Erstes Kapitel.

Iwan Akimowitsch Samgin war ein Freund des Originellen; als seine Frau ihm den zweiten Sohn geboren hatte und Samgin am Bett der Wöchnerin saß, beteuerte er ihr unaufhörlich:

»Weißt du, Wera, wir geben ihm einen seltenen Namen. Wir haben die ewigen Iwans und Wassilis satt, wie?«

Die von den Geburtswehen erschöpfte Wera Petrowna antwortete nicht. Ihr Gatte richtete seine Taubenaugen auf das Fenster, zum Himmel, wo die windzerfetzten Wolken bald an Eisgang auf dem Fluß, bald an die zottigen Hügel im Moor erinnerten. Dann zählte Samgin besorgt auf, die Luft mit dem kurzen, rundlichen Finger durchbohrend.

»Christophorus? Kirik? Wukol? Nikodemus?«

Jeden Namen vernichtete eine ausstreichende Geste, und nachdem er so ein gutes Dutzend ungebräuchlicher Namen durchgegangen war, rief er befriedigt aus:

»Samson! Samson Samgin – ich hab's! Das ist nicht schlecht! Name eines biblischen Helden, und der Nachname – oh, mein Nachname ist originell!«

»Rüttle nicht am Bett«, bat leise die Frau.

Er entschuldigte sich, küßte ihre Hand, die kraftlos und seltsam schwer war, und horchte lächelnd auf das böse Pfeifen des Herbstwinds und das klägliche Winseln des Kindes.

»Ja – Samson! Das Volk braucht Helden! Doch – ich werde noch einmal nachdenken. Vielleicht... Leonid?«

»Sie ermüden Wera mit Kleinigkeiten«, bemerkte strenge Maria Romanowna, die Hebamme, während sie das Neugeborene wickelte.

Samgin warf einen Blick auf das blutleere Gesicht seiner Frau, brachte ihr über das Kissen verstreutes Haar, das von ungewöhnlich mondgoldner Tönung war, in Ordnung und verließ lautlos das Zimmer.

Die Wöchnerin genas langsam. Das Kind war schwach. Die dicke, aber immer kranke Mutter Wera Petrownas fürchtete, es möchte nicht am Leben bleiben, und drängte zur Taufe. Man taufte es, und schuldbewußt lächelnd gestand Samgin:

»Werotschka, ich habe mich im letzten Augenblick entschlossen, ihn Klim zu nennen. Klim! Ein Name, wie er im Volk gebräuchlich ist. Er verpflichtet zu nichts. Wie denkst du?«

Da sie die Verlegenheit des Gatten und die allgemeine Unzufriedenheit der Angehörigen bemerkte, stimmte Wera Petrowna zu:

»Mir gefällt er.«

Ihr Wort war Gesetz in der Familie, und an die überraschenden Streiche Samgins hatten sich alle gewöhnt. Er verblüffte oft durch die Eigenartigkeit seiner Handlungen, genoß jedoch sowohl innerhalb seiner Familie wie unter den Bekannten den Ruf eines Glücklichen, dem alles leicht gelingt.

Indessen, der nicht ganz gewöhnliche Name des Kindes hob es seit den ersten Tagen seines Lebens aus der grauen Masse heraus.

»Klim?« fragten sich die Bekannten und betrachteten den Knaben besonders aufmerksam, als ob sie zu erraten versuchten: warum nur Klim?

Samgin erklärte:

»Ich wollte ihn Nestor oder Antippas nennen, aber wissen Sie, diese alberne Zeremonie: Sagst du dich los von Satanas? – Blase! Spei aus ..!«

Auch die Hausgenossen hatten ihre Gründe, dem Neugeborenen mehr Beachtung zu schenken als seinem zwei Jahre älteren Bruder Dmitri. Klims Gesundheit war schwach, und dies verdoppelte die Liebe seiner Mutter. Der Vater fühlte sich schuldig, weil er dem Sohn einen falschen Namen gegeben habe. Die Großmutter, die den Namen »bäurisch« fand, schwor, man habe dem Kind ein Leid getan, während Klims kinderlieber Großvater, Gründer und Ehrenvorstand der Gewerbeschule für Waisen, der eine Schwäche für Pädagogik und Hygiene hatte, den zarten Klim offenkundig dem gesunden Dmitri vorzog und den Enkel ebenfalls mit seiner Fürsorge beschwerte.

Klims erste Lebensjahre fielen in die Zeit des verzweifelten Kampfes für Freiheit und Aufklärung, den das Häuflein jener Menschen führte, die den Mut besaßen, sich mannhaft und allein »zwischen Hammer und Amboß« zu werfen, zwischen die Regierung des unfähigen Enkels einer begabten deutschen Prinzessin und das unwissende, in der Sklaverei der Leibeigenschaft stumpf gewordene Volk. Erfüllt von gerechtem Haß gegen die Zarenherrschaft, liebten diese überzeugten Wahrheitsfanatiker »das Volk« und gingen, es aufzuwecken und zu retten. Damit es ihnen leichter fiele, es zu lieben, dachten sie es sich als ein Wesen von einzigartiger geistiger Schönheit, schmückten es mit der Krone des schuldlosen Dulders, mit der Gloriole des Heiligen und stellten seine physischen Qualen hoch über die moralischen, mit denen die grauenvolle russische Wirklichkeit die Besten des Landes verschwenderisch ausstattete.

Der Trauergesang jener Zeit war das zornige Stöhnen des hellhörigsten Dichters der Epoche, und doppelt bang ertönte die Frage die der Dichter an das Volk richtete:

Wirst du endlich erwachen, geschwellt von Kraft?


Oder hast du, gehorsam dem blinden Walten des Schicksals,


Das deinige getan,


Als du das Lied schufst, das dem Stöhnen gleicht,


Und für ewig deinen Geist aufgegeben?

Unermeßlich waren die Leiden, die die Kämpfer für Freiheit und Kultur auf sich nahmen. Doch Haft, Kerker und die Verbannung vieler Hunderte junger Menschen nach Sibirien entflammten nur mächtiger ihren Kampf gegen den plumpen seelenlosen Mechanismus der Staatsgewalt.

Dieser Kampf zog auch die Familie Samgin in Mitleidenschaft. Iwans älterer Bruder Jakow wurde, nachdem er fast zwei Jahre im Gefängnis gesessen hatte, nach Sibirien verschickt, floh, wurde wieder ergriffen und ins Innere Turkestans deportiert. Auch Iwan Samgin entging weder der Verhaftung noch dem Kerker und wurde später von der Universität verjagt. Wera Petrownas Vetter – der Mann der Maria Romanowna – starb auf dem Wege in die Verbannung nach Jalutorowsk.

Im Frühjahr 1879 knallte der verzweifelte Schuß Solowjows. Die Regierung beantwortete ihn mit asiatischen Vergeltungsmaßnahmen.

Damals nahmen einige entschlossene Männer und Frauen den Zweikampf mit dem Despoten auf, hetzten ihn zwei Jahre lang wie ein wildes Tier, brachten ihn endlich zur Strecke und wurden sogleich von einem ihrer Kameraden verraten. Dieser hatte selbst versucht, Alexander II. zu ermorden, aber, wie es scheint, mit eigener Hand die Zündschnur der Bombe, die den Zarenzug in die Luft sprengen sollte, durchschnitten. Des Ermordeten Sohn, Alexander III., belohnte den Attentäter auf das Leben seines Vaters mit dem Titel eines Ehrenbürgers.

Als man die Helden vernichtet hatte, waren sie, wie das immer zu sein pflegt, auf einmal die Schuldigen, die Hoffnungen geweckt hatten, die sie nicht verwirklichen konnten. Diejenigen, die den ungleichen Kampf wohlwollend aus der Ferne verfolgt hatten, wurden durch die Niederlage tiefer entmutigt als die Freunde der Kämpfer, die das Gemetzel überlebt hatten. Viele verschlossen ungesäumt und weise ihre Türen den Überresten der heldischen Gruppe, die gestern noch Begeisterung entfesselt hatten, heute aber nur bloßstellen konnten.

Langsam regte sich skeptischer Unglaube an die »Bedeutung der Persönlichkeit im Schöpfungsprozeß der Geschichte«, ein Unglaube, der Jahrzehnte später ungezügelter Begeisterung für den neuen Helden, die »blonde Bestie« Friedrich Nietzsches, Platz machte. Schnell wurden die Menschen klüger, und Spencer darin zustimmend, daß »Instinkte aus Blei kein Betragen aus Gold« geben können, widmeten sie ihre Fähigkeiten und Kräfte der »Selbsterkenntnis« und dem individuellen Sein. Rasch strebte man der Anerkennung des Schlagwortes »Unsere Zeit ist nicht die Zeit gewaltiger Aufgaben« zu.

Einer der genialsten Künstler, der ein so feines Gefühl für die Macht des Bösen besaß, daß er ihr Schöpfer zu sein schien, brach in einem Lande, wo die Mehrzahl der Herren genau solche Sklaven waren wie ihre Knechte, in das hysterische Geschrei aus:

»Schick dich in dein Los, hoffärtiger Mensch! Dulde, Hoffärtiger!«

Und nach ihm ertönte nicht weniger machtvoll die Stimme eines anderen Genies, die gebieterisch und beharrlich verkündete, zur Freiheit führe nur ein Weg: »Dem Übel nicht widerstreben.«

Das Haus der Samgins war eines der in jenen Jahren schon seltenen Häuser, deren Herren sich nicht beeilten, alle Feuer zu löschen: dieses Haus wurde, wenn auch nicht häufig, von unfrohen, zänkischen Menschen besucht. Sie zogen sich in die Zimmerecken, in den Schatten zurück, sprachen wenig und begleiteten ihre Worte mit einem unangenehmen Lachen. Von ungleichem Wuchs, verschieden gekleidet, glichen sie alle doch sonderbar einander wie Soldaten aus einer Kompagnie. Sie waren keine »Hiesigen«, sie reisten irgendwohin und erschienen bei Samgin auf der Durchreise. Zuweilen blieben sie über Nacht. Auch darin ähnelten sie sich, daß sie alle gehorsam die wütenden Reden Maria Romanownas anhörten und sie sichtlich fürchteten. Vater Samgin aber hatte Angst vor ihnen, – der kleine Klim sah, daß der Vater beinahe vor jedem von ihnen seine weichen, zärtlichen Hände rieb und verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. Einer dieser Menschen, ein schwarzer, bärtiger und wohl sehr geiziger Mann, sagte wütend:

»In deinem Haus, Iwan, geht es zu wie in einem armenischen Witz: immer zehnmal mehr als notwendig. Man hat mir für die Nacht, ich weiß nicht warum, zwei Kissen und zwei Kerzen gegeben.«

Samgins Bekanntenkreis in der Stadt war merklich zusammengeschrumpft, immerhin versammelten sich bei ihm an den Abenden einige Menschen, die mit der Stimmung des gestrigen Tages noch nicht fertig waren. Jeden Abend tauchte aus der Tiefe des Hofflügels hoheitsvoll Maria Romanowna auf, hager, knochig, eine schwarze Brille auf der Nase, mit einem beleidigten Gesicht ohne Lippen und einem Spitzenhäubchen auf dem zur Hälfte ergrauten Haar. Unter dem Häubchen sahen ihre großen, grauen Ohren hervor. Vom zweiten Stock stieg der Mieter Warawka herab, breitschultrig und flammenbärtig. Er sah aus wie ein reichgewordener Lastkutscher, der sich eine ihm fremde Kleidung gekauft hat und sich in ihr nicht rühren kann. Er bewegte sich schwerfällig und behutsam, scharrte aber dabei sehr geräuschvoll mit den Sohlen. Sie waren oval wie Schüsseln, in denen man Fische aufträgt. Bevor er sich an den Teetisch setzte, prüfte er stets besorgt den Stuhl, ob er wohl auch fest genug sei. Alles an ihm und um ihn her ächzte, knarrte und bebte, Möbel und Geschirr fürchteten ihn, und kam er am Flügel vorbei, brummten die Saiten. Doktor Somow erschien, ein finsterer Schwarzbart. Er pflegte an der Türschwelle stehen zu bleiben, alle Anwesenden mit vortretenden, steinernen Augen zu mustern und heiser zu fragen:

»Geht's gut? Gesund?«

Dann schritt er ins Zimmer, und hinter seinem breiten, gedrungenen Rücken ward stets die Doktorsfrau sichtbar, ein mageres, gelbes Persönchen mit riesengroßen Augen. Sie küßte schweigend Wera Petrowna, verneigte sich hierauf vor allen Anwesenden wie vor den Heiligenbildern in der Kirche, nahm möglichst weit von ihnen Platz und saß dann da wie im Wartezimmer eines Dentisten, den Mund mit einem Tuch bedeckend. Unverwandt starrte sie in die Ecke, die am dunkelsten war, und schien zu erwarten, daß gleich jemand aus der Dunkelheit sie rufen werde:

»Komm!«

Klim wußte, sie wartete auf den Tod. Doktor Somow hatte in seiner und ihrer Gegenwart gesagt:

»Nie habe ich einen Menschen getroffen, der eine so alberne Furcht vor dem Tode hat wie meine Gattin.«

Unbemerkt und plötzlich wuchs irgendwo im Finstern einer Ecke ein rothaariger Mann hervor, Stepan Tomilin, Klims und Dmitris Lehrer – rannte, stets aufgewühlt, Fräulein Tanja Kulikowa ins Zimmer, vertrocknet und mit einer komischen, von Blattern zerfressenen Nase. Sie brachte Bücher oder Hefte mit, die mit violetten Worten vollgeschrieben waren, stürzte auf jeden zu und drängte halblaut, mit verhaltener Stimme:

»Jetzt lassen Sie uns lesen! Lesen!«

Wera Petrowna beschwichtigte sie.

»Wir wollen erstmal Tee trinken, die Dienstboten entlassen und dann ...«

»Vorsicht mit den Dienstboten!« warnte Doktor Somow, den Kopf wiegend, und auf seinem Scheitel schien, umgeben von vereinzelten Haarbüscheln, eine graue, runde Lichtung durch.

Die Erwachsenen tranken ihren Tee mitten im Zimmer unter einer Lampe mit weißem Schirm, einer Erfindung Samgins: der Schirm warf das Licht nicht nach unten auf den Tisch, sondern gegen die Decke, und machte, daß ein trauriges Zwielicht durch das Zimmer flutete. In drei Ecken herrschte nächtliches Dunkel. In der vierten, von einer Wandlampe erhellten, neben einem Kübel, in dem ein kolossaler Rhododendron wuchs, befand sich der Tisch der Kinder. Die schwarzen Blattatzen der Pflanze krochen von ihren Stielen die mit Schnüren an Nägeln befestigt waren, über die Wände, die federleichten Wurzeln hingen in der Luft gleich langen grauen Würmern.

Der stramme, pummelige Dmitri saß immer mit dem Rücken zum großen Tisch, während der schmale, magere und à la »Muschik« rund geschorene Klim das Gesicht den Erwachsenen zuwandte, aufmerksam ihren Gesprächen folgte und wartete, bis der Vater ihn den Gästen vorführen würde.

Beinahe an jedem Abend rief der Vater Klim zu sich heran, preßte die Hüften des Knaben zwischen seine weichen Knie und fragte:

»Nun, kleiner Bauer, was ist das Schönste?«

Klim antwortete dann:

»Wenn man einen General beerdigt.«

»Und warum?«

»Die Musik spielt.«

»Und was ist das Schlimmste?«

»Wenn Mama Kopfweh hat.«

»Na, was sagen Sie?« erkundigte sich Samgin sieghaft bei den Gästen, und sein lächerliches rundes Gesicht strahlte von Zärtlichkeit. Im stillen lächelnd, lobten die Gäste Klim, doch ihm selbst gefielen diese Demonstrationen seines Verstandes gar nicht mehr, er fand seine Antworten einfältig. Zum erstenmal gab er sie vor zwei Jahren. Jetzt fügte er sich ergeben und sogar wohlwollend diesem Scherz, da er sah, daß er dem Vater Vergnügen bereitete. Aber er witterte darin schon etwas Beleidigendes, als wenn er ein Spielzeug wäre: drückte man, so quietschte es.

Aus den Geschichten des Vaters, der Mutter und der Großmutter, die die Gäste anhören mußten, erfuhr Klim nicht wenig Erstaunliches und Wichtiges über sich: es stellte sich heraus, daß er schon als ganz kleines Kind auffallend anders gewesen war als seine Altersgenossen.

»Einfache, grobe Spielsachen mochte er lieber als erfinderische und kostbare«, sagte sich überstürzend und die Worte verschluckend der Vater. Die Großmutter wiegte würdevoll ihr graues, majestätisch frisiertes Haupt und bekräftigte seufzend:

»Ja, ja, er liebt das Schlichte.«

Und erzählte nun selbst recht fesselnd, wie rührend Klim schon als Fünfjähriger eine kränkelnde Blume gepflegt habe, die zufällig auf der Schattenseite des Gartens zwischen Unkraut hervorgesproßt war. Er hatte sie begossen, ohne die Blumen auf den Beeten eines Blicks zu würdigen, und als die Blume gleichwohl eingegangen war, hatte Klim lange und bitter geweint.

Ohne der Schwiegermutter zuzuhören, redete der Vater dazwischen:

»Er spielt viel lieber mit dem Enkel der Amme als mit den Kindern seines Kreises!«

Der Vater verstand besser zu erzählen als die Großmutter und immer Dinge, die der Knabe selbst nicht wußte, die er nicht in sich fühlte. Zuweilen schien es Klim sogar, daß der Vater die Reden und Taten, von denen er sprach, selbst ausdachte, damit er mit seinem Sohn prahlen konnte, so wie er mit der staunenswerten Genauigkeit seiner Taschenuhr, seiner Meisterschaft im Kartenspiel und vielen anderen Vorzügen prahlte.

Doch häufiger noch geschah es, daß Klim, wenn er dem Vater zuhörte, staunte: wie konnte er vergessen, woran sein Vater sich erinnerte? Nein, der Vater erdachte nichts, auch Mama sagte ja, in ihm, Klim, stecke viel Ungewöhnliches, und sie gab sogar eine Erklärung, wie dieses in ihm entstanden sei.

»Er ist in einem unruhigen Jahr geboren, wir hatten einen Brand, dann Jakows Verhaftung und vieles mehr. Ich trug sehr schwer an ihm, die Niederkunft erfolgte ein wenig vor der Zeit, daher hat er seine Seltsamkeiten, denke ich.«

Klim hörte, daß sie sich gleichsam entschuldigte oder zweifelte, ob sich das auch wirklich so verhielt. Die Gäste pflichteten ihr bei:

»Ja, natürlich.«

Eines Tages – eine mißglückte Demonstration seiner Geistesgaben hatte ihn erregt – fragte Klim den Vater:

»Warum bin ich ungewöhnlich und Mitja gewöhnlich? Er ist doch auch geboren, als alle aufgehängt wurden?«

Der Vater erklärte es ihm umständlich und lange, aber Klim behielt davon nur das eine: es gab gelbe Blumen, und es gab rote Blumen. Er, Klim, war eine rote Blume. Die gelben Blumen waren fade.

Die Großmutter pflegte, während sie den Schwiegersohn scheel ansah, eigensinnig zu wiederholen, der lächerliche bäurische Name ihres Enkels habe auf seinen Charakter einen schlechten Einfluß. So riefen die Kinder Klim »Klin«, was den Jungen verletzte. Darum ziehe es ihn auch mehr zu den Erwachsenen.

»Das ist sehr schädlich«, sagte sie.

Alle diese Meinungen mißbilligt durchaus der »richtige Greis«, Großvater Akim, der Feind seines Enkels und aller Menschen, ein hoher, gebeugter Greis, öde wie ein abgestorbener Baum. Sein langes Gesicht wird auf jeder Seite von einer Barthälfte umrahmt, die ihm vom Ohr bis auf die Schulter fällt, während Kinn und Oberlippe kahlrasiert sind. Die massige Nase schimmert blau, die Augen scheinen unter den fahlen Brauen zugewachsen. Seine langen Beine wollen sich nicht biegen, die langen Hände mit den krummen Fingern bewegen sich widerwillig und unangenehm. Er trägt beständig einen langschößigen braunen Gehrock und samtene, pelzgefütterte Schaftstiefel mit weichen Sohlen. Er geht am Stock wie ein Nachtwächter. An der Spitze des Stockes ist ein Lederball befestigt, damit er nicht so laut auf den Boden schlägt, sondern im gleichen Ton wie die Stiefelsohlen darüber hinschlürft und scharrt. Er ist eben »der richtige Greis«, und selbst wenn er sitzt, faltet er beide Hände über dem Stock, so wie die alten Männer auf den Bänken im Stadtpark.

»Alles schädlicher Unsinn«, knurrt er. »Ihr verderbt den Jungen. Ihr denkt ihn euch so aus, wie ihr ihn sehen wollt.«

Sogleich entbrannte ein Streit zwischen dem Großvater und dem Vater. Der Vater bewies, daß alles Gute auf Erden ausgedacht sei, und daß schon die Affen, von denen der Mensch abstammt, damit begonnen hätten, etwas auszudenken. Der Großvater scharrte wütend mit dem Stock, strich auf dem Fußboden Nullen durch und schrie mit knarrender Stimme:

»Un-sinn!«

Aber niemand konnte sich Gehör verschaffen: von den saftigen Lippen des Vater sprudelten die Worte so geschwind und reichlich, daß Klim schon wußte, gleich würde der Großvater abwehrend mit dem Stock fuchteln, sich kerzengrade aufrichten, ragend wie ein Manegenpferd, das sich auf den Hinterbeinen erhoben hat, und auf sein Zimmer gehen. Der Vater aber würde ihm nachrufen:

»Du bist ein Misanthrop, Papa!«

So endete es immer.

Klim fühlte recht wohl, daß der Großvater ihn auf jede Weise herabzusetzen suchte, während alle übrigen Erwachsenen ihn geflissentlich in den Himmel hoben. Der »richtige Greis« behauptete, Klim sei einfach ein schwächlicher, schlapper Junge, und es sei nicht das mindeste Besondere an ihm. Mit schlechten Spielsachen spiele er nur deshalb, weil die guten ihm von den regeren Kindern weggenommen würden, und mit dem Enkel der Amme habe er sich angefreundet, weil Iwan Dronow dümmer sei als die Kinder Warawkas. Klim aber, von allen verwöhnt, litte an Eigenliebe, verlange für sich besondere Beachtung und finde die nur bei Iwan.

Dies zu hören, war kränkend, erregte Feindseligkeit gegen den Großvater und Scheu vor ihm. Klim glaubte dem Vater: alles Gute war ausgedacht – Spielzeug, Konfekt, Bilderbücher, Gedichte – alles. Wenn die Großmutter das Mittagessen bestellte, sagte sie häufig zur Köchin:

»Denk dir selber etwas aus.«

Und immer war es notwendig, etwas auszudenken, denn sonst bemerkte einen niemand von den Erwachsenen und man lebte, als wäre man nicht da oder als wäre man nicht Klim, sondern Dmitri.

Klim entsann sich nicht genau, wann er zum erstenmal wahrnahm, daß man sich ihn »ausdachte«, und selbst anfing, sich etwas auszudenken, aber er behielt seine glücklichsten Erfindungen gut im Gedächtnis. Einmal, vor langer Zeit, fragte er Warawka:

»Warum hast du so einen Käfernamen? Bist du kein Russe?«

»Ich bin ein Türke«, antwortete Warawka. »Mein richtiger Name ist Bei: – Schlag-nicht-mit-dem-Knüppelschlag-mit-dem-Pfennig-Bei. »Bei« ist türkisch und heißt auf russisch – Herr.«

»Das ist gar kein Name, sondern ein Ammensprichwort«, sagte Klim.

Warawka packte ihn und warf ihn mühelos wie einen Ball gegen die Decke. Bald darauf machte sich der unangenehme Doktor Somow, dem ein Geruch von Schnaps und gesalzenen Fischen entströmte, an ihn heran. Da mußte man für ihn einen Namen erdenken, rund wie ein Fäßchen. Ausgedacht war auch, daß der Großvater lila Worte sprach. Doch als er sagte, es gebe Menschen, die »sommerlich« und solche, die »winterlich« grollten, schrie die kecke Tochter Warawkas, Lida, empört:

»Das habe ich zuerst gesagt und nicht er!«

Etwas auszudenken, war nicht leicht, aber er verstand, daß alle im Hause, mit Ausnahme des »richtigen Greises«, ihn gerade deswegen mehr liebten als seinen Bruder Dmitri. Als man zu einer Bootpartie aufbrach, und Klim und sein Bruder an Doktor Somow, der mit Mama am Arm träge dahinschlenderte, vorüberliefen, hörte er sogar den finsteren Doktor zu ihr sagen:

»Sehen Sie, Wera, dort gehen zwei, aber es sind zehn – der eine ist die Null und der andere die Eins davor.«

Klim erriet sofort, die Null, das war das rundliche, fade Brüderchen, das dem Vater so lächerlich ähnlich sah. Seit diesem Tag nannte er den Bruder »gelbe Null«, obgleich Dmitri rosig und blauäugig war.

