Die Krankheit und die durch sie hervorgerufene Schlaffheit hielten Samgin davon ab, sich rechtzeitig um Aufnahme an die Moskauer Universität zu bemühen. Später beschloß er, auszuruhen und in diesem Jahr nicht zu studieren. Doch das Leben zu Hause war zu reizlos, und so fuhr er an einem windigen Tag Ende September dennoch nach Moskau und streifte durch die Gassen, auf der Suche nach Lidas Wohnung.
Vom Wind abgerissene Blätter flatterten durch die Luft gleich Fledermäusen, es sprühte ein feiner Regen. Von den Dächern fielen schwere Tropfen und trommelten gegen den Schirm. Zornig knurrte das Wasser in den rostigen Abflußrohren. Die nassen, verdrossenen Häuschen sahen Klim aus verweinten Fenstern an. Er mußte daran denken, daß solche Häuser Falschmünzern, Hehlern und Unglücklichen zusagen mußten. Zwischen diesen Häusern sahen vergessen kleine Kirchen hervor.
»Nicht Tempel, sondern Hundehütten«, dachte Klim, und dieser Vergleich gefiel ihm sehr.
Lida wohnte im Hinterhof eines dieser Häuser, im zweiten Stock des Traktes. Seine Mauern entbehrten jeglichen Schmucks, die Fenster waren ohne Einfassung, der Verputz abgebröckelt. Der Trakt hatte ein mißhandeltes, ausgeraubtes Aussehen.
Lida begrüßte Klim lebhaft, mit Freude. Ihre Züge zeigten Erregung, – die Ohren waren rot, die Augen lachten. Sie machte einen angeheiterten Eindruck.
»Samgin, ein Landsmann und Gespiele meiner Kindheit!« schrie sie, als sie Klim in ein weitläufiges Zimmer mit einem gestrichenen, zu den Fenstern hin abschüssigen Fußboden führte. Aus dem Rauch erhob sich ein Mann von kleinem Wuchs, ergriff eilig Klims Hand und sagte, während er sie hin und her zerrte, leise und schuldbewußt:
»Semjon Diomidow.«
Eine spitznäsige Jungfrau mit pompöser, tragisch zerwühlter Frisur nannte ihren Namen:
»Warwara Antipow.«
»Stepan Marakujew«, sagte ein kraushaariger Student mit dem Gesicht eines Sängers und Tänzers aus einem Kaschemmenchor.
Von den blauen Kacheln des Ofens löste sich hinkend ein kahlköpfiger Mensch in einem langen bis über die Knie fallenden und mit einer dicken Quastenschnur gegürteten Hemd, bellte heiser und sagte, die Worte in sich hineinsaugend:
»Onkel Chrisanf. Warja, sorg für den Gast! Ehre und Platz!«
Er nahm Klim am Arm und setzte ihn sorglich wie einen Kranken auf das Sofa.
Fünf Minuten später war Samgin berechtigt, zu glauben, daß Onkel Chrisanf ihn seit langem ungeduldig erwartet habe und schrecklich froh sei, daß er endlich erschien. Das Gesicht des Onkels, rund und rot wie das eines Neugeborenen, erstrahlte in einem entzückten Lächeln. Dieses Lächeln, das unaufhörlich erschien, entstand auf seinen vollen Lippen, dehnte die Nüstern seiner stumpfen Nase, blähte seine Backen, um endlich, nachdem es die säuglinghaft kleinen Augen von unbestimmter Farbe überzogen hatte, auf der Stirn und der geschliffenen, rosigen Haut seines Schädels zu erstrahlen. Es war ein seltsamer Anblick, es schien, als glitte Onkel Chrisanfs Gesicht aufwärts und könnte sich plötzlich im Nacken befinden, und an der Stelle des Gesichts ein blindes, rundes Stück roter Haut zurückbleiben.
»Wir haben eben den "Tartuffe" durchgenommen«, sagte Onkel Chrisanf, nachdem er neben Klim Platz genommen hatte, und scharrte mit seinen bunten Pantoffeln am Fußboden.
Zwei Lampen erhellten das Zimmer. Die eine stand auf dem Spiegelschränkchen zwischen den eine graue Feuchtigkeit ausschwitzenden Fenstern. Die andere hing an einer Kette von der Decke herab. Unter ihr stand in der Pose eines Erhängten, mit am Körper herabbaumelnden Armen, den Kopf auf die Schulter geneigt, Diomidow. Stand – und sah mit einem durchdringenden, irritierenden Blick auf Klim, der durch die singende, begeisterte Redeweise Onkel Chrisanfs betäubt war:
»Ich vergöttere Moskau! Rühme mich, Moskauer zu sein! Wandle erschauernd dieselben Straßen mit unseren weltberühmten Schauspielern und Gelehrten! Bin glücklich, den Hut vor Wassili Ossipowitsch Kljutschewski ziehen zu dürfen! Bin Leo Tolstoi – Leo, sage ich! – zweimal begegnet. Und wenn Maria Jermolow zur Probe fährt, bin ich bereit, mitten auf der Straße in die Knie zu sinken. Auf Ehre!«
Im Nachbarzimmer waren Lida, in roter Bluse und schwarzem Rock, und Warwara, in einem dunkelgrünen Kleid, geschäftig. Es lachte der unsichtbare Student Marakujew. Lida schien kleiner und erinnerte mehr denn je an eine Zigeunerin. Sie war gleichsam voller geworden, und ihr zierliches Figürchen hatte seine Körperlosigkeit eingebüßt. Dies beunruhigte Klim, der unaufmerksam die begeisterten Ergüsse Onkel Chrisanfs über sich ergehen ließ und versteckt, mit scheelen Blicken Diomidow betrachtete, der lautlos von Ecke zu Ecke wandelte.
Auf den ersten Blick bestürzte Diomidows Gesicht durch seine festliche Schönheit, doch bald entsann sich Klim, daß man gerade diese süßliche Schönheit Engelsschönheit nannte. Das von saphirgrünen, mädchenhaften Augen erhellte, runde und weiche Gesicht schien künstlich gemalt. Übertrieben grell waren die vollen Lippen, allzu stark und dicht die goldfarbenen Brauen. Alles in allem die starre Maske einer Porzellanpuppe. Das hellbraune, lockige Haar schlängelte sich bis zur Schulter und flößte den lächerlichen Wunsch ein, nachzusehen, ob Diomidow nicht weiße Fittiche auf dem Rücken habe. Während er im Zimmer auf und ab schritt, zwang er häufig und behutsam mit beiden Händen Haarsträhnen hinter seine Ohren zurück und preßte seine Schläfen in einer Weise zusammen, als fühle er nach, ob auch sein Kopf noch da sei. Dann entblößten sich zwei kleine Ohren von edler Form.
Mittelgroß, sehr schlank, trug Diomidow eine schwarze Bluse mit breitem Ledergürtel. Seine Füße waren mit geräuschlosen, gut geputzten Stiefeln bekleidet. Klim bemerkte, daß dieser Junge einige Male – nach einem unsicheren Blick zu ihm hin – sich auf die Lippe biß, als getraue er sich nicht, ihn etwas zu fragen.
»Ich habe die Ehre, Nikolai Nikolajewitsch Slatowratski persönlich zu kennen«, legte der entzückte Onkel Chrisanf dar.
Als Lida zum Tee rief, schwelgte er auch drüben noch lange in Schilderungen des an berühmten Leuten reichen Moskaus.
»Hier ist sowohl Rußlands Hirn als auch sein weites Herz«, rief er aus und zeigte mit dem Arm nach dem Fenster, an dessen Scheiben sich die feuchte Dunkelheit des Herbstabends feucht anschmiegte.
Die spitznäsige Warwara hielt das Haupt stolz erhoben. Ihre grünlichen Augen lächelten den Studenten Marakujew an, der ihr etwas ins Ohr flüsterte und lachlustig die Backen aufblies. Lida, die den Tee in die Gläser goß, war düster.
»Diese Lobgesänge können ihr nicht gefallen«, dachte Klim, während er den über sein Glas gebeugten Diomidow beobachtete. Onkel Chrisanf wischte sich müde, mit der Bewegung eines Katers, den Schweiß von Gesicht und Glatze, rieb die feuchte Handfläche an seiner Schulter ab und fragte Klim:
»Petersburg ist mehr nach Ihrem Herzen?«
Klim kam es so vor, als klinge die Frage ironisch. Aus Höflichkeit wollte er mit dem Moskauer in der Beurteilung der alten Stadt nicht verschiedener Meinung sein. Bevor er aber Anstalten treffen konnte, Onkel Chrisanfs Herz zu erquicken, sagte Diomidow, ohne den Kopf zu erheben, mit lauter und überzeugter Stimme:
»In Petersburg ist der Schlaf schwerer. An feuchten Plätzen ist der Schlaf immer schwer. Auch die Träume sind in Petersburg eigenartig. So grausige Dinge wie dort träumt man in Orjol nicht.«
Er blickte Klim an und fügte hinzu:
»Ich bin aus Orjol.«
Lida sah mit gespanntem Blick auf Diomidow, doch er beugte sich wieder vor und versteckte sein Gesicht.
Klim begann nach dem Herzen Onkel Chrisanfs von Moskau zu sprechen: Vom Berg der Anbetung gesehen erscheine es wie eine regellose Anhäufung von Kehricht, aus ganz Rußland zusammengefegt, doch die goldenen Kuppeln zahlreicher Kirchen seien beredte Zeugen dafür, daß es nicht Kehricht, sondern kostbares Erz sei.
»Wundervoll gesagt!« billigte Onkel Chrisanf und erstrahlte von oben bis unten in einem glücklichen Lächeln.
»Ergreifend sind diese Kirchlein, verirrt zwischen den Häusern der Menschen. Hundehütten Gottes...«
»Zu Herzen gehend! Treffend!« stieß Onkel Chrisanf aus und hüpfte auf seinem Stuhl empor.
Und von neuem kochte die Begeisterung in ihm über.
»Ja, Hundehütten des russischen, moskowitischen, volkhaftesten Gottes! Einen herrlichen Gott haben wir – Einfalt! Nicht in der Soutane, nicht im Bischofsmantel – im Hemd, jawohl! Unser Gott ist wie unser Volk: der ganzen Welt ein Rätsel!«
»Sind Sie gläubig?« fragte Diomidow leise Klim, doch Warwara zischte ihn an. Onkel Chrisanf redete mit schwingenden Bewegungen der Hand, bestrebt, seine winzigen Augen möglichst weit zu öffnen, erreichte jedoch nur, daß die grauhaarigen Brauen zitterten, und die Augen stumpf glänzten wie zwei zinnerne Knöpfe in roten Schlitzen.
Diomidow fuhr wie gebissen oder als habe er sich plötzlich an etwas Beängstigendes erinnert, von seinem Stuhl auf und schob der Reihe nach jedem schweigend seine Hand hin. Klim fand, daß Lida diese allzu weiße Hand einige Sekunden länger als notwendig in der ihren behielt. Auch der Student Marakujew verabschiedete sich. Noch im Zimmer schob er verwegen seine Mütze in den Nacken.
»Möchtest du dir ansehen, wie ich wohne?« sagte Lida freundlich.
In einem schmalen und langen Zimmer stand, zwei Drittel seiner Breite einnehmend, ein massives Bett. Sein hohes, geschnitztes Kopfende und der ragende Berg üppiger Kissen ließen Klim denken:
»Das ist das Bett einer Greisin.«
Eine bauchige Kommode und auf ihr ein Trumeau in Form einer Lyra, drei plumpe Stühle, ein alter kurzbeiniger Sessel vor einem Tisch am Fenster, – das war die ganze Einrichtung des Zimmers, Die Wände, weiß tapeziert, waren nüchtern und kahl, nur gegenüber dem Bett hing das dunkle Quadrat einer kleinen Photographie: die See, glatt wie ein Spiegel, das Heck einer Barkasse und auf ihr, umschlungen, Lida und Alina.
»Asketisch«, sagte Klim, der sich an das gemütliche Nest der Nechajew erinnerte.
»Ich mag nichts Überflüssiges.«
Lida setzte sich in den Sessel, schlug die Beine übereinander, faltete die Hände auf der Brust und begann, etwas ungeschickt, sogleich von der Reise auf der Wolga, durch den Kaukasus und von Batum übers Meer nach der Krim zu erzählen. Sie sprach so, als beeile sie sich, Rechenschaft über ihre Eindrücke abzulegen, oder als gebe sie eine von ihr gelesene, interessante Beschreibung von Dampfern, Städten und Routen wieder. Nur gelegentlich flocht sie einige Worte ein, die Klim als ihre eigenen empfand.
»Wenn du gesehen hättest, wie grauenhaft das ist, wenn Millionen Heringe als eine einzige blinde Masse zum Laichen ziehen! Das ist dermaßen dumm, daß man sogar erschrickt.«
Über den Kaukasus lautete ihr Urteil:
»Eine Höllenlandschaft mit schwarzen Figürchen halbverkohlter Sünder. Eiserne Berge, auf ihnen trauriges Gras, das wie Grünspan aussieht. Weißt du, ich empfinde eine immer heftigere Abneigung gegen die Natur«, schloß sie ihren Bericht lächelnd und das Wort »Natur« mit einer Grimasse des Ekels betonend. »Diese Berge, Wasser, Fische, all dies ist erstaunlich drückend und dumm. Und zwingt einen, die Menschen zu bedauern. Ich aber verstehe es nicht, zu bedauern.«
»Du bist alt und weise«, scherzte Klim, der fühlte, daß die Übereinstimmung ihrer Ansichten mit seinen eigenen unfruchtbaren Grübeleien ihm wohltat.
Draußen rauschte Regen und streichelte die Scheiben. Eine Gaslaterne flammte auf. Ihr blutloses Licht erhellte die feine, graue Perlenschnur der Regentropfen. Lida schaute mit auf der Brust gekreuzten Armen stumm aus dem Fenster. Klim fragte:
»Wer ist eigentlich dieser Onkel Chrisanf?«
»Vor allem ein sehr gütiger Mensch. Weißt du, so ein unerschöpflich guter. Unheilbar, würde ich sagen.«
Und mit einem Lächeln ihrer dunklen Augen begann sie so lebhaft und mit so viel Wärme zu reden, daß Klim sie mit Erstaunen ansah: als wäre jene, die vor einigen Minuten in so trockenem Ton Rechenschaft abgelegt hatte, eine andere gewesen.
»Ich bin tief überzeugt, daß er Moskau, das Volk und die Menschen, von denen er spricht, aufrichtig liebt. Übrigens, Menschen, die er nicht liebte, gibt es auf der Welt nicht. Einem solchen Menschen bin ich noch nicht begegnet. Er ist unerträglich, er besitzt in einzigartiger Weise die Gabe, mit Begeisterung Plattheiten zu sagen, aber dennoch... Man möchte einen Menschen beneiden, der so das Leben feiert...«
Sie erzählte, Onkel Chrisanf habe sich in seiner Jugend politisch komprimittiert, das habe ihn mit seinem Vater, einem reichen Gutsbesitzer, entzweit. Darauf habe er sich als Korrektor und Souffleur sein Brot verdient und nach dem Tode seines Vaters eine Bühne in der Provinz aufgemacht. Er verkrachte und saß sogar in Schuldhaft. Später war er Regisseur an privaten Theatern, heiratete eine reiche Witwe, die starb und ihr ganzes Vermögen ihrer Tochter Warwara hinterließ. Jetzt lebte Onkel Chrisanf bei seiner Stieftochter und erteilte an einer privaten Theaterschule Unterricht im Deklamieren.
»Und diese – Warwara?«
»Warwara hat Talent«, sagte zögernd Lida, und ihre Augen hefteten sich fragend auf Klims Gesicht.
»Weshalb siehst du mich so an?« fragte er verlegen.
»Ich frage mich, ob du wohl Talent hast?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Klim bescheiden.
Sie betrachtete ihn nachdenklich.
»Irgendein Talent mußt du haben«, sagte sie.
Klim machte sich ihr Schweigen zunutze, um sie nach dem zu fragen, was ihn hauptsächlich interessierte: nach Diotnidow.
»Er ist wunderlich, nicht wahr?« rief Lida aus, von neuer Lebhaftigkeit erfüllt. Es ergab sich, daß Diomidow eine Waise war, ein Findelkind. Bis zu seinem neunten Jahr wurde er von einer alten Jungfer, der Schwester eines Geschichtslehrers erzogen, dann starb sie. Der Lehrer ergab sich dem Trunk und starb gleichfalls schon zwei Jahre darauf. Ein Drechsler, der Ikonenschreine schnitzte, nahm Diomidow in die Lehre. Nachdem Diomidow fünf Jahre bei ihm gearbeitet hatte, übernahm ihn sein Bruder, der Requisitenmacher war, ein Junggeselle und Säufer. Bei ihm lebt er auch heute.
»Chrisanf drängt ihn, zur Bühne zu gehen. Aber ich kann mir keinen weniger theatralischen Menschen als Semjon vorstellen. Oh, was für ein reiner Jüngling er ist!«
»Und in dich verliebt!« bemerkte Klim lächelnd.
»Und in mich verliebt«, wiederholte Lida automatisch.
»Und du?«
Sie antwortete nicht, aber Klim sah, daß ihr braunes Gesicht sich sorgenvoll verdunkelte. Sie zog die Beine auf den Sessel herauf, schlang die Arme um ihre Schultern und krümmte sich zu einem Klümpchen zusammen.
»Mit wunderlichen Menschen komme ich in Berührung«, sagte sie seufzend. »Mit sehr wunderlichen. Und überhaupt, wie schwer ist es, die Menschen zu verstehen.«
Klim nickte zustimmend. Wenn er sich nicht auf den ersten Blick ein Urteil über einen Menschen bilden konnte, empfand er diesen Menschen als eine Bedrohung. Die Zahl dieser bedrohlichen Menschen wuchs ständig. Unter ihnen stand Lida ihm am nächsten. Diese Vertrautheit empfand er in diesem Moment besonders deutlich, und plötzlich bemächtigte sich seiner der Wunsch, ihr alles von sich zu sagen, ohne einen einzigen Gedanken zu verhehlen, ihr noch einmal zu gestehen, daß er sie liebe, aber nicht verstehe und etwas an ihr fürchte. Beunruhigt durch diesen Wunsch stand er auf und verabschiedete sich von ihr.
»Komm bald wieder«, sagte sie. »Komm morgen schon. Morgen ist Feiertag.«
Auf der Straße rieselten immer noch die feinen Körnchen des herbstlich ausdauernden Regens. Langweilig gurgelte das Wasser in den Sielen. Die Häuser, eng aneinander geschmiegt, fürchteten gleichsam zu zerfließen, wenn sie sich trennten. Sogar das Licht der Laternen hatte etwas Flüssiges. Klim winkte einem schwarzen, wütenden Kutscher. Sein nasser Gaul wackelte mit dem Kopf und pochte mit den Hufeisen gegen die Pflastersteine. Klim schauerte fröstelnd zusammen, betroffen von der kalten Feuchtigkeit und von unmutigen Gedanken über die Menschen, die schwärmerisch unglaubliche Dummheiten zu sagen verstanden, und über sich, der noch immer ohnmächtig war, sich sein eigenes Satzsystem aufzubauen.
»Der Mensch ist ein System von Sätzen, nicht mehr. ›Hundehütten Gottes‹ war dumm von mir gesagt. Dumm. Aber noch dümmer ist der ›moskowitische Gott im Hemd‹. Und warum sind Träume in Orjol angenehmer als Träume in Petersburg? Es ist klar, die Menschen brauchen diese Abgeschmacktheiten nur, damit einer sich vom anderen unterscheiden kann. Im Grunde ist das Betrug.«
Einige Abende bei Onkel Chrisanf verbracht, überzeugten Samgin vollkommen davon, daß Lida unter wahrhaft wunderlichen Menschen lebte. Jedesmal sah er dort Diomidow, und diese gemalte Puppe erregte in ihm ein Gefühl, gemischt aus Neugier, Ratlosigkeit und zögernder Eifersucht. Der Student Marakujew begegnete Diomidow feindselig, Warwara gnädig und gönnerhaft, während Lidas Verhalten sprunghaft und launisch war. Zuweilen übersah sie ihn während des ganzen Abends, unterhielt sich mit Makarow oder verspottete Marakujews Liebe für das einfache Volk. Ein anderes Mal sprach sie den ganzen Abend halblaut nur mit ihm oder lauschte seiner summenden Rede. Diomidow sprach immer mit einem Lächeln und so langsam, als formten sich die Worte ihm schwer.
»Es gibt häusliche Menschen und wilde. Ich bin ein wilder«, sagte er schuldbewußt. »Die häuslichen Menschen verstehe ich wohl, aber ich gewöhne mich schwer an sie. Immer scheint es mir, als trete jemand an mich heran und fordere mich auf: ›Komm mit!‹ Und ich gehe dann mit, ohne zu wissen wohin.«
»Das bin ich, ich bin es, der dich führt!« schrie Onkel Chrisanf. »Ich werde aus dir einen erstklassigen Schauspieler machen. Du wirst einen solchen Romeo, einen solchen Hamlet hinlegen ...!«
Diomidow glättete sein Haar, schmunzelte ungläubig, und seine Ungläubigkeit war so deutlich, daß Klim dachte:
»Lida hat recht. Dieser Mensch kann kein Schauspieler sein, er ist viel zu dumm, um sich zu verstellen.«
Doch eines Tages ließ Onkel Chrisanf Diomidow und seine Stieftochter einige Szenen aus »Romeo und Julia« spielen. Klim, von jeher gleichgültig gegen das Theater, war bestürzt über die erhabene Gewalt, mit der der lichthaarige Jüngling die Worte der Liebe und Leidenschaft aussprach. Er erwies sich im Besitz eines sanften Tenors, arm an Schattierungen, doch klangvoll. Samgin lauschte den schönen Worten Romeos und fragte sich, weshalb dieser Mensch Bescheidenheit heuchelte, wenn er sich einen Wilden nannte. Weshalb verheimlichte Lida, daß er Talent besaß? Wie sie ihn jetzt ansah, mit geweiteten Pupillen, trat durch die bräunliche Haut ihrer Wangen eine helle Röte, und ihre Finger, die auf ihrem Knie ruhten, zitterten.
Onkel Chrisanf, der rittlings auf einem Stuhl saß, erhob Arm, Oberlippe und Brauen, spannte die dicken Waden seiner kurzen Beine an, hüpfte auf seinem Sitz empor, schleuderte seinen feisten Rumpf vor, und Gesicht und Stimme strahlten vor Entzücken. Er zwinkerte wollüstig und klatschte dreimal in die Hände:
»Vortrefflich!« schrie er. »Ausgezeichnet, aber verkehrt! Das war kein Italiener, sondern ein Mordwine. Das war Grübelei, aber nicht Leidenschaft, Reue, aber nicht Liebe! Die Liebe verlangt die große Geste. Wo ist bei dir die Geste? Dein Gesicht lebt nicht! Deine ganze Seele liegt in den Augen, das ist zu wenig! Nicht jedermann im Publikum sieht durch das Binokel auf die Bühne...«
Lida zog sich ans Fenster zurück und sagte, während sie mit dem Finger auf der beschlagenen Scheibe malte, mit dumpfer Stimme:
»Mir scheint auch, es ist zu ... weich.«
»Nicht im geringsten zündend«, bestätigte Warwara und maß Diomidow mit einem ärgerlichen Blick aus ihren grünlichen Augen. Erst in diesem Augenblick fiel Klim ein, daß sie die Repliken Julias mit blaßer Stimme gegeben und beim Sprechen unschön den Hals gereckt hatte.
