar Tatsachen feststellen. Die Lage mitten im Business District ist perfekt. Wir werden uns vor Firmen, die dort Büroflächen mieten wollen, kaum retten können. Und denk daran - das wird der höchste Wolkenkratzer der Welt! Das ist bestimmt ein zusätzlicher Anreiz. Dieses Gebäude wird unser Flaggschiff. Es soll Cameron Towers heißen.«

»Woher soll das Geld dafür kommen?«

Lara legte ihm eine Aufstellung hin.

Keller runzelte die Stirn, während er die Zahlen prüfte. »Du bist viel zu optimistisch.«

»Ich bin realistisch. Wir reden nicht von irgendeinem Gebäude, Howard. Wir reden von einem Juwel!«

Er überlegte angestrengt. »Das wäre eine finanzielle Gratwanderung.«

Lara nickte lächelnd.»Nicht unsere erste, stimmt's?«

»Genau! Die Banken versuchen ständig, uns Kredite aufzudrängen. Auf diese Chance werden sie sich stürzen.«

»Schon möglich«, gab Keller zu. Er musterte Lara prüfend. »Das hast du dir wirklich in den Kopf gesetzt, was?«

»Ja.«

Howard Keller seufzte. »Gut, dann brauchen wir als erstes eine Option auf das Grundstück.«

Lara nickte lächelnd. »Die habe ich bereits. Und bei dieser Gelegenheit habe ich erfahren, daß auch Steve Murchison wegen des Grundstücks verhandelt hat.«

»Murchison? Der Mann, dem wir in Chicago das Hotelgrundstück weggeschnappt haben?«

Hier ist Steve Murchison. Ich will 's Ihnen noch mal durchgehen lassen, Sie Schlampe, weil Sie vermutlich nicht wissen, mit wem Sie 's zu tun haben. Aber kommen Sie mir ja nicht wieder in die Quere - das könnte ungesund sein!

»Genau.« Steve Murchison war jetzt einer der erfolgreichsten Immobilienhaie New Yorks.

»Nimm dich vor dem Kerl in acht«, warnte Keller sie. »Der

geht über Leichen!« »Du bist viel zu ängstlich, Howard.«

Die Finanzierung der Cameron Towers war unproblematisch. Lara behielt recht: Viele Banken fanden die Idee reizvoll, den höchsten Wolkenkratzer der Welt mitzufinanzieren. Und der Name Cameron war ein zusätzliches Gütesiegel. Die meisten Banken rissen sich darum, an dem neuen Projekt beteiligt zu werden.

Lara Cameron war inzwischen mehr als nur eine glanzvolle Erscheinung. Sie wurde ein Vorbild, dem viele Frauen nacheiferten. Ein Parfüm wurde nach ihr benannt. Sie wurde zu allen wichtigen gesellschaftlichen Anlässen eingeladen, und jede Gastgeberin war selig, wenn Lara ihr Erscheinen zusagte. Ihr Name an einem Gebäude schien bereits eine Erfolgsgarantie zu sein.

»Wir gründen eine eigene Baufirma«, entschied Lara eines Tages. »Facharbeiter dafür haben wir reichlich. Dann können wir auch Fremdaufträge hereinnehmen.« »Keine schlechte Idee«, stimmte Keller zu. »Gut, die Einzelheiten überlasse ich dir. Wann findet endlich die Zeremonie zum ersten Spatenstich für die Cameron Towers statt?«

»Die Finanzierung steht«, versicherte er ihr. »Spätestens in einem Vierteljahr, schätze ich.«

Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück. »Kannst du dir das vorstellen, Howard? Der höchste Wolkenkratzer der Welt!« Er fragte sich, was Sigmund Freud wohl dazu gesagt hätte.

Der erste Spatenstich für die Cameron Towers wurde in einer wahren Zirkusatmosphäre getan. Lara Cameron, Amerikas Märchenprinzessin, war die Hauptattraktion. Das in den Medien mehrfach angekündigte Ereignis hatte außer den geladenen

Gästen über tausend Schaulustige angelockt, die auf Lara warteten. Die Menge jubelte und klatschte, als ihre weiße Limousine vorfuhr.

»Sie kommt! Das ist sie!«

Als Lara dann ausstieg und zum Podium ging, um den Oberbürgermeister zu begrüßen, mußten Polizisten und Wachmänner die Neugierigen zurückhalten. Gleichzeitig setzte das Blitzlichtgewitter der Fotografen ein.

Auf dem Podium waren Bankiers, die Leiter großer Werbeagenturen, Bauunternehmer, Projektmanager, Vertreter der Stadt und Architekten versammelt. Fünfzig Meter von ihnen entfernt waren zwei Dutzend Radlader und Planierraupen aufgestellt. Hinter ihnen standen dreißig Muldenkipper bereit, die den Aushub abfahren sollten.