Da Klim merkte, daß die Erwachsenen beständig etwas von ihm erwarteten, suchte er nach dem abendlichen Tee so lange wie möglich an dem Redestrom der Großen zu sitzen, aus dem er seine Weisheit schöpfte. Während er aufmerksam die endlosen Diskussionen verfolgte, lernte er gut, Worte aufzufangen, die sein Ohr besonders kitzelten, und er fragte nachher den Vater nach ihrer Bedeutung. Iwan Samgin erklärte voller Freude, was ein Misanthrop, ein Radikaler, ein Atheist, ein Kulturträger sei, und wenn er es erklärt hatte, lobte er unter Zärtlichkeiten den Sohn.

»Du bist ein gescheiter Junge. Sei nur wißbegierig, sei nur wißbegierig, das ist nützlich.«

Der Vater war recht angenehm, aber nicht so unterhaltsam wie Warawka. Es war schwer zu verstehen, was der Vater sagte, er redete so viel und so geschwind, daß die Worte einander zerquetschten, und seine ganze Rede erinnerte an den Schaum von Bier oder Kwas, wenn er blasenschlagend aus dem Flaschenhals heraufstieg. Warawka redete wenig und mit Worten, wuchtig wie auf den Ladenschildern. In seinem roten Gesicht funkelten lustig die kleinen grünlichen Augen, sein feuriger Bart ähnelte in seiner Fülle einem Fuchsschweif, durch den Bart huschte ein breites rotes Lächeln, und wenn er gelächelt hatte, leckte Warawka sich die sinnlichen Lippen mit seiner langen, ölig glänzenden Zunge.

Ohne Zweifel war er der klügste Mensch. Er war niemals mit jemand einer Meinung und belehrte alle, selbst den »richtigen Greis«, der auch nicht in Einklang mit jedermann lebte, aber verlangte, daß alle den gleichen Weg gingen wie er.

»Rußland hat einen Weg«, redete er und stampfte dazu mit dem Stock auf.

Worauf Warawka ihn anbrüllte:

»Sind wir Europa, ja oder nein?«

Er pflegte zu sagen, mit dem Muschik komme man nicht weit, es gebe nur einen Gaul, der die Fuhre vom Fleck rücken könne – die Intelligenz. Klim wußte, die Intelligenz, das waren der Vater, der Großvater, die Mutter, die Bekannten und natürlich Warawka selbst, der jede beliebige schwere Fuhre vom Fleck rücken konnte. Seltsam war nur, daß der Doktor, auch ein starker Mann, Warawkas Ansicht nicht teilte, vielmehr grimmig seine schwarzen Augen rollte und schrie:

»Das, wissen Sie, ist schon ein starkes Stück!«

Maria Romanowna erhob sich kerzengerade wie ein Soldat und sagte strenge:

»Schämen Sie sich, Warawka!«

Manchmal entfernte sie sich feierlich im hitzigsten Augenblick des Streites, blieb aber an der Türschwelle stehen und schrie rot vor Zorn:

»Besinnen Sie sich, Warawka! Sie stehen an der Grenze des Verrats!«

Warawka, der auf dem stärksten Stuhl saß, lachte schallend, und der Stuhl krachte unter ihm.

Die rundlichen, warmen Handflächen reibend, begann der Vater seine Rede:

»Erlaube, Timofej! Einerseits natürlich die Praktiker innerhalb der Intelligenz, die ihre Energie dem Werk der Industrialisierung zuwenden und in den Staatsapparat eindringen... anderseits jedoch das Vermächtnis der jüngsten Vergangenheit...«

»Du sprichst nach allen Seiten miserabel«, schrie Warawka, und Klim gab ihm recht. Ja, der Vater sprach schlecht und mußte sich immer rechtfertigen, als habe er etwas Ungehöriges getan. Auch die Mutter stimmte Warawka zu.

»Timofej Wassiliewitsch hat recht«, erklärte sie entschieden. »Das Leben erwies sich verwickelter, als wir annahmen. Vieles, was zu unseren unerschütterlichen Glaubenssätzen gehörte, muß neu überprüft werden.«

Sie redete nicht viel, ruhig und ohne gesuchte Worte, und sie wurde selten zornig, doch dann nicht »sommerlich«: laut und unter Donner und Blitzen wie Lidas Mutter, sondern »winterlich«. Ihr schönes Gesicht wurde blaß, die Brauen senkten sich tiefer herab. Den schweren, prachtvoll frisierten Kopf in den Nacken werfend, blickte sie ruhevoll auf den Menschen herab, der sie erzürnt hatte, und sagte etwas Knappes und Einfaches. Wenn sie so den Vater ansah, schien es Klim, als vergrößere sich zwischen ihr und dem Vater der Abstand, obwohl doch beide sich nicht vom Fleck bewegten. Einmal wurde sie sehr »winterlich« zornig auf den Lehrer Tomilin, der lange und eintönig von den zwei Wahrheiten sprach: von der Wahrheit-Erkenntnis und der Wahrheit-Gerechtigkeit.

»Genug«, sagte sie leise, aber so, daß alle verstummten. »Genug der fruchtlosen Opfer. Großmut ist kindlich. Es ist Zeit, klug zu werden.«

»Du bist ja verrückt geworden, Wera!« entsetzte sich Maria Romanowna und verschwand augenblicklich, laut mit den breiten pferdehufähnlichen Absätzen ihrer Stiefel aufschlagend. Klim entsann sich nicht, daß seine Mutter je verlegen geworden wäre, wie das oft dem Vater geschah. Nur ein einziges Mal geriet sie aus ganz unbegreiflichen Gründen in Verwirrung. Sie säumte Taschentücher, und Klim fragte sie:

»Mama, was heißt das: ›Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib‹?«

»Frag deinen Lehrer«, sagte sie, wurde aber sogleich rot und fügte hinzu:

»Nein, frag den Vater.«

Wenn von interessanten und verständlichen Dingen gesprochen wurde, wünschte Klim, die Erwachsenen möchten ihn vergessen, doch wenn die Streitigkeiten ihn ermüdeten, meldete er sich sehr bald, und die Mutter oder der Vater wunderte sich:

»Was, du bist noch hier?«

Über die zwei Wahrheiten stritt man langweilig herum, Klim wollte wissen:

»Woran erkennt man, ob etwas Wahrheit ist oder nicht?«

»Was?« rief fragend und bedeutsam zwinkernd der Vater. »Seht doch einmal!«

Warawka faßte Klim um und antwortete ihm:

»Die Wahrheit, Bruder, erkennt man am Geruch. Sie riecht stark.«

»Wonach?«

»Nach Zwiebel und Meerrettich.«

Alle lachten, und Tanja Kulikow sagte traurig:

»Ach, wie wahr das ist! Die Wahrheit ruft auch Tränen hervor, ja, Tomilin?«

Der Lehrer rückte stumm und behutsam von ihr weg. Tanjas Ohren erröteten zart, sie senkte den Kopf und sah lange unverwandt vor sich hin auf den Fußboden.

Klim machte ziemlich früh die Beobachtung, daß an der Wahrheit der Erwachsenen etwas Falsches, Erdachtes war. Ihre Gespräche drehten sich besonders häufig um den Zaren und das Volk. Das kurze, kratzende Wort »Zar« rief in ihm keinerlei Vorstellungen hervor, bis Maria Romanowna eines Tages ein zweites sagte: »Vampir!«

Sie warf dabei den Kopf so schroff zurück, daß ihre Brille über die Augenbrauen hinauf hüpfte, Klim erfuhr bald und gewöhnte sich an diesen Gedanken, daß der Zar ein Kriegsmann war, sehr böse und schlau, und daß er unlängst »das ganze Volk betrogen« hatte.

Das Wort »Volk« war erstaunlich umfassend, es enthielt die mannigfaltigsten Empfindungen. Vom Volk sprach man mitleidig und ehrfurchtsvoll, freudig und besorgt. Tanja Kulikowa beneidete offenkundig das Volk um irgend etwas, der Vater nannte es einen Dulder, Warawka einen müßigen Schwätzer. Klim wußte, das Volk – das waren die Bauern und ihre Weiber, die in den Dörfern lebten und jeden Mittwoch in die Stadt gefahren kamen, um Holz, Pilze, Kartoffeln und Kohl zu verkaufen. Doch dieses Volk war in seinen Augen nicht jenes wirkliche Volk, von dem alle so viel und so besorgt redeten, das in Versen besungen wurde, das alle liebten, bedauerten und einmütig glücklich zu sehen wünschten.

Das wirkliche Volk dachte Klim sich als eine unübersehbar große Menge Männer von gewaltigem Wuchs, unglücklich und furchterregend wie der unheimliche Bettler Wawilow. Das war ein hochgewachsener Greis mit einem Dach krauser, an Schafwolle erinnernder Haare. Ein schmutzig-grauer Bart wuchs ihm von den Augen bis zum Hals übers ganze Gesicht, vom Mund fehlte jede Spur, und an der Stelle der Augen blinkten zwei trübe Glasscherben. Doch wenn Wawilow unterm Fenster brüllte:

»Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich unser!« öffnete sich in der Tiefe seines Urwaldbartes eine finstere Höhle, drei schwarze Zähne ragten drohend aus ihr hervor, und schwer bewegte sich eine Zunge, dick und rund wie eine Keule.

Die Erwachsenen sprachen voller Mitleid von ihm und gaben ihm ihre Almosen mit Respekt. Klim schien, sie waren sich einer Schuld gegen ihn bewußt, ja fürchteten ihn ein wenig, genau so, wie Klim ihn fürchtete. Der Vater begeisterte sich:

»Das ist der erniedrigte Ilja Muromez, das ist die stolze Kraft des Volkes!« redete er.

Die Amme Jewgenia aber, rund und prall wie ein Faß, rief, wenn die Kinder allzu unartig waren:

»Gleich rufe ich Wawilow!«

Nach ihren Erzählungen war dieser Bettler ein großer Sünder und Bösewicht, der im Hungerjahr den Leuten Sand und Kalk statt Mehl verkauft hatte, dafür vor Gericht kam und sein ganzes Vermögen ausgab, um die Richter zu kaufen, und der, obwohl er in anständiger Armut sein Leben hätte fristen können, es dennoch vorzog zu betteln.

»Das tut er aus Bosheit, den Leuten zum Trotz!« sagte sie, und Klim glaubte ihr mehr als den Geschichten des Vaters.

Es war schwer zu verstehen, was denn eigentlich das Volk war. Einst im Sommer fuhr Klim mit dem Großvater zum Jahrmarkt in ein Kirchdorf. Die riesige Menge festlich gekleideter Bauern und Bäuerinnen, der Überfluß an angeheiterten, ausgelassenen und gutmütigen Menschen setzten Klim in Erstaunen. In Versen, die der Vater ihn auswendig lernen und den Gästen vortragen ließ, fragte Klim den Großvater:

»Wo ist denn das wirkliche Volk, das da stöhnt auf den Fluren, auf den Straßen und im Kerker, das unterm Wagen nächtigt in der Steppe?«

Der alte Mann lachte, wies mit dem Stock auf die Menschen und sagte:

»Da ist es ja, kleiner Schafskopf!«

Klim blieb ungläubig. Doch als in der Vorstadt die Häuser brannten und Tomilin Klim hinführte, um sich die Feuersbrunst anzusehen, wiederholte der Knabe seine Frage. Im dichten Gedränge fand sich kein einziger, der pumpen wollte. Die Polizisten holten ärmlich gekleidete Menschen beim Kragen aus der Menge heraus und trieben sie mit Faustschlägen an die Pumpen.

»Das ist ein Volk«, knurrte der Lehrer und verzog das Gesicht.

»Ist denn dies das Volk?« fragte Klim.

»Wer denn sonst meinst du?«

»Und die Feuerwehr ist auch das Volk?«

»Natürlich. Doch keine Engel.«

»Warum löscht denn nur die Feuerwehr den Brand und nicht das Volk?«

Tomilin sprach lange und ermüdend von Zuschauern und Tatmenschen, doch Klim, der es aufgab, etwas zu verstehen, wünschte Auskunft:

»Und wann stöhnt das Volk?«

»Ich erzähle es dir später«, versprach der Lehrer und – vergaß es.

Das Wichtigste und Unangenehmste über das Volk erzählte Klim dem Vater. In der Dämmerung eines Herbstabends lag er halb ausgezogen und flaumweich wie ein Küken behaglich auf dem Sofa – er konnte sich wunderbar behaglich hinkuscheln. Klim bettete seinen Kopf auf die wollige Brust des Vaters und streichelte mit der flachen Hand die sämischledernen Wangen des Vaters, die straff waren wie ein neuer Gummiball. Der Vater fragte, wovon die Großmutter heute in der Religionsstunde gesprochen habe.

»Von Abrahams Opfer.«

Klim berichtete, wie Gott Abraham befohlen habe, Isaak zu schlachten, aber als Abraham ihn schlachten wollte, sprach Gott: nein, es ist nicht nötig, schlachte lieber einen Widder. – Der Vater lachte ein wenig, umarmte den Sohn und erklärte dann, wie diese Geschichte zu verstehen war.

»Al-le-go-risch. Gott – ist das Volk. Abraham ist der Führer des Volkes. Seinen Sohn opfert er nicht Gott, sondern dem Volke. Siehst du, wie einfach das ist?«

Ja, das war sehr einfach, aber es mißfiel dem Knaben. Er dachte nach und fragte dann:

»Du sagst doch aber, das Volk ist ein Dulder?«

»Nun ja. Darum verlangt es auch Opfer. Alle Dulder verlangen Opfer, – alle und zu allen Zeiten.«

»Wozu?«

»Kleiner Dummbart! Um nicht zu leiden, will sagen, um das Volk zu lehren, wie es leben kann, ohne zu leiden. Christus ist gleichfalls Isaak, Gott-Vater opferte ihn dem Volk. Verstehst du: hier haben wir dasselbe Märchen von Abrahams Opferdarbringung.«

Klim dachte wieder nach und fragte dann vorsichtig:

»Bist du ein Führer des Volkes?«

Diesmal war es der Vater, der mit zugekniffenen Augen nachdenken mußte. Doch überlegte er nicht lange:

»Siehst du, jeder von uns ist Isaak. Ja. Zum Beispiel Onkel Jakow, der verbannt ist, Maria Romanowna, überhaupt unsere Bekannten. Na, nicht alle, aber die meisten Gebildeten haben die Pflicht, ihre Kräfte dem Volk zu opfern.«

Der Vater redete noch lange, doch der Sohn hörte ihm nicht mehr zu, und seit diesem Abend erstand das Volk in ganz neuer Beleuchtung vor ihm, weniger nebelhaft, dafür aber noch drohender als vordem.

Und überhaupt: je weiter er in die Gedankenwelt der Erwachsenen vordrang, desto schwieriger wurde es, sie zu verstehen, desto schwerer, ihnen zu glauben. Der »richtige Greis« war überaus stolz auf seine Waisenschule und erzählte sehr fesselnd von ihr. Doch da nahm er die Enkel zur Weihnachtsbescherung in diese gelobte Schule mit, und Klim erblickte ein paar Dutzend magerer kleiner Knaben, die man in blau und weiß gestreifte Anzüge gesteckt hatte, wie er sie bei weiblichen Sträflingen gesehen hatte. Alle Knaben waren kahl geschoren, viele hatten von Skrofeln zerfressene Gesichter, und alle sahen aus wie lebende Zinnsoldaten. Sie waren in drei Reihen hufeisenförmig um den häßlichen Christbaum herum aufgestellt und starrten ihn gierig, erschrocken und dumm an. Bald erschien ein feistes Männchen mit kahlem Schädel und gelbem Gesicht ohne Bart und Augenbrauen, so daß man glauben konnte, es sei ebenfalls ein abstoßend aufgedunsener Knabe. Er winkte mit den Armen, und alle Gestreiften begannen verzweiflungsvoll zu singen:

Ach du Freiheit, meine Freiheit,


Goldene Freiheit du!

Mit weit aufgerissenen Mäulern, wie Fische auf dem Trocknen, priesen die Knaben den Zaren:

Traun er weiß gewiß, der Teure,


Um unser graues Leben, unsere bittere Not.


Er hat gewiß gesehen, unser Ernährer,


Die Träne des Kummers in unseren Augen.

Das war ohrenbetäubend, und als die Knaben ihren Gesang beendet hatten, wurde es drückend im Saal. Der »richtige Greis« wischte sich mit dem Tuch das schweißnasse Gesicht, Klim schien, daß außer dem Schweiß auch Tränen über die Wangen seines Großvaters rannen. Man wartete die Bescherung nicht ab, Klim hatte Kopfschmerzen bekommen. Unterwegs fragte er den Großvater:

»Lieben die den Zaren?«

»Versteht sich«, erwiderte der Großvater, fügte aber sofort ärgerlich hinzu: »Pfefferkuchen lieben sie.«

Und, nach einigem Schweigen:

»Essen lieben sie.«

Es war peinlich zu glauben, daß der Großvater ein Großmaul war, aber Klim mußte es annehmen.

Die Großmutter, dick und würdig, in einem Morgenrock aus rotem Kaschmir, blickte auf alles durch ihre goldene Lorgnette und sagte mit gedehnter vorwurfsvoller Stimme:

»In meinem Hause...«

In ihrem Hause war alles bemerkenswert und märchenhaft gut gewesen, aber der Großvater glaubte ihr nicht Und brummte spöttisch, während seine dürren Finger in den beiden Hälften seines grauen Backenbartes wühlten:

»Ihr Haus, Sofia Kirillowna, muß das reinste Paradies gewesen sein.«

Die massige Nase der Großmutter lief vor Kränkung rot an, und die Alte schwebte langsam, gleich einer Wolke im Abendrot, davon. Stets trug sie ein französisches Buch in der Hand, in dem ein grünseidenes Lesezeichen steckte. Auf das Lesezeichen waren schwarz die Worte gestickt:

»Gott weiß – der Mensch ahnt nur.«

Niemand liebte die Großmutter. Klim, der dies sah, kam darauf, daß er nicht schlecht daran täte, wenn er zeigte, daß er als Einziger die einsame Greisin liebe. Willig hörte er ihre Geschichten von dem geheimnisvollen Haus. Aber an seinem Geburtstag führte ihn die Großmutter in eine entlegene Straße der Stadt, in die Tiefe eines weiten Hofes und zeigte ihm ein plumpes, graues und verwittertes Gebäude, mit fünf, von drei Säulen geteilten Fenstern, einem verfallenen Söller und einem Zwischengeschoß mit einer Front von zwei Fenstern.

»Dies ist mein Haus.«

Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, der Hof mit einem Haufen zerschlagener Fässer und Flaschenkörbe vollgeworfen und mit Flaschenscherben besät. In der Mitte des Hofes kauerte ein Hund, beschäftigt, sich Kletten aus dem Schwanz zu beißen. Und das alte Männchen auf dem Bild aus dem Klim längst langweilig gewordenen Märchen »Vom Fischer und dem Fischlein« – derselbe Greis, zottelhaarig wie ein Köter, hockte auf den Söllerstufen und kaute Brot mit Schnittlauch.

Klim wollte die Großmutter daran erinnern, daß sie ihm von einem ganz anderen Haus erzählt habe, doch als er ihr ins Gesicht blickte, fragte er:

»Warum weinst du?«

Die Großmutter wischte sich die Tränen mit einem Spitzentüchlein aus den Augen und gab keine Antwort.

Ja, alles war nicht so, wie die Erwachsenen erzählten. Klim schien, den Unterschied verstanden nur zwei Menschen, er und Tomilin, die »Persönlichkeit mit unbekannter Bestimmung«, wie Warawka den Lehrer nannte.

Im Lehrer sah Klim etwas Geheimnisvolles. Er war klein, eckig, hatte ein gespaltenes rotes Bärtchen und kupferbraunes Haar, das ihm auf die Schultern fiel. Der Lehrer blickte starr und gleichsam aus weiter Ferne auf die Dinge. Seine Augen waren seltsam: im Weiß von trüb-milchiger Farbe erschienen die stark gekrümmten goldgesprenkelten Pupillen wie aufgeklebt. Tomilin ging im blauen Ballon eines Hemdes aus besonders rauhem Stoff, in schweren Bauernstiefeln und schwarzen Hosen. Sein Gesicht erinnerte an eine Ikone. Das merkwürdigste an ihm waren seine abstoßend roten, ängstlichen Hände. In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft glaubte Klim, der Lehrer sei halbblind, sehe die Dinge nicht so, wie sie waren, bald größer und bald kleiner, und berühre sie daher so behutsam, daß es geradezu komisch war, es mitanzusehen. Aber der Lehrer trug keine Brille, und immer war er es, der aus den violetten Heften vorlas, unschlüssig blätternd, als erwarte er, daß das Papier sich unter seinen glühenden Fingern entzünde.

Nach dem Tee, wenn das Dienstmädchen Malascha das Geschirr abgetragen hatte, stellte der Vater zwei Stearinkerzen vor Tomilin auf. Alle setzten sich um den Tisch. Warawka schnitt eine Grimasse, als solle er Lebertran einnehmen und fragte übellaunig:

»Was, schon wieder die Weisheiten des erlauchten Grafen?«

Darauf verkroch er sich hinter den Flügel, ließ sich dort in einen Ledersessel fallen, zündete sich eine Zigarre an, und hohl tönten im Rauch seine Worte:

»Kindereien. Der gnädige Herr belieben zu scherzen.«

»Auch ein Denker!« blökte, ebenfalls mißbilligend, der Doktor, während er sein Bier schlürfte.

Der Doktor sah unsympathisch aus, als habe er lange im Keller gelegen, sei muffig geworden, habe am ganzen Körper schwarzen Schimmel angesetzt und ärgere sich jetzt über alle. Er konnte wohl nicht klug sein, hatte er sich doch nicht einmal eine hübsche Frau ausgesucht: die seine war klein, häßlich und böse. Sie sprach selten und karg, nur zwei oder drei Worte, dann schwieg sie wieder eine lange Zeit und starrte in die Ecke. Mit ihr stritt man nicht, als wäre sie nicht da. Zuweilen kam es Klim so vor, als vergesse man sie absichtlich, weil man sie fürchte. Ihre gesprungene Stimme beunruhigte Klim beständig, denn sie zwang ihn zu lauern, daß diese spitznasige Frau etwas Sonderbares sagte, und das tat sie auch manches Mal.

Einmal geriet Warawka plötzlich in Wut, schlug mit der klobigen Handfläche auf den Deckel des Flügels und sagte geifernd wie ein Diakon:

»Unsinn! Jede vernünftige Tat des Menschen wird unvermeidlich eine Vergewaltigung seines Nächsten oder seiner selbst sein.«

Klim erwartete, daß Warawka »Amen!« sagte, doch kam er nicht mehr zu Worte, denn jetzt knurrte der Doktor:

»Der Graf spielt den Naiven. Hat Darwin nicht gelesen.«

»Darwin ist – der Teufel«, sagte laut seine Frau. Der Doktor schlug jäh mit dem Kopf nach vorn, als habe er einen Genickstoß erhalten, und brummte leise in den Bart:

»Bileams Eselin.«

Maria Romanowna schrie Warawka an, doch durch ihr zorniges Geschrei hindurch vernahm Klim die eigensinnige Stimme der Doktorsfrau:

»Er hat uns eingeschärft, Gesetz des Lebens sei das Böse.«

»Genug, Anna!« knurrte der Doktor, der Vater aber begann mit dem Lehrer über irgendeine Hypothese und einen Malthus zu streiten. Warawka stand auf und ging, die Rauchschlange seiner Zigarre hinter sich herziehend, hinaus. Warawka war für Klim der Interessanteste und Verständlichste. Er verheimlichte nicht, daß er viel lieber Préférence spielte, als zuhörte, wenn vorgelesen wurde. Klim fühlte, daß auch sein Vater lieber Karten spielte als zuhörte, aber der Vater gestand es niemals ein. Warawka wußte so gut zu sprechen, daß seine Worte sich im Gedächtnis ansammelten wie Fünfer im Spartopf. Als Klim ihn fragte, was das sei – eine »Hypothese«, antworte er prompt:

»Das ist der Hund, mit dem man auf die Wahrheit Jagd macht.«

Er war lustiger als alle anderen Erwachsenen und gab allen komische Spitznamen.

Klim wurde gewöhnlich zu Bett geschickt, bevor man mit dem Lesen oder dem Préférencespiel begann, doch der Junge sträubte sich immer und bettelte:

»Noch ein bißchen, ein ganz kleines bißchen!«

»Nein, wie er die Gesellschaft der Erwachsenen liebt!« staunte der Vater, und nach diesen Worten ging Klim ruhig in sein Zimmer. Er wußte, er hatte seinen Willen durchgesetzt und die Erwachsenen genötigt, sich noch einmal mit ihm zu beschäftigen.

Manchmal jedoch bat der Vater:

»Sag doch einmal das Gedicht »Betrachtung« auf, vom Vers

»Du, der das Leben beneidenswert wähnt...«

an.

Klim reckte die rechte Hand in die Luft, hielt die linke an den Hosengurt und las mit tragisch verfinstertem Gesicht:

Sättigung mit schamlosem Schmeichlerwort


Müßiggang, Prassen und Spiel. Erwache!