Diomidow senkte den Kopf, schob die Daumen zwischen seinen Gurt und sagte, einem »O« ähnelnd, schuldbewußt:
»Ich glaube nicht an das Theater.«
»Weil du nicht so viel weißt«, schrie tobend Onkel Chrisanf. »Lies mal das Buch ›Die politische Rolle des französischen Theaters‹ von... wie heißt er doch? Boborykin!«
Er drang auf Diomidow ein und trieb ihn in die Ofenecke. Dort beteuerte er ihm:
»Mit dem Evangelium sollte man dich auf den Schädel schlagen, mit der Predigt über die Talente!«
»An diese Predigt glaube ich auch nicht«, hörte Klim leise antworten.
»Gewiß, er ist dumm«, entschied Klim. Lida begann zu lachen, und Klim nahm ihr Lachen für eine Bestätigung seines Urteils.
Später, als er bei ihr im Zimmer saß, sagte er:
»Weißt du noch, dein Vater sagte, jeder Mensch sei an seinem Faden befestigt, und dieser Faden sei stärker als die Menschen.«
»Er hängt selbst an einem Faden«, meinte Lida gleichmütig, ohne ihn anzusehen.
»Wenn du auf Semjon anspielst, so ist dies nicht richtig«, fuhr sie fort. »Er ist frei. Er hat etwas Beschwingtes.«
Sie sprach gezwungen, wie eine Frau, die die Unterhaltung mit ihrem Mann langweilt. An diesem Abend schien sie um fünf Jahre gealtert. Eingehüllt in ihren Schal, der straff ihre Schultern umspannte, fröstelnd in den Sessel gekauert, war sie, wie Klim fühlte, weit fort von ihm. Doch dies hielt ihn nicht ab, sich zu sagen, mochte dieses Mädchen häßlich und fremd sein, er wollte doch gern zu ihr treten, seinen Kopf in ihren Schoß legen und noch einmal jenes Einzige empfinden, das er einst erfahren hatte. In seinem Gedächtnis ertönten Romeos Worte und der Ausruf Onkel Chrisanfs:
»Die Liebe verlangt die große Geste!«
Doch er fand bei sich keine Entschlossenheit zur Geste, verabschiedete sich gepreßten Herzens von ihr und ging fort, zum zehntenmal an dem Rätsel verzweifelnd, warum es ihn gerade zu dieser Frau ziehe. Warum?
»Ich erklügle sie. Sie kann mir doch nicht die Tür in ein sagenhaftes Paradies öffnen!«
Und doch fühlte er, daß irgendwo tief in ihm die Überzeugung beharrte, Lida sei für ein besonderes Leben, eine besondere Liebe geschaffen. Über seine Empfindungen für sie ins reine zu kommen, daran hinderte ihn der Sturzbach von Eindrücken, ein Sturzbach, in dem Samgin willenlos und immer schneller dahintrieb.
An Sonntagabenden versammelten sich bei Onkel Chrisanf seine Freunde, Leute gesetzten Alters und gleicher Gemütslage. Alle fühlten sich vom Schicksal ungerecht behandelt, und jeder von ihnen brachte Gerüchte und Tatsachen mit, die das Gefühl des Unrechts noch vertieften. Alle waren dem Trinken und Essen zugetan. Onkel Chrisanf aber war im Besitz der mächtigen Köchin Anfimowna, die unglaubliche Fischpasteten zu backen verstand.
Unter diesen Menschen gab es zwei Schauspieler, die überzeugt waren, daß sie ihre Rollen so spielten, wie nie ein Mensch vor ihnen und nach ihnen. Der eine war würdevoll, grauhaarig, mit hängenden Wangen und dem allesverachtenden Blick der streng aufgerissenen Augen eines Menschen, den der Ruhm ermüdet hat.
Er trug mit Adel einen Samtfrack und weiche sämischlederne Schuhe. Unter seinem Bulldoggenkinn war ein blauer Schlips zu einer pompösen Schleife geknüpft. Er litt an Podagra und setzte die Füße so behutsam auf, als verachte er auch den Erdboden. Er aß und trank viel, sprach wenig, und wessen Namen immer in seiner Gegenwart genannt werden mochte, er winkte mit der schweren, bläulichen Hand ab und verkündete grollend und im Ton des großen Herrn:
»Ich kenne ihn.«
Weiter sagte er nichts, da er offenbar annahm, in diesen seinen drei Worten sei eine hinlänglich vernichtende Kritik dieses Menschen eingeschlossen. Er war Anglomane, vielleicht deshalb, weil er nur »Englischen Bittern« trank, und zwar mit fest zugekniffenen Augen und so heftig zurückgeworfenem Kopf, als wünschte er, daß der Schnaps ihm zum Nacken hinausdrang. Der andere Schauspieler war unansehnlich: kahlköpfig, mit zahnlosem Mund und einem Kneifer auf einer Habichtsnase. Er hatte die großen und wachsamen Ohren eines Hasen. Rastlos geschäftig in seinem dürftigen grauen Jackett und grauen Hosen an dünnen Beinen mit spitzen Knien, erzählte er Anekdoten, trank mit Wollust Wodka, die er nur mit Roggenbrot begleitete, und ergänzte, boshaft die Lippen schiefziehend, die Urteile des würdevollen Schauspielers mit gleichfalls drei Worten:
»Er war Alkoholiker.«
Er versicherte, daß er »Memoiren eines Nachtvogels« schriebe, und erläuterte:
»Der Nachtvogel bin ich, der Schauspieler. Schauspieler und Frauen leben nur nachts. Ich liebe bis zur Selbstvergessenheit alles Historische.«
Zum Beweise seiner Liebe für die Historie erzählte er nicht schlecht, wie der hochbegabte Andrejew-Burlak vor der Aufführung das Kostüm vertrank, in dem er den Judas von Qolowljow spielen mußte; wie Schumski soff; wie die Rinna-Syrowarow in betrunkenem Zustand nicht unterscheiden konnte, wer von drei Männern ihr Gatte war. Die Hälfte dieser Geschichte, wie auch die meisten übrigen, teilte er im Flüsterton mit, wobei Er die Worte verschluckte und mit dem linken Bein strampelte. Das Zucken dieses Beins bewertete er ziemlich hoch:
»Ein solches Zucken befiel Napoleon in den besten Augenblicken seines Lebens.«
Klim Samgin hatte sich daran gewöhnt, die Menschen mit dem ihm verständlichsten Maßstab zu messen, und diese beiden Mimen färbten in Klims Augen mit ihrer Farbe alle Freunde Onkel Chrisanfs.
Einen Menschen, der einst eine Rolle gespielt hatte, lernte er in der Person eines bekannten Schriftstellers kennen, eines langbärtigen, knorrigen Greises mit kleinen Augen. Dieser Literat, der sich in den 70er Jahren durch die Idealisierung des Bauerntums einen Namen gemacht hatte, hatte, obwohl mäßig begabt, durch den Lyrismus seiner Liebe und seines Glaubens an das Volk die ehrlichste Begeisterung der Leser erweckt. Er hatte seinen Ruhm überlebt, doch seine Liebe war lebendig geblieben, wenn auch verbittert, weil der Leser sie nicht mehr schätzte, nicht mehr verstand. Dadurch verwundet, schalt der Greis zänkisch die jungen Literaten und beschuldigte sie des Verrats am Volk.
»Alles Lejkins, die für die Unterhaltung schreiben. Korolenko schreibt bald so, bald so, haut aber in dieselbe Kerbe. Über Kakerlaken hat er geschrieben! In der Stadt spielen die Kakerlaken keine Rolle, man muß sie auf dem Dorf beobachten und beschreiben! Man lobt zum Beispiel Tschechow, Aber er ist ein herzloser Taschenspieler, der nur grau in grau malt. Man liest und sieht nichts. Es sind alles Halbwüchsige.«
Vor allen Dingen konnten ihn die Marxisten bis zu einem bösen Leuchten in den Augen erbittern. Während er sich am Bart zupfte, sagte er finster:
»Kürzlich hat mir ein Dummkopf ins Gesicht hinein gekläfft: Ihr Einsatz auf das Volk ist geschlagen. Es gibt kein Volk, es gibt nur Klassen. Ein Jurist im zweiten Semester. Jude. Klassen! Er hat vergessen, wie klassisch man erst unlängst gegen seine Rassegenossen gewütet hat.«
Befriedigt von dem einfältigen und düsteren Kalauer, schmunzelte er so breit, daß sein Bart bis zu den Ohren hinaufwanderte und eine gutmütige, stumpfe Nase entblößte.
Seine Bewegungen waren schwer, wie die eines Bauern hinter dem Pflug, Überhaupt war in seinen Gesten und Redewendungen viel Bäurisches. Samgin, der sich an den Tolstoianer erinnerte, der sich als Bauer aufgeputzt hatte, sagte zu Makarow.
»Er schauspielert geschickt.«
Aber Makarow runzelte die Stirn und entgegnete:
»Ich finde nicht, daß er schauspielert. Vielleicht hat er alle diese Manieren irgendwann einmal angenommen, weil sie Mode waren, doch jetzt sind sie sein echtes Wesen. Du solltest beobachten, wie naiv und gar nicht gescheit er zuweilen redet, und trotzdem wird es einem nicht einfallen, über ihn zu lachen. Nein! Der Alte ist echt! Eine Persönlichkeit!«
Wenn der alte Schriftsteller Branntwein getrunken hatte, liebte er es, von der Vergangenheit zu erzählen, von Menschen, mit denen er gemeinsam angefangen hatte zu arbeiten. Die jungen Leute hörten die Namen von Literaten, die ihnen unbekannt waren, und tauschten verständnislose Blicke:
»Naumow, Bashin, Sassodimski, Lewitow ...«
»Hast du die gelesen?« erkundigte sich Klim bei Makarow.
»Nein. Von den beiden Uspenskis habe ich Gleb gelesen, aber daß es noch einen Nikolai gab, höre ich zum ersten Male. Gleb ist ein Hysteriker. Übrigens verstehe ich wenig von Belletristen, Prosaisten, überhaupt von ›Isten‹.« Er lächelte, fügte aber sogleich finster hinzu:
»Ich fürchte, sie werden Lida noch in die Politik hineinziehen...«
Makarow war häufiger Gast bei Lida. Aber er blieb nie lange. Mit ihr sprach er im Ton des älteren Bruders, mit Warwara wegwerfend und bisweilen sogar spöttisch. Marakujew und Pojarkow nannte er »Choristen«, Onkel Chrisanf den »Moskauer Knecht Gottes«. All das behagte Klim, der jetzt den barfüßigen, müden und Naivitäten propagierenden Makarow auf der Veranda des Landhauses vergessen hatte.
Es gab dort noch einen Schriftsteller, den Autor süßlicher Erzählungen aus dem Leben kleiner Leute mit kleinen Leiden. Makarow nannte diese Erzählungen »Korrespondenzberichte an Nikolaus den Wundertäter«. Der Schriftsteller selbst war ebenfalls klein, vierschrötig, mit schlechtem Teint, einem dünnen schwärzlichen Bärtchen und unfreundlichen Augen, Um ihren harten Ausdruck zu mildern, lächelte er unbestimmt und gewaltsam, und dieses Lächeln, das sein dunkles Gesicht verzerrte, machte ihn alt. In nüchternem Zustand redete er wenig und behutsam, betrachtete mit großer Aufmerksamkeit seine bläulichen Fingernägel und hüstelte trocken in seinen Rockärmel. Wenn er jedoch getrunken hatte, stieß er, fast immer am falschen Platz, vieldeutige Sätze hervor:
»Ich bin Sklave, ich bin Zar, ich bin Wurm, ich bin Gott! Die Substanz ist die gleiche, beim Wurm wie bei Goethe.«
Er erfand Redensarten, die er ebenfalls unvermittelt und sinnlos in die Unterhaltung einflocht. Man nannte ihn Nikodim Iwanowitsch, und Klim hörte einmal, wie er, rätselhaft lächelnd, zu Diomidow sagte:
»Warten wir ab, vertrauen wir ihm, folgen wir dem Nikodim!«
Wenn er etwas im Volkston oder im Jargon des Alltags gesagt hatte, hüstelte er besonders eifrig und gedankenvoll in seinen Ärmel. Doch bereits fünf Minuten später sprach er in anderen Wendungen und so, als ob er in Gedanken die Festigkeit seiner Worte prüfte.
»In unserem Innern ist alles nicht so, wie wir es sehen. Das wußten schon die Griechen. Das Volk erwies sich anders, als die Generation der 70er Jahre es gesehen hatte.«
Er gab sich überhaupt rätselhaft und zerstreut, was Samgin anzunehmen gestattete, daß diese Zerstreutheit eine gemachte sei. Nicht selten brach er mitten im Satz ab, nahm aus der Seitentasche seiner dunklen Jacke ein Notizbüchlein aus Leder, barg es unter dem Tisch auf seinen Knien, und schrieb dort mit einem dünnen Bleistift etwas hinein.
Auf diese Weise entstand der Eindruck, daß Nikodim Iwanowitsch sich in einem dauernden Zustand ruhelosen Schaffens befand, was bei Diomidow ein feindseliges Verhalten gegen den Schriftsteller hervorrief.
»Schon wieder notiert er, sehen Sie es?« sagte er ein wenig furchtsam und leise zu Lida.
Nikodim Iwanowitsch aß viel und mit unschönen Manieren. Da er dies zu wissen schien, bemühte er sich, unauffällig zu essen, und schluckte die Speisen eilig, ohne zu kauen, hinunter. Aber sein Magen war schwach, der Schriftsteller litt an Schlucken, und wenn er genügend lange geschluckt hatte, zwinkerte er verlegen mit den Augen, hielt die Hand vor den Mund, steckte sodann seine Nase in den Rockärmel und entfernte sich hüstelnd zum Fenster, wo er, allen den Rücken zuwendend, sich heimlich den Bauch rieb.
In einer solchen Minute tauschte der lustige Student Marakujew mit Warwara ein Zwinkern des Einverständnisses, trat zu ihm hin und fragte:
»Was beschauen Sie da, Nikodim Iwanowitsch?«
Sich windend, sagte der Schriftsteller:
»Ja, sehen Sie, da brennt ein Stern, unnütz für Sie und für mich. Er entflammte zehntausend Jahre vor uns und wird noch zehntausend Jahre nutzlos brennen, während wir nicht einmal mehr fünfzig Jahre leben werden.«
Diomidow, der Zwetschkenbranntwein getrunken hatte und daher leicht angeheitert war, erklärte laut und in protestierendem Ton:
»Das wissen Sie aus der Astronomie. Aber vielleicht hängt die ganze Welt an diesem einzigen Stern, vielleicht ist er ihr letzter Halt. Sie aber wollen... Was wollen Sie?«
»Das ist nicht Ihre Sache, junger Mann«, sagte der Schriftsteller verletzt.
Ferner verkehrte bei Onkel Chrisanf ein rotköpfiger, rotgesichtiger Professor, der Autor eines politischen Programms, geschrieben vor zehn Jahren. In diesem Programm bewies er, daß in Rußland die Revolution unmöglich, daß eine allmähliche Verschmelzung aller oppositionellen Kräfte des Landes in einer Reformpartei erforderlich sei, die die Aufgabe habe, beim Zaren nach und nach die Einberufung des Landständeparlaments durchzusetzen. Doch auch für diesen Artikel entfernte man ihn von der Universität. Seitdem lebte er im Besitz des Titels eines »Märtyrers der Freiheit«, ohne den Wunsch, den Gang der Geschichte zu verändern, weiter, war selbstzufrieden, geschwätzig und trank, dem Rotwein vor allen Getränken den Vorzug gebend, so wie alle in Rußland: ohne ein Gefühl für Maß.
Der schneidige Marakujew und ein anderer Student, der ausgezeichnete Gitarrespieler Pojarkow, ein langer, blatternarbiger Mensch, an dem etwas an einen Küster erinnerte, machten Warwara einmütig den Hof. Sie rollte tragisch die grünlichen Augen, schüttelte ihr rötliches Haar und bemühte sich, mit tiefer Stimme zu sprechen wie die Jermolow, vergaß sich jedoch zuweilen und sprach durch die Nase, wie die Sawin.
Makarow und Diomidow behaupteten sich standhaft bei Lida. Auch sie beeinträchtigten sich gegenseitig nicht. Makarow behandelte den Gehilfen des Requisitenmachers geradezu mit Liebenswürdigkeit, wenngleich er hinter seinem Rücken mit Unmut von ihm sprach.
»Der Teufel mag wissen, ist er nun ein Mystiker oder wie? Ein halber Irrer. Lida scheint jedoch auch eine Neigung nach dieser Seite zu haben. Überhaupt, die Gesellschaft ist nicht eben glänzend.«
Klim Samgin, vom Beobachten völlig in Anspruch genommen, sah sich abseits von allen, doch das verletzte ihn nicht mehr sehr heftig. Er fühlte, daß die bescheidene Rolle des Zuschauers vorteilhaft und angenehm war und ihn innerlich Lida näherte. Ihre Haltung an diesen Abenden war die einer Ausländerin, die die Sprache ihrer Umgebung schlecht versteht und angestrengt den verworrenen Reden folgt, deren umständliche Deutung ihr die Zeit raubt, selbst etwas zu sagen. Ihre dunklen Augen glitten über die Gesichter der Menschen, bald auf dem einen, bald auf dem anderen verweilend, aber niemals lange, und stets so, als habe sie diese Gesichter erst soeben bemerkt. Klim suchte wiederholt zu ergründen, was sie über diese Menschen dachte. Aber sie zuckte schweigend, ohne eine Antwort zu geben, die Achseln, und nur ein einziges Mal, als Klim allzu heftig in sie drang, sagte sie, wie in der Absicht, ihn beiseite zu stoßen:
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich verstehe ich nicht zu denken.«
Zuweilen erschien das unscheinbare Männchen Sujew, glatt gekämmt, mit einem winzigen Gesicht, dessen Zentrum ein plattgedrücktes Näschen bildete. Auch der ganze Sujew, platt, in einem zerknüllten Anzug, erschien zerdrückt und ausgespuckt. Er war vierzig Jahre alt, aber alle nannten ihn Mischa.
»Nun, Mischa?« fragte ihn der alte Schriftsteller.
Mit leiser Stimme, als lese er eine Seelenmesse für einen Angehörigen, antwortete er:
»In Marjina Roschtscha. Verhaftungen. In Twer. In Nishnij Nowgorod.«
Bisweilen nannte er die Namen der Verhafteten, und diese Aufzählung von Menschen, die gefangen genommen waren, wurde von allen schweigend angehört. Dann sagte der alte Literat düster:
»Sie lügen. Alle werden sie nicht wegfangen. Ach, schade, sie haben Natanson verhaftet, einen prächtigen Organisator. Sie arbeiten zersplittert, daher die häufigen Verhaftungen und Aushebungen. Führer tun not, alte Leute. Die Welt erhält sich durch die Alten, die bäuerliche Welt.«
»Notwendig ist das Bündnis aller Kräfte«, erinnerte der Professor. »Notwendig ist Reserve, allmähliches Fortschreiten ...«
Nikodim Iwanowitsch stimmte ihm zu mit dem Spruch:
»In der Hast kann man nicht einmal Bastschuhe flechten.«
»Und dennoch, man nimmt Verhaftungen vor, also leben die Brüder!« tröstete der unansehnliche Schauspieler.
Onkel Chrisanf, flammend, erregt und schwitzend, rannte unermüdlich vom Zimmer in die Küche und zurück, und es geschah nicht selten, daß in dem traurigen Augenblick des Erinnerns an Menschen, die im Kerker saßen, nach Sibirien verbannt waren, seine jauchzende Stimme schmetterte:
»Bitte, zu einem Schnäpschen!«
Bemüht, in den Gesichtern den Ausdruck der Nachdenklichkeit und des Leides zu bewahren, schritten alle in die Ecke zum Tisch. Dort glänzten ihnen verführerisch Flaschen mit bunten Schnäpsen entgegen, herausfordernd schichteten sich Teller mit verschiedenerlei Imbiß auf. Der würdevolle Schauspieler gestand seufzend:
»Eigentlich schadet mir das Trinken.«
Und fügte hinzu, während er sich einschenkte:
»Aber ich bleibe dem englischen Bittern treu. Ja, ich finde sogar an nichts anderem Geschmack.«
Herein trat die monumentale, wie aus rotem Kupfer gegossene Anfimowna, auf den ausgestreckten Armen eine halbpudschwere Fischpastete. Sie genoß die lauten Ausbrüche der allgemeinen Begeisterung über die solide Schönheit ihrer Schöpfung und verneigte sich dann vor allen, wobei sie die Hände an den Bauch drückte und wohlwollend sprach:
»Essen Sie zum Wohle!«
Onkel Chrisanf und Warwara trugen die Flaschen vom Imbißtisch zur Mittagstafel hinüber. Der unansehnliche Schauspieler rief aus:
»Karthago muß zerstört werden!«
Einmal legte er, gleich nachdem er den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte, geschwächt Messer und Gabel aus der Hand, preßte die Schläfen zwischen seine Hände und fragte mit stiller Freude:
»Hören Sie, was ist denn das?«
Alle sahen auf ihn, in der Annahme, daß er sich verbrannt habe. Seine Augen wurden feucht, doch kopfschüttelnd sagte er:
»Das ist ja in Wahrheit eine Götterspeise! Herrgott, wie begabt ist die russische Frau!«
Er schlug vor, Anfimowna einzuladen und auf ihre Gesundheit anzustoßen. Der Vorschlag wurde einmütig angenommen und ausgeführt.
In guter Erinnerung an die Osternacht in Petersburg trank Samgin vorsichtig und wartete den interessanten Augenblick ab, wenn die Menschen nach dem guten Mahl und reichlichem Trunk, noch nicht berauscht, alle zugleich anfangen würden zu reden. Es entstand ein Wirbelsturm von Worten, ein ergötzliches Durcheinander von Sätzen:
»In England kann sogar ein Jude Lord werden!«
»Um einen Auerhahn so zu braten, wie die Eigenart seines Fleisches es verdient...«
»Plechanowismus!« schrie der alte Literat, während der Student Pojarkow eigensinnig und mit Grabesstimme widersprach:
»Die deutschen Sozialdemokraten haben ihre Macht mit legalen Mitteln errungen.«
Marakujew behauptete, zwei Drittel aller Reichtagsabgeordneten seien Pfaffen, während Onkel Chrisanf bewies:
»Christus ist ins Fleisch des russischen Volkes übergegangen!«
»Überlassen wir Christus Tolstoi!«
»Niemals! Um keinen Preis!«
»Moliére, das ist bereits ein Vorurteil.«
»Sie ziehen Sardou vor, nicht wahr?« »Was noch mehr!«
»Das Theater besucht man jetzt aus Gewohnheit, wie die Kirche. Ohne Glauben, daß man das Theater besuchen muß.«
»Das ist nicht wahr, Diomidow!«
»Sie, Teuerster, sollten möglichst viel Buchweizengrütze essen, dann wird es vorübergehen!«
»Wir alle leben um Christi willen!«
»Bravo! Das ist traurig, aber – wahr!«
»Und ich behaupte, daß die Engländer Europa beherrschen werden.«
»Er war auch noch in die Sache Astyrews verwickelt.«
»Kisselewskis ganzes Talent lag in seiner Stimme, in seinem Herzen war auch nicht ein Körnchen.«
»Reichen Sie mir den Essig herüber!«
»Nein, Sie entschuldigen schon! In Nischnij Nowgorod, im Dorf Podnowje legt man Salzgurken besser ein als in Neshin!«
»Raus aus Europa mit den Türken! Raus!«
»Haben Sie Dostojewski vergessen!«
»Und Saltykow-Schtschedrin?«
»Seine Mätresse war in jener Saison die Korojedow-Smijew, so eine, wissen Sie, laut läßt sich das nicht sagen ...«
»Jetzt wird Witte mit Rußland umspringen!«
»Unbeschränkt. Sie werden was erleben!«
Man lachte. Nikodim Iwanowitsch begann unerwartet zu deklamieren:
Der Schriftsteller, wenn er die Woge
Und Rußland der Ozean,
Er muß sich auch empören,
Empört sich das Element.