Lara stand zwischen dem Oberbürgermeister und dem Vorsitzenden des Bezirksausschusses für Manhattan. Als es zu nieseln begann, kam Jerry Townsend, der PR-Chef von Came-ron Enterprises, mit einem Schirm auf Lara zugehastet. Sie machte ihm lächelnd ein Zeichen, er solle den Schirm wieder mitnehmen.

Der Oberbürgermeister sprach in die Kameras. »Ein großer Tag für Manhattan! Mit der Grundsteinlegung für die Cameron Towers beginnt eines der größten Bauvorhaben in der Geschichte Manhattans. Auf einer Grundfläche von sechs Straßenblocks entstehen Wohngebäude, zwei Einkaufszentren, ein Kongreßzentrum und der höchste Wolkenkratzer der Welt!«

Die Menge applaudierte.

»Wohin man sieht«, fuhr der Oberbürgermeister fort, »stehen elegante Gebäude, mit denen Lara Cameron sich einen Namen gemacht hat.« Er deutete nach Norden. »Uptown erhebt sich das Cameron Center. Nicht weit entfernt stehen das Hotel Cameron Plaza und ein halbes Dutzend Wohn- und Bürogebäude. Und über das ganze Land verteilt sich die Kette von Cameron Hotels.«

Der Oberbürgermeister lächelte Lara an. »Und dabei ist sie ebenso schön wie intelligent.«

Gelächter und wieder Beifall.

»Ladies und Gentlemen ... Lara Cameron.«

Lara blickte in die Fernsehkameras. »Vielen Dank für Ihre schmeichelhafte Einführung«, sagte sie mit einem Lächeln zum Oberbürgermeister hinüber. »Ich freue mich, einen kleinen Beitrag zur Gestaltung unserer wunderbaren Stadt geleistet zu haben. Mein Vater hat mir stets gepredigt, wir seien auf der Welt ...« Sie zögerte kaum merklich. Aus dem Augenwinkel heraus hatte sie in der Menge ein bekanntes Gesicht entdeckt -Steve Murchison! Sie kannte ihn von Zeitungsfotos. Was hat er hier zu suchen? durchfuhr es sie. Sie sprach weiter: »... um sie in besserem Zustand zu verlassen, als wir sie vorgefunden haben. Nun, ich hoffe, daß es mir gelingen wird, mein bescheidenes Teil dazu zu leisten.«

Erneut rauschte Beifall auf. Ein Bauarbeiter übergab Lara einen Sicherheitshelm und einen Spaten mit verchromtem Blatt.

»Jetzt sind Sie dran, Miss Cameron.«

Wieder ein Blitzlichtgewitter.

Lara stieß den Spaten in die zuvor gelockerte Erde und hob ein kleines Loch aus.

Nach dieser Zeremonie wurden vor laufenden Kameras Erfrischungen serviert. Als Lara sich erneut umsah, war Murchison verschwunden.

Eine halbe Stunde später ließ Lara sich in ihrer Limousine ins Büro zurückfahren. Neben ihr saß Jerry Townsend.

»Hat großartig geklappt, finde ich«, sagte er. »Wirklich großartig!«

»Nicht schlecht«, meinte Lara lächelnd. »Danke, Jerry.«

Für die Verwaltung der Firma Cameron Enterprises war im Cameron Center der gesamte fünfzigste Stock reserviert. Bis

Lara hinaufgefahren war, hatte sich herumgesprochen, daß sie unterwegs war. Alle Sachbearbeiter und Sekretärinnen waren fleißig bei der Arbeit.

Lara wandte sich an Jerry Townsend. »Kommen Sie bitte mit in mein Büro.«

Ihr Büro war eine riesige Ecksuite mit Blick über Manhattan.

Lara blätterte in einigen Papieren auf ihrem Schreibtisch, bevor sie zu Townsend aufsah. »Wie geht's Ihrem Vater?« fragte sie. »Hat sein Zustand sich gebessert?«

Was weiß sie von meinem Vater?

»Er ... ihm geht's nicht gut.«

»Ja, ich weiß. Er hat Huntingtonsche Chorea, nicht wahr, Jerry?«

»Ja.«

Eine schreckliche progressive und degenerative Krankheit, deren Hauptmerkmale unkontrollierbare Zuckungen von Gesicht und Gliedern sowie fortschreitender geistiger Verfall waren.

»Woher wissen Sie das mit meinem Vater?« fragte Town-send weiter.