Warawka lachte Tränen, die Mutter lächelte gezwungen, und Maria Romanowna flüsterte ihr prophetisch zu:

»Der wird ein ehrlicher Mensch!«

Klim sah, daß die Erwachsenen ihn immer höher über die anderen Kinder stellten, das tat wohl. Doch er hatte schon Augenblicke, wo er fühlte, daß die Beachtung der Erwachsenen ihn störte. Es gab Stunden, wo auch er so selbstvergessen spielen wollte und konnte, wie der beschopfte, adlernasige Boris Warawka und dessen Schwester, wie sein Bruder Dmitri und die weißblonden Töchter Doktor Somows. Genau wie sie wurde er trunken von Erregung und ging im Spiel auf. Doch kaum merkte er, daß einer der Erwachsenen ihn sah, wurde er sofort nüchtern, – aus Furcht, die Freude am Spielen stoße ihn in die Reihe der gewöhnlichen Kinder zurück. Ihm schien immer, die Erwachsenen beobachteten ihn und forderten von ihm besondere Worte und Taten.

Gleichzeitig mußte er wahrnehmen, daß alle Kinder immer unverhüllter zeigten, daß sie ihn nicht liebten. Sie betrachteten ihn neugierig wie einen Fremden und erwarteten gleich den Erwachsenen irgendwelche Kunststücke von ihm. Doch seine weisen Reden und Sprüche erregten bei ihnen nur spöttisches Frösteln, Mißtrauen und manchmal Feindseligkeit. Klim ahnte, daß sie ihm seinen Ruhm, den Ruhm eines Knaben mit außerordentlichen Gaben, neideten, doch es kränkte ihn trotzdem und rief bald Trauer und bald Ärger in ihm hervor. Er hatte den Wunsch, das Übelwollen der Kameraden zu besiegen, sah aber keinen anderen Weg, als um so eifriger die Rolle weiterzuspielen, die die Erwachsenen ihm aufgezwungen hatten. Er versuchte, Befehle zu geben, Belehrungen auszuteilen und stieß auf den erbitterten Widerstand Boris Warawkas. Dieser gewandte, tollkühne Junge schreckte Klim durch seinen herrischen Charakter. Seine Einfälle hatten stets etwas Waghalsiges, Schwieriges, doch er zwang alle, sich ihm zu fügen, und teilte sich selbst bei allen Spielen die Hauptrolle zu. Er versteckte sich an unzugänglichen Orten, kletterte wie eine Katze auf Dächern und Bäumen. Aalglatt, wie er war, ließ er sich niemals fangen. Endlich ergab sich die gegnerische Partei erschöpft, und Boris höhnte dann:

»Wie, verloren? Ihr ergebt euch? Ihr seid Helden!«

Klim kam es so vor, als denke Boris nie über etwas nach und wisse immer schon vorher, was getan werden mußte. Nur ein einziges Mal gab er sich, aufgebracht durch die Schlappheit seiner Spielgefährten, Träumereien hin:

»Im Sommer schaff' ich mir anständige Feinde an, die Jungens aus dem Asyl oder aus der Ikonenwerkstatt und kämpfe mit ihnen, euch aber laß ich laufen.«

Klim fühlte, der kleine Warawka haßte ihn zäher und offener als die anderen Kinder. Er hatte Lida Warawka gern, – ein schmales Mädel, bräunlich, mit großen Augen unter einer zerzausten Kapuze schwarzer Locken. Sie lief erstaunlich gut und flog über dem Erdboden weg, als berühre sie ihn nicht. Niemand als ihr Bruder konnte sie fangen oder einholen, und, wie der Bruder, nahm sie sich stets die erste Rolle. Wenn sie sich stieß, Arme und Beine zerkratzte, die Nase blutig schlug, weinte oder jammerte sie nicht wie die Somow-Mädchen. Aber sie war krankhaft empfindlich gegen Kälte, liebte Schatten und Dunkelheit nicht und war bei schlechtem Wetter unausstehlich. Im Winter schlief sie ein wie eine Fliege, hockte tagelang in den vier Wänden, ohne an die Luft zu gehen und beklagte sich zornig über Gott, der sie so ganz grundlos kränke und Regen, Wind und Schnee auf die Erde schicke.

Von Gott sprach sie wie von einem lieben alten Mann, ihrem guten Bekannten, der irgendwo in der Nähe lebte, alles machen konnte, was er wollte, aber alles oft nicht so machte, wie es nötig war.

»Es gibt keinen Gott«, erklärte Klim. »Nur Greise und alte Weiber glauben an ihn.«

»Ich bin kein altes Weib und Pawlja ist auch noch jung«, widersprach Lida ruhig. »Ich und Pawlja lieben ihn sehr, Mama aber ärgert sich sehr, weil er sie ungerecht bestraft hat, und sie sagt, Gott spielt mit den Menschen wie Boris mit seinen Bleisoldaten.«

Lida schilderte ihre Mutter als Märtyerin. Man brannte ihr den Rücken mit glühenden Eisen, spritzte ihr Arzneien unter die Haut und peinigte sie auf jede Art.

»Papa will, sie soll ins Ausland reisen, aber sie will nicht, sie hat Angst, daß Papa ohne sie umkommt. Natürlich kann Papa überhaupt nicht umkommen. Aber er widerspricht ihr nicht, er sagt, Kranke denken sich immer gräßliche Dummheiten aus, weil sie Angst vor dem Sterben haben.«

In der Gesellschaft dieses kleinen Mädchens war Klim leicht und wohl, so wohl, wie wenn er den Märchen der Kinderfrau lauschte. Klim begriff, daß Lida in ihm nicht den hervorragenden Knaben sah. In ihren Augen wuchs er nicht, sondern blieb so klein wie vor zwei Jahren, als Warawkas eingezogen waren. Er wurde verlegen und unwillig, wenn er bemerkte, wie das Mädchen ihn wieder in die Welt des Kindlichen und Dummen hinabzog, aber es gelang ihm nicht, sie von seiner Bedeutung zu überzeugen. Das war schon aus dem Grunde schwer, weil Lida eine geschlagene Stunde reden konnte, aber ihm selbst nicht zuhörte und auf seine Fragen keine Antwort gab.

Am Abend, wenn sie vom Spielen ermattet war, wurde sie oft still. Die freundlichen Augen weit geöffnet, so ging sie im Hof und im Garten umher und streifte behutsam mit ihren geschmeidigen Füßen die Erde, als suche sie etwas Verlorenes.

»Komm, wir wollen uns hinsetzen«, schlug sie Klim vor.

In einem Winkel des Hofes, zwischen dem Pferdestall und der Steinwand eines kürzlich erbauten Nachbarhauses verkümmerte ohne Sonne ein hoher Ahornbaum. An seinem Stamm waren alte Bretter und Balken aufgeschichtet, auf ihnen lag in gleicher Höhe mit dem Dach des Pferdestalls der aus Weidenruten geflochtene Schlitten von Großvaters Kutsche. In diesen Wagenschlitten kletterten Klim und Lida und saßen dort lange in traulichem Gespräch beieinander. Das Mädchen fröstelte und schmiegte sich innig an Samgin, und es erfüllte ihn mit besonders wohligem Behagen, ihren festen, sehr heißen Körper zu fühlen und ihre nachdenkliche, spröde Stimme zu hören.

Ihre Stimme war arm. Klim schien, sie schwinge nur zwischen den Noten f und g. Und mit seiner Mutter fand er, daß das Mädchen zu viel für ihr Alter wisse.

»Das mit dem Klapperstorch und dem Kohl ist ein Märchen«, sagte sie. »Das erzählen sie nur, weil sie sich schämen, Kinder zu kriegen. Aber die Mamas kriegen doch welche, genau wie die Katzen, ich habe es gesehen und Pawlja hat es mir erzählt. Wenn mir erst Brüste gewachsen sind wie bei Mama und Pawlja, werde ich auch einen Jungen und ein Mädchen gebären, solche wie ich und du. Gebären ist notwendig, sonst sind es immer dieselben Menschen, und wenn sie gestorben sind, bleibt überhaupt niemand übrig. Dann müssen auch die Katzen und die Hühner sterben, denn wer soll sie füttern? Pawlja sagt, Gott verbietet nur den Nonnen und den Gymnasiastinnen das Kinderkriegen.«

Besonders oft und viel und immer etwas Neues erzählte Lida von ihrer Mutter und dem Dienstmädchen Pawlja, einer rotbäckigen, lustigen Dicken.

»Pawlja weiß alles, sogar mehr als Papa. Pawlja und Mama singen leise Lieder, und beide weinen dabei, und Pawlja küßt Mamas Hände. Mama weint sehr viel, wenn sie Madeira getrunken hat, weil sie krank ist und böse. Sie sagt: ›Gott hat mich böse gemacht.‹ Und es gefällt ihr nicht, daß Papa mit anderen Damen und mit deiner Mama bekannt ist. Sie mag überhaupt keine Damen leiden, nur Pawlja, aber die ist ja keine Dame sondern eine Soldatenfrau.«

Wenn sie erzählte, schloß sie ihre Finger fest zusammen und schlug, sich wiegend, mit ihren kleinen Fäusten auf die Knie. Ihre Stimme erklang immer leiser, immer müder, zuletzt sprach sie wie im Halbschlaf, und Klim wurde von einem Gefühl der Trauer ergriffen.

»Bevor Mama erkrankte, war sie eine Zigeunerin, und es gibt sogar ein Bild von ihr, darauf hat sie ein rotes Kleid an und eine Gitarre in der Hand. Ich werde ein bißchen ins Gymnasium gehen und dann auch zur Gitarre singen, aber in einem schwarzen Kleid.«

Manchmal regte sich in Klim der Wunsch, dem Mädchen zu widersprechen, mit ihr zu streiten, doch er wagte es nicht, denn er fürchtete, daß Lida zornig werden könnte. Da er fand, daß sie das netteste unter den Mädchen war, die er kannte, war er stolz darauf, daß sie ihn besser behandelte als die übrigen Kinder, und als die launische Lida ihm einmal untreu wurde und Ljuba Somow mit auf den Wagenschlitten nahm, fühlte Klim sich schwer getroffen und verraten und weinte zornige Tränen der Eifersucht.

Die Somowmädchen schienen ebenso unangenehm und dumm zu sein wie ihr Vater. Die eine war ein Jahr älter als die andere. Beide waren kurzbeinig und dick und hatten Gesichter, rund und flach wie Untertassen. Wera, die Ältere, unterschied sich von ihrer Schwester nur darin, daß sie immer krank war und Klim nicht so häufig unter die Augen kam. Die Jüngere nannte Warawka »die weiße Maus«, die Kinder gaben ihr den Spitznamen Ljuba-Clown. Ihr weißes Gesicht war gleichsam mit Mehl bestreut, die wässerigen blaugrauen Augen verschwanden hinter den roten Polstern der entzündeten Lider, die farblosen Brauen waren auf der Haut ihrer stark gewölbten Stirn fast nicht zu sehen, das Flachshaar lag wie an den Schädel geklebt. Sie flocht es in ein lächerliches Zöpfchen, an dem eine gelbe Schleife baumelte, Sie war fröhlich, doch Klim argwöhnte, ihre Heiterkeit sei von dem unschönen und nicht klugen Mädchen erdacht. Sie dachte sich viel aus und immer ohne Glück. Sie erfand ein langweiliges Spiel »Wer geht mit Wem?«: – zerschnitt Papier in kleine Vierecke zu festen Röllchen zusammen und ließ die Kinder aus ihrer Rockfalte je drei Röllchen herausziehen.

»Ring, Klang, Wolf«, las Lida ihre Orakel, und Ljuba sagte ihr mit der greisenhaften, schnarrenden Stimme einer Wahrsagerin:

»Du, liebes Fräulein, bekommst einen Pfaffen zum Mann und wirst auf dem Dorf leben.«

Lida wurde böse.

»Du kannst nicht wahrsagen! Ich kann es auch nicht, aber du noch weniger.«

Auf Klims Zettel befanden sich die Worte:

»Mond. Traum. Lauch.«

Ljuba Clown preßte die Zettel in ihrer Faust zusammen, dachte einen Augenblick nach und rief aus:

»Du wirst im Traum sehen, daß du den Mond geküßt und dich verbrannt hast und weinst. Aber nur im Traum.«

»Dummes Zeug, aber fein!« billigte Boris. Unter allen Märchen von Andersen gefiel der Somow am besten »Die Hirtin und der Schornsteinfeger«. In stillen Stunden bat sie Lida, ihr dieses Märchen vorzulesen, hörte stumm zu und weinte ganz ohne Scham. Boris Warawka murrte mit finsterer Miene:

»Hör auf. Noch gut, daß sie nicht in Stücke zerbrochen sind.«

Und diese lächerliche Trauer über den Porzellan-Schornsteinfeger, wie alles an diesem Mädchen, kam Klim gemacht vor. Er hatte sie in dem unbestimmten Verdacht, sich als etwas ebenso Besonderes auszugeben, wie er, Klim Samgin, es war.

Einmal, spät abends, kam Ljuba aufgeregt von der Straße auf den Hof gelaufen, wo lärmend die Kinder spielten, blieb stehen, streckte den Arm hoch zum Himmel empor und schrie:

»Hört doch!«

Alle verstummten und starrten aufmerksam in das blasse Himmelsblau.

Doch niemand vernahm etwas. Klim erfreut, daß Ljuba ein Trick mißlungen war, trampelte mit den Füßen und neckte sie:

»Hast niemand angeführt! Hast niemand angeführt!«

Aber das Mädchen stieß ihn zurück, zog ihr mehliges Gesicht in angestrengte Falten und leierte hastig herunter:

Gestern hat mein Vater seinen Hut aufgesetzt und sah auf einmal aus wie ein weißer Pilz. Ich habe ihn gar nicht wiedererkannt.

Schwieg, bedeckte die Augen und sagte dann in gereiztem, vorwurfsvollen Ton zu Klim:

»Du hast alles verdorben.«

»Er drängt sich immer vor – wie ein Blinder«, sagte finster Boris.

Klim, der sah, daß alle mißvergnügt waren, konnte die Somows noch weniger leiden und empfand wieder, daß er es mit den Kindern schwerer hatte als mit den Erwachsenen.

Wera war langweiliger als ihre Schwester und so häßlich wie sie. Auf ihren Schläfen zeichneten sich blaue Adern ab, Ihre Eulenaugen waren trübe, die Bewegungen ihres schlaffen Körpers unbeholfen, Sie sprach halblaut, zögernd und gedehnt und knetete gleichsam die Worte. Es war schwer zu erraten, wovon sie eigentlich redete. Klim setzte es sehr in Erstaunen, daß Boris den Mädchen Somow so eifrig den Hof machte und nicht der schönen Alina Telepnew, der Freundin seiner Schwester. Wenn es regnete, versammelten die Kinder sich bei den Warawkas in einem riesigen, unordentlichen Zimmer, das gut und gern ein Saal sein konnte. Darin standen ein ungeheures Büfett, ein Harmonium, ein Ledersofa von gewaltiger Breite und in der Mitte ein ovaler Tisch und schwere Stühle mit hohen Lehnen. Die Warawkas lebten in dieser Wohnung schon das dritte Jahr, aber es sah immer noch so aus, als seien sie gestern eingezogen. Alle Sachen standen dort, wo sie nicht hingehörten, und waren in ungenügender Anzahl vorhanden. Das Zimmer machte einen wüsten, ungemütlichen Eindruck.

Meist spielten die Kinder Zirkus. Als Zirkusarena diente der Tisch, unterm Tisch befanden sich die Stallungen. Zirkus war das Lieblingsspiel von Boris, er war Direktor und Dresseur der Pferde. Sein neuer Freund Igor Turobojew übernahm die Rolle des Akrobaten und des Löwen, Dmitri Samgin stellte den Clown vor, die Schwestern Somow und Alina einen Panther, eine Hyäne und eine Löwin, während Lida Warawka die Rolle der Tierbändigerin spielte. Die Raubtiere taten gewissenhaft und ernst ihre Pflicht, schnappten nach Lidas Rock und Beinen und versuchten, sie zu Boden zu werfen und aufzufressen. Boris brüllte wild:

»Die Ferkel sollen nicht quieken! Lidka, schlag sie stärker!«

Klim wurde gewöhnlich das erniedrigende Amt des Stallknechts aufgezwungen. Er hatte die Pferde und Bestien unter dem Tisch hervorzuholen und argwöhnte, man habe ihm dieses Amt absichtlich zugeteilt, um ihn zu demütigen. Überhaupt mißfiel ihm das Zirkusspielen wie alle Spiele, die mit vielem Geschrei verbunden waren und deren man schnell überdrüssig wurde. Er verzichtete bald auf die Teilnahme am Spiel und zog sich ins »Publikum« zurück, das heißt, auf das Sofa, wo Pawla und die Krankenschwester saßen. Boris knurrte:

»Ach, der launenhafte Kerl! Pawla, hol' Dronow, mag er sich zum Teufel scheren.«

Vom Sofa aus verfolgte Klim das Spiel, aber mehr als die Kinder beschäftigte ihn die Mutter Warawka. In einem Zimmer, grell beleuchtet von einer Hängelampe, lag mit aufgerichtetem Oberkörper zwischen einem Berg Kissen – wie in einer Schneegrube – eine schwarzhaarige Frau mit einer großen Nase und ungeheuren Augen im dunklen Gesicht. Der zottelhaarige Kopf der Frau erinnerte von weitem an eine knorrige, verkohlte, aber noch schwelende Baumwurzel. Glafira Issajewna rauchte unaufhörlich dicke, gelbe Zigaretten, mächtige Rauchwolken quollen ihr aus Mund und Nasenlöchern, und es schien, als ob auch die Augen rauchten.

»Klim!« rief sie mit Männerstimme. Klim fürchtete sie. Er näherte sich ihr ängstlich, machte einen Kratzfuß, neigte den Kopf und blieb zwei Schritte vom Bett entfernt stehen, damit der dunkle Arm der Frau ihn nicht erreichte.

»Nun, wie geht es zu Hause?« fragte sie und stieß mit der Faust in die Kissen. »Was macht die Mutter? Im Theater? Warawka ist bei euch? Aha.«

Das »Aha« sprach sie wie eine Drohung aus und stieß den Knaben mit dem bohrenden Blick ihrer schwarzen Augen gleichsam von sich.

»Du bist schlau«, sagte sie. »Man lobt dich nicht umsonst. Du bist schlau. Nein, ich gebe dir Lida nicht.«

Im großen Zimmer brüllte und trampelte Boris.

»Das Orchester! Mama, das Orchester!«

Glafira Issajewna nahm eine Gitarre oder ein anderes Instrument, das einer Ente mit langem, häßlich gerecktem Hals glich, zur Hand. Jammervoll ertönten die Saiten. Klim fand diese Musik böse wie alles, was Glafira Warawka tat. Zuweilen begann sie unvermutet mit tiefer Stimme zu singen – durch die Nase und ebenfalls erbost. Die Texte ihrer Lieder waren seltsam zerstückelt, zusammenhanglos, und dieser heulende Gesang machte das Zimmer noch düsterer und öder. Die Kinder drängten sich auf dem Sofa zusammen und hörten stumm und ergeben zu. Aber Lida flüsterte schuldbewußt:

»Sie kann besser, aber heute ist sie nicht bei Stimme.«

Und sagte sehr sanft:

»Du bist heute nicht bei Stimme, Mama?«

Die Antwort der Mutter war ein undeutliches Knurren.

»Hört ihr?« sagte Lida, »sie ist nicht bei Stimme.«

Klim dachte, wenn diese Frau gesund würde, würde sie etwas Entsetzliches begehen. Doch Doktor Somow beruhigte ihn, er fragte den Doktor:

»Wird Glafira Issajewna bald aufstehen?«

»Zusammen mit allen – am Tage des Gerichts«, antwortete träge Doktor Somow.

Wenn Doktor Somow etwas Schlimmes und Düsteres sagte, glaubte Klim ihm.

Wenn die Kinder zu sehr lärmten und trampelten, kam von unten, von den Samgins, der Vater Warawka herauf und schrie in die Tür:

»Ruhe, ihr Wölfe! Das ist ja nicht zum Aushalten! Wera Petrowna hat Angst, daß die Decke einstürzt.«

»Entern!« kommandierte Boris. Alle stürzten auf seinen Vater los und kletterten ihm auf den Rücken, auf die Schultern und auf den Nacken.

»Sitzt ihr gut?« fragte er.

»Fertig!«

Warawka nahm den Kindern ihr Ehrenwort ab, daß sie ihn nicht kitzeln würden und rannte alsdann im Trab rund um den Tisch, wobei er derartig stampfte, daß das Geschirr im Büfett rasselte, und die Kristallzapfen der Lampe jammervoll klirrten.

»Putz ihn weg!« schrie Boris, und nun begann der allerschönste Augenblick des Spiels: Warawka wurde gekitzelt. Er brüllte, quiekte, lachte, seine winzigen scharfen Äuglein traten angstvoll aus den Höhlen. Eins nach dem andern riß er sich die Kinder vom Körper und schleuderte sie auf das Sofa. Sie sprangen von neuem auf ihn herauf und bohrten ihm die Finger zwischen die Rippen und die Knie.

Klim beteiligte sich nie an diesem rohen und gefahrvollen Spiel. Er hielt sich abseits, lachte und hörte die tiefen Schreie Glafiras:

»So ist es recht! Schlagt ihn tüchtig!«

»Ich ergebe mich!« brüllte Warawka und warf sich aufs Sofa, seine Feinde unter sich quetschend. Man auferlegte ihm ein Lösegeld in Gestalt von Törtchen und Konfekt, Lida kämmte sein zerzaustes Haar und glättete, ihren Finger anfeuchtend, die zottigen Brauen des Vaters, der, nachdem er bis zur Erschöpfung gelacht hatte, jetzt komisch schnaufte, sich mit dem Tuch das schwitzende Gesicht abwischte und kläglich beteuerte:

»Nein, ihr seid keine ehrlichen Leute!«

Hierauf begab er sich ins Zimmer seiner Frau. Sie zischte ihn schon von weitem an, zog die Lippen schief und ihre Augen, die sich im Zorn weiteten, wurden immer tiefer und schrecklicher. Warawka murmelte gezwungen:

»Was ist los? Das sind doch Einbildungen. Hör auf. Schon gut. Ich bin doch kein Greis.«

Das Wörtchen »Einbildungen« war Klim vertraut und verschärfte seine Abneigung gegen die kranke Frau. Ja, natürlich bildete sie sich etwas Böses ein, Klim beobachtete, daß Glafira nachlässig und unfreundlich und oft sogar grob zu den Kindern war. Man konnte glauben, daß sie sich für Boris und Lida nur dann interessierte, wenn sie gefährliche Kunststücke vollführten und riskierten, sich Arme und Beine zu brechen. In solchen Augenblicken heftete sie ihre Augen auf die Kinder, furchte die dichten Brauen, preßte die violetten Lippen fest aufeinander, kreuzte die Arme und krallte die Finger in ihre knochigen Schultern. Klim war überzeugt, wenn die Kinder gefallen wären und sich verletzt hätten, wäre ihre Mutter in jubelndes Gelächter ausgebrochen.

Boris lief in zerrissenen Hemden, struppig und ungewaschen umher, Lida war schlechter gekleidet als die Somows, obgleich ihr Vater wohlhabender war als der Doktor. Klim schätzte die Freundschaft des Mädchens immer höher, es gefiel ihm, schweigend ihrem lieben Geplauder zu lauschen und seine Pflicht, gescheite und unkindliche Dinge zu sagen, zu vergessen.

Doch sobald der schöne Stutzer Igor Turobojew erschien, geputzt, wie ein Bild aus einem Modejournal, unangenehm höflich, doch ebenso gewandt und kühn wie Boris, verließ Lida Klim und wich, ein gehorsames Hündchen, dem neuen Kameraden nicht von der Seite. Das war unbegreiflich, um so mehr, als Boris und Turobojew sich gleich am ersten Tag ihrer Bekanntschaft erzürnt und einige Tage später so grausam geprügelt hatten, daß Blut und Tränen flossen. Klim sah zum erstenmal, wie erbittert Knaben raufen können. Er beobachtete ihre wutentstellten Gesichter, das nackt hervortretende Bestreben, einander so schmerzhaft wie möglich zu schlagen, er hörte ihre schrillen Schreie, ihr Keuchen, – und all das schüchterte ihn so sehr ein, daß er ihnen noch mehrere Tage nach dem Kampf ängstlich auswich und davon durchdrungen war, er, der sich nicht schlagen konnte, sei ein ganz besonderer Junge, Igor und Boris wurden schnell Freunde, wenngleich sie sich beständig zankten und jeder, ohne sich selbst zu schonen, dem anderen eigensinnig zu beweisen suchte, daß er mutiger und stärker sei als der Freund. Boris rannte wild aufgeregt umher, etwas Krampfhaftes ergriff Besitz von ihm, als haßte er, in allen Spielen Sieger zu sein, und fürchte, daß er es nicht schaffen werde.