»Hauptsache, halten Sie die Füße warm.«
»Rußland kocht über! Wird von neuem überkochen!«
»Die Studentenschaft! Der Bundesrat...«
»Nein, die Marxisten können den Volkstümlern nichts anhaben...«
»Ich weiß schon, was Kunst ist, ich bin Requisitenmacher...«
In diesen Wirbel warf auch Klim von Zeit zu Zeit Warawkasche Sprüche, und sie verschwanden spurlos zusammen mit den Worten aller anderen.
Der Professor erhob sich mit einem Glas Rotwein, Mit hocherhobenem Arm verkündete er:
»Herrschaften! Ich bitte, die Gläser zu füllen! Stoßen wir an auf › sie‹!«
Auch die übrigen erhoben sich und tranken schweigend, wissend, daß sie auf die Verfassung tranken. Der Professor leerte sein Glas und sprach:
»Möge sie kommen!«
Er wählte fast immer unfehlbar für seinen Toast den Augenblick, wenn die reiferen Leute schwerer wurden, wenn ihnen traurig ums Herz ward, während die Jungen, umgekehrt, Feuer fingen. Pojarkow spielte virtuos auf der Gitarre. Darauf sang man im Chor die verdammten russischen Weisen, von denen das Herz vergeht und alles im Leben in einem einzigen Schluchzen erscheint.
Schön und selbstvergessen sang mit hohem Tenor Diomidow. Er legte Eigenschaften an den Tag, die niemand bei ihm vermutete und die Klims Sympathie erregten. Es war klar, daß der junge Requisitenmacher heuchelte, wenn er von seiner Furchtsamkeit gegenüber den häuslichen Menschen sprach. Einmal tadelte Marakujew erregt den jungen Zaren, weil der Zar nach Anhörung eines Berichts über die Studenten, die sich geweigert hatten, ihm den Treueid zu schwören, gesagt hatte:
»Ich werde auch ohne sie auskommen.«
Fast alle stimmten ihm darin zu, daß das eine Unklugheit gewesen war. Nur der weichherzige Onkel Chrisanf rieb mit der flachen Hand Luft in seine Glatze hinein und versuchte, den neuen Führer des Volkes zu rechtfertigen.
»Er ist jung. Übermütig.«
Der unansehnliche Schauspieler unterstütze ihn durch Entfaltung seiner Kenntnis der Geschichte:
»Sie alle sind in der Jugend übermütig. Zum Beispiel Heinrich IV.«
Diomidow sagte mit einem Lächeln, das sein gemaltes Gesicht unbewegt ließ, freudig und gleichsam neiderfüllt:
»Ein sehr kühner Zar.«
Mit dem gleichen Lächeln wandte er sich an Marakujew:
»Da gründen sie nun so einen allgemeinen Studentenbund, er aber, sehen Sie wohl, fürchtet sie nicht. Er weiß schon, daß das Volk die Studenten nicht liebt.«
»Heilige Einfalt Simeons! Reden Sie keinen Unsinn«, unterbrach ihn ärgerlich Marakujew. Warwara brach in lautes Lachen aus, auch Pojarkow lachte, so metallisch, als zwitscherte in seiner Kehle die Schere eines Friseurs.
Doch als berichtet wurde, daß der Zar erklärt habe, alle Hoffnungen auf eine Begrenzung seiner Gewalt seien grundlos, meinte selbst Onkel Chrisanf gedrückt:
»Er hört auf Schurken, das ist schlimm!«
Aber der Requisiteur umfing alle Anwesenden mit den Augen eines Erwachsenen, der auf Kinder herabblickt, und wiederholte beifällig und eigensinnig:
»Nein, er ist ehrlich. Er ist tapfer, weil er ehrlich ist. Er ist allein gegen alle ...«
Marakujew, Pojarkow und ihr Kamerad, der Jude Preis, schrien:
»Wie – allein? Und die Gendarmen? Die Bürokraten?«
»Das sind die Dienstboten!« sagte Diomidow. »Niemand fragt die Dienstboten, wie man leben muß.«
Drei Stimmen redeten wechselseitig auf ihn ein, doch er schwieg eigensinnig, senkte den Kopf und starrte unter den Tisch.
Klim Samgin begriff, daß Diomidow unwissend war, aber dies befestigte nur seine Sympathie für den Jüngling. So einen konnte Lida nicht lieben. Im günstigsten Fall würde sie großmütig sein, ihn bemitleiden wie den Bastard einer seltenen Katzenrasse. Er neidete Diomidow sogar ein wenig seine standhafte Hartnäckigkeit und seine spöttische Ablehnung der Studenten. Ihrer erschienen immer mehr in der gemütlichen, im Hof verborgenen Behausung Onkel Chrisanfs. Sie tagten emsig in Warwaras Zimmer, das mit zahlreichen Photographien und Gravüren geschmückt war, die berühmte Bühnenkünstler darstellten. Sie besaß seltene Porträts von Hogarth, Alridge – der Rachel, der Mlle Morse, Talmas. Die Studentenversammlungen beunruhigten Makarow sehr und rührten Onkel Chrisanfs Herz, der sich als Komplice heranreifender großer Ereignisse fühlte. Er war felsenfest davon überzeugt, daß mit der Thronbesteigung Nikolaus II die großen Ereignisse vor der Tür standen.
»Nun, Sie werden sehen, Sie werden sehen!« sagte er geheimnisvoll den gereizten jungen Leuten und zwängte listig die Knöpfe seiner Augen durch die roten Schlitze der Lider, »Er wird alle hintergehen, gebt ihm nur Zeit, sich umzutun! Sie müssen seinen Augen, dem Spiegel der Seele, keine Beachtung schenken. Blicken Sie genau in sein Gesicht!«
Und er scherzte:
»Ach, Diomidow, wenn man dir das Bärtchen abnähme und dir deine Locken stutzte, du wärst wie geschaffen für die Rolle des Thronprätendenten. Jeder Zug!«
Klim Samgin war sehr zufrieden über seinen Entschluß, in diesem Winter nicht zu studieren. In der Universität herrschte eine unheilschwangere Stimmung. Die Studenten pfiffen den Historiker Kljutschewski aus, bedrohten einige weitere Professoren, die Polizei jagte Ansammlungen auseinander, zweiundvierzig liberale Professoren schmollten und zweiundachtzig erklärten sich für eine strenge Gewalt. Warwara lief von einem Antiquar zum anderen, suchte Porträts der Madame Roland und bedauerte, daß kein Bild der Téroine de Méricourt aufzutreiben war.
Überhaupt nahm das Leben einen überaus beunruhigenden Charakter an, und Klim Samgin stand nicht an, zuzugeben, daß Onkel Chrisanf mit seinen Vorahnungen recht hatte. Besonders dauerhaft ritzten sich in Klims Gedächtnis einige Gestalten ein, denen er in diesem Winter begegnete.
Eines Tages stand Klim Samgin im Kreml, versunken in den Anblick der chaotischen Anhäufung der Häuser der Stadt, die von der winterlichen Mittagssonne festlich erleuchtet waren. Ein leichter Frost zupfte neckisch an den Ohren, das stachlige Geflimmer der Schneeflocken blendete die Augen. Die Dächer, fürsorglich in dicke Schichten silberner Daunen gehüllt, verliehen der Stadt ein anheimelndes Aussehen, man war versucht zu glauben, unter diesen Dächern, in der lichten Wärme, lebten einträchtig sehr liebe Menschen.
»Guten Tag«, sagte Diomidow und nahm Klim beim Ellenbogen. »Was für eine schreckliche Stadt«, fuhr er nach einem Seufzer fort. »Im Winter ist sie noch einigermaßen ansprechend, im Sommer aber vollends unerträglich. Man geht auf der Straße und hat beständig das Gefühl, daß hinter einem etwas Schweres an einen herandrängt, sich auf einen stürzt. Und die Leute sind hart hier und ruhmredig.«
Er seufzte ein zweites Mal und sagte:
»Ich liebe es nicht, wenn man begeistert stöhnt: Ach, Moskau!«
Das vom Frost gerötete Gesicht Diomidows erschien noch malerischer als sonst. Die alte Seehundsmütze war zu klein für seinen Lockenkopf. Der Mantel vertragen, mit ungleichen Knöpfen, die Taschen eingerissen und klaffend.
»Wohin gehen Sie?« fragte Klim.
»Mittag essen.«
Er nickte mit dem Kopf nach der Kirche des Tschudow-Klosters und sagte:
»Ich bessere dort den Ikonenschrein aus.«
»Ah! Also arbeiten Sie sowohl im Theater wie im Kloster...«
»Weshalb nicht? Arbeit ist Arbeit. Mich hat ein Drechsler und Vergolder, den ich kenne, aufgefordert. Ein prächtiger Mensch.«
Diomidow wurde düster, schwieg eine Weile und schlug dann vor:
»Gehen wir in eine Schenke, Ich werde essen und Sie Tee trinken. Dort zu essen, empfehle ich Ihnen nicht, es ist zu schlecht für Sie, aber der Tee ist gut.«
Es wäre unterhaltsam gewesen, mit Diomidow zu plaudern, aber ein Spaziergang mit einem so abgerissenen Kunden behagte Klim nicht. Der Student und an seiner Seite der Handwerker, das gab ein verdächtiges Paar ab. Klim lehnte ab, die Teestube zu besuchen. Diomidow zerrieb unbarmherzig mit der Handfläche sein verfrorenes Ohr und sagte:
»Ich arbeite inzwischen. Ich will eine Menge Geld sparen.«
Plötzlich fragte er:
»Billigen Sie es, daß Lida Timofejewna sich für die Bühne ausbildet?« Ohne eine Antwort abzuwarten, enthüllte er sogleich den Sinn seiner Frage:
»Es ist doch das gleiche, als ob man nackt auf die Straße ginge.«
»Lida Timofejewna ist ein erwachsener Mensch«, gab Klim trocken zu verstehen.
Diomidow nickte zustimmend.
»Nach meiner Meinung täuschen sich die Klugen am häufigsten über sich selbst.«
»Warum glauben Sie das?«
»Wie sollte ich nicht? Ich lese Bücher, habe Augen.«
Dies erschien Klim frech: ein ungebildeter Mensch, der nicht einmal richtig sprechen konnte und sich anmaßte...
»Was lesen Sie eigentlich?«
»Vielerlei. In allen Büchern wird über Irrtümer geschrieben.«
Mit dem Fuß aufstampfend, fragte er:
»Befassen Sie sich mit der Revolution?«
»Nein«, entgegnete Klim, er sah Diomidow gerade in die Augen, ihre Bläue war an diesem Tag besonders tief.
»Ich meine aber, Sie befassen sich damit. Sie sind so zurückhaltend.«
»Warum interessiert Sie das?«
»Wenn man mir davon spricht, weiß ich, daß es die Wahrheit ist«, murmelte Diomidow gedankenvoll. »Natürlich ist es die Wahrheit, denn... Was ist denn dies?«
Er deutete mit einer Handbewegung auf die Stadt.
»Aber wenn ich es auch weiß, so glaube ich doch nicht daran. Ich habe ein anderes Gefühl.«
»Über Revolution spricht man nicht auf der Straße«, bemerkte Klim.
Diomidow schaute sich um.
»Dies ist keine Straße. Wollen Sie, – ich zeige Ihnen einen Menschen?« schlug er vor.
»Was für einen?«
»Sie werden sehen. Ein prächtiger Mensch. Er predigt jeden Sonnabend.«
»Die Revolution?«
»Nach meiner Ansicht – noch Schlimmeres«, sagte zögernd Diomidow.
Klim mußte lächeln.
»Sie sind ein spaßiger Mensch!«
»Gehen wir!« drängte Diomidow leise, aber nachdrücklich. »Heute ist Sonnabend. Sie müssen sich nur etwas einfacher anziehen. Obwohl, es ist gleich, es sind dort auch solche wie Sie. Sogar ein Polizeihauptmann kommt dorthin. Und ein Diakon.«
An dem schmeichelnden Blick des spaßigen Menschen war deutlich zu sehen: er wünschte sehr, daß Klim mitkäme, und war schon überzeugt, daß Samgin zusagen würde.
»Es ist schrecklich interessant. Das muß man wissen«, sagte er. »Die Brille nehmen Sie lieber ab. Bebrillte Leute liebt man dort nicht.«
Klim wollte es ablehnen, gemeinsam mit einem Polizeihauptmann etwas zu hören, was schlimmer als Revolution war, aber die Neugier entkräftete die Vorsicht. Sogleich tauchten noch gewisse andere, nicht ganz klare Überlegungen auf und ließen ihn sagen:
»Geben Sie mir die Adresse. Vielleicht komme ich.«
»Es ist besser, ich hole Sie ab, um Sie hinzugeleiten.«
»Nein, beunruhigen Sie sich nicht.«
Am Abend irrte Klim durch die Gassen in der Nähe des Sucharew-Turms. Verschwenderisch streute der Mond sein Licht. Der Frost steifte sich. In rascher Folge tauchten dunkle Menschen auf, gekrümmt, die Hände in den Ärmeln oder Taschen geborgen, ihre verzerrten Schatten hüpften über die Schneegruben. Die Luft bebte kristallisch unter dem Tönen zahlloser Glocken. Die Abendmesse wurde eingeläutet.
»Interessant, in welchem Milieu dieser Schwachkopf wohl lebt?« dachte Klim. »Sollte etwas passieren, das schlimmste, was mir zustoßen könnte, ist, daß sie mich aus Moskau ausweisen. Nun und wenn schon? Ich werde eben ein bißchen leiden. Das ist jetzt Mode.«
Da, endlich, über einem alten Tor das bogenförmig geschweifte Schild: »Kwasfabrik«. Klim trat auf den Hof. Er war eng mit Haufen von schneebedeckten Körben vollgepackt. Hier und dort ragten Flaschenböden und -halse aus dem Schnee. Das Mondlicht brach sich in dem dunklen Glas in einer Unzahl formloser Augen.
Im Hintergrunde des Hofes erhob sich ein langes, tief im Erdboden fußendes Gebäude. Es war zweistöckig oder wollte es sein, aber zwei Drittel der zweiten Etage waren entweder abgebrochen oder nicht fertig gebaut. Die Türen, breit wie Tore, verliehen dem unteren Stockwerk das Aussehen eines Pferdestalls, in dem Rest des zweiten schimmerten trübe zwei Fenster, unter ihnen, im ersten, flammte ein Fenster so grell, als brenne hinter seinen Scheiben ein Holzfeuer.
Klim Samgin, der den Wunsch verspürte, den Hof zu verlassen, klopfte mit dem Fuß an die Tür. In der Tür öffnete sich ein unauffälliges, schmales Pförtchen, und ein unsichtbarer Mann sagte mit hohler Stimme, das »O« stark betonend:
»Vorsichtig. Vier Stufen.«
Darauf befand Samgin sich auf der Schwelle einer zweiten Tür, geblendet von der grellen Flamme eines Ofens. Der Ofen war gewaltig, in ihm waren zwei Kessel eingebaut.
»Was zögern Sie? Treten Sie ein«, sagte eine dicke Frau mit einem schwarzen Schnurrbart, die ihre Hände so fest an einer Schürze abrieb, daß sie knirschten.
In dem kellerartigen Raum mit bogenförmiger Decke war es dämmerig. Er war erfüllt mit einer feuchten Wärme, getränkt von einem stickigen Geruch von verdorbenem Fleisch und Dung. Am Ofen, in einem hölzernen Waschzuber, wässerten Kuhmägen. Ein anderer ebensolcher Zuber war mit blutigen Klumpen Lebern, Lungen gefüllt. Längs der Wand standen sechs Bottiche, hinter ihnen, im Winkel, saß auf einer Kiste, mit Nacken und Rücken an die Wand gelehnt, die langen, dünnen Kamelbeine weit von sich gestreckt, ein Mann in einem grauen Leibrock. Er löste mit Anstrengung seinen Nacken von der Wand, reckte seinen langen Hals und sagte mit leiser Baßstimme:
»Apotheker?«
»Warum glauben Sie, ich sei ein Apotheker?« fragte Klim ärgerlich.
»Nach Ihrer äußeren Erscheinung zu urteilen, natürlich. Setzen Sie sich, bitte, hierher.«
Klim nahm ihm gegenüber auf einer breiten, aus vier Brettern grob zusammengenagelten Pritsche Platz. Auf einer Ecke der Pritsche lag ein Haufen Zeug, irgend jemandes Bettlager. Der große Tisch vor der Pritsche strömte den betäubenden Geruch dumpfigen Fettes aus. Hinter einer hölzernen, ungestrichenen und lichtdurchlässigen Zwischenwand schimmerte Helligkeit, jemand hustete dort und raschelte mit Papier. Die schnurrbärtige Frau zündete eine Blechlampe an, setzte sie auf den Tisch, warf einen Blick auf Klim und sagte dem Diakon:
»Ein Fremder.«
Der Diakon schwieg sich aus. Da fragte sie Samgin:
»Wer hat euch hergeschickt?«
»Diomidow.«
»Ah, Senja. Diomidow.«
Sie trat, ihre Hände beriechend, zum Ofen, blieb aber unterwegs stehen und forschte:
»Er sprach von einer Brille?«
»Ich habe die Brille bei mir.«
»Gut dann.«
Klim holte seine Brille aus der Tasche hervor, setzte sie auf und sah, daß der Diakon etwa vierzig Jahre zählte und ein Gesicht hatte, wie man es den heiligen Eremiten auf den Ikonen gab. Noch häufiger findet man solche Gesichter bei Trödlern, Ränkeschmieden und Geizhälsen, und zuletzt erzeugt das Gedächtnis aus einer Vielheit dieser Gesichter das aufdringliche Antlitz des sogenannten unsterblichen russischen Menschen.
Jetzt traten zwei ein: der eine breitschultrig, zottelhaarig, mit einem krausen Bart und einem darin erstarrten betrunkenen oder spöttischen Lächeln. An den Ofen pflanzte sich, in der Absicht, sich zu wärmen, ein hochgewachsener Mensch mit schwarzem Schnurr- und spitzem Kinnbart. Geräuschlos erschien eine junge Frau in einem bis über die Brauen geschobenen Kopftuch. Dann folgten sich rasch noch etwa vier Männer, sie drängten sich vor dem Ofen, ohne an den Tisch heranzutreten. In der Dunkelheit machte es Mühe, sie zu unterscheiden. Alle schwiegen, klopften und scharrten mit den Füßen gegen den Ziegelboden, und einzig der Lächelnde sagte einem Nachbar:
»Sogar ein Herr ist gekommen... ein Gebildeter.«
Klim fühlte sich ersticken in dieser fauligen Luft, in der grauenhaften Umgebung. Es trieb ihn fort. Endlich stürzte Diomidow herein, überflog alle Anwesenden mit einem Blick, fragte Klim: »Ah, Sie sind gekommen?« und entfernte sich eilig hinter die Zwischenwand. Eine Minute später zeigte sich dort gewichtig ein kleiner Mann mit einem struppigen Bärtchen und einem fahlen, unbedeutenden Gesicht. Er trug ein wattiertes Frauenleibchen und Filzstiefel bis zu den Knien. Das fahle Haar war mit Pomade fest an den Kopf gekämmt und lag glatt an. In der einen Hand hielt er ein schmales und langes Buch von der Art, wie die Krämer sie für die Eintragung der Schulden verwenden. Während er sich dem Tisch näherte, sagte er zum Diakon:
»Streite nicht mit mir...«
Er setzte sich, schlug das Buch auf, faßte Klim in seinen Blick und fragte Diomidow:
»Dieser?«
»Ja.«
»Nun, seien Sie willkommen!« wandte das unbedeutende Männchen sich an die Anwesenden. Seine Stimme war klangvoll und hatte etwas Sonderbares, das gebieterisch klang. Die Hälfte seiner linken Hand war gebrochen. Es blieben nur drei Finger: Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger. Diese Finger legten sich zu einem Dreifaltigkeitskreuz zusammen. Während er mit der Rechten die schmalen, mit großen Schriftzügen bedeckten Seiten des Buches umblätterte, zeichnete er mit der Linken unaufhörlich verschlungene Ornamente in die Luft. In diesen Gesten lag etwas Verkrampftes, das nicht im Einklang mit seiner ruhigen Stimme stand.
»Am heutigen Abend wollte ich in meiner Belehrung fortfahren, da aber ein Neuer erschienen ist, so ist es notwendig, daß ich ihm in Kürze die Anfangsgründe meiner Wissenschaft darlege«, sagte er, während er die Zuhörer mit farblosen und gleichsam trunkenen Augen überflog.
»Fang an, wir hören«, sagte der Lächelnde und setzte sich an Klims Seite.
Der Prediger tat einen Blick in sein Buch und fuhr sehr gelassen, als berichte er etwas Alltägliches und allen längst Bekanntes, fort:
»Ich lehre, mein Herr, in völliger Übereinstimmung mit der Wissenschaft und den Schriften Leo Tolstois. Meine Lehre enthält nichts Schädliches. Alles ist sehr einfach: diese Welt, unsere, die ganze – ist das Werk menschlicher Hände. Unsere Hände sind klug, unsere Schädel aber dumm, das ist auch die Ursache unseres Elends.«
Klim sah die Leute an. Sie saßen alle schweigend da. Sein Nachbar hatte sich vorgebeugt und rollte sich eine Zigarette. Diomidow war verschwunden. Gurgelnd kochte das Wasser in den Kesseln. Die schnurrbärtige Frau spülte im Zuber Labmägen und Kuhdärme, im Ofen zischten feuchte Holzscheite. Die Flamme im Lampenglas zitterte und hüpfte empor, der gesprungene Zylinder rußte. In dem tiefen Zwielicht erschienen die Menschen unförmig und unnatürlich wuchtig.