»Ich bin im Beirat des Krankenhauses, in dem er behandelt wird, und habe mitbekommen, wie die Ärzte über seinen Fall gesprochen haben.«

»Sein Leiden ist unheilbar«, sagte Townsend mit gepreßter Stimme.

»Alles ist unheilbar, bis eine Heilmethode gefunden wird«, sagte Lara. »Ich habe mich ein bißchen umgehört. In der Schweiz gibt es einen Arzt, der auf diesem Gebiet erstaunliche Erfolge erzielt hat. Er ist bereit, Ihren Vater in seiner Klinik aufzunehmen. Die Behandlungskosten übernehme ich.«

Townsend stand wie vor den Kopf geschlagen da.

»Einverstanden, Jerry?«

»Ja, vielen Dank«, brachte er mühsam heraus. Ich kenne sie nicht, dachte Jerry Townsend. Niemand kennt sie wirklich.

Weltweit wurde Geschichte gemacht, aber Lara war zu beschäftigt, um etwas davon zu merken. Ronald Reagan war wiedergewählt worden, und in der Sowjetunion war ein gewisser Michail Gorbatschow als Nachfolger Tschernenkos zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden.

Lara errichtete in Detroit einen Komplex von Sozialwohnungen.

1986 begann Lara im New Yorker Stadtteil Queens mit dem Bau von Eigentumswohnanlagen. Anleger rissen sich darum, an der Magie ihres Namens teilzuhaben. Eine Gruppe deutscher Bankiers kam nach New York, um mit Lara zu verhandeln. Diese Besprechung fand unmittelbar nach der Ankunft in New York statt. Die Gäste hatten dagegen protestiert, aber Lara sagte gelassen: »Tut mir leid, Gentlemen, das ist mein einziger freier Termin. Gleich danach fliege ich nach Hongkong.«

Den Deutschen wurde Kaffee serviert. Lara trank Tee. Einer der Gäste fand, der Kaffee schmecke merkwürdig. »Das ist eine eigens für mich geröstete Mischung«, erklärte Lara ihm. »An den Geschmack gewöhnt man sich rasch. Trinken Sie noch eine Tasse!«

Nach Abschluß der Verhandlungen hatte Lara alle ihre Forderungen durchgesetzt.

Ihr Leben bestand aus einer Kette glücklicher Erfolge - bis auf einen beunruhigenden Vorfall. Lara hatte es mehrmals mit Steve Murchison als Konkurrenten zu tun bekommen, aber bisher war es ihr stets gelungen, ihn zu überlisten.

»Wir sollten's nicht übertreiben, finde ich«, warnte Keller sie.

»Ich habe keine Angst vor ihm, Howard.«

Dann wurde eines Morgens eine große Schachtel in Geschenkpapier von Brendel's für sie abgegeben. Kathy stellte sie auf Laras Schreibtisch.

»Sie ist bleischwer«, sagte Kathy dabei. »Ein Hut ist jeden-falls nicht drin .«

Lara riß neugierig das Papier auf und klappte den Deckel hoch. Die Schachtel war voller Erde. Auf der beigelegten Geschäftskarte stand: Bestattungsunternehmen Frank E. Campbell.

Alle Bauvorhaben wurden planmäßig abgewickelt. Als Lara von einem New Yorker Kinderspielplatz las, der wegen bürokratischer Hindernisse nicht eingerichtet werden konnte, griff sie ein, ließ ihn von ihrer Firma anlegen und schenkte ihn der Stadt. Das Medienecho war gewaltig.

Paul telefonierte weiterhin täglich mit ihr, und sie traf sich ein- bis zweimal in der Woche mit ihm.

Lara kaufte sich ein Haus in Southampton und lebte in einer Märchenwelt aus teurem Schmuck, edlen Pelzen und Luxuslimousinen. Ihre Kleiderschränke quollen von Designermodellen über. Für so was hab' ich kein Geld. Hol dir was von der Heilsarmee.

Und Lara orderte eine neue Kollektion.

Ihre Mitarbeiter ersetzten ihr eine Familie. Sie machte sich Sorgen um sie und war großzügig zu ihnen, denn sie hatte nur diese Menschen. Sie dachte an ihre Geburts- und Hochzeitstage. Sie half ihnen, ihre Kinder in guten Schulen unterzubringen und setzte Stipendien aus. Versuchten sie, ihr dafür zu danken, war Lara verlegen. Ihr fiel es schwer, Gefühle auszudrücken, denn ihr Vater hatte sie verspottet, als sie das versucht hatte. Lara hatte sich mit einem Schutzwall umgeben. Niemand soll mir je wieder weh tun, schwor sie sich. Niemand!

Загрузка...