Durch Turobojews Kommen wurde Klim noch mehr in den Hintergrund gedrängt. Man stellte ihn seinem Bruder Dmitri gleich. Doch den gutmütigen, plumpen Dmitri liebte man, weil er sich befehlen ließ, niemals stritt, nie beleidigt war und geduldig und ohne Geschick die bescheidensten und unvorteilhaftesten Rollen spielte. Man mochte ihn auch, weil er plötzlich und in einer Weise, die Klims brennenden Neid erregte, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erobern wußte: er erzählte ihnen von Vogelnestern, Schlupflöchern, Raubtierhöhlen vom Leben der Bienen und Wespen – stets mit gedämpfter Stimme, und auf seinem breiten Gesicht, in den guten grauen Augen spielte dabei ein seliges Lächeln.

»Dieser Wood ist viel schöner als Main-Reed«, sagte er seufzend. »Und dann kenne ich noch den Brehm.«

Turobojew und Boris verlangten von Klim, daß er sich ihrem Willen ebenso gehorsam fügte wie sein Bruder. Klim gab zum Schein nach, aber mitten im Spiel erklärte er:

»Ich mache nicht mehr mit.«

Und ging weg. Er wollte zeigen, seine Unterwürfigkeit sei nur die Herablassung des Klugen, daß er unabhängig zu sein wünsche und verstehe und über diese ganzen netten Kindereien erhaben sei. Aber niemand verstand ihn, und Boris rief aufgebracht:

»Geh zum Teufel, wir haben dich satt!«

Sein sommersprossiges, spitznasiges Gesicht bedeckte sich mit roten Flecken, die Augen funkelten zornig. Klim fürchtete, gleich würde Warawka ihn schlagen.

Lida blickte ihn scheel von der Seite an und runzelte die Stirn. Die Somows und Alina, die Lidas Verrat bemerkt hatten, wechselten verstohlene Blicke und flüsterten miteinander, und dies alles erfüllte Klims Herz mit nagender Trauer. Doch der Knabe fand Trost in dem Bewußtsein, daß man ihn nicht liebte, weil er klüger war als alle, und hinter diesem Trost tauchte wie sein Schatten der Stolz auf und der Wunsch, zu belehren und Kritik zu üben:

»Kann man denn nichts Unterhaltenderes ausdenken?«

»Denk was aus, aber stör' nicht«, sagte bissig Lida und drehte ihm den Rücken zu.

»Wie grob sie geworden ist«, dachte kummervoll Klim.

Er erfand für sich eine Manier zu gehen, die, wie er sich einbildete, ihm Wichtigkeit verlieh. Er schritt, ohne die Knie einzudrücken, und versteckte die Hände auf dem Rücken, wie der Lehrer Tomilin. Auf die Kameraden blickte er mit zugekniffenen Augen.

»Warum plusterst du dich so auf?« fragte ihn Dmitri. Klim lächelte verachtungsvoll, ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Er konnte den Bruder nicht leiden und hielt ihn für einen Esel.

Turobojew, kalt, sauber und höflich, blickte Klim ebenfalls an, indem er seine dunklen unfreundlichen Augen zukniff – blickte herausfordernd. Sein allzu schönes Gesicht verzog sich zu einer besonders ärgerlichen Grimasse, wenn Klim sich Lida näherte. Aber das Mädchen sprach mit Klim lässig und stets auf dem Sprung, wegzulaufen. Sie trat von einem Fuß auf den anderen und schielte beständig zu Igor hin. Turobojew und sie verwuchsen immer inniger miteinander. Sie gingen Hand in Hand. Klim schien, sogar wenn sie sich dem Spielen hingaben, spielten sie nur für einander und sahen und bemerkten niemand.

Wenn sie Verstecken spielten und Lida die Kinder fangen mußte, lief ihr merkwürdigerweise immer Igor in die Arme.

»Mogelei!« rief Klim, und alle stimmten ihm zu. »Ja, ihr mogelt!« Turobojew zog seine schönen Augenbrauen ganz hoch und versicherte:

»Aber meine Herrschaften, sie ist doch schwach.«

»Nein«, regte Lida sich auf, »gar nicht!«

»Ich bin auch schwach«, erklärte beleidigt Ljuba Clown, doch Turobojew, der sich die Augen zugebunden hatte, war schon dabei zu fangen.

Einmal geschah es, daß Dmitri auf der Flucht vor Lidas Händen ihr einen Stuhl vor die Beine warf. Das Mädchen schlug mit dem Knie an das Stuhlbein und stieß einen Schmerzensschrei aus, Igor verfärbte sich und packte Dmitri an der Kehle:

»Idiot, du spielst unfair.«

Und als eines Tages bemerkt wurde, daß Iwan Dronow den Mädchen forschend unter die Röcke blickte, verlangte Turobojew energisch, daß Dronow nicht mehr mitspielen durfte.

Iwan Dronow nannte sich nicht nur selber beim Nachnamen, auch seine Großmutter mußte ihn mit »Dronow« anreden. Mit seinen krummen Beinen, dem vorstehenden Bauch, dem plattgedrückten Schädel, der breiten Stirn und den großen Ohren, war er von betonter und doch anziehender Häßlichkeit. In seinem breiten Gesicht, in dessen Mitte der rote Pickel der Nase kaum zu sehen war, glänzten schmale, trübblaue, sehr flinke und gierige Äuglein. Gier war die auffälligste Eigenschaft Dronows. Mit ungemeiner Gier sog er die Luft in seine feuchte Nase, als müsse er an Luftmangel ersticken. Gierig und mit verblüffender Geschwindigkeit aß er, wobei er laut mit den grellroten Lippen schmatzte. Er sagte Klim:

»Ich bin ein armer Mensch, ich muß viel essen.«

Auf Drängen Großvater Akims bereitete Dronow sich gemeinsam mit Klim zum Gymnasium vor und legte während des Unterrichts bei Tomilin eine fieberhafte Hast an den Tag. Klim erschien auch diese als Gier.

Wenn er den Lehrer fragte oder ihm antwortete, sprach Dronow sehr schnell, er sog die Worte gleichsam in sich hinein, als wären sie heiß und verbrannten ihm Lippen und Zunge, Klim drang wiederholt in den Kameraden, den der »richtige Greis« ihm aufgezwungen hatte:

»Weshalb bist du so gefräßig?«

Dronow rieb sich die Nase, schielte mit den irren Augen zur Seite und schwieg beharrlich.

Doch in einem günstigen Augenblick senkte er geheimnisvoll seine hohe, schrille Stimme und verriet:

»Ich habe einen hungrigen Wrum im Bauch.«

»Wurm«, verbesserte Klim.

»Deiner heißt Wurm und meiner Wrum.«

Und hastig flüsternd gestand er, seine Tante sei eine Zauberin und habe ihn behext: sie habe ihm den Wurm »Wrum« in den Bauch getrieben, damit ihn, Dronow, Zeit seines Lebens unersättlicher Hunger quäle. Er vertraute Klim ferner an, daß er im selben Jahr geboren sei, als sein Vater gegen die Türken kämpfte, in Gefangenschaft geriet und den türkischen Glauben annahm, und daß er jetzt ein reicher Mann sei, daß aber seine Tante, die Hexe, als sie davon erfuhr, die Mutter und die Großmutter aus dem Haus gejagt habe. Seine Mutter wolle gerne in die Türkei, aber seine Großmutter lasse sie nicht fort.

Klim, der bemerkte, daß Dronow seinen hungrigen Wurm »Wrum« nannte, glaubte ihm nicht. Doch wie er so dem geheimnisvollen Flüstern zuhörte, sah er staunend einen ganz anderen Jungen vor sich: das flache Gesicht des Enkels der Amme verschönte sich, die Augen irrten nicht mehr umher, in den Pupillen entzündete sich das bläuliche Feuer einer Seligkeit, die Klim nicht verstand. Beim Abendessen teilte Klim Dronows Erzählung dem Vater mit. Der Vater äußerte gleichfalls eine rätselhafte Freude:

»Du hörst, Wera? Was für eine Phantasie! Ich sagte immer, der Bengel sei hochbegabt.«

Aber die Mutter sagte Klim, ohne dem Vater zuzuhören, wie sie das oft tat, kurz und trocken, Dronow habe sich das alles ausgedacht: eine Tante, die eine Hexe sei, habe er gar nicht, sein Vater sei tot, er sei verschüttet worden, als er einen Brunnen grub. Die Mutter habe in einer Zündholzfabrik gearbeitet und sei gestorben, als Dronow vier Jahr alt war. Nach ihrem Tode verdingte die Großmutter sich als Amme zu dem Bruder Mitja. Das sei alles.

»Trotzdem, Wera«, sagte der Vater, »bedenke doch ...«

Dmitri Samgin lächelte breit und sagte:

»Klim lügt auch gern.«

Der Vater wandte sich zu ihm hin:

»Das hast du recht plump ausgedrückt, Mitja, man muß zwischen Lüge und Phantasie unterscheiden.«

Jetzt trat Warawka ein, nach ihm erschien der »richtige Greis«. Man begann zu diskutieren, und Klim vernahm wieder einmal nicht wenig, was ihn im Recht und in der Notwendigkeit, sich etwas auszudenken, bestärkte, gleichzeitig jedoch ein Interesse für Dronow in ihm wachrief, das der Eifersucht ähnelte. Gleich am nächsten Tag fragte er Iwan:

»Warum hast du das mit der Tante gelogen? Du hast doch gar keine Tante gehabt.«

Dronow sah ihn wütend schief von der Seite an und erwiderte:

»Und du schwatz nicht Dinge, die du nicht verstehst. Deinetwegen hat mich die Großmutter bei den Ohren genommen. Klatschbase!«

Jeden Morgen um neun Uhr stiegen Klim und Dronow zu Tomilin ins Zwischengeschoß hinauf und saßen bis Mittag in dem kleinen Zimmer, das einer Rumpelkammer glich in die man in unordentlichem Durcheinander drei Stühle, einen Tisch, einen eisernen Waschständer, ein knarrendes Holzbett und einen Haufen Bücher geworfen hatte. In diesem Zimmer war es immer heiß, es roch muffig nach Katzen und nach Taubenmist. Durch das ovale Fenster sah man die Wipfel der Bäume im Garten, ausgeputzt mit Reif oder Schnee wie mit Wattebäuschen. Hinter den Bäumen ragte der graue Wachturm der Feuerwehr in die Höhe, auf seinem runden Dach bewegte sich ein Mensch in grauer Joppe eintönig und langsam im Kreise. Hinterm Wachturm war die Leere des Himmels.

Der Lehrer empfing die Kinder mit einem unbestimmten, stummen Lächeln. Zu jeder Tageszeit sah er aus wie ein Mensch, der eben aufgewacht ist. Er pflegte sich sogleich mit dem Gesicht nach oben auf das Bett zu legen, das Bett ächzte traurig. Die Finger in den ungepflegten roten Büscheln seiner straffen, rauhen Haare vergraben, das kupferbraune, gespaltene Bärtchen gegen die Zimmerdecke gerichtet und ohne seine Schüler anzusehen, fragte er ab und erzählte leise, doch mit verständlichen Worten. Aber Dronow fand, der Lehrer spreche »hinterm Ofen hervor«.

Manchmal und zumeist während der Geschichtsstunde stand Tomilin auf und ging im Zimmer auf und ab, sieben Schritte – vom Tisch zur Tür und zurück. Mit gesenktem Kopf vor sich auf die Füße stierend, scharrte er mit seinen abgetragenen Pantoffeln den Boden und versteckte die Hände auf dem Rücken, wobei er die Finger so fest zusammenpreßte, daß sie dunkelrot anliefen.

Klim Samgin sah, daß Tomilin Dronow lieber und gewissenhafter unterrichtete als ihn.

»Also, Wanja«, fragte er von der Tür her und zupfte sich sein Hemd zurecht. »Was tat Alexander Newski?« Dronow antwortete rasch und bestimmt:

»Der heilige und rechtgläubige Fürst Alexander Newski rief die Tataren ins Land und schlug mit ihrer Hilfe die Russen.«

»Warte mal, was ist das? Woher hast du das?« staunte der Lehrer und bewegte seine buschigen Augenbrauen. Der Mund stand ihm lächerlich offen.

»Das haben Sie gesagt.«

»Ich? Wann?«

»Am Donnerstag.«

Der Lehrer schwieg eine Weile, glättete sich das Haar mit der flachen Hand, trat dann zum Tisch und sagte strenge:

»Das braucht ihr euch nicht zu merken.«

Er hatte die Angewohnheit, laut mit sich selbst zu sprechen. Oft, wenn er einen geschichtlichen Stoff behandelte, versank er eine oder zwei Minuten in tiefes Sinnen und begann dann sehr leise und unverständlich zu reden. In solchen Augenblicken stieß Dronow Klim mit dem Fuß an, blinzelte mit dem linken Auge, das unruhiger war als das rechte, zum Lehrer hin und grinste boshaft. Dronows Lippen glichen denen der Fische: sie waren abgeplattet und hart wie Knorpel. Nach der Stunde fragte Klim:

»Weshalb hast du mich angestoßen?«

»Hi hi!« schluckte aufgeregt Dronow. »Das mit dem Newski hat er gelogen, ein Heiliger wird sich auch mit den Tataren anfreunden! Weil er gelogen hat, – darum brauchen wir es uns auch nicht zu merken. Ein feiner Lehrer. Er lehrt einen etwas, aber merken soll man es sich nicht.«

Wenn er von Tomilin sprach, dämpfte Iwan Dronow die Stimme, sah sich ängstlich nach allen Seiten um und kicherte, und Klim fühlte, während er ihm zuhörte, daß Iwan seinen Lehrer mit Wonne haßte, und daß es ihm Freude bereitete zu hassen.

»Mit wem, glaubst du, unterhält er sich? Mit dem Teufel.«

»Es gibt keine Teufel«, wies Klim ihn streng zurecht.

Dronow sah ihm voll Verachtung in die Augen, spuckte über die linke Schulter, unterließ es aber zu streiten.

Klim, der Dronow eifersüchtig beobachtete, nahm wahr, daß Dronow danach strebte, ihn zu überflügeln, und sein Ziel leicht erreichen würde. Er sah, daß der frische Junge die Erwachsenen überhaupt nicht liebte und sie mit der gleichen Wollust haßte wie seinen Lehrer. Seine dicke, seelengute Großmutter, die sich rührend mit ihm abgab, brachte er zum Weinen mit seinen Bosheiten: er schüttete ihr Asche oder Pfeffer in ihre Tabakdose, verbog ihre Stricknadel, löste die Strumpfmaschen auf, warf den Wollknäuel den Kätzchen zum Spielen vor oder beschmierte den Faden mit Öl und Leim. Die alte Frau züchtigte ihn, bekreuzigte sich aber dann lange vor dem Ikonenwinkel und flehte unter Tränen:

»Mutter Gottes, verzeih mir um Christi willen das Leid, das ich der Waise zugefügt habe!«

Und seufzend steckte sie ihrem Enkel ein Stück Kuchen oder Süßigkeiten zu:

»Da – iß, Dronow, du mein Peiniger.«

»Dein Vater ist aber komisch«, sagte Dronow Klim. »Ein richtiger Vater ist grimmig, oh!«

Vor Wera Petrowna wand Dronow sich wie ein zutrauliches Hündlein. Klim beobachtete, daß der Enkel der Kinderfrau sie ebenso fürchtete wie den Großvater Akim, daß er aber am meisten Angst vor Warawka hatte:

»Der Teufel!« nannte er ihn und erzählte über ihn: Warawka sei ursprünglich Fuhrmann und später Pferdedieb gewesen, davon sei er reich geworden. Klim war sprachlos. Er wußte genau, daß Warawka der Sohn eines Gutsbesitzers und in Kischinew geboren war, in Petersburg und Wien studiert hatte und dann in diese Stadt gekommen war, in der er bereits das siebente Jahr lebte. Als er dies empört Dronow vorhielt, schüttelte der ungestüm den Kopf und murmelte:

»Wien – das gibt es, von dort kommen die Stühle, aber Kisohinew existiert vielleicht nur im Geographiebuch ...«

Klim empfand oft, daß von den seltsamen Einfällen Dronows, von seinen offenkundigen plumpen Lügen eine abstumpfende Wirkung auf ihn ausging. Es schien ihm manchmal, Dronow lüge nur, um ihn zu verhöhnen. Seine gleichaltrigen Kameraden haßte Dronow eher noch heftiger als die Erwachsenen, besonders seitdem die Kinder es ablehnten, mit ihm zu spielen. Beim Spiel glänzte er durch viele scharfsinnige Einfälle, war aber feige und benahm sich gegen die Mädchen roh, vor allem gegen Lida. Er nannte sie verächtlich eine Zigeunerin, kniff sie und suchte sie so hinzuwerfen, daß ihr Schamgefühl verletzt wurde.

Wenn die Kinder auf dem Hof tollten, saß Iwan Dronow als ein Ausgestoßener auf der Küchentreppe. Er hatte die Arme auf die Knie gestützt, preßte seine Hand an die Backenknochen und verfolgte mit von Schmerz verdunkelten Augen die Spiele der Herrenkinder. Selig kreischte er, wenn jemand hinfiel oder sich so verletzte, daß er sich vor Schmerz wand.

»Drück ihn feste!« feuerte er an, wenn Warawka und Turobojew sich prügelten. »Hau ihn gegen das Schienbein!«

Wenn im Garten gespielt wurde, stand Dronow am Zaun, stemmte den Bauch gegen das Gitter und steckte seinen Kopf durch die Stäbe. So stand er und rief von Zeit zu Zeit:

»Faß sie! – Hinterm Kirschbaum hat sie sich versteckt! – Von links mußt du herankommen ...!«

Er suchte auf jede Weise die Spielenden zu stören. Mit berechneter Langsamkeit schlenderte er über den Hof und sah dabei angestrengt auf den Boden.

»Ich habe eine Kopeke verloren!« klagte er, auf seinen krummen Beinen schwankend, darauf bedacht, mit den Kindern so zusammenzustoßen, daß sie ihn umwarfen. Dronow kauerte dann an der Erde, jammerte und drohte:

»Ich beschwere mich!«

Zwei oder drei Wochen war Ljuba Somow mit Iwan innig befreundet, sie gingen zusammen spazieren, versteckten sich in den Winkeln und tuschelten geheimnisvoll und lebhaft. Doch bald – eines Abends – kam Ljuba in Tränen gebadet zu Lida gelaufen und schrie empört:

»Dronow ist ein Dummkopf!«

Warf sich aufs Sofa, vergrub ihr Gesicht in den Händen und wiederholte: »Ach, was für ein Dummkopf!«

Ohne jemand von dem Geschehenen ein Wort zu sagen, stürmte Lida, die tief errötet war, in die Küche, kehrte zurück und verkündete triumphierend und wild:

»Er hat sein Teil bekommen!«

Noch drei Tage danach lief Dronow mit Beulen auf der Stirn und unterhalb des linken Auges herum.

Ja, Dronow war ein unangenehmer, ein abscheulicher Junge. Klim sah aber, daß sowohl der Vater und der Großvater als auch der Lehrer von seinen Fähigkeiten begeistert waren, und witterte in ihm den Rivalen. Neid, Eifersucht und Sorge verzehrten ihn. Gleichwohl zog ihn Dronow an, und oft genug verschwanden die unfreundlichen Gefühle für diesen Knaben, um einem plötzlichen Interesse und der Zuneigung für ihn Platz zu machen.

Es gab Augenblicke, in denen Dronow aufblühte und ein ganz anderer wurde. Versonnenheit nahm von ihm Besitz, er bekam gleichsam Haltung und vertraute Klim mit sanfter Stimme wunderbare Wachträume und Märchen an. So erzählte er einmal, aus dem Brunnen im Hof sei ein riesiger, wie ein Schatten leichter und durchsichtiger Mann gestiegen, durchs Tor hinaus und die Straße hinab gewandert. Als er am Glockenturm vorbeigegangen, sei dieser schwarz geworden und habe sich nach links und rechts geneigt wie ein schlanker Baum im Windstoß.

»Und neulich, bevor der Mond aufging, flog ein ungeheurer schwarzer Vogel über den Himmel, flog an einen Stern heran und pickte ihn auf, flog zu einem zweiten und pickte ihn auch auf. Ich schlief nicht, saß auf dem Fenster und plötzlich wurde mir unheimlich. Ich lief ins Bett, zog die Decke über den Kopf, und, weißt du, mir taten die Sterne so leid, – ich dachte, morgen ist der Himmel ganz leer ...«

»Das denkst du dir aus«, sagte Klim nicht ohne Neid.

Dronow widersprach nicht. Klim begriff, daß er sich alle diese Dinge ausdachte. Aber er erzählte mit einer so überzeugenden Ruhe von seinen Visionen, daß Klim wünschte, die Lügen möchten Wahrheit sein. Zuletzt war Klim sich selbst über sein Verhältnis zu diesem Jungen, der ihn immer heftiger bald anzog, bald abstieß, im unklaren.

Die Aufnahmeprüfung bestand Dronow glänzend. Klim fiel durch. Das traf ihn so hart, daß er, heimgekehrt, den Kopf in den Schoß der Mutter vergrub und laut schluchzte. Die Mutter beruhigte ihn freundlich, sagte ihm viel liebe Worte und lobte ihn sogar:

»Du bist ehrgeizig, das ist gut.«

Abends hatte sie Streit mit dem Vater. Klim hörte sie zornig sagen:

»Du solltest endlich begreifen, daß ein Kind kein Spielzeug ist.«

Nach einigen Tagen aber fühlte der Knabe, daß seine Mutter aufmerksamer und freundlicher geworden war. Sie fragte ihn sogar:

»Liebst du mich?«

»Ja«, sagte Klim.

»Sehr?«

»Ja«, wiederholte er überzeugt. Die Mutter drückte seinen Kopf fest an ihre weiche, duftige Brust und sagte strenge:

»Du sollst mich sehr lieben.«

Klim erinnerte sich nicht, daß seine Mutter ihn früher schon einmal danach gefragt hätte. Sich selbst würde er ihre Frage kaum mit solcher Bestimmtheit beantwortet haben können wie ihr. Unter allen Erwachsenen war Mama die Unzugänglichste, über sie konnte man sich so wenig Gedanken machen wie über eine Heftseite, die noch unbeschrieben war. Alle im Hause fügten sich ihr gehorsam, selbst der »richtige Greis« und die eigensinnige Maria Romanowna – die »Tyrannenmieze«, wie Warawka sie hinter ihrem Rücken nannte. Die Mutter lachte selten und redete wenig, sie hatte ein strenges Gesicht, dichte dunkle Brauen über sinnenden blauen Augen, eine lange spitze Nase und kleine rosige Ohren, Sie flocht ihr mondblondes Haar in einen schweren Zopf und legte ihn sich in Kränzen um den Kopf, was sie sehr groß, viel größer als der Vater, erscheinen ließ. Ihre Hände waren immer heiß. Es war für jedermann klar, daß ihr von allen Männern Warawka am besten gefiel. Sie unterhielt sich mit ihm am liebsten und lächelte ihm viel häufiger zu als den anderen. Alle Bekannten sagten, sie nehme erstaunlich an Schönheit zu.

Auch der Vater veränderte sich – unmerklich, aber stark. Er wurde noch quecksilbriger und zupfte sich sein dunkles Bärtchen, was er früher nicht getan hatte. Seine Taubenaugen blinzelten kurzsichtig und blickten so verloren, als habe er etwas vergessen, woran er sich auf keine Weise erinnern könne. Er war noch redseliger geworden und seine Stimme noch schreiender und betäubender. Er redete über Bücher, Dampfschiffe, Wälder, Feuersbrünste, über den dummen Gouverneur und die Volksseele, über die Revolutionäre, die sich grausam getäuscht hatten, über den wunderbaren Menschen Gleb Uspenski, der »durch alles hindurchsah«. Er redete immer von etwas Neuem und stets mit einer Hast, als fürchte er, daß ihm morgen jemand verbieten würde, davon zu sprechen.

»Wunderbar!« rief er. »Erstaunlich!«

Warawka gab ihm den Spitznamen »Wanja, der Staunende!«

»Du bist wahrhaftig ein Meister im Staunen, Iwan!« sagte Warawka und spielte mit seinem üppigen Bart.