»Was heißt das: ›Welt‹, wenn man es richtig ansieht?« fragte der Mann und warf mit den drei Fingern eine Schlinge in die Luft. »Die Welt ist Erde, Luft, Wasser, Stein und Holz. Ohne den Menschen ist dies alles ohne jede Notwendigkeit.«
Klims Nachbar zog an seiner Zigarette und fragte:
»Woher weißt du denn, Jakow Platonitsch, was notwendig ist und was nicht?«
»Wüßte ich's nicht, würde ich's nicht sagen. Unterbrich mich nicht. Wenn ihr alle hier anfangen wolltet, mich zu belehren, würde nichts als Unsinn bei der Sache herauskommen. Lächerlichkeit. Ihr seid viele und ich der einzige Schüler. Nein, da ist es schon besser, ihr lernt und ich – lehre.«
»Gewandt, wie?« flüsterte der lächelnde Nachbar Klim zu, wobei er seine Wange mit warmem Rauch überzog.
Unterdessen fuhr der Lehrer maßvoll und ruhig fort, in das Dunkel hineinzustoßen.
»Der Stein ist ein Dummkopf. Das Holz ist gleichfalls ein Dummkopf. Und jegliches Gewächs hätte keinen Sinn, wenn nicht der Mensch wäre. Aber sobald dieses dumme Material berührt wird von unseren Händen, haben wir Häuser, bequem zum Wohnen, Straßen, Brücken und vielerlei Sachen, Maschinen und Ergötzlichkeiten gleich dem Damespiel oder den Karten oder musikalischen Trompeten. So ist es. Ich war ehedem Sektierer, dann jedoch begann ich einzudringen in die wahre Philosophie des Lebens und durchdrang sie bis auf den Grund, dank der Hilfe eines Unbekannten.«
»Der ›erklärende Herr‹, erinnerte sich Klim. Aus der Finsternis reckte sich ein von Blattern zerwürfeltes Gesicht, und eine erkältete Stimme bat heiser:
»Erzähle von Gott...«
Jakow Platonowitsch hob mit der dreifingrigen Hand die Lampe empor, musterte mit zugekniffenen Augen den Bittenden und sagte:
»Hier lehre ich. Ich weiß, wann Gott an der Reihe ist.«
Darauf wandte er sich von neuem an Samgin:
»Die Gelehrten haben bewiesen, daß Gott vom Klima, von der Witterung abhängt. Wo das Klima gleichmäßig ist, da ist auch Gott gut, in kalten und heißen Gegenden aber haben wir einen grausamen Gott. Das muß man verstehen. Heute wird es hierüber keine Belehrung geben.«
»Er hat Angst vor Ihnen«, flüsterte Klims Nachbar ihm zu und spie auf den Stummel seiner Zigarette.
Der Philosoph tat mit der verstümmelten Hand einen energischen Strich quer über den Tisch und vertiefte sich unter Umblättern der Seiten in das Buch.
Samgin fühlte sich krank, verblödet, einem grauenhaften Traum preisgegeben. Wenn man ihm erzählt hätte, was er sah und hörte, würde er es nicht geglaubt haben. Immer wütender kochte das Wasser in den Kesseln und erfüllte den Keller mit dumpfriechendem Dampf. Die schnurrbärtige Frau wühlte klatschend in den schwarzen Fetzen Leber und Lunge in den Zubern und spülte die Mägen, indem sie sie umstülpte wie schmutzige Strümpfe. Sie schaffte in gekrümmter Haltung und sah aus wie eine Bärin. Am Ofen schnarchte jemand laut, schleifte mit den Füßen über den Boden und stieß hallend mit dem Kopf gegen den Verschlag. Der Prediger sah ihn unter der vorgehaltenen Hand an und sagte, ohne zu lächeln und ohne Unmut:
»Schone deinen Schädel, vielleicht brauchst du ihn einmal.«
Seine dreigefingerte Hand, einer Krebsschere ähnlich, zappelte über dem Tisch und erweckte eine Empfindung des Grauens und Ekels. Widerwärtig war der Anblick des flachen, obendrein von der Dunkelheit verwischten Gesichts und der Ritzen, in denen matt die berauschten Augen schimmerten. Empörend der selbstgefällige Ton, empörend die offenkundige Verachtung für die Zuhörer und ihr unterwürfiges Schweigen.
»Vom himmlischen Zaren wollen wir herabsteigen zum irdischen...«
Nach sekundenlangem Schweigen kratzte der Lehrer sich den Bart und beschloß:
»...Elend.«
Klims mitteilsamer Nachbar flüsterte ihm freudig zu:
»Er wird jetzt vom Zar Hunger anfangen...«
»Wir alle leben nach dem Gesetz des Wettstreits miteinander, darin äußert sich eben unsere eigentliche Dummheit.«
Seine an Beilhiebe gemahnenden Worte ließen Klim ironisch denken:
»Wenn Kutusow das hören könnte!«
Aber dennoch war es kränkend, zu beobachten, wie das Kellermännchen verzerrt und frech den wohlbekannten, wenn auch Klim feindlichen Gedankengang Kutusows bloßlegte.
»Nehmen wir aufs Korn unseres Auges und Verstandes den folgenden Vorfall: es kommen zum jungen Zaren einige wohlmeinende Leute und schlagen ihm vor: ›Du, Eure Hoheit, solltest aus dem Volke einige kluge Leute wählen zur freien Beratung darüber, wie man das Leben besser einrichten könnte.‹ Er aber antwortet ihnen: ›Das ist ein unsinniger Einfall!‹ Und der ganze Schnapshandel befindet sich in seinen Händen. Ebenso alle Steuern. Das ist es, worüber man nachdenken muß...«
»Gewandt, wie?« fragte mit heißem Flüstern Klims Nachbar. Und, sich heftig die Hände reibend:
»Ein Minister, der Hundesohn!«
»Glauben Sie ihm?«
»Wie soll man ihm denn nicht glauben? Er gibt die Wahrheit von sich.« Nachdem der Prediger noch zehn Minuten gesprochen hätte, griff er mit seiner Krebsschere eine schwarze Uhr aus der Tasche, wog sie auf der Handfläche, klappte das Buch zu, schlug damit auf den Tisch und erhob sich.
»Für heute ist's genug! Denkt darüber nach.«
Alle rührten sich, und der Blatternarbige stieß mit lauter Stimme hervor: »Wir danken, Jakow Platonitsch.«
Jakow nickte ihm zweimal zu, erhob die Nase, schnupperte und schnitt eine Grimasse, während er sagte:
»Glafira! Ich habe dich doch gebeten: weiche die Labmägen nicht in heißem Wasser ein. Nützen tut es nicht, und es verbreitet Gestank.«
Als Klim, der auf die Tür zuging, ihn einholte, faßte er ihn am Ärmel und sagte spöttisch:
»Sehen Sie, Herr, meine Schwester fabriziert Speise für die Armen. Eine wohlriechende Speise, he? Jaja. Dabei erhält man in Testows Garküche...«
»Entschuldigen Sie, ich muß fort«, unterbrach ihn Klim.
In die kräftige Kälte der Straße emportauchend, holte er so tief Atem, wie er konnte. Ihm schwindelte und vor den Augen flimmerte es grün. Die niederen, verwitterten Häuschen und die Schneehügel, der leere Himmel über ihnen und der Eismond, alles erschien für einen Augenblick grün, mit Schimmel bedeckt und faulig. Samgin schritt hastig aus und schüttelte sich, um den übelkeiterregenden Gestank des verdorbenen Fleisches aus seiner Nähe zu vertreiben. Es war noch nicht spät, soeben endete der Abendgottesdienst. Klim beschloß, bei Lida vorzusprechen und ihr alles mitzuteilen, was er gesehen und gehört hatte, sie mit seiner Empörung anzustecken. Sie mußte wissen, in welcher Umgebung Diomidow lebte, mußte begreifen, daß seine Bekanntschaft nicht ohne Gefahr für sie war. Doch als er, bei ihr im Zimmer, ironisch und angewidert seine Erlebnisse zu schildern begann, fiel das Mädchen ihm nur befremdet in die Rede:
»Aber ich weiß dies alles ja, ich war selbst dort. Ich glaube, ich erzählte dir, daß ich bei Jakow gewesen bin. Diomidow ist dort und lebt mit ihm, oben. Erinnerst du dich: ›Das Fleisch singt – wozu lebe ich?‹«
Während sie zerstreut eine Haarnadel gerade- und wieder zusammenbog, fuhr sie sinnend fort:
»Gewiß, dies alles ist sehr primitiv und widerspruchsvoll. Aber meiner Meinung nach ist es ja nur das Echo jener Widersprüche, die du hier beobachtest. Und es scheint überall das gleiche zu sein.« Sie brach die Haarnadel entzwei und fügte leise hinzu:
»Oben wird geschrien, unten hört man es und legt es auf seine Weise aus. Es ist mir nicht recht verständlich, was dich empört.«
Aber ihr ruhiger Ton kühlte Klims Entrüstung bedeutend ab.
»Und ich verstehe nicht recht, was dich bei Diomidow so anzieht«, stammelte er.
Lida sah ihn mit zusammengerückten Brauen an.
»Er gefällt mir.«
Klim schwieg in Erwartung des Augenblicks, wo in ihm die Eifersucht zu sprechen anfangen würde.
»Manchmal bedauere ich es, daß er zwei Jahre älter ist als ich. Ich wünschte, er möchte fünf Jahre jünger sein. Ich weiß nicht, warum.«
»Du siehst, ich schweige immer«, hörte er ihre nachdenkliche und feste Stimme. »Mir scheint, wenn ich redete, wie ich denke, so würde es... entsetzlich sein! Und lächerlich. Man würde mich davonjagen. Unbedingt würde man mich davonjagen. Mit Diomidow kann ich über alles reden, wie ich möchte.«
»Und mit – mir?« fragte Klim.
Lida seufzte und bedeckte die Augen.
»Du bist klug, verstehst aber etwas nicht. Die Nichtverstehenden gefallen mir besser als die Verstehenden, doch du... bei dir ist es anders. Du kritisierst treffend, aber es ist dir zum Handwerk geworden. Man langweilt sich bei dir. Ich glaube, auch du wirst dich bald langweilen.«
Die Eifersucht meldete sich nicht, doch Klim fühlte, wie seine Zaghaftigkeit vor Lida, das Gefühl der Hörigkeit, verschwand. Solide, im Ton des Älteren, bemerkte er:
»Es ist durchaus zu verstehen, daß du endlich lieben mußt, aber die Liebe ist etwas Reales, und du hast dir diesen Jungen ja erdacht.«
»Du hast den Charakter eines Schulmeisters«, sagte Lida mit offenkundigem Ärger, ja mit Spott, wie Samgin herauszuhören glaubte. »Wenn du sagst ›ich liebe dich‹, klingt es, als sagtest du: ›Ich liebe es, dich zu belehren‹.«
»Meinst du?« murmelte Klim, gewaltsam lächelnd. »Mir dagegen scheint, du möchtest glauben, daß du Diomidow gängeln darfst wie eine Schulmeisterin.«
Lida schwieg. Samgin blieb noch einige Minuten, verabschiedete sich trocken und ging. Er war erregt, meinte aber für sich, ihm wäre vielleicht angenehmer zumute, wenn er sich noch heftiger erregt gefühlt hätte.
In seinem Zimmer auf dem Tisch fand Klim einen dicken unfrankierten Brief mit der kurzen Aufschrift »An K. I. Samgin«. Sein Bruder Dmitri teilte ihm mit, er sei nach Ustjug verschickt worden, und bat, ihm Bücher zu senden. Der Brief war kurz und trocken, dafür das Verzeichnis der Bücher lang und mit langweiliger Genauigkeit und Angabe der vollständigen Titel, Verleger und des Jahres und Ortes des Erscheinens verfaßt. Die meisten Bücher waren in deutscher Sprache.
»Ein Buchhalter«, dachte Klim feindselig. Nach einem Blick in den Spiegel löschte er sogleich das spöttische Lächeln in seinem Gesicht aus. Sodann fand er, daß sein Gesicht traurig aussah und eingefallen war. Nachdem er ein Glas Milch getrunken hatte, entkleidete er sich ordentlich, legte sich ins Bett und fühlte plötzlich, daß er sich selbst leid tat. Vor seine Augen trat die Gestalt des »wohlgebildeten« Jünglings, sein Gedächtnis wiederholte seine linkischen Reden.
»Ich habe ein anderes Gefühl.«
»Vielleicht besitze auch ich ›ein anderes Gefühl‹«, dachte Klim, der sich um jeden Preis trösten wollte. »Ich bin kein Romantiker«, fuhr er fort, im dunklen Gefühl, daß der Pfad der Tröstung irgendwo ganz nahe war. »Es ist dumm, dem Mädchen zu zürnen, weil sie meine Liebe nicht zu schätzen wußte. Sie hat sich einen schlechten Helden für ihren Roman gewählt. Er wird ihr nichts Gutes geben. Es ist durchaus möglich, daß sie für ihre Schwäche grausam bestraft werden wird, und dann werde ich...«
Er beendete seine Gedanken nicht, da er eine leichte Anwandlung von Verachtung für Lida empfand. Dies tröstete ihn sehr. Er schlief ein mit der Gewißheit, daß der Knoten, der ihn mit Lida verknüpfte, zerhauen sei. Durch den Schlaf hindurch dachte Klim sogar:
»War denn ein Junge da? Vielleicht war gar kein Junge da?« Doch schon am Morgen erkannte er, daß er sich getäuscht hatte. Draußen vor dem Fenster strahlte die Sonne, festlich tönten die Glocken, aber alles war trist, weil der »Junge« existierte. Diese Tatsache wurde von ihm mit voller Deutlichkeit empfunden. Bestürzend grell, blendend beleuchtet vom Sonnenlicht, saß auf dem Fenster Lida Warawka, und er lag vor ihr auf den Knien und küßte ihre Beine. Welch strenges Gesicht hatte sie damals und wie wunderbar leuchteten ihre Augen! Es gab Augenblicke, wo sie unwiderstehlich schön sein konnte. Es schmerzte zu denken, daß Diomidow ...
In diesen unerwarteten und kränkenden Gedanken brachte er den Tag hin. Abends erschien Makarow mit offenstehendem Hemd, zerzaust, mit geschwollenem Gesicht und roten Augen. Klim hatte den Eindruck, daß sogar die schönen, festen Ohren Makarows weich geworden waren und herabhingen wie bei einem Pudel. Er roch nach dem Wirtshaus, war jedoch nüchtern.
»Wolodjka ist aus dem Kubangebiet angekommen und trinkt schon den dritten Tag wie ein Feuerwehrmann«, erzählte er, während er mit den Fingern die Schläfen rieb und seine zweifarbigen Haarwirbel glättete. »Ich habe ihm in seiner Trübsal Gesellschaft geleistet, aber ich kann nicht mehr! Gestern besuchte ihn sein Freund, der Diakon, da bin ich weggelaufen. Jetzt bin ich wieder auf dem Wege zu ihm. Wladimir macht mir Sorge, er ist ein Mensch von unberechenbaren Entschlüssen. Laß uns zusammen hingehen. Ljutow wird sich freuen. Er nennt dich einen Doppelpunkt, hinter dem etwas zwar noch Unbekanntes, auf jeden Fall aber Originelles folgen wird. Du wirst auch den Diakon kennenlernen, eine interessante Type. Und vielleicht wirst du Wolodjka ein wenig abkühlen. Gehen wir?«
Klim war neugierig zu sehen, wie der fatale Mensch litt.
»Ich werde mich betrinken«, dachte er. »Makarow wird es Lida berichten.«
Eine Stunde später schritt er über den blanken Fußboden eines leeren Zimmers vorbei an Spiegeln, die zwischen fünf Fenstern hingen, an Stühlen, die steif und langweilig an den Wänden aufgereiht waren. Zwei Gesichter schauten mißbilligend auf ihn herab: das Gesicht eines zornigen Mannes mit einem roten Band um den Hals und einer eigelben Medaille im Bart – und das Gesicht einer rotbäckigen Frau mit fingerdicken Brauen und erwartungsvoll herabhängender Lippe.
Sie stiegen eine innere Treppe in zwei schmalen und finsteren Windungen hinauf und betraten ein dämmeriges Zimmer mit niedriger Decke und zwei Fenstern. Im Winkel des einen wimmerte der blecherne Ventilator der Luftklappe und trieb eine krause Welle frostiger Luft ins Zimmer.
Inmitten des Raums stand Wladimir Ljutow in einem langen, bis an die Kniekehlen reichenden Nachthemd, hielt stehend eine Gitarre am Griff und taumelte, wobei er sich auf sie stützte, wie auf einen Regenschirm. Schwer atmend, fixierte er die Eintretenden. Unter dem aufgeknöpften Hemd hoben und senkten sich die Rippen, es war seltsam zu sehen, daß er so knochig war.
»Samgin?« rief er fragend, mit geschlossenen Augen, aus und breitete ihm die Arme entgegen. Die Gitarre fiel zu Boden und schlug an. Der Ventilator antwortete ihr mit einem Winseln.
Es war für Klim zu spät, sich den Umarmungen zu entziehen: Ljutow schraubte ihn zwischen seine Hände, hob ihn empor und küßte ihn mit nassen, heißen Lippen, während er stammelte:
»Dank ... Ich bin sehr ... sehr ...«
Er schleifte ihn zu einem Tisch, der mit Flaschen und Tellern beladen war, goß mit bebender Hand Schnaps in die Gläser und rief:
»Diakon, komm herein! Er gehört zu uns.«
Im Winkel ging eine unsichtbare Tür auf, in ihr erschien, düster lächelnd, der gestrige fahle Diakonus. Im Schein zweier großer Lampen bemerkte Samgin, daß der Diakon drei Bärte hatte: einen langen und zwei kürzere. Der lange entwuchs dem Kinn, die beiden anderen fielen von Ohren und Wangen herab. Sie waren kaum sichtbar auf dem fahlen Leibrock.
»Ipatjewski«, sagte unentschlossen der Diakon, während er schmerzhaft fest mit knochigen Fingern Samgins Hand zusammenpreßte, und bückte sich langsam, um die Gitarre aufzuheben. Makarow, der die Pforte schloß, schrie den Hausherrn an:
»Willst du dir eine Lungenentzündung holen?«
»Kostja, ich ersticke!«
Die stürmischen Augen Ljutows umkreisten bald Samgin, ohne Kraft, sich auf ihn einzustellen, bald den Diakon, der sich langsam wieder aufrichtete, als fürchte er, daß das Zimmer nicht hoch genug für seinen langen Körper sein könnte. Ljutow sprang wie ein Versengter am Tisch umher, wobei ihm die Pantoffeln von den nackten Füßen fielen. Als er sich auf einen Stuhl setzte, beugte er den Kopf bis zu den Knien herab und streifte schwankend die Pantoffeln über. Es war rätselhaft, weshalb er nicht vornüber fiel und mit dem Kopf aufschlug. Während er mit den Fingern die aschgrauen Haare des Diakons aufwühlte, winselte er:
»Samgin! Ein Mensch ist das! Kein Mensch mehr, ein Tempel! Beten Sie dankbar die Macht an, die solche Menschen erschafft!«
Der Diakon stimmte andächtig die Gitarre. Als er sie gestimmt hatte, stand er auf und trug sie in eine Ecke. Klim sah vor sich einen Riesen mit breiter, flacher Brust, Affenhänden und dem knochigen Gesicht eines, der um Christi willen das Kreuz der Einfalt auf sich genommen hat. Aus den dunklen Höhlen in diesem Gesicht blickten entrückt ungeheure, wasserhelle Augen.
Ljutow schenkte in vier große Gläser goldschimmernde Wodka ein und erklärte:
»Polnische Starka! Trifft ohne Fehlschuß. Trinken wir auf das Wohl Alina Markowna Telepnews, meiner gewesenen Braut! Sie hat mich ... Sie hat sich mir verweigert, Samgin! Hat sich geweigert, mit Seele und Leib zu lügen. Ich verehre sie tief und aufrichtig – hurra!«
Nach zwei Gläsern des ungewöhnlich schmackhaften Schnapses erschienen sowohl der Diakon wie Ljutow Klim schon weniger ungeheuerlich. Ljutow war nicht einmal sehr berauscht, sondern nur auf eine wütende Weise gefühlsselig. In seinen schielenden Augen loderte so etwas wie Verzückung. Er schaute sich fragend um, und seine Stimme sank plötzlich, wie aus Angst, zu einem Flüstern herab. »Kostia!« schrie er. Man muß doch eine schöne Seele haben, um auf so viel Geld zu verzichten?«
Makarow drängte ihn grinsend zum Sofa und redete ihm sanft zu:
»Du mußt dich setzen, bleib ruhig sitzen.«
»Halt! Ich bin – viel Geld und nichts weiter! Und dann bin ich auch – ein Opfer, das die Geschichte selbst darbringt – für die Sünden meiner Väter.«
Er blieb mitten im Zimmer stehen, streckte die Arme aus und erhob sie über seinen Kopf, wie ein Badender, der im Begriff ist, ins Wasser zu springen.
»Irgendwann einmal wird eine gerechte Menschheit auf der Erde wohnen, sie wird auf den Plätzen ihrer Städte Denkmäler von wunderbarer Schönheit errichten und auf ihnen verzeichnen ...«
Er keuchte, zwinkerte mit den Augen und winselte:
»Und wird auf ihnen verzeichnen: ›Unseren Vorläufern, die für die Sünden und Irrtümer ihrer Väter mit dem Leben zahlten‹. Sie wird es verzeichnen!«
Klim sah, wie Ljutows Beine unter seinem Hemd gegeneinander schlugen und war darauf gefaßt, aus seinen verrenkten Augen Tränen fließen zu sehen. Doch dies geschah nicht. Nach dem Ausbruch verzweifelten Entzückens wurde Ljutow plötzlich nüchtern, beruhigte sich, gehorchte den inständigen Bitten Makarows und setzte sich auf das Sofa, wobei er mit dem Ärmel des Hemdes sein unvermittelt und heftig schwitzendes Gesicht abtrocknete. Klim fand, daß der Kaufmannssohn in recht ergötzlicher Weise litt. Er erregte in ihm keinerlei gute Gefühle, erregte auch kein herablassendes Mitleid. Im Gegenteil, Klim hatte den Wunsch, ihn zu reizen, um zu erfahren, wohin dieser Mensch sich noch versteigen, in welche Tiefe er sich noch hinabstürzen konnte. Er setzte sich neben ihn auf das Sofa.
»Was Sie von den Denkmälern sagten, war sehr schön ...«
Ljutow drehte seinen Kopf herum und streifte ihn mit einem entzündeten Blick. Er wackelte mit dem Rumpf und streichelte sich mit den Handflächen die Knie.
»Man wird Denkmäler errichten«, sagte er überzeugt, »Nicht aus Barmherzigkeit. Dann wird für Barmherzigkeit kein Raum sein, weil es unsere Hautkrankheiten nicht mehr geben wird. Man wird die Denkmäler errichten aus Liebe für die ungewöhnliche Schönheit der Wahrheit der Vergangenheit. Man wird sie verstehen und ehren, diese Schönheit ...«
Am Tisch wies der Diakon Makarow im Gitarrenspiel an und sagte im tiefsten Baß:
»Krümmen Sie die Finger stärker. Hakenartiger ...«
»Sie werden mich entschuldigen«, begann Klim, »aber ich sah, daß Alina ...« Ljutow hörte auf, sich die Knie zu streicheln und verharrte in gebückter Haltung.
»Sie ist im Grunde kein kluges Mädchen.«
»Das Weibliche in ihr ist klug ...«
»Mir scheint, sie ist unfähig, zu verstehen, wofür man liebt.«
Ljutow warf sich heftig gegen die Lehne des Sofas zurück.