Seine Frau hatte er ins Ausland gebracht, Boris nach Moskau auf eine vorzügliche Schule, die auch Turobojew besuchte. Lida wurde von einer großäugigen alten Frau mit einem grauen Schnurrbart abgeholt und reiste mit ihr in die Krim zu einer Traubenkur. Aus dem Ausland kehrte Warawka verjüngt und spottlustiger denn je zurück. Er hatte gleichsam an Schwere verloren, trat aber im Gehen noch lauter auf und verweilte häufig vor dem Spiegel, mit seinem Bart liebäugelnd, den er so zurechtgestutzt hatte, daß die Ähnlichkeit mit einem Fuchsschweif noch auffälliger wurde. Er begann sogar in Versen zu reden. Klim hörte, wie er zur Mutter sagte:

»Da ich der Finsternis des Irrtums


Mit heißem Wort der Überredung


Die gefallene Seele entriß,

natürlich, damals war ich ein Idiot...«

»Das ist wohl nicht ganz richtig und sehr roh ausgedrückt, Timofej Stepanowitsch«, tadelte die Mutter. Warawka pfiff wie ein Gassenjunge und sagte dann scharf:

»Eine zarte Wahrheit gibt es nicht.«

Beinahe an jedem Abend hatte er Streit mit Maria Romanowna, und sogleich zankte sich auch Wera Petrowna mit ihr. Die Hebamme fuhr in die Höhe, reckte sich kerzengerade auf und sagte ihr mit finster gerunzelten Augenbrauen:

»Wera, besinne dich!«

Der Vater lief aufgeregt zu ihr hin und schrie:

»Beweist denn nicht England, daß das Kompromiß ein Erfordernis der Zivilisation ist?«

Die Hebamme polterte:

»Hören Sie auf, Iwan!«

Darauf lief der Vater zu Warawka:

»Du mußt zugeben, Timofej, in einem gewissen Augenblick verlangt die Evolution einen entscheidenden Schlag ...«

Warawka schob ihn mit einer Bewegung seiner kurzen, starken Hand beiseite und rief, spöttisch lachend:

»Nein, Maria Romanowna, nein!« Der Vater ging zum Tisch, um Doktor Somow beim Biertrinken Gesellschaft zu leisten, und der halbbezechte Doktor knurrte:

»Nadson hat recht: die Feuer sind heruntergebrannt und... wie heißt es doch weiter?«

»... die Zeit der Blüte ist dahin«, half der Vater nach, verständnisvoll mit dem schon ein wenig kahlen Schädel nickend. Nachdenklich trank er sein Bier und schrumpfte gleichsam zusammen.

Auch Maria Romanowna ergraute unversehens, magerte ab und fiel zusammen. Ihre Stimme sank, bekam einen hohlen, zersprungenen Klang und verlor das Herrische. Ihre immer schwarz gekleidete Gestalt rief Wehmut hervor. An sonnigen Tagen, wenn sie über den Hof ging öder im Garten mit einem Buch in der Hand auf und ab wandelte, schien ihr Schatten schwerer und dunkler zu sein als der aller anderen Menschen, er kroch hinter ihr her wie eine Verlängerung ihres Trauerkleides und entfärbte die Blumen und das Gras. Die Streitigkeiten mit Maria Romanowna endeten damit, daß sie hinter dem Wagen, der ihre Sachen fortbrachte, den Hof verließ, – fortging, ohne jemandem Lebewohl zu sagen, in hoheitsvoller Haltung wie immer, in der einen Hand einen Reisesack mit Instrumenten tragend, mit der anderen einen grünäugigen schwarzen Kater an ihre flache Brust drückend.

Gewöhnt, die Erwachsenen zu beobachten, sah Klim, daß unter ihnen etwas Rätselhaftes und Beängstigendes anhub. Es war, als setzten sie sich auf andere Stühle als die, auf denen sie zu sitzen gewohnt waren. Der Lehrer veränderte sich gleichfalls zum Schlechten. Noch immer blickte er auf alles mit den komischen Augen eines Menschen, den man eben aufgeweckt hat, aber jetzt beleidigt und mürrisch, und bewegte dabei die Lippen, als müsse er gleich losschreien, traue sich aber nicht. Klims Mutter sah er genau so an wie Großvater Akim einen falschen Zehnrubelschein, den ihm jemand in die Hand gesteckt hatte. Er sprach mit ihr nur noch in unehrerbietigem Ton. Eines Abends betrat Klim den Salon in dem Augenblick, als Mama auf dem Flügel spielen wollte, und hörte die groben Worte Tomilins:

»Das ist nicht wahr, ich habe gesehen, wie er ...«

»Was willst du, Klim?« fragte eilig die Mutter, der Lehrer verschränkte die Arme auf dem Rücken und ging, ohne seinen Schüler anzusehen, hinaus.

Einige Tage darauf jedoch, in der Nacht, als Klim aufgestanden war, um das Fenster zu schließen, sah er den Lehrer und die Mutter durch den Garten kommen. Mama wehrte mit den Zipfeln ihres blauen Schals die Mücken ab, der Lehrer rauchte und schüttelte seine kupferbraune Mähne. Das Mondlicht war schwerflüssig wie Öl, sogar der Rauch der Zigarette färbte sich in ihm golden. Klim wollte gerade rufen: »Mama, ich schlafe noch nicht!« Aber da schien Tomilin über etwas zu stolpern, fiel auf die Knie, fuchtelte drohend mit den Armen in der Luft herum, stieß einen brüllenden Laut aus und umarmte die Beine der Mutter. Die prallte zurück, stieß seinen zottigen Kopf von sich und ging, nervös den Schal zerreißend, fort. Der Lehrer sank schwer in eine hockende Stellung, sprang dann auf, fuhr sich in die straffen Haare, strich sie glatt und eilte Mama, mit den Armen fuchtelnd, nach. In diesem Augenblick rief Klim angstvoll:

»Mama!«

Sie blieb stehen, wandte den Kopf und ging, dem Lehrer ausweichend wie einem Laternenpfahl, ins Haus. An Klims Bett erschien sie mit einem ungewöhnlich strengen, beinahe fremden Gesicht und tadelte ihn unwillig:

»Du schläfst noch nicht, obwohl es bald zwölf ist, und morgens bist du nicht wachzukriegen. Jetzt wirst du früher aufstehen müssen, Stepan Andrejewitsch wird nicht mehr bei uns wohnen.«

»Weil er deine Beine umarmt hat?« fragte Klim.

Während sie sich mit dem Schal das Gesicht wischte, sprach sie nicht mehr ungehalten, sondern in dem eindringlichen Ton, womit sie ihm während der Musikstunde eine unbegreifliche Konfusion in den Noten erklärte. Sie sagte, der Lehrer habe ihr eine Raupe vom Rock genommen, weiter nichts, Ihre Beine habe er nicht umarmt, denn das wäre unanständig gewesen.

»Ach, mein Junge, mein Junge! Du denkst dir ja immer etwas aus«, seufzte sie. Klim, der nicht wünschte, daß sie ihm an den Augen ablese, daß er ihr nicht glaubte, senkte den Blick. Aus Büchern und aus den Gesprächen der Erwachsenen wußte er schon, daß ein Mann nur dann vor einer Frau niederkniet, wenn er in sie verliebt ist. Es war keineswegs nötig, auf die Knie zu fallen, um eine Raupe vom Rock zu nehmen.

Die Mutter streichelte zärtlich sein Gesicht mit ihrer heißen Hand. Er erwähnte den Lehrer nicht weiter, bemerkte nur noch, Warawka liebe den Lehrer auch nicht. Und fühlte, wie die Hand der Mutter zusammenzuckte und seinen Kopf heftig in das Kissen stieß. Als sie fort war, dachte er im Einschlafen: Wie seltsam! Die Erwachsenen fanden immer dann, wenn er die Wahrheit sprach, daß er sich etwas ausdachte!


Tomilin war in eine kleine, schmale Sackgasse gezogen, die von einem blauen Häuschen abgeriegelt wurde. Über der Vortreppe des Hauses hing ein Schild:

Koch und Konditor.


Nehme Bestellungen für Hochzeiten, Bälle


und Leichenfeiern entgegen.

Das Zimmer, das Tomilin beim Koch gemietet hatte, lag ebenfalls im Zwischengeschoß, war aber heller und sauberer. Doch er verschandelte es in wenigen Tagen mit Bergen von Büchern. Es schien, als sei mit ihm seine ganze frühere Behausung samt ihrem Staub, ihrer schwülen Luft und dem leisen Knarren ihrer von der Sommerglut ausgetrockneten Dielenbretter übergesiedelt. Unter den Augen des Lehrers hatten sich bläuliche Säckchen gebildet, die goldenen Funken in den Pupillen waren erloschen, der ganze Mensch irgendwie kläglich verwahrlost. Jetzt erhob er sich in den Stunden überhaupt nicht mehr von seinem liederlichen Bett.

»Die Beine schmerzen mir«, sagte er.

»Weil er sich damals im Garten die Knie verletzt hat«, mutmaßte Klim.

Seine Stunden erteilte Tomilin jetzt ungeduldig, in seiner leisen Stimme klang Gereiztheit. Zuweilen schloß er die schwermütigen Augen, schwieg lange und fragte plötzlich wie aus weiter Ferne:

»Nun, verstanden?«

»Nein.«

»Denk nach!«

Klim dachte jedoch nicht darüber nach, was es mit dem Gerundium für eine Bewandtnis hatte und wohin der Fluß Amu-Darja floß, sondern darüber, warum und weshalb niemand diesen Menschen liebte. Weshalb sprach der kluge Warawka stets in einer so spöttischen und verletzenden Weise von ihm? Der Vater, Großvater Akim, alle Bekannten übersahen Tomilin wie einen Schneider. Einzig Tanja Kulikow fragte von Zeit zu Zeit: »Was meinen Sie dazu, Tomilin?«

Er antwortete ihr barsch und achtlos. Er hatte über alles eine andere Meinung als die anderen, und eigensinnig klang seine blecherne Stimme, wenn er mit Warawka stritt.

»Im Grunde genommen ...« war seine beständige Redewendung.

»Im Grunde genommen!« äffte Warawka nach. »Hol der Teufel Ihren Grund! Hundertmal wichtiger ist die Tatsache, daß Karl der Große Gesetze über Hühnerzucht und den Handel mit Eiern erlassen hat.«

Der Lehrer widersprach salbungsvoll:

»Der Sache der Freiheit sind die Laster eines Despoten viel weniger gefährlich als seine Tugenden.«

»Fanatismus!« rief Warawka, Tanja aber sagte erfreut:

»Ach nein, das ist unglaublich wahr! Ich will es mir notieren!«

Sie kritzelte die Worte auf den Umschlag von Klims Heft, vergaß aber, sie abzuschreiben, und so verbrannten sie, ohne in die Grube ihres Gedächtnisses gelangt zu sein, im Ofen. Das war nämlich Warawkas Ausdruck:

»Nun, Tanja, wühlen Sie rasch mal in der Müllgrube Ihres Gedächtnisses!«

An vieles hatte Klim zu denken. Alles rings um ihn wuchs ins Weite und drängte ebenso brutal und beharrlich in seine Seele wie die Wallfahrer in die Himmelfahrtskirche mit dem wundertätigen Bild der Mutter Gottes. Noch vor gar nicht langer Zeit standen die vertrauten Dinge an ihrem Platz, ohne Interesse zu wecken. Nun lockten sie ihn an, während andere, liebe Dinge ihren Zauber verloren. Selbst das Haus dehnte sich aus. Klim, der überzeugt war, daß es darin nichts Unbekanntes gäbe, sah plötzlich Neues auftauchen, das er früher nicht bemerkt hatte. Im halbdunklen Korridor über dem Kleiderschrank blickten ihn von einem Bild, das früher nur ein dunkles Viereck gewesen war, die sinnenden Augen einer grauhaarigen, in Nacht begrabenen alten Frau an. Auf dem Dachboden, in einem altertümlichen, eisenbeschlagenen Koffer entdeckte er eine Menge reizvoller, wenn auch zerbrochener Gegenstände: Bilderrahmen, Porzellanfiguren, eine Flöte, ein mächtiges Buch in französischer Sprache mit Bildern, die Chinesen darstellten, ein dickes Album mit den Porträts lächerlicher, schlecht frisierter Menschen. Das Gesicht eines von ihnen war mit Blaustift übermalt.

»Das sind die Helden der Großen Französischen Revolution, und dieser Herr dort ist Graf Mirabeau«, erklärte der Lehrer, er erkundigte sich mit spöttischem Lächeln: »Unter dem Gerümpel hast du es gefunden, sagst du?« und im Album blätternd, wiederholte er nachdenklich:

»Ja, ja, die Vergangenheit ... Gerümpel ...«

Klim entdeckte im Hause sogar ein ganzes Zimmer, bis zur Decke vollgestopft mit zerbrochenen Möbeln und einem Haufen von Gegenständen, deren einstige Bestimmung schon dunkel, ja geheimnisvoll geworden war. Es sah aus, als seien alle diese verstaubten Dinge plötzlich ins Zimmer gestürmt wie ein Menschenhaufen, den eine Feuersbrunst erschreckt. In der Panik hatten sie sich übereinander gewälzt, sich zermalmend und verstümmelnd, bis sie einander zertrümmert hatten und gestorben waren. Traurig war der Anblick dieser Verwüstung, die zerbrochenen Dinge erfüllten mit Mitleid.


Ende August, eines Morgens früh, erschien ungewaschen und struppig Ljuba-Clown. Mit den Füßen trampelnd und vor Schluchzen erstickend, keuchte sie:

»Kommt rasch, – Mama ist verrückt geworden!« Sie fiel vor dem Sofa nieder und versteckte ihren Kopf unter dem Kissen.

Klims Mutter machte sich sogleich auf den Weg. Das Mädchen befreite ihren Kopf aus dem Kissen, kauerte sich auf dem Boden nieder, sah Klim kläglich mit nassen Augen an und berichtete:

»Ich habe schon gestern, als sie mit einander schimpften, gesehen, daß sie verrückt geworden ist. Warum nicht der Papa? Er ist immer betrunken.«

Auf die Füße springend, ergriff sie Klims Ärmel.

»Wir gehen hin!«

Ohne zu wissen wie, von Ljuba mitgezogen, stand Klim auf einmal in der Wohnung der Somows. Im halbdunklen Schlafzimmer, dessen Fensterläden geschlossen waren, auf einem verwühlten, zerfetzten Bett wand sich Sofia Nikolajewna in Zuckungen. Ihre Hände und Füße waren mit Handtüchern zusammengebunden. Sie lag mit dem Gesicht nach oben, zuckte wild mit den Schultern, krümmte die Knie, schlug mit dem Kopf gegen die Kissen und brüllte:

»Nein, nein!«

Ihre Augen, schrecklich aus den Höhlen getreten, hatten sich bis zum Umfang von Fünfkopekenstücken geweitet. Sie stierten in den Lampenschein und waren rot wie glühende Kohlen. Unterhalb des einen Auges brannte eine Schramme, aus der Blut sickerte.

»Nein!« schrie die Doktorsfrau mit hohler Stimme und, noch lauter:

»Nein, nein!«

Ihre Zuckungen wurden heftiger, ihre Stimme klang böser und schriller. Der Doktor lehnte zu Häupten des Bettes an der Wand und nagte und kaute an seinem schwarzen, borstigen Bart. Er war unanständig aufgeknöpft, struppig, seine Hosen wurden von einem Hosenriemen gehalten, den anderen hatte er sich um den Handrücken gewickelt und zerrte ihn hoch. Die Hosen rutschten hinauf und hinunter, die Beine des Doktors zitterten wie die eines Betrunkenen, und seine trüben Augen zwinkerten so heftig, daß es schien, als klapperten die Lider wie die Zähne seiner Frau. Er schwieg, wie wenn sein Mund für immer unter dem Bart zugewachsen wäre.

Ein zweiter Arzt, der alte Williamson, saß am Tisch, blinzelte ins Kerzenlicht und schrieb vorsichtig etwas auf. Wera Petrowna schüttelte ein Glas mit einer trüben Flüssigkeit. Mit einem Teller mit Eis und einem Hammer lief das Dienstmädchen durch das Zimmer.

Plötzlich krümmte die Kranke sich wie ein Bogen, fiel auf den Fußboden, schlug mit dem Kopf auf und kroch weiter, wobei sie wie eine Eidechse den Körper wand und triumphierend kreischte:

»Aha? Nein!«

»Haltet sie!« rief Klims Mutter. Der Doktor löste sich schwerfällig von der Wand, hob seine Frau auf, legte sie auf das Bett, befahl irgend jemandem: »Geben Sie noch Handtücher!« und setzte sich dann zu ihren Füßen.

Die Frau fuhr in die Höhe und stieß ihren Kopf gegen seine Backe. Er erhob sich mit einer heftigen Bewegung, und sie schlug von neuem dumpf auf den Fußboden. »Aha, aha!« röchelnd, machte sie sich daran, ihre Füße loszubinden.

Klim versteckte sich im Winkel zwischen der Tür und dem Schrank. Wera Somow kauerte hinter ihm, legte ihr Kinn auf seine Schulter und flüsterte:

»Das geht doch vorüber, nicht wahr, das geht vorüber?«

Ljuba rannte mit Handtüchern an ihnen vorbei und wimmerte:

»O Gott, o Gott!«

Plötzlich fragte sie, mit dem Fuß aufstampfend, die Schwester:

»Werka, bekommen wir keinen Tee?«

Klims Mutter wurde auf den Lärm aufmerksam und rief streng:

»Kinder, hinaus!«

Sie befahl ihnen, Tanja Kulikow zu holen. Alle Bekannten dieses jungen Mädchens bürdeten ihr die Pflicht einer aktiven Teilnahme an ihren Trauerspielen auf.

Die Kinder begaben sich in raschem Schritt nach dem Vorort. Klim schwieg bedrückt. Er ging hinter den Schwestern und hörte durch sein tiefes Entsetzen hindurch, wie die ältere Somow ihrer Schwester Vorhaltungen machte:

»Mama ist verrückt geworden, und du schreist, ich will Tee haben!«

»Halts Maul, du Drachen!«

»Du bist gierig und schamlos.«

»Und du willst vielleicht die Tugendhafte spielen?«

Sie blieb stehen und schloß sich Klim an:

»Ich gehe nicht mehr mit ihr, komm, laß uns spazierengehen.«

Klim ging willenlos an ihrer Seite. Nach einigen Schritten sagte er:

»Liebst du deine Mama?«

Ljuba bückte sich, um das gelbe Blatt einer Pappel aufzuheben, seufzte und sprach:

»Ich ... ich weiß nicht. Vielleicht liebe ich überhaupt noch niemand.«

Während sie mit dem staubigen Blatt ihre geschwollenen Augenlider rieb und ungeschickt stolperte, fuhr sie fort:

»Vater klagt, es sei schwer, zu lieben. Einmal hat er sogar Mama angeschrien; versteh doch, Närrin, ich liebe dich ja! Siehst du?«

»Was?« fragte Klim, aber Ljuba hörte seine Frage wohl nicht.

»Und sie sind vierzehn Jahre verheiratet...«

Klim fand, Ljuba redete dummes Zeug, und achtete nicht mehr auf ihre Worte, sie aber redete unaufhörlich fort, langweilig wie eine Erwachsene, und schwenkte dabei einen Birkenzweig, den sie vom Trottoir aufgenommen hatte, in der Luft herum. Ihnen selbst unerwartet, waren sie an das Ufer des Flusses getreten und ließen sich auf einem Stapel Balken nieder. Aber die Balken waren feucht, Ljuba beschmutzte sich ihren Rock, wurde unwillig und lief über die Balken zu einem Boot, das an ihnen festgemacht war. Sie setzte sich ans Steuer, Klim folgte ihr. Lange saßen sie schweigend. Ljuba betrachtete das verzerrte Bild ihres Gesichts im Wasser, schlug mit dem Zweig hinein, wartete, bis es im grünlichen Spiegel von neuem auftauchte, schlug wieder hinein und wandte sich ab:

»Wie häßlich ich bin! Nicht wahr, ich bin häßlich?«

Da sie keine Antwort erhielt, fragte sie:

»Warum schweigst du?«

»Weil ich keine Lust habe, etwas zu sagen.«

»Daß ich häßlich bin?«

»Nein, ich mag überhaupt nichts sagen.«

»Du schämst dich einfach, die Wahrheit zu sagen«, beharrte Ljuba. »Aber ich weiß, daß ich garstig bin und einen schlechten Charakter habe. Das sagen Papa und Mama, beide. Ich muß ins Kloster gehen ... Ich will nicht mehr hier sitzen!«

Sie sprang auf, lief rasch über die Balken und verschwand. Klim saß noch lange am Steuer des Bootes und blickte ins trägfließende Wasser, niedergedrückt von einer öden Trauer wie er sie noch niemals empfunden hatte, wunschlos, durch seine Trauer hindurch ahnend, daß es nicht gut war, den Menschen zu gleichen, die er kannte.

Die Mutter empfing ihn mit dem erschreckten Ausruf:

»Herrgott, wie du mich ängstigst!«

Klim schien, diese Worte galten nicht ihm, sondern dem Herrgott.

»Hast du dich sehr erschrocken?« verhörte ihn die Mutter. »Es war überflüssig, daß du hingingst. Wozu?«

»Was hat man mit ihr gemacht?« fragte Klim.

Die Mutter sagte, die Somows hätten sich gezankt, und die Frau des Doktors habe einen heftigen nervösen Anfall bekommen. Man habe sie ins Krankenhaus bringen müssen.

»Es ist keine Gefahr. Sie sind beide nicht recht gesund. Sie haben viel Schweres erlebt und sind vor der Zeit alt geworden.«

Nach ihrer Erzählung waren der Doktor und seine Frau zerbrochene Menschen, und Klim erinnerte sich an das Zimmer, das mit Gerümpel vollgestopft war.

»Es ist keine Gefahr«, wiederholte die Mutter.

Aber Klim konnte ihr aus irgendeinem Grund nicht glauben, und es zeigte sich, daß sein Gefühl ihn nicht trog: zwölf Tage später starb des Doktors Frau. Dronow vertraute ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, sie sei aus dem Fenster gesprungen und habe dabei den Tod gefunden.

Am Tage ihrer Beerdigung, morgens früh, kam der Vater von einer Reise zurück. Er hielt am Grabe der Doktorsfrau eine Rede und weinte. Alle Bekannten weinten, nur Warawka hielt sich abseits, rauchte eine Zigarre und schimpfte mit den Bettlern.

Doktor Somow ging vom Friedhof aus zu Samgins, betrank sich rasch und krakeelte in seinem Rausch:

»Ich habe sie geliebt, sie aber haßte mich und lebte nur, um mir das Dasein zu verleiden.«

Klims Vater tröstete den Doktor wortreich, der aber reckte seine schwarze behaarte Faust bis zur Höhe des Ohrs, schüttelte sie und krächzte, während Tränen der Betrunkenheit sein Gesicht überströmten:

»Fünfzehn Jahre habe ich mit einem Menschen gelebt, mit dem mich nicht ein gemeinsamer Gedanke verband, und ich liebte ihn, liebte ihn und liebe ihn noch. Sie aber hat alles gehaßt, was ich las, dachte und sprach ...«

Klim hörte, wie Warawka halblaut zur Mutter sagte:

»Sehen Sie mal, was der sich alles ausgedacht hat.«

»Es ist ein Körnchen Wahrheit darin«, verwies ihn ebenso leise die Mutter.

Man schaffte den Doktor ins Bett, in das Zwischengeschoß, wo Tomilin gewohnt hatte. Warawka hielt ihn unter den Achseln fest und stemmte seinen Kopf gegen seinen Rücken, während der Vater mit einer brennenden Kerze voranging. Doch eine Minute später stürzte er, mit dem Leuchter, dem die Kerze entfallen war, fuchtelnd, ins Eßzimmer und rief mit gedämpfter Stimme:

»Wera, komm rasch, Großmutter ist es schlecht geworden.«

Die Großmutter war gestorben.

Sie hatte auf der Küchentreppe gesessen und die Küken gefüttert und war plötzlich ohne einen Laut umgesunken. Es war seltsam, aber nicht schrecklich, ihren großen breithüftigen Körper zu sehen, der vornüberhing. Der Kopf lag auf der Seite, und das Ohr war wie lauschend an die Erde gepreßt, Klim blickte auf ihre blaue Wange, auf ihr offengebliebenes ernstes Auge, fühlte keine Angst, sondern staunte nur. Er hatte gedacht, die Großmutter habe sich so sehr daran gewöhnt, mit dem Buch in der Hand, einem geringschätzigen Lächeln im dicken, würdevollen Gesicht und der stets gleichen Vorliebe für Hühnerbouillon fortzuleben, daß diese ihre Lebensweise unendlich lange währen konnte, ohne daß sie jemand störte.

Als man den unförmigen Körper, der wie ein riesiges Bündel alter Kleider aussah, ins Haus getragen hatte, sagte Dronow:

»Die ist mal schön gestorben.« Und fügte sogleich, zu seiner Großmutter gewandt, hinzu:

»Da, nimm dir ein Beispiel, Amme!«

Die Amme war der einzige Mensch, der stille Tränen über dem Sarg der Entschlafenen vergoß. Bei Tisch, nach der Beerdigung, hielt Iwan Akimowitsch eine kurze und dankerfüllte Rede über Menschen, die zu leben verstanden, ohne ihre Angehörigen zu stören. Akim Wassiljewitsch Samgin dachte nach und sagte:

»Auch für mich ist es wohl Zeit, mich zu den Vätern zu versammeln.«

»Er ist nicht sehr überzeugt davon«, flüsterte Warawka an Wera Petrownas rosigem Ohr. Das Gesicht der Mutter war nicht traurig, nur ungewöhnlich milde. Ihre strengen Augen leuchteten sanft. Klim saß an ihrer anderen Seite, vernahm das Flüstern und merkte, daß der Tod der Großmutter niemand schmerzte. Bald erkannte er, daß er für ihn sogar einen Gewinn bedeutete: die Mutter gab ihm das freundliche Zimmer der Großmutter mit dem Fenster auf den Garten und dem milchweißen Kachelofen in der Ecke. Das war schön, denn es wurde beunruhigend und unangenehm, mit dem Bruder in einem Zimmer zu wohnen. Dmitri arbeitete lange und störte ihn beim Schlafen. Seit einiger Zeit besuchte ihn auch der ungenierte Dronow, und häufig murmelten und wisperten sie bis spät in die Nacht.

Dronow trug jetzt einen engzugeknöpften langen, ihm über die Knie reichenden Gymnasiastenrock, war abgemagert, hatte den Bauch eingezogen und sah mit seinem kahlgeschorenen Kopf wie ein Liliputsoldat aus. Wenn er mit Klim sprach, schlug er die Schöße seines Rocks zurück, vergrub die Hände in den Taschen, spreizte gewichtig die Beine, rümpfte seinen rosa Nasenknopf und fragte:

»Und du, Samgin, lernst schlecht, höre ich? Ich dagegen bin schon der Dritte in der Klasse.«

Er straffte die Schultern, bewegte die Arme und sagte selbstgewiß:

»Sollst sehen, ich werde besser als Lomonossow.«

Großvater Akim hatte durchgesetzt, daß Klim doch ins Gymnasium aufgenommen wurde. Aber der Knabe glaubte sich beim ersten Examen von den Lehrern ungerecht behandelt und hatte bei der zweiten Prüfung bereits eine vorgefaßte Meinung gegen die Schule. Gleich nachdem Klim die Gymnasiastenuniform angezogen hatte, blätterte Warawka in den Schulbüchern und schleuderte sie verächtlich beiseite:

»Sie sind ebenso blöde, wie die Bücher, aus denen wir lernen mußten.«

Hierauf erzählte er lange und witzig von der Dummheit und der Bosheit der Lehrer, und Klim behielt besonders gut im Gedächtnis, was er von der Ähnlichkeit des Gymnasiums mit einer Zündholzfabrik sagte:

»Die Kinder werden wie die Hölzchen mit einem Stoff bestrichen, der sich leicht entzündet und schnell verbrennt. So erhält man miserable Zündhölzer, bei weitem nicht alle zünden, und lange nicht mit jedem kann man Feuer machen.«

Klim ging der Ruf eines Jungen von außergewöhnlichen Fähigkeiten vorauf, er machte die Lehrer doppelt aufmerksam und mißtrauisch und erregte die Neugier der Schüler, die in dem neuen Kameraden so etwas wie einen Zauberkünstler vermuteten. Sofort fühlte Klim sich wieder in der vertrauten, aber nur noch qualvolleren Lage eines Menschen, der die Pflicht hat, so zu sein, wie man ihn zu sehen wünscht. Doch er hatte sich an diese Rolle fast gewöhnt, die für ihn offenbar etwas Unentrinnbares war, so unentrinnbar wie die allmorgendlichen kalten Abreibungen, wie die Portion Lebertran, die Suppe zum Mittag und das lästige Zähnereinigen vor dem Schlafengehen.

Der Selbsterhaltungstrieb gab ihm ein, wie er sich zu benehmen hatte. Er erinnerte sich, daß Warawka dem Vater einzuschärfen pflegte:

»Vergiß nicht, Iwan, je weniger ein Mensch spricht, desto klüger erscheint er.«

Klim beschloß, so wenig wie möglich zu reden und der rasenden Herde kleiner Unholde aus dem Weg zu gehen. Ihre aufdringliche Neugier kannte kein Erbarmen, und Klim sah sich in den ersten Tagen in der Lage eines gefangenen Vogels, dem man die Federn ausrupft, bevor man ihm den Hals umdreht. Er war in Gefahr, sich unter den gleichaltrigen Knaben, die sich kaum voneinander unterschieden, zu verlieren, – sie rissen ihn in ihre Mitte hinein und suchten ihn zu einem unscheinbaren Teilchen ihrer Masse zu machen.

Erschreckt verbarg er sich hinter der Schutzmaske der Langenweile, in die er sich einhüllte wie in eine Wolke. Er zwang sich zu einem gemessenen Schritt, versteckte die Hände auf dem Rücken wie Tomilin und gab sich das Aussehen eines Knaben, der mit etwas sehr Ernstem beschäftigt ist, fern allen Streichen und wilden Spielen.

Von Zeit zu Zeit verhalf ihm das Leben selbst zur Einkehr: in einer regnerischen Septembernacht erschoß sich Doktor Somow auf dem Grabe seiner Frau.

Seine erkünstelte Nachdenklichkeit erwies sich für ihn von zweifachem Nutzen: die Knaben ließen das langweilige Menschenkind bald in Ruhe, und die Lehrer sahen in ihr die Erklärung dafür, daß Klim Samgin während der Stunden häufig unaufmerksam war. Die meisten Lehrer waren geneigt, sich seine Zerstreutheit auf diese Weise zu erklären, mit Ausnahme eines boshaften alten Männchens mit einem herunterhängenden chinesischen Schnurrbart.

Dieser erteilte Unterricht in der russischen Sprache und in Geographie, die Kinder nannten ihn den »Unfertigen«, weil sein linkes Ohr kleiner war als das rechte, wenngleich so wenig, daß sogar Klim, als man es ihm zeigte, sich nicht sofort von der Ungleichheit der Ohren seines Lehrers überzeugen konnte. Der Knabe fühlte gleich in den ersten Stunden, daß der Alte nicht an seine Begabung glaubte, ihn überführen und verhöhnen wollte. Jedesmal, wenn er Klim vorrief, glättete der Greis seinen Schnurrbart und spitzte seine violetten Lippen, als wolle er pfeifen. Dann musterte er Klim sekundenlang durch seine Brille und fragte endlich milde:

»Nun, Samgin, woran ist die Seenzone reich?«

»An Fischen.«

»So. Vielleicht gibt es dort auch Wälder?«

»Ja.«

»Und, wie denkst du, sitzen die Fische in den Bäumen?«

Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus, der Lehrer schmunzelte und entblößte seine braunen, goldplombierten Zähne.

»Warum, mein Genialer, hast du dich so schlecht vorbereitet?«

Kehrte Klim dann an seinen Platz zurück, erblickte er vor sich die Phalanx kugelförmiger, geschorener Köpfe, gefletschter Zähne, vielfarbiger Augen, in denen das Lachen funkelte. Dieser Anblick trieb ihm Tränen der Kränkung in die Augen.

Nach Ansicht der Jungen waren die Stunden des »Unfertigen« ein Jux. Klim fand ihn dumm und boshaft und kam endgültig zu der Überzeugung, daß das Gymnasium langweiliger und schwieriger sei als die Stunden bei Tomilin.

»Warum spielst du nie mit?« fiel Dronow in der Pause über Klim her. Er war bis zur Rotglut erhitzt, strahlend, glücklich. Er gehörte wirklich zu den besten Schülern seiner Klasse und zu den ersten Lausbuben im ganzen Gymnasium. Es schien, er beeilte sich, alle Spiele nachzuahmen, von denen ihn Turobojew und Boris Warawka ausgeschlossen hatten. Wenn er mit Klim und Dmitri aus dem Gymnasium kam, pfiff er selbstgefällig und lachte ungeniert über die Mißerfolge der Brüder. Doch nicht selten fragte er Klim:

»Gehst du heute zu Tomilin? Ich komme mit.«

Und wenn er dann den rothaarigen Lehrer aufsuchte, sog er sich an ihm fest und überschüttete ihn mit Fragen über Religion, den ödesten Gegenstand, den es für Klim gab. Tomilin ließ lächelnd seine Fragenflut über sich ergehen und antwortete zaudernd. Nachdem er ihn verlassen hatte, pflegte er einen Augenblick in Schweigen zu verharren und sich dann mit den Worten Glafira Warawkas an Klim zu wenden:

»Nun, wie geht es zu Hause?«

Er fragte in einem Ton, als erwarte er etwas Überraschendes zu hören. – Seine Bücher türmten sich im Zimmer zu immer höheren Bergen rings um ihn. In der Ecke und am Fußende des Bettes ragten sie beinahe bis an die Decke. Sich auf dem Bette rekelnd, belehrte er Klim:

»Edelmetalle nennt man diejenigen Metalle, die beinahe oder überhaupt nicht oxydieren. Merke dir das, Klim. Edle und geistesstarke Menschen oxydieren auch nicht, das heißt – sie trotzen den Schicksalsschlägen und dem Unglück, und überhaupt...«

Solche Erläuterungen zu den Wissenschaften behagten dem Jungen mehr als die Wissenschaften selbst und wurden von ihm besser behalten. Tomilin aber war mit seinen Erläuterungen sehr freigebig. Er schien sie von der Zimmerdecke abzulesen, die mit früher einmal weißem, jetzt aber schon stark vergilbtem und von einem Netz von Rissen durchzogenem Glanzpapier beklebt war. »Ein zusammengesetzter Stoff verliert beim Erhitzen einen Teil seines Gewichts, ein einfacher erhält oder vergrößert das seine.«

Schwieg und ergänzte:

»Du, zum Beispiel, bist nicht mehr einfach genug für dein Alter. Dein Bruder ist zwar älter, aber kindlicher als du.«

»Aber Mitja ist dumm«, erinnerte Klim.

Mit mechanischer Ruhe wie immer entgegnete der Lehrer:

»Ja, er ist dumm, doch gemäß seinem Alter. Jedem Lebensalter entspricht eine bestimmte Dosis Dummheit und Verstand. Was man in der Chemie mit Kompliziertheit bezeichnet, ist etwas vollkommen Gesetzmäßiges, hingegen besteht das, was man im Charakter des Menschen als Kompliziertheit auszugeben pflegt, häufig nur in seiner Einbildung. Es ist Spielerei. Die Frauen... zum Beispiel...«

Wieder verstummte er, als wäre er mit offenen Augen eingeschlafen. Klim sah von der Seite das porzellanähnliche glänzende Weiß seiner Augäpfel, es erinnerte ihn an die toten Augen Doktor Somows. Er erriet, daß sein Lehrer, als er sich Betrachtungen über die Einbildung hingab, mit sich selbst sprach und seinen Schüler gänzlich vergessen hatte, und oft hoffte Klim, er würde im nächsten Augenblick etwas über seine Mutter und jene Szene im Garten, als er ihre Knie umarmte, verraten. Doch der Lehrer sagte:

»Eine gesunde Einbildung hat die Form der Frage, der Vermutung: ist es wohl so? Von vornherein wird ehrlich damit gerechnet, daß es vielleicht nicht so ist. Schädliche Einbildungen geschehen immer in der Form der Behauptung: so ist es und nicht anders. Daraus entspringen dann Verirrungen, Enttäuschungen und überhaupt ... Ja.«

Klim folgte diesen Reden mit gierigem Ohr und bemühte sich angestrengt, sie seinem Gedächtnis einzuverleiben. Er empfand Dankbarkeit für den Lehrer. Dieser unansehnliche Mensch, den niemand liebte, sprach mit ihm wie mit einem Erwachsenen und Gleichgestellten. Das war sehr nutzbringend: Klim machte von den Aussprüchen des Lehrers als von seinen eigenen Gebrauch und befestigte damit seinen Ruf eines gescheiten Jungen.

Doch manchmal schreckte ihn der Rothaarige: er verlor sich in so langen und wirren Reden, daß Klim husten, mit dem Absatz auf den Boden klopfen oder ein Buch fallen lassen mußte, um sich bemerkbar zu machen. Doch auch dieser Lärm weckte Tomilin nicht immer aus seiner Vergessenheit, er redete weiter, sein Gesicht wurde wie Stein, seine Augen traten vor Anstrengung aus den Höhlen und Klim erwartete, Tomilin würde gleich losschreien wie die Frau des Doktors: »Nein! Nein!«

Besonders unheimlich war der Lehrer, wenn er beim Sprechen die Hand vor das Gesicht hob und mit den Fingern in der Luft etwas Unsichtbares rupfte, wie der Koch Wlas Rebhühner oder anderes Geflügel.

In solchen Augenblicken sagte Klim laut:

»Es ist schon spät.«

Tomilin starrte in die Finsternis vor dem Fenster und erklärte zustimmend:

»Ja, für heute ist's genug.« Und er streckte dem Schüler die behaarten Finger mit den schwarzen Trauerrändern hin. Der Knabe ging fort, weniger mit Wissen als mit Betrachtungen beladen.

An den Winterabenden war es schön, über den knirschenden Schnee zu schlendern und sich vorzustellen, wie zu Hause beim Tee Vater und Mutter von den neuen Gedanken ihres Sohnes überrascht sein würden. Schon lief der Laternenanzünder mit einer Leiter über der Schulter leichtfüßig von Lampe zu Lampe und spannte gelbe Lichter in die blaue Luft. Angenehm erklangen in der Winterstille die Laternenscheiben. Kutschpferde trabten, die rauhen Köpfe schüttelnd, vorüber. An einer Straßenkreuzung ragte ein steinerner Schutzmann und folgte mit greisen Augen einem kleinen, aber würdevollen Gymnasiasten, der gemächlich von einer Ecke zur anderen spazierte.

Jetzt, da Klim einen großen Teil des Tages außerhalb des Hauses zubrachte, entglitt vieles seinen im Beobachten geübten Augen. Immerhin bemerkte er, daß es immer unruhiger im Hause wurde. Die Menschen bekamen einen anderen Gang, und selbst die Türen fielen mit einem anderen Geräusch ins Schloß.

Der »richtige Greis« setzte seine stockig steif gewordenen Beine behutsam eins vors andere, stieß heftig mit dem Stock auf den Boden und hustete so, daß seine Ohren zitterten und Hals und Gesicht die Farbe reifer Pflaumen annahmen. Immerfort mit dem Stock aufstoßend und mit einem wütenden Husten kämpfend, sprach er:

»Sie, Gnädigste, haben seinen weichen Charakter ausgenutzt ... Sie haben die kindliche Vertrauensseligkeit Iwans ausgenutzt, Gnädigste, Sie haben ...«

Die Mutter warnte leise:

»Nicht so laut, im Eßzimmer ist jemand.«

»Ich muß Ihnen sagen, Wera Petrowna ...«

»Bitte, ich höre.«

Die Mutter ging zur Eßzimmertür und schloß sie fest zu.

Immer häufiger fuhr der Vater in den Wald, auf die Fabrik oder nach Moskau. Er war zerstreut geworden und brachte Klim auch keine Geschenke mehr mit. Sein Haar hatte sich stark gelichtet, die Stirn war zurückgetreten und lastete schwer über den Augen, die sich immer starrer wölbten. Sie waren farblos und stumpf geworden, ihr blaues Dunkel war erloschen. Er hatte eine lächerliche, hüpfende Art zu gehen angenommen, die Hände in den Taschen und einen Walzer pfeifend. Die Mutter betrachtete ihn immer mehr als einen Gast, der bereits langweilig geworden ist, aber noch immer nicht begreift, daß es für ihn Zeit ist, zu gehen. Sie begann, sich sorgfältiger und festlicher zu kleiden, hielt sich noch gerader und stolzer, wurde kräftiger, voller und sprach mit sanfterer Stimme, wenngleich sie ebenso selten und karg lächelte wie früher. Klim war sehr erstaunt und daher verletzt, als er bemerkte, daß sein Vater sich ihm entfremdete und zu Dmitri hielt und mit dem Bruder Geheimnisse hatte. An einem heißen Sommerabend überraschte Klim die beiden in der Gartenlaube. Der Vater, der neben Dmitri saß und ihn innig an sich drückte, lachte in einer ihm fremden, schluckenden Art. Dmitris Gesicht war verweint, er sprang sofort auf und lief fort, der Vater aber sagte zu Klim, während er mit dem Taschentuch Tränenspuren von seinen Hosen wischte:

»Er ist traurig geworden.«

»Worüber weint er?«

»Er? Über ... über die Dekabristen. Er hat Nekrassows ›Russische Frauen‹ gelesen. Hm, ja, und da habe ich ihm hier von den Dekabristen erzählt. Das hat er sich eben zu sehr zu Herzen genommen.«

Der Vater bemerkte gezwungen noch einiges über die Dekabristen, stand auf und entfernte sich pfeifend und ließ in Klim den eifersüchtigen Wunsch zurück, sich von der Wahrheit seiner Worte zu überzeugen. Unverzüglich suchte er den Bruder und fand ihn in seinem Zimmer, auf der Fensterbank kauernd. Er saß, die Beine mit den Armen umschlungen und das Kinn auf die Knie gestützt, und bewegte die Backenknochen. Er hörte nicht, wie sein Bruder eintrat. Als Klim ihn um das Buch von Nekrassow bat, stellte es sich heraus, daß Dmitri es gar nicht besaß, daß aber der Vater versprochen hatte, es ihm zu schenken.

»Hast du über die ›Russischen Frauen‹ geweint?« nahm ihn Klim ins Gebet.

»Wa-as?«

»Worüber hast du geweint?«

»Ach, geh zum Teufel«, sagte kläglich Dmitri und sprang vom Fenster in den Garten. Dmitri war stark aufgeschossen, abgemagert, und auf seinem runden, dicken Gesicht traten jetzt die Backenknochen noch schärfer hervor. Wenn er nachdachte, bewegte er genau so unangenehm die Kiefer wie Großvater Akim. Er war sehr oft in Gedanken vertieft und sah scheel und mißtrauisch auf die Erwachsenen. Zwar noch ebenso häßlich wie früher, war er doch gewandter und weniger schwerfällig geworden. Jedoch zeigte sich etwas Grobes in seinem Wesen. Er hatte sich stark mit Ljuba Somow angefreundet, lehrte sie Rollschuhlaufen und fügte sich willig in ihre Launen, und als einmal Dronow Ljuba beleidigt hatte, zauste Dmitri ihm grausam, dabei ganz kaltblütig, die Haare. Klim übersah er genau so, wie Klim früher ihn übersehen hatte, und auf die Mutter sah er mit gekränkter Miene, als habe sie ihn ungerecht bestraft.

Die Schwestern Somow lebten unter der Aufsicht Tanja Kulikows bei Warawka. Warawka selbst verhandelte in Petersburg wegen des Baues einer Eisenbahn und mußte von dort ins Ausland reisen, um seine Frau zu begraben. Fast jeden Abend ging Klim hinauf, und immer traf er dort den Bruder, der mit den Mädchen spielte. Wenn sie genug vom Spielen hatten setzten die Mädchen sich auf das Sofa und verlangten, daß Dmitri ihnen etwas erzählte.

»Etwas Komisches«, bat Ljuba.

Er setzte sich zur Wand, auf die Sofalehne, und ergötzte, unsicher lächelnd, die Mädchen mit Geschichten über die Lehrer und Gymnasiasten.

Manchmal wandte Klim ein:

»Das war ja gar nicht so.«

»Und wenn schon«, gab Dmitri gleichmütig zu, und Klim schien, daß der Bruder, selbst wenn er etwas genau so erzählte, wie es sich zugetragen hatte, doch nicht daran glaubte. Er wußte eine Fülle dummer und komischer Witze, erzählte sie aber, ohne zu lachen, vielmehr beinahe verlegen. Überhaupt hatte sich in ihm eine unverständliche Sorglichkeit entwickelt, und er musterte die Leute auf der Straße mit so forschenden Blicken, als hielte er es für seine Pflicht, jeden einzelnen von den sechzigtausend Einwohnern der Stadt zu ergründen.

Dmitri besaß ein dickes Heft mit Wachstuchumschlag. Darin machte er sich Notizen oder klebte Zeitungsausschnitte hinein; heitere Kleinigkeiten, Witze und kurze Gedichte, die er dann den Mädels in seiner mißtrauisch zögernden Art vorlas:

»Auf dem städtischen Friedhof von Odojewsk lenkt folgende Inschrift auf dem Grabstein der Kaufmannsfrau Polikarpow die Aufmerksamkeit auf sich:

Der Tod fand sie allein, ohne Gatten und Sohn.


In Krapiwnja lärmte der Ball.


Niemand wußte es.


Sie erhielten das Telegramm


Und verließen schleunigst das Hochzeitsfest.


Hier ruht die Gattin und Mutter


Olga – doch was könnte man ihr sagen,


Das ihrer Seele zum Heil gereichte?


Friede ihrer Asche.«

»Was für ein Blödsinn«, regte Lida sich auf.

»Dafür ist es komisch«, meinte Ljuba. »Es gibt nichts Herrlicheres als etwas Komisches.«

In dem breiten Gesicht ihrer Schwester zerfloß langsam ein träges Lächeln.

Manchmal kam Wera Petrowna und fragte uninteressiert:

»Spielt ihr?«

Lida erhob sich sogleich vom Sofa und setzte sich ihr mit betonter Höflichkeit gegenüber, die Somows schmiegten sich geräuschvoll an sie, Dmitri schwieg verlegen und bemühte sich ungeschickt, sein Heft zu verstecken, aber Wera Petrowna fragte:

»Hast du dir etwas Neues aufgeschrieben? Lies vor!«

Dmitri las, sein Gesicht hinter dem Heft verbergend:

»Am blauen Meer steht ein Gendarm.


Das blaue Meer, das lärmt und braust,


Und der Gendarm giftet sich schwer,


Weil er den Lärm nicht verbieten kann.«

»Streich das aus«, befahl die Mutter und ging darauf hoheitsvoll von einem Zimmer ins andere, wobei sie etwas berechnete und ausmaß. Klim sah, daß Lida sie mit feindseligen Blicken verfolgte und sich die Lippen biß. Ein paarmal war er im Begriff, das Mädchen zu fragen:

»Was hast du eigentlich gegen meine Mutter?«

Doch er getraute sich nicht: seit Turobojews Abreise hatte Lida sich ihm wieder freundschaftlich genähert.

Eines Tages kam Klim von der Stunde bei Tomilin heim, als man mit dem Abendessen bereits fertig war. Das Eßzimmer war dunkel, im ganzen Haus herrschte eine so fremde Stille, daß der Knabe, nachdem er seinen Mantel abgelegt hatte, in dem nur von einer Wandlampe dürftig erhellten Flur stehen blieb und ängstlich in die verdächtige Stille horchte.

»Laß, ich glaube, es ist jemand gekommen«, vernahm er da das heiße Flüstern der Mutter. Jemandes schwere Füße schleiften dumpf über den Fußboden mit vertrautem Klang klirrte die Messingpforte des Kachelofens und wieder trat Stille ein, lockend, in sie hinein zu horchen. Das Flüstern der Mutter wunderte Klim, da sie niemand außer dem Vater mit du anredete, der Vater aber gestern aufs Sägewerk hinausgefahren war. Vorsichtig schlich der Junge zur Tür des Eßzimmers, und ihm entgegen seufzten die leisen, müden Worte:

»Mein Gott, wie bist du unersättlich und stürmisch.«

Klim warf einen Blick durch die Tür: vor dem viereckigen, mit roter Kohlenglut gefüllten Ofenschlund, auf dem niedrigen Lieblingssessel der Mutter räkelte sich Warawka. Er hatte den Arm um die Taille der Mutter geschlungen, und sie wippte auf seinen Knien nach vorn und nach hinten wie ein ganz kleines Mädchen. Im bärtigen Gesicht Warawkas, das vom Widerschein der Kohlen erleuchtet war, lag etwas Furchterregendes. Seine kleinen Augen glühten wie die Kohlen. Vom Kopf der Mutter aber über ihren Rücken hinab floß in wundervollen goldenen Bächen ihr mondblondes Haar.

»Ach du!« seufzte sie leise.

In dieser Stellung war etwas, was Klim verwirrte. Er schrak zurück, trat auf seine Galosche, die Galosche schnellte hoch und klatschte auf den Fußboden.

»Wer ist dort?« rief ärgerlich die Mutter und erschien mit unglaublicher Geschwindigkeit an der Tür.

»Du? Bist du durch die Küche gekommen? Warum so spät? Bist du verfroren? Willst du Tee?«

Sie sprach schnell, freundlich, scharrte aus irgendeinem Grunde mit den Füßen und ließ die Türangel kreischen. Dann faßte sie Klim um die Schulter, drängte ihn übertrieben heftig ins Eßzimmer und zündete eine Kerze an. Klim sah sich um. Im Eßzimmer war niemand und in der Tür des Nebenzimmers tiefe Dunkelheit.

»Warum siehst du hin?« fragte die Mutter und blickte ihm ins Gesicht.

Klim antwortete zögernd:

»Mir schien, hier war jemand.«

Die Mutter zog erstaunt die Brauen hoch und blickte ebenfalls in das Zimmer.

»Wer sollte denn hier gewesen sein? Vater ist fort, Lidja, Mitja und die Somows sind zur Eisbahn gegangen, Timofej Stepanowitsch ist bei sich zu Hause – hörst du?«

Tatsächlich polterten oben schwere Schritte. Die Mutter setzte sich an den Tisch, vor den Samowar, prüfte, ob er noch heiß war, goß Tee ein und fuhr dann fort, während sie ihr prachtvolles Haar aufsteckte:

»Ich habe dort am Ofen gesessen und geträumt. Bist du eben erst gekommen?«

»Ja« log Klim, da er begriff, daß es hier notwendig war, zu lügen.