»Was hat das ›wofür?‹ damit zu schaffen?« fragte er und blickte Klim mit einem versengenden Blick ins Gesicht. »Wofür? fragt der Verstand. Der Verstand ist gegen die Liebe – gegen jede Liebe! Wenn ihn die Liebe übermannt, entschuldigt er sich: ich liebe um der Schönheit, um der lieben Augen willen, eine Dumme um der Dummheit willen. Dummheit kann man auch mit einem anderen Namen taufen. Dummheit hat viele Namen ...«
Er sprang auf, trat an den Tisch, packte den Diakon bei den Schultern und bat:
»Jegor, sag das Gedicht vom unvergänglichen Rubel her ... bitte!«
»In Anwesenheit eines Fremden?« sagte fragend und verlegen, mit einem Blick auf Klim, der Diakon. »Obzwar wir einander ja schon begegnet sind ...«
Klim lächelte liebenswürdig.
»Seit meiner Jugend bin ich vom Trieb, zu dichten, besessen, doch schäme ich mich vor aufgeklärten Menschen, vom Gefühl meiner Dürftigkeit durchdrungen.«
Der Diakon tat alles langsam, mit wuchtender Behutsamkeit. Nachdem er ein Stückchen Brot reichlich mit Salz bestreut hatte, legte er eine Zwiebelscheibe auf das Brot und hob die Schnapsflasche mit solcher Anstrengung vom Tisch, als stemme er ein Zweipudgewicht. Während er sich sein Glas vollschenkte, kniff er das eine seiner ungeheuren Augen zu, während das andere vortrat und einem Taubenei ähnlich wurde. Wenn er die Wodka ausgetrunken hatte, öffnete er den Mund und sagte hallend:
»Hoh!!«
Und bevor er das Zwiebelbrot in den Mund legte, roch er, die Flügel seiner langen Nase kräuselnd, daran wie an einer Blume.
Ljutow hielt die rechte Hand warnend erhoben. Zwischen den Fingern der Linken zerriß er kräftig sein ungleichmäßig sprossendes Bärtchen. Makarow, der am Tisch stand, bestrich andächtig eine Semmel mit Kaviar. Klim Samgin auf dem Sofa lächelte, in Erwartung von etwas Unanständigem und Lächerlichem.
»Nun denn«, sagte der Diakon und begann gedehnt, sinnend und leise:
»Als der Herr Jesus den Schlaf nicht fand.
Schritt er die himmlische Straße entlang,
Schritt von einem zum anderen Stern.
Mit dem Herrn Jesus gingen nur zwei:
Nikolaus der myrlikische Bischof
und der Apostel Thomas, sonst niemand.«
Es kostete Anstrengung, ihm zuzuhören. Die Stimme hallte dumpf, kirchenmäßig, zerdrückte und dehnte die Worte und machte sie auf diese Weise unverständlich. Ljutow stemmte die Ellenbogen in die Hüften und dirigierte mit beiden Händen, als wiege er ein Kind in Schlaf, und manchmal schien es, als streue er aus ihnen etwas hin:
»Denkt unser Herrgott hohe Gedanken,
Blickt hinab: die Erde dreht sich,
Wie ein Kreisel die schwarze Kugel,
Satan peitscht sie mit eiserner Kette.«
»Nun?« fragte Ljutow Klim mit einem Zwinkern, sein Gesicht bebte in einem harten Krampf.
»Störe nicht«, sagte Makarow.
Klim lächelte immer noch in gewisser Erwartung des Lächerlichen. Der Diakon glotzte zur Wand, auf einen dunkeln Stich in goldenem Rahmen und sprach hallend:
»›Ich war dort‹, spricht Christus trauernd.
Aber Thomas lächelt leise:
›Alle waren wir dort unten.‹
Christus sieht ins Erdendunkel,
Nikolaus, den Seligen, fragt er:
›Wer liegt trunken dort am Wege,
Schläft er, oder ist's ein Toter?‹
›Nein, Wassili aus Kaluga
Liegt und träumt von besserm Leben‹,
Spricht der selige Nikolaus.«
Ljutow hatte die Augen geschlossen, schüttelte heftig seinen wüsten Kopf und lachte lautlos. Makarow schenkte zwei Gläser voll Schnaps, trank das eine selbst aus und reichte das andere Klim.
»Christus, gnädiglich gelaunt,
Senkt als Taube sich zur Erde.
Tritt vor Waßjka: ›Ich bin Christus,
Hast du mich erkannt, Wassili?‹
Waßjka kniet vor Christus nieder,
Tief ergriffen, weinend fast.
›Herrgott‹, stammelt er, ›wie traurig,
Heut hab ich dich nicht erwartet.
Wärst du in der Früh erschienen,
Hätt das Volk dich schon empfangen,
Unser ganzer Kreis von Shisdrinsk.
Glocken hätten dir geläutet.‹
Schmunzelt Jesus in sein Bärtchen,
Spricht voll Milde zu dem Bauern:
›Kam nur schnell zu dir, Wassili,
Wollte deine Wünsche wissen.‹«
Ljutow streckte Samgin die linke Hand entgegen und flüsterte, während er mit der rechten Takt schlug, pfeifend:
»Hören Sie!«
»Waßjka, staunend, riß den Mund auf,
Denn das Glück raubt ihm die Sprache.
Flüstert endlich, Speichel schluckend:
›Herrgott, gib mir einen Rubel,
Einen nur, der nie sich ändert,
Ausgegeben doch nicht schwindet,
Unvergänglich auch beim Wechseln.‹«
»Genial!« rief Ljutow und warf die Hände empor, als werfe er dem Diakon etwas vor die Füße, der aber, die Augenbrauen gramvoll geneigt, ein Beben im dreifachen Bart, sprach:
»Geld führ ich nicht mit auf Reisen,
Thomas ist mein Schatzverwalter,
Er trat jetzt an Judas' Stelle.«
Ljutow konnte nicht länger zuhören. Er hüpfte, wand sich, verlor die Pantoffeln, klatschte mit nackten Sohlen auf den Boden und schrie:
»Was sagen Sie dazu? Wie? Was sagen Sie?«
Er hob sein Gesicht und die geballten Fäuste zur Decke und sang in dem näselnden Ton eines alten Kirchensängers:
»Den unvergänglichen Rubel gib mir, Herrgott! Nein, der Thomas, was? Der Skeptiker Thomas an Stelle des Judas, was?«
»Mach dem Krampf ein Ende, Wolodjka«, sagte grob und mit lauter Stimme Makarow, der sich Schnaps eingoß. »Genug der Raserei«, fügte er wütend hinzu.
Ljutow riß sich vom Diakon, den er umarmte, los, stürzte sich auf Makarow und umarmte den:
»Du bist immerfort um meine Würde besorgt? Nicht nötig, Kostja! Ich weiß, es ist nicht nötig. Wozu, hol's der Teufel, brauche ich Würde, was soll ich damit? Und du sollst dem dreschenden Ochsen das Maul nicht verbinden, Kostja!«
Samgin war so verwundert, daß er die Fassung verlor. Er sah, daß das schöne Gesicht Makarows sich verfinstert hatte, daß er hart die Zähne fest zusammenbiß und daß seine Augen naß waren.
»Du weinst doch nicht?« fragte er, unsicher lächelnd.
»Was sonst? Soll ich etwa lachen? Das ist durchaus nicht zum Lachen, Bruder«, sagte Makarow schroff. »Das heißt, vielleicht ist es lächerlich – ja ... Trink, Wißbegieriger, der Teufel weiß es, wir Russen, können wohl nur Wodka trinken, mit wahnsinnigen Worten alles zerbrechen und verstümmeln, grausig über uns selbst spotten und überhaupt ...«
Er machte eine resignierende Bewegung mit der Hand.
Klim fühlte sich in einer eigentümlichen Lage. Unter der Wirkung des getrunkenen Schnapses und der sonderbaren Verse verspürte er plötzlich einen Andrang von Traurigkeit. Durchsichtig und leicht, wie die blaue Luft eines sonnigen Tages im Spätherbst, rief sie, ohne zu beschweren, den Wunsch hervor, allen etwas Herzliches zu sagen. Das tat er denn auch, während er mit dem Glas in der Hand dem Diakon gegenüberstand, der in gekrümmter Haltung ihm vor die Füße sah.
»Sie sind sehr originell in Ihren Versen. Und überraschend. Ich gestehe, ich erwartete etwas Komisches.«
Der Diakon straffte sich und erhellte sein dunkel gerötetes Gesicht mit einem Lächeln seiner beinahe farblosen Augen.
»Mit Komischem kann ich auch dienen. Es ist ja eine lange Dichtung, sechsundachtzig Verse. Ohne Komisches geht es bei uns nicht, es würde unwahr sein. Ich habe zum Beispiel gewiß mehr als tausend Menschen beerdigt, aber eines Begräbnisses ohne komischen Zwischenfall entsinne ich mich nicht. Richtiger gesagt, ich erinnere mich nur der scherzhaften. Wir sind ja ein Volk, das auch auf dem bittersten Weg über einen Witz stolpert!«
Ljutow, der sich unter Verrenkungen aufs Sofa fallen ließ, schrie und bat:
»Laß, Kostja! Das gute Recht des Aufruhrs, Kostja ...«
»Weiberaufruhr! Hysterie. Geh, gieß dir kaltes Wasser über den Kopf.«
Makarow stellte den Freund ohne Anstrengung auf die Füße und führte ihn hinaus. Der Diakon aber erzählte auf Klims Frage, was denn nun Waßjka aus Kaluga mit dem unvergänglichen Rubel gemacht habe, mit nachdenklicher Miene:
»Christus kehrt in den Himmel zurück, bittet Thomas um den Rubel und wirft ihn Waßjka hinunter. Waßjka beginnt zu saufen und zu bummeln, – natürlich, wie könnte es anders sein?«
»›Waßjka trinkt und ißt und buhlt,
Schenkt Harmonikas den Burschen,
Zaust die Greise an den Barten,
Brüllt, daß man's im Umkreis hört:
›Spuck auf euch, ihr Erdenmenschen!
Ich kann sündigen, ich kann büßen,
Alles tu ich, wie ich's will.‹«
»›Christus ist mein Busenfreund.
Immer ist für mich geöffnet
Und bereit das Paradies.‹«
Aber der berüchtigte Wolgaräuber Nikita, der erfahren hat, woher Waßjkas beständiger Rubel stammt, stiehlt ihm die Münze, schleicht sich nach Diebesart in den Himmel und spricht zu Christus: »Du, Christus, hast es verkehrt gemacht. Ich begehe für einen Rubel allwöchentlich schwere Sünden, und du hast ihn dem Faulenzer und Schürzenjäger geschenkt, das ist nicht schön von dir!«
Ljutow kehrte zurück, mit glattgekämmtem Haar, in Hose und Kittel.
»Den Schluß, den Schluß mußt du erzählen!« schrie er.
Der Diakon lächelte erstaunt:
»Ja, ich erzähle doch! Christus gibt Nikita recht: ›Richtig‹, sagt er, ›ich habe mich in meiner Herzenseinfalt geirrt. Ich danke dir, daß du die Sache in Ordnung gebracht hast, obgleich du ein Räuber bist. Bei euch auf der Erde‹, sagt er, ›ist alles derartig durcheinander geraten, daß man sich nicht mehr zurechtfinden kann. Mag sein, daß du recht hast. Es heißt, dem Teufel in die Hand arbeiten, wenn Güte und Einfalt schlimmer als Diebstahl sind.‹ Er klagt, als Nikita von ihm Abschied nimmt: ›Schlecht lebt ihr, habt mich ganz vergessen.‹ Und Nikita sagt dann:
»Du, Christus, zürne uns nicht.
Wir haben dich nicht vergessen.
Auch hassend lieben wir dich.
Im Haß auch dienen wir dir.«
Tief und geräuschvoll aufseufzend, sagte der Diakon:
»Und das ist der Schluß.«
»Das kann niemand verstehen!« schrie Ljutow. »Niemand! Dieses ganze europäische Gelichter wird niemals den russischen Diakonus Jegor Ipatjewski verstehen, der dem Gericht übergeben ist wegen Schmähung der Religion und Gotteslästerung, begangen aus Liebe zu Gott! Kann ihn auch gar nicht verstehen!«
»Das ist wahr, ich liebe Gott sehr«, sagte der Diakon einfach und überzeugt. »Aber meine Forderungen an ihn sind strenge: er ist kein Mensch, man braucht ihn nicht zu schonen.« »Halt! Wenn es ihn aber nicht gibt?«
»Die das behaupten, irren sich.«
Jetzt mischte sich Makarow ein.
»Es gibt keinen Gott, Vater Diakon«, sagte er, ebenfalls sehr überzeugt. »Es gibt ihn nicht, weil alles dumm ist!«
Ljutow winselte, während er die Streitenden aufeinander hetzte, und sagte zu Samgin:
»Wissen Sie, weshalb er vor Gericht gekommen ist? In seinen Gedichten wirft die Mutter Gottes in einem Gespräch mit dem Teufel diesem vor: ›Warum hast du mich dem schwachen Adam überlassen, als ich Eva war? Als dein Weib hätte ich ja die Erde mit Engeln bevölkert!‹ Wie finden Sie das?«
Klim lauschte sowohl seiner erregten, bohrenden Stimme wie dem hohlen Baß des Diakons:
»Natürlich, das dröhnt mit Posaunenschall, wenn ein kleines Menschlein das Weltall eine Dummheit nennt, nun und dennoch ist es lächerlich ...«
»Das Weib ist dumm beschaffen ...«
»Darin bin ich mit Ihnen einverstanden. Überhaupt scheint es, als sei das Fleisch auf Widersprüche gegründet, aber vielleicht nur deshalb, weil die Wege seiner Vereinigung mit dem Geiste uns noch unbekannt sind ...«
»Ihr Kirchlichen verhöhnt das Weib ...«
Ljutow stieß Klim an und kreischte begeistert:
»Wer würde es wagen, von Gott so zu reden, wie wir?«
Klim Samgin hatte niemals ernsthaft über das Dasein Gottes nachgedacht. Ihm fehlte das Bedürfnis dafür. Und jetzt fühlte er sich angenehm berauscht, wünschte Musik, Tanz, Lustbarkeit.
»Man sollte irgendwohin fahren«, schlug er vor. Ljutow warf sich aufs Sofa, zog die Füße zu sich heran und fragte grinsend:
»Zu Mädels? Aber Sie sind doch wohl Bräutigam? Wie?«
»Ich? Nein«, sagte Klim und fügte, sich selbst unerwartet, hinzu:
»Dieselbe Geschichte wie bei Ihnen ...«
Sogleich glaubte er auch, daß es so sei, etwas riß in seiner Brust und erfüllte ihn mit dem Qualm beißender Trübsal. Er begann zu schluchzen. Ljutow umarmte ihn und suchte ihn auf jede Weise zu trösten, wobei er liebevoll Lidas Namen aussprach. Das Zimmer schaukelte wie ein Boot, an der Wand leuchtete silbrig gleich einem Wintermond das Zifferblatt der Uhr von Moser und schwang in sichelförmigem Bogen wie ihr Pendel.
»Du mißfielst mir sehr«, sagte Klim, aufschluchzend.
»Allen mißfalle ich.«
»Du bist ein Revolutionär!«
»Alle sind wir Revolutionäre ...« »Also hat Konstantin Leontjew recht: man muß Rußland einfrieren.«
»Dummkopf!« sagte Ljutow erschrocken. »Dann wird es in Stücke springen wie eine Flasche.«
Und rief aus:
»Übrigens, zum Henker mit ihm! Mag es in Stücke springen, damit Ruhe wird!«
Dann saßen alle vier auf dem Sofa. Im Zimmer wurde es eng. Makarow füllte es mit Zigarettenrauch, der Diakon mit dem dichten Nebel seiner Baßstimme. Man konnte kaum atmen.
»Die Seelen sind voll des Leides, der Geist aber ist sehr verzagt ...«
»Mach halt an dieser Stelle, Diakonus!«
»Das Leben ist kein Gefilde, keine Wüstenei, man kann nirgends haltmachen.«
Die Worte hämmerten gegen Samgins Schläfen, versetzten ihm Stöße.
»Ich erlaube nicht, daß man die Wissenschaft schmäht,« schrie Makarow.
In den Diakon kam Bewegung. Er begann, sich langsam aufzurichten. Als er, lang und dunkel, wie ein unheimlicher Schatten, mit dem Kopf gegen die Decke stieß, knickte er ein und fragte aus der Höhe herab:
»Und wie gefällt Ihnen dies?«
Schwingend wie ein Glockenklöppel, brüllte er, dröhnte er mit ganzer Macht:
»Den an Gottes Existenz Zweifelnden – Anathema!«
»Anathema! Anathema!« sang durchdringend, mit Begeisterung Ljutow. Der Diakon echote feierlich mit Grabesstimme: »Anathema!«
»Schweigt!« gröhlte Makarow.
Des Diakons Gebrüll betäubte Klim und stieß ihn in eine dunkle Leere hinab. Aus ihr trug Makarow ihn wieder empor.
»Steh auf! Es ist die fünfte Stunde!«
Samgin erhob sich langsam und setzte sich auf das Sofa. Er war bekleidet, nur Rock und Stiefel waren ausgezogen. Das Chaos und die Gerüche im Zimmer führten in seinem Gedächtnis sogleich die verbrachte Nacht wieder herauf. Es war finster. Auf dem Tisch, inmitten von Flaschen, brannte in zweifarbigem Licht eine Kerze. Ihr Wiederschein fing sich sinnlos im Innern einer leeren Flasche aus weißem Glas. Makarow zündete ein Streichholz nach dem andern an. Sie flammten auf und erloschen. Er beugte sich über die Kerzenflamme, stieß eine Zigarette hinein, löschte unversehens das Licht und schimpfte:
»Teufel nochmal!«
Dann fragte er:
»Du glaubst also, Lida hat sich in diesen Idioten verliebt?«
»Ja«, sagte Klim, fügte jedoch nach zwei oder drei Sekunden hinzu. »Wahrscheinlich ...«
»Na ... geh, wasch dich.«
Es gelang ihm, die Kerze anzuzünden. Klim bemerkte, daß seine Hände heftig zitterten. Beim Fortgehen blieb er auf der Schwelle stehen und sagte leise:
»Der Diakon hat da vorhin was von der Mutter Gottes, dem Teufel und dem schwachen Menschen Adam hergesagt. Sehr schön! Eine gescheite Bestie, dieser Diakon.«
Er malte mit dem Feuer der Zigarette Zeichen in die Luft und sagte:
»Nicht Christus und nicht Abel braucht die Menschheit. Sie braucht Prometheus-Antichrist.«
»Das ist glänzend gesagt!«
Er warf die Zigarette heftig auf den Fußboden und ging hinaus.
Ein kahlköpfiger Greis mit einer Beule auf der Stirn half Klim beim Waschen und führte ihn dann wortlos hinunter. Dort, in einem kleinen Zimmer, saßen beim Samowar drei ernüchterte Menschen. Der Diakon, in dieser Nacht noch magerer geworden, glich einem Gespenst. Seine Augen erschienen Klim nicht mehr so ungeheuer groß wie gestern. Nein, es waren die ziemlich gewöhnlichen, wässerigen und trüben Augen eines bejahrten Säufers. Auch sein Gesicht war im Grunde alltäglich. Solchen Gesichtern begegnete man nur allzu häufig. Hätte er sich seinen dreifachen Bart abnehmen und die wellige Lämmerwolle auf seinem Kopf scheren lassen, er wäre einem Handwerker ähnlich gewesen. Ein Mensch wie aus einem Witz. Er redete auch in der Sprache der Erzählungen Gorbunows.
»Die Gitarre verlangt einen träumerischen Charakter.«
»Kostja, hör auf, die Gitarre zu martern«, sagte Ljutow, eher befehlend als bittend.
Klim schlürfte mit Gier den starken Kaffee und erriet: Makarows Rolle bei Ljutow war die häßliche Rolle des Schmarotzers. Schwerlich vermochte dieser verkrampfte und pöbelhafte Schwätzer jemand ein Gefühl aufrichtiger Freundschaft einzuflößen. Da begann er auch schon wieder, die gelangweilte Zunge zu wetzen:
»Ja, wie soll man das verstehen, Diakon, wie soll man es verstehen, daß du, ein reinblütiger russischer Mensch, ein Wesen von ungewöhnlichster Farbigkeit, an Langeweile leidest?«
Der Diakonus schüttete Salz auf ein Stück Roggenbrot, hustete dumpf und antwortete:
»Die Langeweile hat mit echt russischem Wesen nichts zu tun. Die Langeweile macht allen Menschen zu schaffen.«
»Aber welche?«
»Auch Voltaire langweilte sich.«
Und augenblicklich, gleich einem Haufen Hobelspäne, loderte ein Streit auf. Ljutow hüpfte auf seinem Stuhl in die Höhe, klatschte mit der Hand auf den Tisch und kreischte. Der Diakon erdrosselte sein Geschrei kaltblütig mit wuchtenden Worten. Während er mit dem Messer das verstreute Salz ebenmäßig über den Tisch strich, fragte er:
»Ja, gibt es denn dieses Rußland? Nach meiner Ansicht, existiert es so, wie du, Wladimir, es siehst, nicht.«
»Ach, wie ihr mir zum Halse heraushängt«, sagte Makarow und trat mit der Gitarre zum Fenster, während der Diakon eigensinnig weiterkanzelte.
»Gotteshäuser haben wir, aber eine Kirche fehlt. Die Katholiken glauben alle römisch, wir dagegen synodisch, uralisch, taurisch und, weiß der Satan, wie noch ...«
»Aber weshalb? Weshalb, Samgin?«
»Wie jede Ideologie, sind die religiösen Anschauungen...«
»Wissen wir«, sagte in grobem Ton der Diakon. »Mein Sohn ist auch Marxist. Er versprach einmal, ein Dichter zu werden, ein Nekrassow, statt dessen behauptet er jetzt, daß der landlose Bauer nicht fähig sei, an den Gott des Dorfreichen zu glauben. Nein, nicht darum handelt es sich. Das ist in Wahrheit das Elend der Philosophie. Die wirkliche Philosophie des Elends aber hörten wir, der Herr Samgin und ich, ja vor drei Tagen. Der Philosoph war unansehnlich, aber man muß sagen, daß er es meisterhaft verstand, den wahren Kern aller und jeder Beziehungen bloßzulegen, indem er zeigte, daß der verborgene Mechanismus unseres Daseins die krasse Blutgier ist. Dreimal hörte ich ihn und versuchte mit ihm zu streiten, vermochte aber die Gewalt seines Denkens nicht niederzuringen. Meinen Sohn kann ich bei allen seinen Schachzügen in die Enge treiben, diesen Mann aber nicht.«
Der Diakon lächelte breit und beifällig.
»Ich rede nicht zum Vergnügen. Ich bin ein wißbegieriger Mensch. Wenn ich mit einem mir nahestehenden, aber einer unruhigen Auffassung vom Dasein huldigenden Laien zusammentreffe, gebe ich ihm zwei, drei Stöße in der meinem Sohn so teuren marxistischen Richtung. Und immer zeigt es sich, daß der Laie die Anfangsgründe dieser Lehre gewissermaßen schon unter der Haut trägt.«
»Der Marxismus ist also eine Hautkrankheit?« rief Ljutow erfreut aus.
Der Diakon lächelte.
»Nein, ich sagte doch: unter der Haut. Können Sie sich die Freude meines Sohnes vorstellen? Er bedarf ja sehr der geistigen Freuden, dieweil er der Kraft zum Genüsse körperlicher beraubt ist. Er leidet an der Schwindsucht, und seine Beine sind gelähmt. Er war in der Sache Astyrews verhaftet und hat im Kerker seine Gesundheit eingebüßt. Vollständig eingebüßt. Tödlich.«
Der Diakon seufzte geräuschvoll und schlug mit einer Nuance von Verwegenheit vor:
»Wolodja, sollten wir nicht einen Punsch genehmigen?«
Ljutow sprang auf, schrie:
»Ich weiß, Diakon, weshalb wir alle ein zersplittertes und einsames Volk sind«, und rannte hinaus.
Der Diakon glättete sein Haar mit beiden Händen, zupfte sich am Bart und sagte darauf mit leiser Stimme:
»Der Frühling pocht ans Fenster, meine Herren Studenten.«
Das sagte er deshalb, weil vom Dach ein Stück tauenden Eises herabfiel und gegen das Eisen der Fensterfassung dröhnte.
Ljutow stürzte mit einer Flasche Champagner in der Hand ins Zimmer. Ihm folgte mit weiteren Flaschen ein rosiges, üppiges Stubenmädchen.
»Bereite ihn!« sagte er dem Diakonus. Doch weshalb die Russen das einsamste Volk der Welt seien, vergaß er zu erzählen, und niemand erinnerte ihn an seine Absicht.
Alle drei verfolgten aufmerksam den Diakon, der die Ärmel aufschürzte und dabei ein nicht sehr sauberes Hemd und die seltsam weiße und wie die einer Frau glatte Haut seines Arms entblößte. In vier Teegläsern mischte er Porter, Kognak und Champagner, schüttete Pfeffer in das trübschäumende Naß und forderte auf:
»Nehmet ein!«
Klim trank mutig, wenngleich er schon nach dem ersten Schluck fand, daß das Getränk widerwärtig war. Doch er war entschlossen, in nichts hinter diesen Menschen, die eine so unglückliche Vorstellung von sich besaßen und sich so aufreizend im Gestrüpp der Gedanken und Worte verirrt hatten, zurückzustehen. Unter dem brandigen Geschmack schaudernd, dachte er sekundenlang nochmals daran, daß Makarow sich nicht beherrschen und Lida verraten würde, wie er sich betrank, und daß Lida sich die Schuld geben würde. Mochte sie sich nur schuldig fühlen.
Eine Viertelstunde später flog er, während sein Körper auf einem Stuhl saß, gleich einer Schwalbe durch das Zimmer und redete in das dreibärtige Gesicht mit den ungeheuren Augen hinein:
»Ihre Gedanken scheinen Ihnen schillernd von Bedeutung und so weiter. Aber es sind überaus banale Gedanken.«
»Halten Sie ein, Samgin!« schrie Ljutow. »Dann ist das ganze Rußland eine Banalität. Das ganze!«
»Auch Christus, den wir angeblich lieben und hassen. Sie sind ein überaus schlauer Mensch. Aber Sie sind ein naiver Mensch, Diakon. Und ich glaube Ihnen nicht. Ich glaube niemand.«
Klim fühlte sich flammend. Er wollte eine Menge verletzender, aber entwaffnend richtiger Worte sagen, wollte diese Menschen zum Schweigen bringen. Er bat sogar, müde der Entrüstung:
»Wir sind alle sehr einfache Menschen. Lassen Sie uns einfach leben. Lebt einfach ... wie die Tauben, Sanftmütig!«
Sie lachten schallend und schrien.
Dann fuhr Ljutow ihn in einem mit windschnellen Rossen bespannten Schlitten durch die Straßen, und Klim sah, wie die Telegraphenmasten zum Himmel emporhüpften und darin die Sterne umrührten wie Stückchen Orangenschale in einer Bowle. Dies währte vier Tage und Nächte. Dann lag Klim bei sich zu Hause im Bett und ließ die einzelnen Momente des langen Albtraumes an seinem Auge vorüberziehen.
Am tiefsten und dauerhaftesten hatte die Gestalt des Diakons sich in sein Gedächtnis eingegraben. Samgin fühlte sich mit seinen Reden behaftet wie mit Teer. Da stand der Diakon mit der Gitarre in der Hand mitten im Zimmer und sprach von Ljutow, der ganz plötzlich mit so verzweifelt aufgerissenem Mund, als stieße er einen lautlosen und um so furchtbareren Schrei aus, aufs Sofa gesunken und eingeschlafen war.
»Er säuft selbstmörderisch. Marx ist ihm schädlich. Auch mein Sohn zwingt sich gewaltsam, an Marx zu glauben. Ihm mag man es verzeihen. Er ist erbittert auf die Menschen wegen seines zerstörten Lebens. Einige sind gläubig aus dummer, kindischer Tapferkeit: der Kleine fürchtet die Dunkelheit, geht aber auf sie los, weil er sich vor den Kameraden schämt, schlägt sich blutig, um zu zeigen, daß er kein Feigling ist. Einige glauben aus Hast, aber die meisten aus Angst. Diese letzteren achte ich gering ...«
Und wiederum – er hatte es endlich aufgegeben, Makarow im Gitarrespiel zu unterweisen – fragte er Klim:
»Haben Sie Sinn für Musik?«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, schwärmte er, während er mit den Fingern auf seine Knie trommelte:
»Wenn sie mich aus dem geistlichen Stand ausstoßen, werde ich in eine Glasfabrik gehen und mich mit der Erfindung eines gläsernen Musikinstrumentes beschäftigen. Sieben Jahre schon frage ich mich: warum wird Glas nicht zur Musik verwandt? Haben Sie in Winternächten, wenn Schneestürme brausen und man nicht einschlafen kann, zugehört, wie die Fensterscheiben singen? Ich habe wohl tausend Nächte diesem Gesang gelauscht und bin auf den Gedanken gekommen, daß gerade Glas und nicht Metall oder Holz uns die vollkommene Musik geben wird. Alle Musikinstrumente sollten aus Glas gemacht werden, dann würden wir ein Paradies der Töne erhalten. Ich werde mich unbedingt diesem Werk widmen.«
Ein schwärmerisches Lächeln milderte das knochige Gesicht des Diakons, und Klim schien es, als habe der Diakon sich das alles eben erst ausgedacht.
Noch zwei oder drei Begegnungen mit dem Diakon, und Klim stellte ihn in eine Reihe mit dem dreifingrigen Prediger, mit dem Menschen, dem es gefiel, wenn man die Wahrheit »von sich gab«, mit dem lahmen Welsjäger, mit dem Hausmeister, der absichtlich den Staub und Unrat der Straße den Sträflingen vor die Füße fegte und mit dem mutwilligen alten Bauarbeiter.
Klim meinte, es wäre schön, wenn ein mächtiger und schrecklicher Jemand diese Menschen anfahren würde:
»Was soll der Unfug?« Nicht nur jene Menschen allein bedurften dieses drohenden Zurufs. Auch Ljutow brauchte ihn. Den Zuruf verdienten auch viele Studenten. Aber diese Erscheinungen der Straße, der unterirdischen Keller und des Albtraumes empörten Klim ganz besonders durch ihren Mutwillen. Wenn bei Onkel Chrisanf der lustige Student Marakujew und Pojarkow mit ihrem Freund Preis, einem kleinen, eleganten Juden mit feinem Gesicht und Samtaugen, einen Wettstreit über die Wahrheit der Volkstümlerbewegung und des Marxismus begannen, hörte Samgin diesem Wortgefecht beinahe gleichmütig und bisweilen mit Ironie zu. Nach einem Kutusow, der, langen Reden abgeneigt, geizig, doch unwiderstehlich, zu sprechen wußte, erschienen diese hier ihm als Schuljungen, ihre Diskussionen als Spiel und ihre hitzige Kampflust darauf berechnet, Warwara und Lida zu verführen.
»Jedes Volk ist die Verkörperung einer einmaligen geistigen Eigenart!« schrie Marakujew. In seinen nußbraunen Augen brannte wilde Begeisterung. »Sogar die Völker der romanischen Rasse unterscheiden sich auffallend voneinander, jedes stellt eine psychische Individualität für sich dar.«
Pojarkow, bestrebt, eindringlich und gelassen zu sprechen, ließ seine gelblichen Augäpfel blitzen, aus denen reglos die dunklen Pupillen starrten, stemmte seinen Bauch gegen den kleinen Preis, drängte ihn in eine Ecke und schraubte ihn dort zwischen seine kurzen, zornigen Sätze:
»Der Internationalismus ist eine Erfindung denationalisierter und deklassierter Leute. Die Welt wird regiert vom Gesetz der Evolution, das die Verschmelzung des Unverschmelzbaren ausschließt. Der sozialistische Amerikaner erkennt den Neger nicht als Genossen an. Die Zypresse wächst nicht im Norden. Beethoven ist in China unmöglich. In der Pflanzen- und Tierwelt gibt es keine Revolution.«
Alle diese Tiraden waren Klim mehr oder weniger vertraut. Sie schreckten nicht, reizten nicht auf, und in den Antworten des kleinen Preis lag sogar etwas Tröstliches. Er entgegnete sachkundig, mit Zahlen, und Klim war bekannt, daß eine genaue Rechnung Grundregel der Wissenschaft war. Im allgemeinen erweckten Juden nicht die Sympathien Samgins, doch Preis gefiel ihm. Er ließ die Reden Marakujews und Pojarkows gelassen über sich ergehen, betrachtete sie offensichtlich als etwas so Unvermeidliches, wie anhaltender Herbstregen. Er sprach ein auffallend reines Russisch, ein wenig trocken und im Ton eines Professors, dem seine Vorlesungen bereits langweilig geworden sind. In seinen festgefügten Sätzen fehlten vollständig die den Russen so teuren überflüssigen Worte, sie hatten nichts Blumenreiches, Kokettierendes, sondern etwas, was man greisenhaft nennen konnte und was gar nicht zu seiner hellen Stimme und zum festen Blick seiner Samtaugen paßte. Als Marakujew wie ein Feuerwerk aufzischte und abbrannte, und Pojarkow, der den ganzen Vorrat seiner abgehackten Sätze verbraucht hatte, Preis mit seinen ungleichfarbigen Augen hartnäckig fixierte, sagte er:
»Das alles mag schön sein, aber es ist nicht die Wahrheit. Die unbestrittene Wahrheit bedarf der Verschönerung nicht. Sie lautet schlicht und einfach: ›die ganze Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Klassenkämpfen.‹«
Klim Samgin empfand nicht das Bedürfnis, die Wahrheit, die Preis verkündete, zu prüfen, dachte nicht darüber nach, ob man sie anzunehmen oder abzulehnen hatte. Doch da er sich im Verteidigungszustand wußte und im Ziehen der Schlüsse aus dem, was er vernahm, ein wenig voreilig war, fand er in dem, ihm so fatalen »Kutosowismus« bereits eine wertvolle Eigenschaft: der »Kutosowismus« vereinfachte das Leben bedeutend, da er die Menschen in gleichartige Gruppen einteilte, die durch die Linien durchaus verständlicher Interessen streng voneinander geschieden waren. Handelte jeder gemäß dem Willen seiner Klasse oder Gruppe, so war es, wie schlau er seine wahren Wünsche und Absichten auch hinter den blumigen Geweben der Worte verstecken mochte, jederzeit möglich, den Kern seines Wesens – die Kraft der Gruppen- und Klassenbefehle – zu entlarven. Möglich, daß gerade der »Kutosowismus«, und nur er allein, es erlaubte, die vielen gespenstischen Menschen, wie der Diakon, Ljutow, Diomidow und andere, zu begreifen, ja mehr noch: vollkommen aus dem Leben zu entfernen. Doch hier tauchten eine Reihe schwieriger Fragen und Erinnerungen auf:
»Im Interesse welcher Gruppe oder Klasse lebt der gepflegte und solide Preis?«
Ihm fiel die überaus boshafte Frage Turobojews an Kutusow ein:
»Und wie nun, wenn die Klassenphilosophie sich nicht als Schlüssel zu allen Lebensrätseln erweist, sondern nur als Dietrich, der die Schlösser verdirbt und zerbricht?«
Es hallte die schreckeneinflößende Stimme des Diakonus:
»Man wird meinem gelähmten Sohn zustimmen, wenn er sagt: ›Einst glich die Revolution einem spanischen Abenteuerroman, einem gefahrvollen, aber äußerst angenehmen Spiel in der Art der Bärenjagd, heute jedoch ist sie eine tiefernste Sache geworden, rastlose Arbeit vieler einfachen Leute.‹ Dieses letztere gehört natürlich in den Bereich der Prophezeiung, ist aber nicht ohne Sinn. In der Tat: man hat alle Lungen mit der ansteckenden Atmosphäre vollgepumpt, und Beweis ihrer ansteckenden Wirkung sind nicht nur wir, die hier versammelten Trunkenbolde, allein.«
Die Zahl dieser Erinnerungen und Fragen nahm zu. Sie wurden immer widerspruchsvoller und verwickelter. Da er sich seiner Ohnmacht, Klarheit in dies Chaos zu bringen, bewußt wurde, dachte er mit Entrüstung:
»Aber ich bin doch nicht dumm?«
Daß er nicht dumm war – davon überzeugte ihn seine Fähigkeit, das Falsche, Fadenscheinige und Lächerliche an den Menschen zu entdecken. Er war sicher, unbeirrbar und scharf zu sehen: Die Moskauer Studenten tranken mehr als die Petersburger und waren leidenschaftlichere Freunde des Theaters. Die Menschen von der Wolga stellten die größte Zahl von Revolutionären. Pojarkow war ohne Zweifel sehr böse, lächelte aber, um seine Bosheit nicht zu zeigen, auf unnatürliche Weise und behandelte alle mit übertriebener Liebenswürdigkeit. Preis sah auf die Russen wie Turobojew auf die Bauern. Wenn Marakujew nicht so lustig wäre, würde es allen klar sein, daß er dumm war. Warwara trank sogar ihren Tee mit tragischer Pose. Onkel Chrisanf war ausgesprochen dumm, und er wußte es selbst.
»Ich bin ein guter Mensch, aber ohne Begabung«, pflegte er zu sagen. »Das ist das Rätselhafte! Einem guten Menschen sollte auch Talent gegeben sein, mir aber ist keins zuteil geworden.«
Die Zahl dieser Beobachtungen vermehrte sich rasch, Samgin gab sich keinem Zweifel bezüglich ihrer Richtigkeit hin. Er merkte, daß sie ihm eine immer sicherere Stellung unter den Menschen gaben. Schlimm war nur das eine, daß jeder Dinge sagte, die eigentlich Samgin selbst aussprechen sollte. Jeder bestahl ihn. So sagte Diomidow:
»Die Welt ist des Menschen Feind.«
In diesen paar Worten vernahm Klim sein eigenes Glaubensbekenntnis. Ärgerlich empfahl er Diomidow:
»Gehen Sie in ein Kloster.«
»Du hast ihn nicht verstanden«, sagte Lida mit einem strengen Blick, während Diomidow sein Gesicht mit den Händen bedeckte und durch die Finger hindurch murmelte:
»Auch das Kloster ist ein Käfig.«
Klim machte in letzter Zeit die Wahrnehmung, daß Lida den Requisitenmacher wie ein kleines Kind behandelte und sich Sorgen machte, ob er auch aß und trank und sich warm kleidete. In Klims Augen erniedrigte diese Fürsorge sie.
Diomidow war offenkundig anormal. Davon überzeugte Samgin endgültig eine seltsame Szene: Der Tischler und Requisitenmacher verließ Lida und zog seinen alten Mantel über. Er hatte bereits den linken Arm in den Ärmel gesteckt, konnte aber den rechten nicht finden und kämpfte lächelnd mit dem Mantel, den er dabei heftig schüttelte. Klim beschloß, ihm zu Hilfe zu kommen.
»Nein, lassen Sie«, bat Diomidow, zog den Mantel aus, streichelte liebevoll den eigensinnigen Ärmel und schlüpfte jetzt rasch und gewandt in den Mantel Während er ihn mit den ungleichen Knöpfen schloß, erklärte er:
»Er liebt fremde Hände nicht. Die Sachen, wissen Sie, haben auch ihren Charakter.«
Er knetete seine Mütze in der Hand und sagte:
»In sehr starkem Maße haben sie ihn. Besonders die kleinen und jene, die man so häufig in die Hand nimmt. Zum Beispiel Instrumente: die einen lieben Ihre Hand, die anderen nicht, und Wenn Sie sie fallen lassen! Ich zum Beispiel mag eine Schauspielerin nicht leiden, sie aber gibt mir eines Tages eine antike Schatulle zum Ausbessern. Eine ganz unbedeutende Reparatur. Sie werden es nicht glauben: ich habe mich lange geplagt und konnte damit nicht zurechtkommen. Die Schatulle ergab sich nicht. Bald schnitt ich mir den Finger, bald klemmte ich die Haut ein, bald verbrannte ich mich am Leim. So habe ich sie denn nicht ausbessern können. Denn die Schatulle wußte, daß ich ihre Herrin nicht liebe.«
Als er weg war, fragte Klim Lida, was sie dazu sage.
»Er ist ein Dichter«, sagte das Mädchen in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschloß.
Über die Widerspenstigkeit der Dinge sprach Diomidow häufig.
»Die kleinen Gegenstände sind ungehorsamer als die großen. Einen Stein kann man vermeiden, man kann ihm ausbiegen. Vor dem Staub aber kann man sich nicht retten. Man muß mitten hindurch. Ich liebe es nicht, kleine Gegenstände zu machen«, seufzte er, schuldig lächelnd, und man konnte glauben, dieses Lächeln glühe nicht im Innern seiner Augen, sondern breche sich von außen her in ihnen. Er machte lächerliche Entdeckungen:
»Wenn man sich nachts von einer Laterne entfernt, wird der Schatten immer kürzer und verschwindet schließlich ganz. Dann scheint mir, daß auch ich nicht mehr da bin.«
Wenn Klim ihn neben Lida sah, empfand er ein aus Verständnislosigkeit und Ärger zusammengesetztes Gefühl.
Doch meldete sich die Eifersucht immer noch nicht, wenngleich Klim eigensinnig fortfuhr zu glauben, daß er Lida liebe. Dennoch wagte er es, ihr zu sagen:
»Dein Hang zur Romantik wird dich zu nichts Gutem führen.«
»Was ist das: das Gute?« fragte sie halblaut. Sie furchte dabei die Stirn und blickte ihm in die Augen. Während er sich achselzuckend zu einer Antwort sammelte, sagte sie:
»Ich glaube, die Beziehungen zwischen Männern und Frauen können niemals ›das Gute‹ sein. Sie sind unvermeidlich, aber Gutes ist nicht in ihnen. Die Kinder? Du und ich, wir beide waren Kinder, aber ich kann heute noch nicht begreifen, wozu wir beide auf der Welt sind.« Zuletzt schien es Samgin, daß er alles und alle ausgezeichnet verstehe, nur sich selbst nicht. Schon ertappte er sich nicht selten dabei, daß er sich beobachtete wie einen Menschen, den er wenig kannte und der ihm gefährlich war.
Moskau rüstete zum Empfang des jungen Zaren, schminkte sich asiatisch grell und übermalte seine allzu garstigen Runzeln wie eine bejahrte Witwe, die einem neuen Ehestand entgegensieht. Es lag etwas Tolles und Krampfhaftes in dem Bestreben der Menschen, den Schmutz ihrer Behausungen zu übertünchen, als hätten die Moskauer, plötzlich sehend geworden, sich beim Anblick der Risse, Flecken und anderen Zeichen schmutzigen Alters an den Wänden der Häuser erschrocken. Hunderte von Malern strichen mit langen Pinseln die Fassaden der Gebäude an und schwebten an Seilen, die von fern wie dünne Fäden aussahen, akrobatisch unerschrocken in der Luft. Auf den Balkons und in den Fenstern der Häuser waren Dekorateure beschäftigt, farbenprächtige Teppiche und Kaschmirschals herauszuhängen, prunkvolle Rahmen für zahllose Bildnisse des Zaren zu schaffen und seine Gipsbüsten mit Blumen zu schmücken. Überall sprangen Rosetten, Girlanden, Schleifen und Kronen in die Augen, glänzten in Goldschrift die Worte »Gott schütze den Zaren« und »Sonne dich im Ruhm, russischer Zar«. Die Nationalflagge wehte zu Tausenden von den Dächern, ragte aus allen Spalten, in die man nur eine Fahnenstange hineinklemmen konnte.
Die rote Farbe, aufreizend in ihrer Grellheit, dominierte. Ihre Leuchtkraft entzündete noch stärker die ausdruckslose Gefügigkeit der weißen, während die düsteren blauen Streifen das blendende Feuer der roten Farbe nicht zu dämpfen vermochten. Hier und dort hingen Baumwollstoffe aus den Fenstern auf die Straße herab und verliehen den Fenstern das seltsame Aussehen, als neckten quadratische Münder einander mit roten Zungen. Einige Häuser waren in solchem Übermaß geschmückt, daß es schien, als hätten sie ihr Inneres nach außen gekehrt und in patriotischer Ruhmsucht ihre fleischigen Eingeweide und Fettgewebe bloßgelegt. Von Sonnenaufgang bis Mitternacht hasteten die Menschen durch die Straßen, doch noch heftiger beunruhigt waren die Vögel: während des ganzen Tages schwirrten über Moskau Schwärme von Krähen und Tauben, die angstvoll vom Zentrum der Stadt zur Peripherie wechselten. Es sah so aus, als sausten chaotisch Tausende von schwarzen Weberschiffchen durch die Luft und wirkten an einem unsichtbaren Gewebe. Die Polizei wies eifrig unzuverlässige Elemente aus der Stadt und durchsuchte die Dachböden der Häuser in jenen Straßen, die der Zar passieren mußte. Marakujew, der es nur schlecht verstand, zu heucheln, als glaube er nicht an das, was er sagte, berichtete: der Auftrag für die Illumination des Kremls sei Kobosew übergeben, demselben Käsehändler, von dessen Laden in der Sadowaja Straße in Petersburg aus man beabsichtigte, die Mine unter der Equipage Alexanders II. explodieren zu lassen. Kobosew sei als Vertreter einer ausländischen pyrotechnischen Firma in Moskau und werde am Krönungstage den Kreml in die Luft sprengen.
»Natürlich sieht das sehr nach einem Märchen aus«, sagte Marakujew lächelnd, sah aber die Anwesenden mit solchen Augen an, als glaube er, dieses Märchen könne in Erfüllung gehen. Lida warnte ihn zornig:
»Lassen Sie es sich nicht einfallen, in Onkel Chrisanfs Gegenwart davon zu schwatzen.«
Onkel Chrisanf trug eine überaus festliche Miene zur Schau. Seine polierte Glatze glänzte feierlich, und ebenso glänzten seine spiegelblank geputzten Lackschuhe. In seinem flachen Gesicht wechselte unaufhörlich ein Lächeln der Begeisterung mit einem Lächeln der Verlegenheit ab. Seine Äuglein schienen gleichfalls geputzt. Sie glühten wie zwei Lämpchen, entzündet in der aufnahmefreudigen Seele des Onkels.