Die Mutter saß schweigend, mit einem feinen Lächeln, da, spielte mit der Zuckerzange und sah in das scheue Licht der Kerze, das sich im Kupferbauch des Samowars spiegelte.

Dann legte sie die Zange aus der Hand, rückte den Spitzenausschnitt ihres Schlafrocks zurecht und erzählte unnötig laut, daß Warawka ihr Großmutters Gutshof abkaufen und dort ein großes Haus bauen wolle.

»Er ist zwar eben nach Hause gekommen, aber ich gehe doch rasch mal hinauf, um mit ihm darüber zu sprechen.«

Sie küßte Klim auf die Stirn und ging. Der Knabe stand auf, trat an den Ofen, setzte sich in den Sessel und streifte mit einer Handbewegung die Zigarrenasche von der Lehne.

»Mama will ihren Mann wechseln, aber sie schämt sich noch«, erriet er. Auf den roten Kohlen sprangen blaue Flämmchen auf und erloschen. Er hatte davon gehört, daß Frauen ihre Ehegatten und Männer ihre Frauen häufig wechselten, Warawka gefiel ihm von jeher besser als der Vater, aber es war doch peinlich und betrübend, zu erfahren, daß auch Mama, die stets ernste und würdige Mama, die alle achteten und fürchteten, die Unwahrheit sprach und sich so ungeschickt herausredete. Da er die Notwendigkeit eines Trostes empfand, wiederholte er: »Sie schämt sich noch.« Das war die einzige Erklärung, die er finden konnte. Doch da rief ihm sein Gedächtnis jene Szene mit Tomilin zurück, er verlor sich in leeres Sinnen über die Bedeutung dieser Szene und schlief ein.

Die häuslichen Ereignisse, so sehr sie Klim vom gründlichen Lernen ablenkten, erregten ihn nicht so heftig, wie das Gymnasium ihn ängstigte, wo er keinen seiner würdigen Platz finden konnte. Er unterschied drei Gruppen von Mitschülern: ein Dutzend Knaben, die musterhaft lernten und sich musterhaft betrugen, dann die bösen und unverbesserlichen Lausbuben, unter denen einige, wie Dronow, ebenfalls vorzüglich lernten. Die dritte Gruppe bestand aus kümmerlichen Knaben, matt, verängstigt und scheu, sowie aus Pechvögeln, die von der ganzen Klasse ausgelacht wurden.

Dronow riet Klim:

»Mit denen mußt du dich nicht anfreunden, es sind alles Feiglinge, Jammerlappen und Angeber. Dieser Rote dort ist ein Judenbengel. Jener Schielende wird bald fliegen, er ist arm und kann nicht bezahlen. Der älteste Bruder des Jungen dort hat Galoschen gestohlen und sitzt jetzt in der Verbrecherkolonie, und der dort, der aussieht wie ein Iltis, ist ein uneheliches Kind ...«

Klim Samgin lernte fleißig, doch ohne großen Erfolg. Streiche hielt er für unter seiner Würde, war dazu übrigens auch gar nicht fähig. So merkte er bald, daß alles ihn gerade zur Gruppe der Geächteten verurteilte. Aber unter ihnen fühlte er sich noch fremder als bei der frechen Kumpanei Dronows. Er sah, er war klüger als alle in seiner Klasse, er hatte schon viele Bücher gelesen, von denen seine Alterskameraden noch keine Ahnung hatten, er fühlte, daß auch die älteren Knaben mehr Kind waren als er. Erzählte er von den Büchern, die er gelesen hatte, hörten sie ihm ungläubig und ohne Interesse zu und verstanden oft gar nicht, was er sagte. Zuweilen begriff auch er selbst nicht, weshalb ein spannendes Buch bei seiner Wiedergabe alles verlor, was ihm daran gefallen hatte.

Einmal fragte das uneheliche Kind, ein finsterer Bursche namens Inokow, Klim:

»Hast du Iwan Hoé gelesen?«

»Eiwenho«, verbesserte Klim, »von Walter Scott.«

»Dummkopf«, sagte Inokow verächtlich. »Warum mußt du alles besser wissen?« und warnte ihn mit einem schiefen Grinsen:

»Paß auf, aus dir wird bestimmt ein Pauker.«

Die Jungen lachten. Sie achteten Inokow, er war zwei Klassen älter als sie, hielt aber Freundschaft mit ihnen und führte den Indianernamen »Feuerauge«. Vielleicht imponierte er ihnen auch durch sein finsteres Wesen und seinen durchdringenden Blick.

Durch die liebevolle Beachtung, die man ihm zu Hause entgegenbrachte, verwöhnt, empfand Klim doppelt schwer die feindliche Geringschätzung von Seiten der Lehrer. Einige waren ihm auch körperlich widerwärtig: der Mathematiker litt an chronischem Schnupfen, nieste schallend und grimmig, wobei er die Schüler bespritzte, und blies hierauf pfeifend die Luft durch die Nase, wobei er das linke Auge zukniff. Der Geschichtslehrer tappte durch die Klasse wie ein Blinder und schlich mit einem Gesicht an die Bänke heran, als wolle er die Schüler der vorderen Reihen ohrfeigen. Während er sich ihnen langsam näherte, quäkte er mit feiner Stimme.

Man nannte ihn daher »Quak«.

Beinahe an jedem Lehrer entdeckte Klim einen ihm unsympathischen Zug. Alle die unordentlichen Menschen in abgetragenen Amtskleidern behandelten ihn, als sei er ihnen gegenüber schuldig, und obgleich er sich bald davon überzeugte, daß die Lehrer den meisten Schülern nicht anders begegneten, erinnerten ihre Grimassen ihn doch an den Ausdruck des Abscheus, mit dem die Mutter in der Küche die Krebse betrachtete, wenn der betrunkene Händler den Korb umstülpte und die Krebse, schmutzig und trocken raschelnd, nach allen Richtungen über den Fußboden krochen.

Doch schon im Frühjahr bemerkte Klim, daß Xaweri Rziga, der Inspektor und Lehrer der alten Sprachen, und mit ihm einige andere Lehrer ihn milder zu beurteilen begannen. Dies geschah, nachdem jemand während der großen Pause zwei Steine ins Fenster des Kabinetts des Inspektors geworfen, die Scheibe eingeschlagen und eine seltene Blume, die auf der Fensterbank stand, zerknickt hatte. Man fahndete eifrig nach dem Schuldigen, ohne ihn zu finden.

Am vierten Tage fragte Klim den allwissenden Dronow, wer die Scheibe eingeworfen habe.

»Wozu willst du das wissen?« erkundigte sich mißtrauisch Dronow.

Sie standen an der Biegung des Korridors, und Klim konnte sehen, wie der gehörnte Schatten des inspektorlichen Kopfes langsam an der weißen Wand entlang kroch. Dronow wandte dem Schatten den Rücken zu.

»Du weißt es also nicht«, reizte Klim den Kameraden. »Und rühmst dich, alles zu wissen.«

Der Schatten hörte auf, sich zu bewegen.

»Natürlich weiß ich es, – es war Inokow«, sagte leise Dronow, als Klim ihn genügend gereizt hatte.

»Er sollte es ehrlich gestehen, sonst müssen für ihn die anderen leiden«, belehrte Klim.

Dronow sah ihn an, zwinkerte, spuckte aus und sagte:

»Wenn er gesteht, fliegt er.«

Ungeduldig surrte die Glocke und rief die Schüler in die Klassen.

Andern Tags, auf dem Heimweg, teilte Dronow Klim mit:

»Weißt du, jemand hat ihn verraten.«

»Wen?« fragte Klim.

»Wen, wen – was stellst du dich dumm? Inokow.«

»Ach, ich vergaß ...«

»Gestern gleich nach der Pause haben sie ihn geholt. Sie jagen ihn fort. Wüßt' ich nur den Lumpen, der den Angeber gespielt hat.«

Klim hatte wirklich sein Gespräch mit Dronow vergessen. Jetzt begriff er, daß er es gewesen war, der Dronow verraten hatte, und überlegte erschrocken, warum er es getan hatte. Er kam zu dem Schluß, daß das Schattenbild des Inspektors das plötzliche Verlangen in ihm geweckt habe, dem großmäuligen Dronow zu schaden.

»Du bist daran schuld, du hast geschwatzt«, sagte er wütend.

»Wann habe ich geschwatzt?« verteidigte sich Dronow.

»In der Pause, zu mir.«

»Aber du konntest ihn doch nicht angeben? Du hattest doch gar nicht die Zeit dazu. Inokow wurde ja sogleich danach aus der Klasse geholt.« Sie standen sich wie kampfbereite Hähne gegenüber. Aber Klim fühlte, daß es unklug war, sich mit Dronow zu überwerfen.

»Vielleicht wurden wir belauscht?« sagte er friedfertig, und ebenso friedfertig antwortete Dronow:

»Es war niemand da. Jemand aus Inokows Klasse muß ihn verraten haben.«

Sie gingen schweigend. Seine Schuld erkennend, dachte Klim nach, auf welche Weise er sie wieder gutmachen könne, doch da ihm nichts einfiel, verstärkte sich sein Wunsch, Dronow Ungelegenheiten zu bereiten.

In diesem Frühjahr hörte die Mutter auf, Klim mit Musikstunden zu quälen, sie spielte nun selbst eifrig. Abends besuchte sie mit seiner Geige der glatzköpfige Advokat Makow, ein unfroher Mensch mit einer schwarzen Brille im roten Gesicht. In einer knarrenden Chaise kam Xaweri Rziga mit seinem Cello angefahren, – dürr, krummbeinig, mit einem Paar Eulenaugen in der knochigen Glätte. Über seinen gelben Schläfen ragten gleich Hörnern zwei graue Wirbel, beim Spiel streckte er die Zunge heraus, die, am Oberkiefer zwei Goldzähne entblößend, auf seiner Altmännerlippe lag. Er sprach, im Diskant eines Vorsängers in der Kirche, stets etwas Denkwürdiges und immer so, daß man nicht wußte, ob er ernsthaft sprach oder scherzte.

»Will sagen, die Schüler wären viel besser, wenn ihre Eltern nicht lebten. Will sagen, Waisen sind gehorsam«, verlautbarte er, seinen Zeigefinger an die Nase führend. Er legte Klim seine dürre Hand auf den Kopf und wandte sich zu Wera Petrowna:

»In Ihrem Sohn glüht ein ritterliches, ehrliches Herz – dixi.«

Klim selbst belehrte er:

»Um die Wissenschaft zu beherrschen, bedarf es der Beobachtung und des Vergleichs. Dann entblößen wir das innerste Mark der Wirklichkeit.«

Beobachten, – das verstand Klim gut. Er glaubte, bei seinen Kameraden unbedingt Mängel suchen zu müssen, er war unruhig, wenn er keine fand, doch sich zu beunruhigen war selten Anlaß, weil er sich einen untrüglichen Maßstab geschaffen hatte: alles, was ihm mißfiel oder seinen Neid erregte, war schlecht. Er hatte es bereits gelernt, das Lächerliche und Dumme der Menschen aufzufangen, mehr: er verstand es meisterhaft, die Fehler des einen in den Augen des anderen zu unterstreichen. Als Boris Warawka und Turobojew in den Ferien nach Hause kamen, bemerkte Klim als erster, daß Boris etwas sehr Schlimmes begangen haben mußte und Furcht hatte, daß man es erfuhr. Er war zerstreut und unruhig. Wie früher im Spiel unermüdlich, erfinderisch in Streichen, war er reizbar geworden, auf seinem sommersprossigen Gesicht flammten kleine rote Flecke auf, die Augen funkelten angriffsbereit und wütend, und wenn er lächelte, zeigte er die Zähne, wie um zu beißen. In seiner wilden Unrast witterte Klim etwas Gefährliches und wich dem Spiel mit ihm aus. Auch bemerkte er, daß Igor und Lida in Boris' Geheimnis eingeweiht waren. Sie versteckten sich zu dritt in den Ecken und tuschelten besorgt miteinander.

Da – eines Abends, der Postbote hatte gerade einen Brief abgegeben –, krachte das Fenster von Warawkas Arbeitszimmer, und seine Stimme schrie zitternd vor Unwillen:

»Boris, komm einmal her!«

Boris und Lida knüpften auf der Küchentreppe aus Bindgarn ein Netz, Igor schnitzte aus einer hölzernen Schaufel einen Dreizack. Man beabsichtigte einen Gladiatorenkampf zu veranstalten. Boris stand auf, zupfte seine Bluse zurecht, zog sich den Gurt straffer und bekreuzigte sich hastig.

»Ich gehe mit dir«, sagte Turobojew.

»Ich auch?« sagte Lida in fragendem Ton, aber ihr Bruder stieß sie sanft zurück und sagte:

»Untersteh dich!«

Die Knaben gingen. Lida blieb zurück, warf das Garn aus der Hand und hob horchend den Kopf. Kurze Zeit vorher war der Garten vom Regen reichlich besprengt worden, im vom Abendrot bestrahlten Laub funkelten lustig bunte Tropfen. Lida fing an zu weinen, wischte mit dem Finger die Tränentröpfchen von den Wangen, ihre Lippen bebten, und ihr ganzes Gesicht verzog sich schmerzhaft. Klim beobachtete es vom Fenster seines Zimmers aus. Er schrak zusammen, als über ihm das wütende Geschrei Warawkas ertönte:

»Du lügst!«

Sein Sohn antwortete mit einem ebenso durchdringenden Geschrei:

»Nein! Er ist ein Schuft!«

Dann wurde die immer ruhige Stimme Igors vernehmlich:

»Erlauben Sie, lassen Sie mich erzählen.«

Das Fenster oben wurde geschlossen, Lida erhob sich und ging durch den Garten, wobei sie absichtlich die Zweige der Sträucher streifte, damit die Regentropfen ihr auf den Kopf und ins Gesicht fielen.

»Was hat Boris getan?« fragte Klim sie. Es war nicht das erste Mal, daß er in sie drang, doch Lida antwortete ihm auch dieses Mal nicht, sondern blickte ihn nur an wie einen Fremden. Ihm kam der heftige Wunsch, in den Garten hinabzuspringen und sie gehörig bei den Ohren zu nehmen. Seit Igor zurückgekehrt war, hatte Klim wieder aufgehört, für sie zu existieren.

Nach dieser Szene begannen sowohl Warawka wie die Mutter Boris zu betreuen, als habe er soeben eine gefährliche Krankheit überstanden oder eine heldenmütige und geheimnisvolle Tat vollbracht. Dies erbitterte Klim, reizte Dronows Wissensdrang und schuf im Hause eine unangenehme Atmosphäre der Heimlichkeiten.

»Zum Teufel«, brummte Dronow und kratzte sich die Nase, »einen Groschen würde ich geben, wenn ich erfahren könnte, was er ausgefressen hat. Ach, wie ich diesen Burschen nicht leiden kann .. .«

Klim schmeichelte sich bei der Mutter ein, um herauszukriegen, was mit Boris geschehen sei, doch sie wehrte ab:

»Man hat ihn schwer gekränkt.«

»Wodurch?«

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

Klim blickte in ihr strenges Gesicht und verstummte resigniert, fühlte jedoch, daß seine alte Abneigung gegen Boris mit verdoppelter Kraft wieder auflebte.

Eines Tages gelang es ihm zu belauschen, wie Boris, hinter dem Schuppen versteckt, lautlos weinte. Er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und schluchzte so heftig, daß er hin und her schwankte, und seine Schultern bebten wie bei der weinerlichen Wera Somow. Klim wollte sich Warawka nähern, traute sich aber nicht, außerdem war es angenehm zu sehen, wie Boris weinte, und nützlich zu erfahren, daß die Rolle des Gekränkten nicht so beneidenswert war, wie es schien.

Plötzlich leerte sich wieder das Haus. Warawka schickte die Kinder, Turobojew und die Somows unter der Aufsicht Tanja Kulikows zu einer Dampferfahrt auf der Wolga: Klim war natürlich auch eingeladen, aber er sagte gesetzt:

»Ich muß mich doch aber fürs Examen vorbereiten?«

Er wollte mit dieser Frage nur an seine ernste Auffassung von der Schule erinnern, aber die Mutter und Warawka hatten es merkwürdig eilig, ihm darin zuzustimmen, daß er nicht mitfahren konnte. Warawka nahm ihn am Kinn und sagte sogar belobend:

»Brav! Aber du solltest es dir nicht allzu sehr zu Herzen nehmen, daß die Wissenschaft dir sauer wird, alle begabten Menschen waren schlechte Schüler.«

Die Kinder reisten ab. Klim weinte fast die ganze Nacht vor Kummer. Einen Monat lebte er mit sich allein wie vor einem Spiegel, Dronow verschwand schon in aller Frühe, er befehligte eine Bande Straßenjungen, ging mit ihnen baden, führte sie in den Wald zum Pilzesammeln und sandte sie zu Überfällen auf Gärten und Gemüsefelder aus. Aufgeregte Leute kamen zur Amme, um über ihn Klage zu führen, doch sie war schon ganz taub und starb mählich in ihrer kleinen dämmrigen Kammer hinter der Küche dahin. Während die Leute schreiend ihre Klagen vorbrachten, wälzte sie ihren Kopf auf dem eingefetteten Kissen hin und her und murmelte, ihnen wohlwollend versprechend:

»Nun, nun, der Herr sieht alles, der Herr wird alle bestrafen...«

Die Leute verlangten »die gnädige Frau«. Strenge und aufrecht trat sie auf die Freitreppe hinaus, und nachdem sie die furchtsamen und wirren Reden angehört hatte, verhieß auch sie:

»Gut, ich werde ihn bestrafen.«

Doch sie bestrafte ihn nicht. Nur einmal hörte Klim, wie sie in den Hof rief:

»Iwan, wenn du Gurken stiehlst, wird man dich von der Schule jagen!«

Sie und Warawka wurden immer weniger sichtbar für Klim. Spielten sie Verstecken miteinander? Einige Male am Tage wandte man sich an ihn oder an Malascha mit der Frage:

»Wo ist die Mutter – im Garten?«

»Ist Timofej Stepanowitsch schon gekommen?«

Wenn sie sich sahen, lächelten sie einander an, Klim war das Lächeln der Mutter fremd, ja unangenehm, wenngleich ihre Augen dunkler und noch schöner geworden waren, während Warawkas schwere, wulstige Lippe gierig und mißgestaltet aus dem Bart hing. Neu und unangenehm war auch, daß die Mutter sich so stark und reichlich parfümierte, daß das Parfüm, wenn er ihr vor dem Schlafengehen die Hand küßte, seine Nüstern beizte und ihm beinahe Tränen in die Augen trieb, wie der grausam scharfe Geruch des Meerrettichs. An Abenden, an denen nicht musiziert wurde, führte Warawka die Mutter am Arm durch das Eßzimmer oder den Salon und brummte:

»O–o–o! O–o–o!«

Die Mutter lächelte ironisch dazu.

Wenn aber gespielt wurde, nahm Warawka in seinem Sessel hinter dem Flügel Platz, brannte sich eine Zigarre an und betrachtete durch die schmalen Spalten seiner zugedeckten Augen und durch den Rauch Wera Petrowna. Er saß regungslos da, es schien, ihn schläferte, er entließ Rauchwolken und schwieg.

»Schön?« fragte lächelnd Wera Petrowna.

»Ja«, antwortete er leise, als fürchte er, jemand zu wecken. »Ja.«

Und einmal sagte er:

»Dies ist das Schönste, weil es immer etwas Ewiges ist, – die Liebe.«

»Nein, nicht doch«, wandte Rziga ein, »nichts Ewiges.«

Und er hob die Hand mit dem Violinbogen hoch empor und verbreitete sich so lange über die Musik, bis der Advokat Makow ihn unterbrach:

»Meine selige Frau liebte die Musik nicht.«

Seufzend und gallig setzte er hinzu:

»Ich bin völlig außerstande, eine Frau zu begreifen, die die Musik nicht liebt, während doch selbst Hühner, Wachteln und ... hm ...«

Die Mutter fragte ihn:

»Sind Sie lange Witwer?«

»Neun Jahre. Ich war siebzehn Monate verheiratet. Ja.«

Alsdann begann er von neuem auf seiner Geige zu spielen.

Klim fiel in den Unterhaltungen der Erwachsenen über Gatten, Ehefrauen und Familienleben der unsichere, schuldbewußte und oft spöttische Ton dieser Gespräche auf, es war gleichsam von traurigen Irrtümern und verkehrten Handlungen die Rede. Er sah die Mutter an und fragte sich, ob auch sie so sprechen würde.

»Nein, sie wird es nicht«, antwortete er überzeugt und lächelte.

In einem freundlichen Augenblick fragte Klim sie:

»Hast du einen Roman mit ihm?«

»O Gott, es ist noch viel zu früh für dich, an solche Dinge zu denken«, sagte aufgeregt und ärgerlich die Mutter. Dann wischte sie sich mit ihrem Spitzentüchlein die purpurnen Lippen und bemerkte sanfter:

»Siehst du, er ist allein und ich auch. Wir langweilen uns. Langweilst du dich nicht auch?«

»Nein«, sagte Klim.

Aber er langweilte sich tödlich. Die Mutter kümmerte sich so wenig um ihn, daß Klim bis zum Mittagessen und bis zum Tee sich ebenso unsichtbar zu machen begann wie sie und Warawka. Er empfand ein schwaches Vergnügen, wenn er hörte, wie das Mädchen ihn im Hof und im Garten suchte.

»Wo steckst du eigentlich immer?« fragte befremdet und manchmal sogar unruhig die Mutter. Klim antwortete:

»Ich denke nach.«

»Worüber?«

»Über alles. Auch über die Stunden.«

Die Stunden bei Tomilin wurden immer öder und verworrener. Der Lehrer selbst war unnatürlich in die Breite gegangen und hatte etwas Untersetztes bekommen. Jetzt trug er ein weißes Hemd mit gesticktem Kragen. An seinen nackten, kupferbraunen Füßen glänzten Pantoffeln von grünem Saffianleder. Wenn Klim etwas nicht verstand und Tomilin darauf aufmerksam machte, blieb der, ohne Unwillen zu äußern, doch offensichtlich befremdet, mitten im Zimmer stehen und sagte fast immer dieselbe Phrase:

»Du mußt vor allen Dingen eins begreifen: das eigentliche Ziel aller Wissenschaft ist die Gewinnung einer Reihe von einfachsten, verständlichen und tröstlichen Wahrheiten ...«

Er trommelte mit den Fingern auf seinem Kinn, überflog die Zimmerdecke mit dem Weiß seiner Augäpfel und fuhr eintönig fort:

»Eine solche Wahrheit ist Darwins Theorie vom Kampf ums Dasein, – du erinnerst dich, ich habe dir und Dronow von Darwin erzählt. Diese Theorie weist die Unvermeidlichkeit des Bösen und der Feindseligkeit auf der Erde nach. Dies, Bruder, ist der gelungenste Versuch des Menschen, sich vollkommen zu rechtfertigen. Hm, ja... Erinnerst du dich an Doktor Somows Frau? Sie haßte Darwin bis zum Wahnsinn. Es ist denkbar, daß eben dieser bis zum Wahnsinn gesteigerte Haß es ist, der die allumfassende Wahrheit gebiert...«

Stehend redete er am wirrsten und rief dadurch Verdruß hervor. Klim hörte nun dem Lehrer nicht mehr genau zu: ihn beschäftigten eigene Sorgen. Er wollte die Kinder so empfangen, daß sie sogleich sähen, er war nicht mehr der, den sie zurückgelassen hatten. Lange grübelte er, was er zu diesem Zweck unternehmen solle, und gelangte zu dem Ergebnis, durch nichts würde er sie stärker verblüffen, als wenn er eine Brille trüge. Er klagte der Mutter, die Augen würden ihm so rasch müde, man habe ihm im Gymnasium zu einer Brille geraten, und schon am nächsten Tag beschwerte er seine spitze Nase mit dem Gewicht zweier Gläser von rauchgrauer Farbe. Durch diese Gläser erschien alles auf Erden wie mit einer leichten Schicht von grauem Staub überzogen, und selbst die Luft wurde grau, ohne ihre Durchsichtigkeit zu verlieren. Der Spiegel überzeugte Klim vollends davon, daß sein feines Gesicht etwas Bezwingendes bekommen hatte und außerdem klüger aussah.

Doch kaum waren die Kinder zurückgekehrt, als Boris, der Klims Hand absichtlich nicht aus seinen starken Fingern ließ, spöttisch sagte:

»Seht doch, da habt ihr den Affen aus der Fabel!«

Ljuba Somow rief mitleidig:

»Oh, du bist ja ein Eulenkücken geworden!«

Turobojew lächelte höflich und verletzend, noch verletzender aber war die Gleichgültigkeit Lidas, die ihre Hand auf Igors Schulter legte und Klim mit einer Miene ansah, als wünsche sie, ihn nicht zu erkennen. Sie seufzte müde und fragte beiläufig:

»Sind deine Äugen erkrankt? Warum tut dir eigentlich immer etwas weh?«

»Mir tut niemals etwas weh!« sagte Klim empört, er fürchtete, daß er sofort in Tränen ausbrechen würde.