»Moskau jubelt«, murmelte er und spielte nervös mit den Quasten seines Gürtels. »Hat sich als Bojarin herausgeputzt. Moskau versteht zu jubeln! Denkt nur: mehr als eine Million Arschin Draperien wurden verbraucht!«
Und da ihm einfiel, daß allzu laute Begeisterung unschicklich sei, berechnete er:
»Zweihundertfünfzigtausend Hemden. Eine Armee kann man damit bekleiden!«
Er bemühte sich, den jungen Leuten zu beweisen, daß er der bevorstehenden Feierlichkeit ironisch gegenüberstehe, doch das gelang ihm schlecht. Er fiel aus dem Ton und die Ironie machte dem Pathos Platz.
»Zum zweiten Male bin ich Zeuge, wie das große Volk seinen jungen Führer empfängt«, sprach er und wischte sich die nassen Augen. Als er sich bei dieser Rührung ertappte, kräuselte er die Lippen zu einem spöttischen Lächeln.
»Götzenanbetung natürlich, ›Kommet, auf daß wir unseren Zaren und Gott anbeten!‹ Hm, ja! Und trotzdem muß man es sich ansehen. Nicht der Zar ist interessant, sondern das Volk, das ihn mit seinen Wünschen und Hoffnungen bekleidet.«
Er rief Diomidow auf die Straße, aber der lehnte zögernd ab.
»Wissen Sie, ich liebe keine Menschenansammlungen.«
»Na, mein Lieber, das sind aber Dummheiten«, empörte sich Onkel Chrisanf. »Was heißt das: ich liebe keine?«
»Sehen Sie, das hat keinen Platz in mir, die Liebe zum Volk«, gestand Diomidow schuldbewußt. »Wenn ich ehrlich sagen soll: was geht mich das Volk an? Im Gegenteil, ich ...«
»Du hast den Verstand verloren!« schrie Onkel Chrisanf. »Bist du ein Narr? Was heißt das: hat keinen Platz? Was soll das bedeuten – hat keinen Platz?«
Und er zog energisch den Jüngling mit sich in die lärmerfüllten Straßen. Klim ging ebenfalls, auch Marakujew, der jedoch ein wenig ratlos lächelte.
In den Fenstern, auf den Balkons tauchte immer wieder das blinde Gipsgesicht des Zaren auf. Marakujew fand, der Zar sei stupsnäsig.
»Er ähnelt dem jungen Sokrates«, bemerkte Onkel Chrisanf.
Auf den Straßen patrouillierten besorgt nagelneue Polizisten, die bald die Maler, bald die Hausknechte anschrien. Auf hochgewachsenen Pferden sprengten ungewöhnlich große Reiter in Helm und Rüstung einher. Die einförmig runden Gesichter schienen aus Stein, die vom Kopf bis zu den Füßen gepanzerten Leiber erinnerten an Samoware. Die Beine der Reiter hingen wie etwas nicht zu ihnen Gehörendes zu beiden Seiten herab. Wolken von Straßenjungen begleiteten die bronzenen Kentauren und krähten unermüdlich ihr Hurra! Ohrenbetäubend schrien auch die Erwachsenen beim Anblick der geschniegelten Kavalleriegardisten: Ulanen und Husaren, die mit ebenso schreienden Farben bemalt waren wie das hölzerne Spielzeug der Heimarbeiter in der Sergius-Vorstadt.
Hurrarufe begrüßten vier götzenhaft unbewegliche Mongolen in Brokatgewändern. Sie saßen in einem Kabriolett und sahen einander aus geschlitzten Äuglein an. Einer von ihnen – er hatte aufgestülpte Nasenlöcher und einen offenen zahnlosen Mund – lächelte ein totes Lächeln. Sein gelbes Gesicht war wie aus Messing.
»Da sieh«, schärfte Onkel Chrisanf Diomidow wie einem kleinen Jungen ein, »ihre Vorfahren haben Moskau angezündet und gebrandschatzt, die Enkel aber neigen sich vor ihm.«
»Aber sie neigen sich ja gar nicht, sie sitzen da wie Eulen bei Tageslicht«, murmelte Diomidow, der struppig, schwarz von Kohlenruß und mit von Bronzepulver vergoldeten Händen neben ihm stand. Er hatte erst am Morgen seine Arbeit bei der Ausschmückung Moskaus beendet.
Mit besonders großem Jubel empfingen die Moskauer den Botschafter Frankreichs, der, umgeben von einer glänzenden Suite, zum »Berg der Anbetung« fuhr.
»Siehst du?« belehrte Onkel Chrisanf. »Franzosen. Auch die haben Moskau zerstört, in Brand gesteckt. Und nun ... Wir tragen Böses nicht nach ...«
Man begrüßte eine Gruppe englischer Offiziere. An der Spitze schritt, mit den Bewegungen eines Automaten, ein unnatürlich langer Mann mit einem Gesicht aus drei Knochen, einem weißen Tropenhelm auf dem langen Schädel und einer Menge Orden auf der schmalen und flachen Brust. »Ich liebe die Briten nicht«, sagte Onkel Chrisanf.
Der Oberpolizeimeister Wlassowski jagte vorüber. Er hielt sich am Gürtel seines Kutschers fest. Ihm folgte, unter Bedeckung, Großfürst Sergius, der Onkel des Zaren. Chrisanf und Diomidow entblößten die Köpfe. Auch Samgin hob unwillkürlich die Hand zur Mütze, doch Marakujew, der sich abgewandt hatte, tadelte Chrisanf: »Schämen Sie sich nicht, einen Homosexuellen zu grüßen?«
»Hurra!« schrien die Moskauer. »Hurra!« Darauf sprengten wieder die seifig schäumenden Rosse Wlassowskis vorüber. Der Kutscher hielt sie im Galopp an. Der Polizeimeister schwenkte im Stehen die Arme, schrie zu den Fenstern der Häuser hinauf, zu den Arbeitern, Polizisten und Straßenjungen, und nachdem er genug geschrien hatte, ließ er sich in die Polster der Equipage fallen und trieb durch einen Stoß in den Rücken des Kutschers von neuem die Pferde an. Sein Schnurrbart, der sich drohend sträubte, bog sich zum Nacken hinauf.
»Hurra!« schrie das Volk ihm nach. Diomidow beklagte sich, ängstlich zwinkernd, mit leiser Stimme bei Klim:
»Er ist einfach toll. Ja, sie sind alle toll geworden. Als erwarteten sie das Ende der Welt. Und die Stadt ist wie geplündert. Die Beute ist aus den Fenstern hinausgeschleudert worden und hängt nun herab. Und sie alle sind ohne Erbarmen. Was brüllen sie nur? Was für ein Feiertag ist dies denn? Es ist Irrsinn.«
»Märchenhafter, wunderbarer Irrsinn, du Narr«, verbesserte ihn Onkel Chrisanf, der mit weißer Farbe bespritzt war, und lachte selig.
»Es müßte feierlich und still sein«, murmelte Diomidow.
Samgin gab ihm stillschweigend recht, da er fand, daß dem ruhmsüchtigen Lärm des eitlen Moskau gewisse würdige Noten fehlten. Allzu häufig und planlos brüllten die Menschen Hurra, allzu aufgeregt hasteten sie, und es waren viele unangebrachte Scherze und Spötteleien zu hören. Marakujews scharfem Blick entging weder das Alberne noch das Lächerliche, und er teilte es Klim mit solcher Freude mit, als sei er, Marakujew, selbst der Schöpfer des Lächerlichen.
»Sehen Sie«, er deutete auf ein Transparent, dessen goldene Inschrift: »Möge dein Weg zu Rußlands Ruhm und Glück leicht sein« mit dem Stück eines Firmenschildes schloß, das die gleichfalls goldenen Buchstaben: »& Co.« aufwies.
In den letzten Tagen kolportierte Marakujew aufdringlich abgeschmackte Anekdoten über die Tätigkeit der Verwaltung, der Stadtduma und der Kaufmannschaft, doch man durfte mit Recht argwöhnen, daß er sie selbst erfand. Man fühlte die Mache, und durch ihre Plumpheit trat etwas Gekrampftes und Trübsinniges hindurch.
»Na ja«, sagte er Lida, »das Volk freut sich. Übrigens, was für ein Volk ist das eigentlich? Das Volk ist – dort!«
Mit ausholender Gebärde zeigte er aus irgendeinem Grunde nach Norden und glättete heftig mit der flachen Hand sein lockiges Haar.
Doch wenn Klim Samgin auch viel Unangenehmes und beleidigend Unpassendes bemerkte und hörte, schwang in ihm trotzdem die aufregende Erwartung, daß jetzt gleich, von irgendwoher aus den zahllosen, mit Menschen vollgepfropften Straßen etwas Unerhörtes und Wunderbares erscheinen würde. Er schämte sich, sich zu gestehen, daß er den Zaren zu sehen wünschte, doch dieses Verlangen erwachte wider seinen Willen, entfacht von der Anstrengung vieler tausend Menschen und der prahlerischen Verschwendung von Millionen. Diese Anstrengung und diese Großzügigkeit verführten zu der Annahme, es müsse ein ungewöhnlicher Mensch erscheinen, ungewöhnlich nicht nur, weil er der Zar war, sondern weil Moskau in ihm besondere geheimnisvolle Kräfte und Eigenschaften ahnte. »Katharina die Große starb im Jahre 1796«, erinnerte Onkel Chrisanf. Samgin sah klar, daß der Moskauer an das Nahen großer Ereignisse glaubte, und es war offenkundig, daß er diesen Glauben mit Tausenden teilte. Auch er fühlte sich imstande zu glauben, daß morgen der wunderbare und vielleicht gewalttätige Mann erschien, auf den Rußland ein ganzes Jahrhundert wartete, und der vielleicht gewaltig genug war, den geistig zerknitterten, verwahrlosten Menschen drohend zuzurufen:
»Was soll der Unfug?«
An dem Tage, da der Zar vom Peterspalais her in den Kreml einzog, hielt Moskau gebannt den Atem an. Seine Massen wurden von zwei Ketten Soldaten und zwei Linien der Ochrana, gebildet aus einer Auslese loyalster Einwohner, gegen die Mauern der Häuser gedrückt. Die Soldaten waren von unbeugsamer Standhaftigkeit und wie aus Eisen geschmiedet, die Agenten der Ochrana zum größten Teil stämmige, bärtige Männer mit sehr breiten Rücken. Sie standen Schulter an Schulter und drehten die straffen Hälse hierhin und dorthin, um die drängenden Menschen hinter ihnen mit argwöhnischen und strengen Blicken zu mustern.
»Ruhe!« kommandierten sie.
Und häufig geschah es, daß irgendein Unruhiger, den die Erwartung oder etwas anderes allzusehr erregt hatte, sich, von ihren Ellenbogen vorwärtsgestoßen, plötzlich in einen Hof gedrängt fand. Dies ereignete sich auch mit Klim. Ein schwarzbärtiger Mensch maß Samgin mit einem finsteren Blick aus seinen dunklen Augen und trat ihm eine Minute später mit dem Absatz seines Stiefels auf die Zehen. Klim zog heftig den Fuß fort und stieß ihn dabei mit dem Knie in den Hintern. Der Mann nahm es übel.
»Was für Ungehörigkeiten erlauben Sie sich da, Herr? Und tragen auch noch eine Brille!«
Es glaubten auch noch zwei andere, übelnehmen zu müssen. Ohne von seinen Erklärungen Notiz zu nehmen, trieben sie ihn, geschickt und rasch manövrierend, in einen Hof, in dem sich drei Polizeisoldaten aufhielten. An der Vortreppe, auf dem nackten Erdboden, schnarchte laut ein dürftig gekleideter und offenbar betrunkener Mensch. Einige Minuten später stieß man noch ein Individuum, einen jungen Mann in einem hellen Anzug, mit blatternarbigem Gesicht, auf den Hof. Derjenige, der das besorgte, sagte den Soldaten:
»Nehmt diesen fest, es ist ein Taschendieb.«
Zwei von den Polizisten entführten den Blatternarbigen in die Tiefe des Hofes. Der dritte sagte zu Klim:
»Heute haben die Spitzbuben Feiertag!«
Jetzt trieb man einen Mann mit einem Album in den Hof. Er trampelte mit den Füßen, tippte den Soldaten mit einem Bleistift vor die Brust und schrie empört, mit fremdem Akzent:
»Du hast kein Recht!«
Er schrie in deutscher, französischer und rumänischer Sprache, aber der Polizist fächelte ihn von sich wie Rauch, streifte von seiner rechten Hand den neuen Handschuh und entfernte sich, eine Zigarette rauchend.
»Also gut!« radebrechte drohend der Mann und begann rasch mit dem Bleistift in sein Album zu schreiben, wobei er sich breitbeinig an die Wand lehnte.
Man trieb einen alten Mann auf den Hof, der rote Luftballons feilbot, ihre ungeheure Traube schaukelte über seinem Haupt. Der nächste war ein anständig gekleideter junger Mann, dessen Wange mit einem schwarzen Tuch verbunden war. In großer Verlegenheit lief er, ohne jemanden anzusehen, in den Hintergrund des Hofes und verschwand um eine Ecke. Klim hatte Verständnis für ihn, auch er war verlegen und kam sich an diesem Ort dumm vor. Er stand im Schatten, hinter einem Stapel Kisten mit Lampengläsern, und hörte dem trägen Geplauder der Polizisten und des Taschendiebes zu.
»Podolsk ist weit von uns entfernt«, erzählte seufzend der Taschendieb.
Sperlinge hüpften über den Hof, Tauben hockten auf den Fenstersimsen und blickten bald mit dem einen, bald mit dem anderen Fischauge gelangweilt hinunter.
In dieser Lage blieb Klim denn auch so lange, bis das feierliche Geläute zahlloser Glocken ertönte. Markerschütternd dröhnte das Hurra aus tausend Kehlen, durchdringend schmetterten Fanfaren, brüllten die Trompeten der Militärkapelle, rasselten die Trommeln, und unaufhörlich folgte sich das ohrenbetäubende Geheul:
»Hurra!«
Als sich diese ganze Wut gelegt hatte, betrat der geckenhafte Gehilfe des Polizeihauptmanns, gefolgt von einem glattrasierten Mann mit dunkler Brille, den Hof, verlangte Klims Papiere und übergab sie dem Mann mit der Brille. Dieser überflog sie, nickte mit dem Kopf in der Richtung zum Tor und sagte trocken:
»Können gehen.«
»Ich – begreife nicht«, wollte Samgin protestieren. Aber der Mann mit der Brille drehte ihm den Rücken und sagte:
»Man hat Sie auch nicht darum gebeten, zu begreifen.«
Verletzt trat Klim auf die Straße hinaus, die Menge erfaßte ihn, riß ihn mit sich fort und trieb ihn nach kurzer Zeit geradewegs in Ljutows Arme.
Wladimir Petrowitsch Ljutow befand sich im Zustand hochgradiger Trunkenheit. Er bewegte sich in der unnatürlich strammen Haltung eines Soldaten vorwärts, schwankte aber hin und her, rempelte entgegenkommende Fußgänger an und belästigte die Frauen mit einem frechen Lächeln. Er ergriff Klims Arm, drückte ihn fest an seine Hüfte und sagte ziemlich laut:
»Gehen wir zu mir Mittag essen. Trinken wir. Man muß trinken, mein Lieber. Wir sind ernste Leute, wir haben die Pflicht, vier Fünftel unserer Seele zu vertrinken. Aus voller Seele zu leben wird einem in Rußland von allen streng verboten. Von allen – von der Polizei, von den Pfaffen, von den Lyrikern und Prosaisten. Wenn wir aber vier Fünftel versaufen, reicht der Rest aus, um pornographische Bilder zu sammeln und einander Zoten aus der russischen Geschichte zu erzählen. Da hast du unsere Aussichten fürs Leben.«
Ljutow war offensichtlich zu einem Skandal aufgelegt. Dies beunruhigte Klim sehr. Er versuchte, seinen Arm loszureißen, aber ohne Erfolg. Da zog er Ljutow in eine der Nebengassen der Twerskaja-Straße, Dort begegneten sie einer schnellen Mietsequipage. Doch als sie in dieser dahinflogen, sprach Ljutow, während er das dichte Gedränge der lebhaften, festlich geputzten Menschenmenge betrachtete, mit noch lauterer Stimme auf den blauen Rücken des Kutschers ein:
»Na, wir freuen uns, was? Empfangen den Gesalbten des Herrn? Er hat die anständigen Leute zum Rang von Idioten gesalbt, aber das macht nichts! Wir jauchzen. Da hast du's! Jauchze, Jesaja ...«
»Hör auf!« bat Klim leise und streng.
»Ein Jammer, Bruder! Schau hin: das russische Volk, der Träger Gottes, bewirtet sich mit Konfekt auf Kosten des Zaren. Ergreifend! Wie sie Konfekt lutschen, die Nachkommen des streitbaren Moskauer Volkes, desselben, das der Fahne Bolotnikows, Otrepjews, des Diebs Tuschinski und Kosma Minins folgte und später Michail Romanow zujubelte, das Stepan Rasin und Pugatschow Gefolgschaft leistete und bereit war, Bonaparte auf den Schild zu heben. Ein streitbares Volk! Nur für die Dekabristen und für die Männer des ersten März stritt es nicht!«
Klim sah auf den steinernen Rücken des Kutschers und fragte sich, ob der wohl diese betrunkene Rede höre? Aber der Kutscher wiegte sich sicher auf dem Bock und stieß warnende und tadelnde Rufe aus, wenn Leute über den Fahrdamm liefen.«
»Achtung! He! Achtung! Wohin rennst du, Bruder?«
Zu Hause erwarteten Ljutow Gäste: die Frau, die ihn in der Sommerfrische besucht hatte, und ein schöner, solide gekleideter blonder Herr mit einer Brille und einem kleinen Bärtchen.
»Kraft«, sagte er, während er Samgin überaus liebenswürdig die Hand drückte. Die Frau lächelte gezwungen und nannte den Namen von tausend russischen Frauen:
»Maria Iwanow.«
»Ich glaube, wir sind uns schon begegnet«, erinnerte Klim, aber sie antwortete ihm nicht.
Ljutow wurde mit einem Schlage nüchtern, sein Gesicht verfinsterte sich, und er lud seine Gäste nicht sehr höflich zu Tisch ein. Sie nahmen die Einladung an, worauf Ljutow noch nüchterner wurde. Klim, der zu erraten suchte, wer diese Menschen waren, studierte unauffällig den Blonden. Es war ein sehr wohlerzogener Mann. Von seinem bleichen, kühlen Gesicht verschwand fast niemals ein Lächeln, gleich liebenswürdig für Ljutow, das Dienstmädchen und den Aschenbecher. Beim Sprechen spannte er unter dem heller Schnurrbart seine sehr roten Lippen so einstudiert präzis, daß es schien, als bewegten sich sämtliche Härchen an seinen Schnurrbartspitzen im Takt. Dieses Lächeln hatte etwas Allumfangendes. Er schenkte es leutselig sowohl dem Messer wie dem Salz. Aber Samgin vermutete dahinter Verachtung für alles und alle. Der Mann aß wenig, trank maßvoll und sagte die gewöhnlichsten Dinge, von denen keine Spur im Gedächtnis zurückblieb. Er sagte, auf den Straßen sei eine Menge Menschen, die zahlreichen Flaggen trügen sehr zur Verschönerung der Stadt bei, und bemerkte ferner, daß die Bauern und Bäuerinnen aus den umliegenden Dörfern in Scharen zum Chodynka-Feld zögen. Er genierte anscheinend den Hausherrn sehr. Ljutow beantwortete sein ständiges Lächeln damit, daß er ebenfalls gezwungen und krampfhaft den Mund krümmte, war aber in der Unterhaltung mit ihm kurz angebunden und trocken. Die Frau sagte während des ganzen Mittagsmahl dreimal: »Ich danke Ihnen« und zweimal: »Danke!«. Hätte sie dabei nicht in ihrer sonderbaren Art gelächelt, so würde man gar nicht gemerkt haben, daß auch sie – wie andere Leute – ein Gesicht besaß.
Sobald man mit dem Essen fertig war, sprang Ljutow auf und fragte:
»Nun?«
»Bitte«, sagte der Blonde galant. Sie verließen im Gänsemarsch das Zimmer: voran der Hausherr, hinter ihm der Blonde, lautlos, als gleite sie über Eis hin, folgte die Frau.
»Ich bin gleich zurück«, versprach Ljutow und überließ ihn dem Nachdenken darüber, wie es möglich war, daß Ljutow mit einem Schlage nüchtern werden konnte. Spielte er wirklich nur geschickt den Betrunkenen? Und was veranlaßte ihn eigentlich, mit Revolutionären Umgang zu pflegen?
Ljutow kam nach zwanzig Minuten zurück, und lief im Speisezimmer auf und ab, wobei er die Hände in den Taschen bewegte, aus seinen schiefen Augen Blitze schleuderte und die Lippen krümmte.
»Volkstümler?« fragte Klim.
»So etwas Ähnliches.«
»Und du ... scheinst sie zu unterstützen?«
»Es muß sein. Die Väter opferten für die Kirche, die Kinder – für die Revolution. Ein halsbrecherischer Sprung, aber was soll man machen, Bruder? Das Leben der Rinde des ungenießbaren Brotlaibs, Rußland genannt, kann man folgendermaßen betiteln: ›Geschichte der halsbrecherischen Sprünge der russischen Intelligenz‹. Nur die patentierten Geschichtsschreiber sind ja beruflich verpflichtet, zu beweisen, daß es so etwas wie Kontinuität, Folgerichtigkeit und wie diese Schlagworte sonst heißen, gibt. Denn von was für einer Kontinuität kann bei uns die Rede sein? Man tut einen Sprung oder man erstickt.«
Er blieb mitten im Zimmer stehen, zog mit einer heftigen Bewegung die Hände aus den Taschen, faßte sich an den Kopf und brach in lautes Lachen aus.
»Wir haben uns mit der Atmosphäre vollgepumpt! Der verfluchte Diakon hat recht! Doch laß uns trinken! Ich werde dich mit einem Bordeaux bewirten – das Herz wird dir im Leibe lachen! Dunjascha!«
Er setzte sich unter fortwährendem Händereiben und Lippenbeißen an den Tisch, befahl dem Dienstmädchen, Wein herbeizubringen, rieb das dunkle Barthaar auf den Wangen und begann zu schnattern:
»Ich liebe den Diakon. Er ist klug. Tapfer. Er tut mir leid. Vorgestern mußte er seinen Sohn ins Krankenhaus bringen, und er weiß, aus dem Krankenhaus trägt er ihn nur noch auf den Friedhof. Und dabei liebt er ihn, der Diakon. Ich habe seinen Sohn gesehen. Ein Jüngling von flammender Beredsamkeit. So muß Saint Just gewesen sein.«
Klim hörte ihm zu und fühlte zu seinem grenzenlosen Erstaunen, daß Ljutow ihm heute sympathisch war.