Doch von diesem Tag an bemächtigte sich seiner glühender Haß gegen Boris, und dieser, der sein Gefühl rasch erraten hatte, tat alles, es zu schüren, indem er jeden Schritt und jedes Wort Klims grausam verspottete. Die Vergnügungsreise hatte sichtlich nicht vermocht, Boris zu beruhigen, er blieb so gereizt, wie er aus Moskau gekommen war, genau so argwöhnisch und sprungbereit funkelten seine dunklen Augen, und von Zeit zu Zeit überfiel ihn eine sonderbare Zerstreutheit und Müdigkeit, er hörte auf zu spielen und zog sich in einen Winkel zurück.

»Um zu weinen«, erriet Klim mit wohltuendem Grimm.

Immer noch waren seine Schwester und Turobojew gleich sorglich und liebevoll um Boris bemüht, betreute ihn Wera Petrowna, erheiterte ihn der Vater. Alle ertrugen geduldig seine Launen und plötzlichen Zornesausbrüche. Klim, der sich abquälte, das Geheimnis zu enträtseln, forschte alle aus. Aber Ljuba Somow sagte sehr gelehrt:

»Es sind die Nerven, verstehst du? Solche weißen Fäden im Körper und die zittern.«

Turobojews Erklärung ließ ebensoviel zu wünschen übrig:

»Er hatte eine Unannehmlichkeit, aber ich möchte nicht davon sprechen.«

Endlich forderte Lida, ihre Brauen furchend und die Lippen schief ziehend, ihn auf:

»Schwöre, daß Boris nie erfährt, daß ich es dir gesagt habe!«

Klim schwor aufrichtig, das Geheimnis zu hüten, und nahm mit Gier ihren aufgeregten, wirren Bericht entgegen:

»Boris ist von der Kriegsschule ausgeschlossen worden, weil er seine Kameraden, die etwas begangen hatten, nicht verraten wollte ... Nein, nicht deshalb«, verbesserte sie sich eilig und sah sich ängstlich um, »dafür kam er in den Karzer, aber ein Lehrer verbreitete trotzdem, Boris sei ein Zuträger, und als man ihn aus dem Karzer herausließ, prügelten die Jungens ihn in der Nacht durch. Da hat er während der Stunde dem Lehrer seinen Zirkel in den Bauch gestoßen, und man hat ihn relegiert...«

Schluchzend fügte sie hinzu:

»Er wollte auch sich töten, ihn hat sogar der Irrenarzt behandelt.«

Ihre schwarzen Augen trübten sich ungewöhnlich stark mit Tränen, und diese Tränen schienen Klim auch schwarz zu sein. Er wurde verlegen. Lida weinte so selten, und jetzt, in Tränen gebadet, war sie den übrigen Mädchen ähnlich, hatte ihre Unvergleichlichkeit eingebüßt und erregte in Klim ein Gefühl, das dem Mitleid verwandt war. Ihre Erzählung rührte ihn weder, noch wunderte sie ihn, er hatte immer von Boris ungewöhnliche Handlungen erwartet. Er nahm die Brille ab, spielte mit den Gläsern und sah scheel auf Lida, ohne ein Wort des Trostes zu finden. Und trösten wollte er so gern. Turobojew war schon abgereist.

Sie lehnte mit dem Rücken an dem schlanken Stamm einer Birke und stieß mit der Schulter dagegen. Von den fast kahlen Zweigen rieselte gelbes Laub, Lida trat es in den Erdboden, während ihre Finger die ungewohnten Tränen von den Wangen streiften, und es war etwas Angewidertes in den hastigen Bewegungen ihrer braunen Hand. Auch ihr Gesicht war von der Sonne bronzen gedunkelt, ein blaues, rotbortiertes Kleid umschloß schön die feine, wunderliche, kleine Gestalt. Es war etwas Fremdartiges, Erregendes an ihr, wie bei Zirkusmädchen.

»Schämt er sich?« brach Klim endlich das Schweigen.

Lida sagte halblaut:

»Nun ja. Denk doch nur, er verliebt sich einmal in ein Mädchen und muß ihr alles von sich erzählen, – wie soll er ihr dann sagen, daß man ihn verprügelt hat?«

Klim nickte still.

»Ja, davon kann man nicht sprechen.«

»Er hat sogar aufgehört, mit Ljuba zu gehen, und ist jetzt immer mit Wera zusammen, weil Wera immer schweigt wie ein Kürbis«, sagte nachdenklich Lida. »Papa und ich fürchten so für Boris. Papa steht sogar nachts auf und sieht nach, ob er auch schläft, und gestern kam deine Mama zu uns, als es schon sehr spät war und alle schliefen.«

Sie neigte sinnend ihren Kopf und ging fort, mit ihren Absätzen gelbe Blätter in die Erde stampfend. Sobald sie verschwunden war, fühlte Klim sich wohlgerüstet gegen Boris und imstande, ihm seinen Spott mit Zinsen heimzuzahlen. Das war Seligkeit. Gleich am folgenden Tag konnte er sich nicht enthalten, Warawka diese Seligkeit zu zeigen. Er begrüßte ihn lässig, reichte ihm die Hand und steckte sie sofort wieder in die Tasche. Er lächelte dem Feind herablassend ins Gesicht und entfernte sich, ohne ihn eines Wortes zu würdigen. Doch auf der Schwelle des Eßzimmers wandte er sich um. Boris klammerte sich an den Rand des Tisches, biß sich die Lippen, warf den Kopf in den Nacken und blickte ihm erschrocken nach. Da lächelte Klim noch einmal. In zwei Sätzen war Warawka bei ihm, rüttelte ihn an den Schultern und fragte heiser:

»Warum lachst du?« Sein von den Blattern zerfressenes Gesicht färbte sich bunt, er entblößte die Zähne, und seine Hände zitterten auf Klims Schulter.

»Laß los!« sagte Klim, der schon fürchtete, daß Boris ihn schlagen würde. Aber jener wiederholte leise und gleichsam flehend:

»Über wen lachst du? Sprich!«

»Nicht über dich.«

Er entwand sich Boris, zog den Kopf ein und ging fort, ohne zurückzublicken.

Diese Szene hatte ihn erschreckt und flößte ihm noch größere Vorsicht gegenüber Warawka ein, doch konnte er es sich trotzdem nicht versagen, Boris gelegentlich mit dem Blick eines Menschen anzusehen, der um sein schimpfliches Geheimnis wußte. Er erkannte recht gut, daß seine höhnischen Blicke den Knaben erregten, und das tat ihm wohl, mochte Boris auch in der alten Weise fortfahren, ihn frech auszulachen, ihn immer argwöhnischer zu beobachten und gleich einem Habicht zu umkreisen. Dieses gefährliche Spiel ließ Klim bald alle Vorsicht vergessen.

An einem jener warmen, aber schwermütigen Tage, wenn die Herbstsonne von der verarmten Erde Abschied nimmt und ihr gleichsam noch einmal ihre sommerliche, belebende Kraft schenken möchte, spielten die Kinder im Garten. Klim war lebhafter als sonst. Warawka freundlicher gestimmt. Ausgelassen tollten Lida und Ljuba umher, die ältere Somow sammelte einen Strauß aus den leuchtenden Blättern des Ahorns und der Eberesche. Klim hatte einen verspäteten Käfer gefangen, reichte ihn mit zwei Fingern Boris hin und sagte:

»Gerb-tier!«

Der Kalauer stellte sich ganz von selbst ein, und Klim mußte lachen. Boris röchelte unnatürlich, holte aus, schlug ihn rasch hintereinander ein paarmal auf die Backe, warf ihn mit einem Fußtritt um und rannte windschnell und laut heulend davon.

Auch Klim schrie, weinte und drohte mit der Faust. Die Schwestern Somow suchten ihn zu beschwichtigen, Lida aber hüpfte vor ihm her und rief mit erstickender Stimme:

»Wie konntest du es wagen! Du bist gemein, du hast geschworen, ach, ich bin auch gemein!«

Sie lief weg. Die Somows führten Klim in die Küche, um ihm das Blut von dem zerschlagenen Gesicht zu waschen. Mit zornig hochgezogenen Brauen erschien Wera Petrowna, rief aber sofort erschreckt aus:

»Mein Gott, was hast du? Ist das Auge heil?«

Rasch reinigte sie das Gesicht ihres Sohnes, brachte ihn in sein Zimmer, entkleidete ihn, legte ihn zu Bett, und nachdem sie sein geschwollenes Auge mit einer Kompresse bedeckt hatte, setzte sie sich auf einen Stuhl und sagte eindringlich:

»Einen Beleidigten necken, – das ist doch sonst nicht deine Art. Man muß großmütig sein.«

Klim, der fühlte, daß alle ihm feindlich gesinnt waren, daß alle auf Boris Seite standen, stammelte:

»Du hast selbst gesagt, das soll man nicht, das sei Dummheit.«

»Was ist Dummheit?«

»Großmut. Du selbst hast es gesagt, ich erinnere mich genau.«

Die Mutter beugte sich über ihn, sah strenge in sein rechtes, offenes Auge und sagte:

»Du mußt nicht glauben, daß du alles verstehst, was die Erwachsenen sprechen.«

Klim brach in Tränen aus und klagte:

»Mich liebt niemand.«

»Das ist doch dumm, mein Lieber, dumm ...«, wiederholte sie, streichelte nachdenklich seine Wange mit ihrer leichten, zarten Hand. Klim schwieg und hoffte, daß sie sagen würde:

»Ich liebe dich.«

Aber sie kam nicht dazu, denn Warawka trat ein. Seine Hand spielte mit dem Bart, er setzte sich aufs Bett und sagte scherzend:

»Warum schlagt ihr euch, ihr heißblütigen Spanier?« Doch obwohl er in scherzendem Ton sprach, waren seine Augen traurig, sie zwinkerten unruhig, und der gepflegte Bart war zerknüllt. Er bot alles auf, um Klim zu erheitern, deklamierte mit feiner Stimme drollige Reime. Die Mutter lächelte, während sie ihn anblickte, aber auch ihre Augen waren traurig. Schließlich streckte Warawka seine Hand unter die Decke, begann Klims Fußsohlen zu kitzeln, brachte ihn so zum Lachen und ging sogleich mit der Mutter aus dem Zimmer.

Am nächsten Tag aber veranstalteten sie abends ein prunkvolles Versöhnungsfest, es gab Tee und Kuchen, Konfekt, Musik und Tanz. Vor dem Beginn der Feierlichkeit mußten Klim und Boris sich küssen. Boris biß dabei fest die Zähne zusammen und schloß die Augen, und Klim verspürte den Wunsch, ihn zu beißen. Darauf bat man Klim, Nekrassows Gedicht »Die Holzfäller« aufzusagen. Lidas hübsche Freundin Alina Telepnew meldete sich selbst, ging zum Flügel und trug leise mit verzücktem Augenaufschlag vor:

»Die Menschen schlafen,


mein Freund, komm in den schattigen Garten.


Die Menschen schlafen,


nur die Sterne blicken auf uns hernieder.


Und auch sie sehen uns nicht unter den Zweigen.


Und sie hören uns nicht, nur die Nachtigall hört uns.«

Schalkhaft lächelnd sprach sie noch leiser die nächste


Strophe:

»Sie auch hört uns nicht, ihr Lied ist laut


Und es hört das Herz nur und die Hand,


Fühlen tief, wieviel der Erdenfreuden


Und des Glücks wir in dies Dunkel brachten.«

Sie war süß wie das Bild auf einer Konfektschachtel. Ihr rundes Gesichtchen, in das schokoladenbraune Locken fielen, erglühte tief, die blauen Augen strahlten in unkindlicher Schalkhaftigkeit, und als sie ihren Vortrag mit einem eleganten Knicks schloß und anmutig zum Tisch schwebte, empfing sie bewunderndes Schweigen. Warawka brach es endlich.

»Einzig, wie? Wera Petrowna, was sagen Sie?«

Er raffte mit der flachen Hand seinen Bart auf, so daß er ihm das Gesicht bedeckte und sprach durch die Haare hindurch weiter:

»So früh also erwacht das Weib, hm?«

Wera Petrowna drohte ihm mit dem Finger und zischte:

»Pst!«

Sie flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr, die Warawka zu einer schuldbewußten Bewegung der Arme veranlaßten, und fragte dann das Mädchen:

»Wo hast du gelernt, so vorzutragen?«

Das Mädchen errötete vor Stolz und erzählte, bei ihr zu Hause wohne eine alte Schauspielerin, die sie unterrichte.

Sogleich erklärte Lida:

»Papa, ich will auch Unterricht bei der Schauspielerin haben.«

Klim saß betrübt da. Man hatte vergessen, ihn für das Gedicht zu loben. Alina hielt er für dumm und trotz ihrer Schönheit für ebenso unnütz und fade wie Wera Somow.

Alles verlief sehr schön. Wera Petrowna spielte auf dem Flügel Boris' und Lidas Lieblingsstücke, die »Musikalische Tabatiere« von Ljadow, die »Troika« von Tschaikowski und noch ein paar von diesen reizenden und einfachen Sachen. Dann stürmte Tanja Kulikow ans Klavier und begann einen Walzer zu hämmern, wobei sie verzückt auf dem Schemel auf und nieder hüpfte. Warawka tanzte mit Wera Petrowna rund um den Tisch. Klim sah zum erstenmal, wie leicht dieser breite, wuchtige Mensch tanzte, wie gewandt er die Mutter durch die Luft wirbelte. Alle Kinder klatschten den Tänzern einmütig und begeistert Beifall, und Boris schrie:

»Papa, du bist herrlich!«

Klim nahm wahr, daß sein Feind durch die Musik, den Tanz und die Verse weicher gestimmt war, und er selbst fühlte sich aufgelöst und gerührt von der allgemeinen harmonischen und lichten Freudenstimmung.

»Kinder, eine Quadrille!« kommandierte die Mutter und wischte sich die Schläfen mit ihrem Spitzentüchlein. Lida, die Klim noch immer zürnte, aber ihn ansah, schickte den Bruder mit einem Auftrag nach oben. Klim folgte ihm einen Augenblick später, einer Aufwallung nachgebend, Boris etwas Gutes, Herzliches zu sagen, vielleicht auch ihn wegen seines Benehmens um Verzeihung zu bitten. Als er die Treppe zur Hälfte hinaufgestiegen war, erschien an ihrem oberen Ende Boris mit Schuhen in der Hand. Er stutzte und bückte sich dann, als wolle er auf Klim springen, schritt aber dabei langsam Stufe für Stufe hinab, und Klim vernahm sein röchelndes Flüstern:

»Wag es nicht, an mich heranzukommen, du!«

Klim erschrak, als er das über sich gebeugte und gleichsam auf ihn herabfallende Gesicht mit den zugespitzten Backenknochen und dem – wie bei einem Hund – vorgestellten Kinn erblickte. Er faßte nach dem Geländer und stieg ebenfalls langsam hinab, jeden Augenblick gewiß, daß Warawka sich auf ihn stürzen werde. Doch Boris ging an ihm vorüber und wiederholte nur vernehmlicher durch die Zähne:

»Wag es nicht!«

Kalt vor Schreck stand Klim auf der Treppe, es stieg ihm heiß in die Kehle, Tränen tropften aus seinen Augen, ihn übermannte der Wunsch, wegzulaufen, in den Garten, auf den Hof, und sich in einem Versteck auszuweinen. Er näherte sich der Verandatür. Der Wind jagte einen herbstlichen Regenschauer prasselnd gegen die Tür. Klim hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz, kratzte mit den Nägeln hinein und fühlte, daß in seiner Brust etwas zerbrochen, verschwunden war und eine Öde zurückgelassen hatte. Als er schließlich Herr über seinen Schmerz geworden war und ins Eßzimmer ging, tanzte man schon Quadrille. Aber er lehnte ab, rückte einen Stuhl an den Flügel und begann mit Tanja vierhändig zu spielen.

Schwere, dunkle Tage kamen für ihn. Er lebte in der Furcht vor Boris und im Haß gegen ihn. Er entzog sich den Spielen und hockte mit finsterem Gesicht in einem Winkel, von wo aus er Boris bewachte und wie auf eine große Freude darauf wartete, daß Boris fiel oder sich verletzte. Doch Warawka warf seinen biegsamen Leib spielerisch und wie im Fieber, einem Betrunkenen ähnlich, doch immer so sicher, als sei jede Bewegung, jeder Sprung im voraus fehlerlos berechnet. Alle waren entzückt von seiner Gewandtheit und Ausdauer, von seinem Talent, Lust und Schwung ins Spiel zu bringen. Klim hörte, wie seine Mutter leise zu Boris' Vater sagte:

»Was für ein begabter Körper!«

In diesem Jahr verspätete sich der Winter. Erst in der zweiten Hälfte des Novembers schmiedete ein trockner, grausamer Wind den Fluß unter blauem Eis zusammen und durchfurchte die vom Schnee entblößte Erde mit tiefen Rissen. Im verblaßten, frosterstarrten Himmel beschrieb eine weiße Sonne hastig ihre kurze Bahn, und es war, als strahle gerade von dieser entfärbten Sonne unbarmherzige Kälte auf die Erde aus.

An einem Sonntag gingen Boris, Lida und Klim und die Schwestern Somow zur Eisbahn, die eben erst am Stadtufer des Flusses freigelegt war. Ein großes Oval bläulichen Eises war von Tannen eingeschlossen, deren Stämme durch bastgeflochtene Taue aneinander gebunden waren. Hinter dem Fluß sank die Wintersonne blutig in den schwarzen Wald hinab. Violette Lichter legten sich über das Eis. Es wimmelte von Läufern.

»Das ist ein Sack Kartoffeln, aber keine Eisbahn«, erklärte mißmutig Boris. »Wer kommt mit mir auf den Fluß? Wera, du?«

»Ja«, sagte die dicke, farblose Somow.

Sie schlüpften unterm Tau hindurch, faßten sich an den Händen und stürmten quer über den Fluß zu den Wiesen. Hinter ihnen bliesen die Blechinstrumente der Militärkapelle dröhnend und mißtönig einen flotten Marsch. Ljuba Somow wurde von ihrem Bekannten, dem aus dem Gymnasium ausgestoßenen Inokow, bei der Hand ergriffen und fortgezogen. Ihr Kavalier war dürftig und leicht gekleidet, er stak in einem groben Kittel, den er in den Gurt seiner viel zu weiten Hosen gesteckt hatte, und hatte eine zottige Lammfellmütze verwegen aufs Ohr geschoben. Lida warf einen Blick auf den Fluß, wo das Mädchen Somow und Boris pfeilschnell durch die Luft schossen, sich wiegend, zur blutgedunsenen Sonne hin, und forderte Klim auf, ihnen zu folgen. Doch als sie unter dem Tau hindurchgekrochen waren und gemächlich dahinschwebten, rief sie aus:

»O sieh nur!«

Aber Klim hatte es schon gesehen: Boris und die Somow waren verschwunden.

»Sie sind hingefallen«, sagte er.

»Nein«, flüsterte Lida und stieß ihn so heftig mit der Schulter, daß er in die Knie fiel:

»Sieh nur, sie sind eingebrochen!«

Und rasch eilte sie vorwärts, dorthin, wo, fast schon am anderen Ufer, auf dem lodernden Grunde des Sonnenuntergangs zwei rote Bälle krampfhaft auf und nieder hüpften.

»Schneller!« schrie Lida sich entfernend. »Den Gürtel! Wirf ihnen den Gürtel zu, schrei!«

Klim überholte sie rasch und flog mit solcher Geschwindigkeit über das Eis, daß seine weitgeöffneten Augen schmerzten.

Ihm entgegen kroch fremd und unheimlich ein immer breiter klaffendes schwarzes Loch, gefüllt von wildbewegtem Wasser, er vernahm das kalte Plätschern und erblickte zwei sehr rote Hände. Die gespreizten Finger dieser Hände umklammerten den Rand des Eises, das Eis bröckelte los und krachte, die Hände tauchten auf und verschwanden wie die gerupften Flügel eines seltsamen Vogels. Zwischen ihnen sprang von Zeit zu Zeit ein schlüpfriger, glänzender Kopf mit ungeheuren Augen im blutüberströmten Gesicht hoch, versank, und wieder zitterten über dem Wasser die kleinen, roten Hände.

Klim hörte ein heiseres Heulen:

»Laß los! Laß los! Dummkopf ... laß mich doch los!«

Kaum fünf Schritte trennten Klim vom Rande der Wake. Jählings drehte er um und schlug heftig mit den Ellenbogen aufs Eis. Auf dem Bauch liegend sah er, wie das Wasser, seltsam gefärbt und wohl sehr schwer, über Boris Schultern und Kopf spülte. Es riß seine Hände vom Eis los, schlug ihm tändelnd über den Kopf, striegelte Gesicht und Augen. Das ganze Gesicht Warawkas heulte wild, es schien, daß auch die Augen heulten:

»Die Hand ... gib die Hand!«

»Sofort! Sofort!« stammelte Klim, und mühte sich ab, die glühend kalte Riemenschnalle loszuhaken. »Halt dich fest ... sofort!«

Es gab einen Augenblick, wo Klim dachte, daß es schön sein müßte, Boris mit diesem verzerrten und erschrockenen Gesicht, so hilflos und unglücklich nicht hier, sondern zu Hause zu sehen, wenn alle ihn sahen, wie er in dieser Minute war.

Doch dies dachte er nur neben dem Entsetzen, das ihn mit lähmender Kälte umklammerte. Mit Mühe hatte er endlich den Riemen abgeschnallt und warf ihn ins Wasser. Boris fing das Ende des Riemens auf, zog ihn zu sich heran und riß Klim unaufhaltsam über das Eis zum Wasser hin. Klim schrie jammernd auf, schloß die Augen und ließ den Riemen los. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, daß die schwarzvioletten schweren Wellen immer heftiger und wilder über Boris Schultern und über seinen bloßen Kopf schlugen, die kleinen rotglänzenden Hände immer näherrückten und ein Stück Eis nach dem anderen abbrach. Mit einer krampfhaften Bewegung seines ganzen Körpers glitt Klim weiter zurück vor diesen verderblichen Händen, doch kaum war er von ihnen weggekrochen, als Warawkas Hände und Kopf verschwanden. Auf dem erregten Wasser schaukelte nur die schwarze Persianermütze, schwammen bleierne Eisstücke und bäumten sich Wellenkronen rötlich in den Strahlen des Sonnenuntergangs. Klim seufzte tief und erleichtert auf. All dies Schreckliche hatte qualvoll lange gedauert. Doch obwohl das Entsetzen ihn abgestumpft hatte, wunderte er sich doch, daß Lida erst jetzt zu ihm gelangte, ihn an den Schultern packte, mit ihren Knien in den Rücken stieß und durchdringend schrie:

»Wo sind sie?«

Klim sah auf das Wasser, das beschwichtigt, nach einer Seite hin abfloß und mit Boris' Mütze spielte, sah hin und stotterte:

»Sie hat ihn hinabgezogen ... er schrie »laß mich los«, schalt sie ... Den Riemen hat er mir aus den Händen gerissen ....«

Lida schrie auf und fiel auf das Eis.

Das Eis krachte unter den Schlittschuhen, schwarze Figuren jagten zur Wake hin. Ein Mann im Halbpelz stocherte mit einer langen Stange im Wasser und brüllte:

»Auseinandergehen! Ihr werdet einbrechen! Hier ist Treibeis, meine Herrschaften, sehen Sie nicht, daß hier der Eisbrecher gearbeitet hat?«

Klim erhob sich, wollte Lida aufhelfen, wurde umgeworfen, fiel wieder auf den Rücken und schlug mit dem Hinterkopf auf. Ein schnurrbärtiger Soldat faßte ihn an der Hand und geleitete ihn über das Eis, wobei er schrie:

»Jag' alle auseinander!«

Der Bauer aber, der immer noch mit der Stange das Wasser absuchte, schrie etwas anderes:

»Gebildete Herrschaften! Kommandieren und respektieren selber nicht die Gesetze!«

Und besonders wunderte sich Klim über jemandes ungläubige Frage:

»Ja, war denn ein Junge da, vielleicht war gar kein Junge da?«

»Er war da!« wollte Klim rufen und konnte nicht.

Als er zur Besinnung kam, lag er daheim im Bett in hohem Fieber. Über ihn beugte sich das verschwimmende Gesicht der Mutter, und ihre Augen waren fremd, rot und klein.

»Hat man sie herausgeholt?« fragte Klim und verstummte, als er einen grauhaarigen Menschen mit einer Brille bemerkte, der mitten im Zimmer stand. Die Mutter legte ihre wohltuend kühle Hand auf seine Stirn und schwieg.

»Hat man sie herausgeholt?« sagte er noch einmal.

Die Mutter sagte:

»Er flüstert etwas!«

»Es ist das Fieber«, sprach mit betäubender Stimme der grauhaarige Mann.

Klim lag sieben Wochen an einer Lungenentzündung darnieder.

Während dieser Zeit erfuhr er, daß man Wera Somow begraben hatte. Boris hatte man nicht gefunden.

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