»Vielleicht, weil ich beleidigt bin?« fragte er sich und lächelte bei dem Gedanken. Er fühlte, daß die Kränkung in ihm noch lebendig war, erinnerte sich an den Hof und das achtlose, die Genehmigung hinwerfende: »Können gehen!« des Ochranaagenten.
Dann kam Makarow, müde und finster, setzte sich an den Tisch und leerte gierig mit einem Zug ein Glas Wein.
»Ich habe ein junges Mädchen seziert, ein Dienstmädchen«, erzählte er und starrte dabei auf den Tisch. »Sie ist beim Dekorieren des Hauses aus dem Fenster gestürzt. Ein wunderbarer Bruch der Beckenknochen. In Stücke zerschlagen.«
»Laß die Toten«, sagte Ljutow. Und nach einem Blick aus dem Fenster:
»Gestern sah ich im Traum Odysseus, so wie er in der Vignette zur ersten Aufgabe von Gneditsch's ›Ilias‹ dargestellt ist. Odysseus hat den Sand aufgepflügt und besät ihn mit Salz. Mein Vater, Samgin, war Soldat, hat vor Sebastopol gekämpft, ist in die Franzosen verliebt, liest die ›Ilias‹ und ist voll Lobes: ›So ritterlich schlug man sich im Altertum!‹ Ja ...«
Er blieb mitten im Zimmer stehen, machte eine resignierte Geste mit der Hand und schickte sich an, noch etwas zu sagen, als der Diakon erschien. Er sah komisch aus in einer ärmellosen, für seine Länge viel zu kurzen Jacke und war darüber sehr betreten. Makarow begann, ihn zu necken. Er lächelte wehmütig und sagte mit seiner hallenden Stimme:
»Ich mußte den Kriegsrock der streitbaren Kirche ausziehen. Man wird sich an das weltliche Leben gewöhnen müssen. Bewirte mich mit Tee, Hausherr!«
Nach dem Tee trank man Kognak. Dann setzten der Diakon und Makarow sich ans Damebrett, während Ljutow fortfuhr, ruhelos mit zuckenden Schultern im Zimmer auf und ab zu laufen. Er trat an die Fenster, blickte vorsichtig auf die Straße hinunter und murmelte:
»Sie marschieren. Marschieren immer noch.«
Dann ließ er sich am Tisch nieder, schraubte das Licht der Lampe tiefer und schloß die Augen. Samgin, der fühlte, daß Ljutows Stimmung sich auf ihn übertrug, wollte fortgehen. Aber Ljutow redete ihn aus irgendeinem Grunde sehr zu, über Nacht bei ihm zu bleiben.
»Morgen früh gehen wir dann alle aufs Chodynka-Feld, es ist trotz alledem interessant. Übrigens kann man es sich auch vom Dach aus ansehen. Kostja, wo haben wir das Fernrohr?«
Klim blieb. Man begann, Rotwein zu trinken. Später verschwanden Ljutow und der Diakon unbemerkt, Ljutow übte auf der Gitarre, und Klim, der berauscht war, ging hinauf und legte sich schlafen. Am Morgen weckte ihn Makarow. Er war mit einem Fernrohr bewaffnet.
»Auf der Chodynka ist etwas geschehen, die Massen strömen zurück. Ich gehe aufs Dach. Kommst du mit?«
Samgin hatte nicht ausgeschlafen und keine Lust, auf die Straße zu gehen. Auch auf das Dach stieg er nur ungern. Von dort aus sähen auch unbewaffnete Augen eine graugelbe Nebelwolke über dem Feld. Makarow sah durch das Rohr, gab es Klim weiter und sagte, verschlafen blinzelnd:
»Kaviar.«
In der Tat, das von jener rätselhaften Wolke bedeckte Feld schien mit einer dicken Kaviarschicht bestrichen, in deren Masse, zwischen den feinen, runden Körnchen, die roten und weißen Flecke der Häute durchschimmerten.
»Rote Hemden, wie Wunden«, murmelte Makarow und gähnte mit einem heulenden Laut. »Man hat also gelogen, es ist nichts vorgefallen«, fuhr er nach einer Weile fort. »Diese konzentrierte Dummheit ist ein langweiliger Anblick.«
Er strich sich über das ungekämmte Haar, setzte sich neben den Kamin und sagte:
»Wladimir hat nicht im Haus übernachtet. Er ist soeben erst erschienen. Aber nüchtern ...«
Die ungeheure, bunte Stadt summte und brüllte. Unaufhörlich läuteten Hunderte von Glocken. Trocken und deutlich ratterten die Räder der Equipagen über das ausgebeulte Pflaster. Alle Laute verschmolzen zu einem einzigen, mächtigen Orgelton. Das schwarze Netz der Vögel kreiste geräuschvoll über der Stadt, doch nicht einer unter ihnen flog in der Richtung zum Chodynka-Feld. Dort, weit fort auf dem ungeheuren Feld, unter der schmutzigen Nebelhaube, war die eng zusammengepreßte Kaviarmasse der Menschen noch kompakter geworden. Sie schien nunmehr ein einziger Körper, und nur wenn man die Augen sehr stark anstrengte, konnte man ein kaum merkliches Beben der Kaviarkörnchen wahrnehmen. Zuweilen sah es so aus, als schlüge sie Blasen, die aber rasch wieder in dem zähen Teig versanken. Auch von dort drang Lärm zum Dach hinauf, aber nicht der jubelnde Lärm der Stadt, sondern ein winterliches Geräusch, das an das Heulen des Schneesturms erinnerte. Es schwebte langsam und unaufhörlich heran, ertrank aber rasch im Glockenläuten, Dröhnen und Heulen.
Samgin sah, ohne das Auge vom Messingring des Fernrohrs loszureißen, verzaubert auf das Feld. Die unermeßliche Menge ließ ihn an die Kreuzzüge denken, die ihn in seiner Kindheit geschreckt hatten. An die vieltausendköpfigen Wallfahrten zum wundertätigen Bild der Mutter Gottes von Oran. Durch den Sturzbach des Lärms drang Onkel Chrisanfs Ausruf in sein Gedächtnis:
»Kommet, auf daß wir anbeten und niederfallen!«
Er unterschied, wie die Erde unter der Schwere der Massen wellenförmig schwankte, und wie die Bälle der Köpfe emporhüpften gleich Kaffeebohnen auf einer heißen Röstpfanne. In diesen Zuckungen lag etwas Unheimliches, und der Lärm verwandelte sich allmählich in den klagenden und drohenden Gesang eines ungeheuren Chors.
Man hatte das Gefühl, wenn diese Masse plötzlich in die Stadt flutete, würden die Straßen dem Ansturm dieser dunklen menschlichen Wogen nicht standhalten können, die Menschen würden die Häuser umstürzen, ihre Trümmer zu Staub zerstampfen und die ganze Stadt vom Erdboden wegfegen, wie eine Bürste den Schmutz.
Klim richtete jetzt das Fernrohr auf die unermeßliche Anhäufung der mannigfachsten Gebäude Moskaus. Die Luft über der Stadt war klar. Die goldenen Kreuze der Kirchen, in denen sich die Sonne spiegelte, durchbohrten sie mit spitzen Strahlen, die sie unter den roten und grünen Vierecken der Dächer verstreuten. Die Stadt erinnerte an eine alte, unsaubere und an einigen Stellen zerrissene Decke, die bunt mit Stücken Zitz geflickt ist. In ihren länglichen Rissen wimmelten die kleinen Figuren der Menschen, und es schien, als würde ihre Bewegung immer unruhiger und planloser. Sie begegneten einander, blieben stehen, sammelten sich in kleinen Gruppen und gingen dann alle in einer Richtung weiter oder rannten auseinander wie Erschreckte. In einem Spalt der Stadt tauchte eine blaue Abteilung Berittener auf. Wie Spielzeug aus Gummi hüpften sie zusammen mit ihren Pferden über den Straßendamm. Über ihren Köpfen schaukelten gleich Angelruten die dünnen Schäfte der Lanzen, die Pikenspitzen, die wie Fische aussahen, blitzten in der Luft.
»Im Grunde ist die Stadt wehrlos«, sagte Klim, aber Makarow war nicht mehr auf dem Dach, er war unbemerkt hinuntergestiegen.
Dröhnend galoppierten schwarze Pferde, die vor grüne Wagen gespannt waren, über das graue Steinpflaster des Fahrdamms. Die Messingköpfe der Feuerwehrleute blitzten, und alles dies war sonderbar wie ein Traum. Klim stieg vom Dach hinab und trat in die kühle Stille des Hauses. Makarow saß hinter einer Zeitung am Tisch und las, während er starken Tee schlürfte.
»Nun, wie steht es?« fragte er, ohne die Augen vom Zeitungsblatt zu erheben.
»Ich weiß nicht, aber es scheint, als ob ...«
»Wahrscheinlich eine Schlägerei«, sagte Makarow und schnippte mit den Fingern gegen die Zeitung, »Was für Abgeschmacktheiten die schreiben ...«
Fünf Minuten lang tranken beide schweigend ihren Tee. Klim horchte auf das Scharren und Stampfen auf der Straße, auf die übermütigen und bangen Stimmen, Plötzlich, als habe sich ein unmerklicher, aber starker Wind erhoben, war der ganze Lärm der Straße wie fortgeblasen, und nur das schwere Dröhnen eines Fuhrwerks und Schellengeläute blieb zurück. Makarow stand auf, trat ans Fenster und sagte von dorther laut:
»Da hast du auch die Lösung. Sieh nur!«
Durch die flaggengeschmückte Straße schritt mit festem Hufschlag ein schweres, langmähniges braunes Pferd mit zottigen Beinen. Es schüttelte betrübt seinen großen Kopf und ließ den Stirnschopf tanzen. Am Kummet ging ein breitschultriger, bärtiger Kutscher. Er hatte seinen kahlen Kopf entblößt. Ein Teil der Zügel hing ihm über die Schulter. Er blickte vor sich hin, und alle Leute blieben stehen und nahmen vor ihm ihre Mützen und Hüte ab. Unter der neuen Wagendecke streckte sich ein bis zur Schulter nackter, grau und rot gefärbter Arm hervor und wackelte, als flehe er um ein Almosen. An einem Finger der Hand glänzte ein goldener Ring. Neben dem Arm schaukelte ein rothaariger, zerzauster Zopf. Am Hinterteil des Wagens zuckte in einem staubigen Stiefel ein widernatürlich auf die Seite gedrehter Fuß.
»Sechs Mann«, murmelte Makarow. »Es ist klar, daß es sich um eine Schlägerei handelt.«
Er sagte noch etwas, aber obwohl im Zimmer und auf der Straße Stille herrschte, verstand Klim ihn nicht, beschäftigt, den Wagen mit den Augen zu begleiten und zu verfolgen, wie seine langsame Bewegung die entgegenkommenden Fußgänger zwang, auf dem Trottoir zu erstarren und die Köpfe zu entblößen.
Es folgte noch ein altes, wackeliges Fuhrwerk, beladen mit zerdrückten Menschen. Sie lagen frei, ihre Kleider hingen in Fetzen und zeigten staub- und kotbedeckte Körperteile. Dem Wagen schlössen sich in stetig wachsender Zahl zerlumpte, bettlergleiche Gestalten mit zerzaustem Haar und geschwollenen Gesichtern an. Sie gingen schweigend. Die Fragen der ihnen begegnenden Menschen beantworteten sie wortkarg und widerwillig. Viele lahmten. Ein Mann mit abgerissenem Bart und dem blauen Gesicht eines Erhängten hatte sich den rechten Arm auf die Schulter gelegt, wie der Kutscher die Zügel. Mit der linken Hand stützte er den Arm am Ellenbogen. Er schien etwas zu sagen, denn die Reste seines Bartes hoben und senkten sich. Fast alle diese Verstümmelten hielten sich auf der Schattenseite der Straße, als schämten sie sich oder scheuten die Sonne. Und alle schienen sie amorph und mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt. Klim war darauf gefaßt, daß einige von ihnen beim nächsten Schritt hinfallen und als Schmutzbäche über die Straße rinnen würden. Doch sie fielen nicht, sondern schritten immerfort, und bald sah man deutlich, daß die ihnen entgegenkommenden, nicht zerschlagenen Menschen kehrtmachten und in gleicher Richtung mit ihnen marschierten. Samgin fühlte, daß gerade dieser Umstand auf ihn einen besonders niederschmetternden Eindruck machte.
»Für eine Schlägerei sind es zu viele ...« sagte Makarow mit fremder Stimme. »Ich werde gehen und mich erkundigen ...«
Samgin begleitete ihn. Als sie auf die Straße traten, schritt am Tor vorbei ein schwankender großer Mann mit vortretendem Bauch, roter Weste und bis an den Knien zerrissenen Hosen. In der Hand trug er einen zerknüllten Hut, den er mit zitternden Fingern geraderichtete, wobei er den Kopf senkte. Makarow hielt ihn am Ellenbogen an und fragte:
»Was ist geschehen?«
Der Mann öffnete seinen behaarten Mund, sah Makarow mit trüben Augen an, machte eine abwinkende Bewegung mit der Hand und ging weiter. Aber nachdem er drei Schritte getan hatte, wandte er sich mit einem Ruck um und sagte laut:
»Alle sind schuldig. Alle.«
»Die Antwort eines Verbrechers«, knurrte Makarow und spuckte wie ein Handwerker durch die Zähne.
Nun kamen aufgeregte, mitteilsame und wirre Leute. Sie schrien und heulten, aber es war schwer zu verstehen, was sie sagten. Einige lachten sogar, sie hatten schlaue und glückliche Gesichter.
Nach ihnen erschien ein hügelig beladener grüner Wagen der Feuerwehr. Am Kummet schaukelte ein Glöckchen und läutete fröhlich. Die beiden fuchsigen Pferde lenkte ein Soldat mit rotem Gesicht. Er trug ein blaues Hemd. Sein den Kopf umschließender Messinghelm leuchtete blendend. Das fröhliche Glöckchen und dieser festlich strahlende Messingkopf machten auf Samgin einen sonderbaren Eindruck. Hinter diesem Wagen folgte ein zweiter, ein dritter und dann noch einer, und über jedem erhob sich feierlich ein Messinghaupt.
»Die Trojaner«, murmelte Makarow.
Klim begleitete bestürzt eins dieser Fuhrwerke mit den Augen. Obendrauf lag ein Überzähliger, den man achtlos quer über die ordentlich der Länge nach im Wagen aufgeschichteten Leichen geworfen hatte. Er streckte nackte, ungleiche Arme unter der Segeltuchdecke hervor: der eine war kurz und ragte hölzern, mit strahlenförmig gespreizten Fingern heraus. Der andere war lang und offenbar im Armgelenk gebrochen. Er hing über den Wagenrand herab und schaukelte elastisch. Seine Hand, an der zwei Finger fehlten, glich einer Krebsschere.
»Der Stein ist ein Dummkopf. Das Holz ist ein Dummkopf«, erinnerte Klim sich.
»Ich kann nicht mehr«, sagte er und trat in den Hof zurück. Hinter dem Tor blieb er stehen, nahm seine Brille ab, wischte einen Anflug von Staub aus den Augen und dachte: »Weshalb mußte er hingehen? Er hätte es nicht dürfen ...«
Dann fiel ihm ein verunglückter Witz des Gymnasiasten Iwan Dronow ein, der das Substantivum Arm vom Verbum zerstören ableitete.
Er hörte Makarow, der vor dem Tor stand, erstaunt und fragend ausrufen:
»Halt, wohin wollen Sie?«
Gleich darauf stieß er Marakujew auf den Hof. Marakujew war barhäuptig, sein Haar zerzaust. Quer über sein dunkles Gesicht lief vom Ohr zur Nase eine eingetrocknete, rote Kratzwunde. Marakujew hielt sich unnatürlich steif, blickte Makarow aus trüben, blutunterlaufenen Augen an und fragte heiser und zwischen den Zähnen hindurch:
»Wo waren Sie? Haben Sie gesehen?«
In seinen stieren Augen, in der hölzernen Gestalt lag etwas Schreckliches, Irres. Von seinen Schultern hing ihm eine viel zu weite Jacke herab, deren eine Tasche abgerissen war. Auch sein buntes, baumwollenes Hemd war auf der Brust zerfetzt, die billige Lüsterhose mit grüner Farbe verschmiert. Am furchtbarsten erschien Klim die hölzerne Starrheit Marakujews: er stand so gewaltsam gereckt, als fürchte er, daß sein Körper in Stücke zerbrechen und sich in Staub auflösen würde, sobald er den Kopf beugte oder den Rücken krümmte. Er stand regungslos und fragte immer mit den gleichen Worten:
»Wo waren Sie?«
Makarow führte ihn nicht, sondern trug ihn fast ins Haus, drängte ihn ins Badezimmer, entkleidete ihn rasch bis zum Gürtel und begann, ihn zu waschen. Es machte Mühe, den Nacken Marakujews über das Waschbecken zu beugen. Der lustige Student stieß Makarow mit der Schulter zur Seite, weigerte sich eigensinnig, den Rücken krumm zu machen, hielt ihn um so steifer und brüllte:
»Warten Sie, ich tue es selbst! Lassen Sie!«
Es sah so aus, als sei er wasserscheu wie ein von einem tollen Hund Gebissener.
»Such' das Dienstmädchen und bitte sie um Wäsche«, kommandierte Makarow. Klim ging gehorsam hinaus. Er war froh, den plattgedrückten Menschen nicht sehen zu müssen. Auf der Suche nach dem Dienstmädchen, die ihn von einem Zimmer ins andere führte, entdeckte er Ljutow, der, barfüßig, im Nachthemd am Fenster stand und sich den Kopf hielt. Beim Klang der Schritte wandte er sich um, zwinkerte verständnislos, deutete mit einer dummen Geste seiner beiden Hände auf die Straße und fragte:
»Was bedeutet das?«
»Ein Unglück ist geschehen«, antwortete Klim. Das Wort Unglück trat ihm nicht sofort auf die Zunge und klang unsicher. Er fand, daß er einen anderen Ausdruck hätte wählen müssen, aber in seinem Kopf sauste und zischte es, und die Worte wollten ihm nicht über die Lippen.
Als er und Ljutow ins Eßzimmer traten, lag Marakujew bereits lang ausgestreckt und nackt auf dem Sofa. Makarow hatte die Ärmel geschürzt und massierte ihm krächzend Brust, Bauch und Hüften. Marakujew wandte ängstlich den Hals von einer Seite auf die andere, rollte seinen nassen Kopf auf dem ledernen Polster hin und her und sagte hüstelnd, zusammenhanglos und mit leiser Stimme wie ein Fieberkranker:
»Sie haben einander zerquetscht. Ein entsetzlicher Anblick. Haben Sie gesehen? Die Menschenmassen verlaufen sich nach allen Richtungen über das Feld und lassen hinter sich Tote zurück. Haben Sie bemerkt: die Feuerwehr führte Glocken mit, sie fährt und läutet! Ich sage ihnen; ›Man muß sie festbinden, es ist nicht schön!‹ Man antwortet: ›Es geht nicht.‹ Idioten mit Glocken. Überhaupt will ich euch etwas sagen ...«
Er verstummte, bedeckte die Augen und fuhr fort: »Man hat den Eindruck, daß sie in einem fort die Menschen zerquetschen, auf ihnen herumtrampeln und dann weggehen, ohne sich nach ihnen umzuwenden. Sie gehen einfach weg, es ist erstaunlich! Schreiten über sie hinweg wie über Steine. Über mich ...«
Marakujew hob den Kopf, richtete sich dann vorsichtig auf, wobei er sich mit den Ellenbogen aufs Sofa stützte und verzog sein Gesicht zu einer ganz unglaublichen, grinsenden Grimasse, die seinen Mund zu einer Sichel umbog. Sein zerkratztes Gesicht verschwamm, und die Ohren rückten dicht an den Nacken, als er sagte: »Über mich hinweg, verstehen Sie? Nein, das muß man erlebt haben. Der Mensch liegt auf der Erde, und man stellt auf ihn die Beine drauf, wie auf einen Mooshügel! Quetscht ... was? Einen lebendigen Menschen. Unvorstellbar.«
»Ziehen Sie sich an«, sagte Makarow, der ihn aufmerksam musterte, und reichte ihm die Wäsche hin.
Marakujew steckte den Kopf durch die Hemdöffnung und sah daraus hervor wie aus einer Schneegrube, während er fortfuhr: »Leichen – zu Hunderten, Manche liegen am Boden wie Gekreuzigte. Einer Frau haben sie den Kopf in ein Loch hineingetreten.«
»Warum sind Sie hingegangen?« fragte Klim streng. Er hatte plötzlich erraten, weshalb Marakujew als Handwerker verkleidet auf dem Chodynka-Feld gewesen war.
»Ich wollte hören ... erfahren ...« antwortete unter fortwährendem Husten der Student. Er kam sichtlich zu sich. »Staub habe ich geschluckt ...«
Er stellte sich auf die Beine, sah unsicher auf den Fußboden und verbog von neuem seinen Mund zu einer Sichel. Makarow führte ihn zum Tisch und setzte ihn hin. Ljutow goß ein Glas halbvoll mit Wein und sagte:
»Trinken Sie!«
Dies war sein erstes Wort. Bis dahin hatte er schweigend, die Arme auf den Tisch gestützt und die Schläfen zwischen seine Hände gepreßt, dagesessen und Marakujew mit einem Blinzeln – wie gegen grelles Licht – angeschaut.
Marakujew nahm das Glas, sah es an, stellte es wieder auf den Tisch und sagte:
»Die Frau lag neben einem Balken, ihr Kopf ragte über das Ende des Balkens heraus, und man stellte sich mit den Füßen auf ihren Kopf. Und stampfte ihn in den Boden. Geben Sie mir Tee ...«
Er sprach immer weniger gehemmt und nicht mehr so heiser.
»Ich kam gegen Mitternacht dort an und wurde in die Massen hineingezogen. Einige standen schon ohnmächtig im Gewühl. Ja, als ob sie tot wären. Ein Gedränge, wissen Sie, eine drückende Enge. Und die Luft wie aus Blei, atmen unmöglich. Am Morgen waren einige irrsinnig geworden, glaube ich. Ein Schreien. Ganz grauenhaft. Einer stand neben mir und wollte mich immerfort beißen. Man schlug einander mit den Nacken gegen die Schädel, mit den Schädeln gegen die Nacken. Mit den Knien. Trat einander auf die Zehen. Das half natürlich nichts, o nein! Ich weiß es. Ich selbst habe geschlagen«, sagte er mit erstauntem Blinzeln und tippte sich vor die Brust, »Wo sollte ich denn hin? Ich war ringsherum mit Menschen beklebt. Ich schlug ...«
Der Diakon trat ins Zimmer. Er hatte sich soeben gewaschen. Sein Bart war noch feucht. Er wollte etwas fragen. Ljutow deutete mit den Augen auf Marakujew und bedeutete ihm zischend, er solle schweigen. Doch Marakujew beugte sich stumm über den Tisch und rührte in seinem Teeglas. Klim Samgin dachte laut:
»Wie furchtbar muß dem Zaren zumute sein.«
»Hast auch jemand zum Bedauern gefunden«, meinte Ljutow ironisch. Die anderen drei schenkten Klims Worten keine Bedeutung. Makarow erzählte dem Diakon mit finsterem Gesicht und leiser Stimme von der Katastrophe.
»Menschlich tut er mir leid«, fuhr Klim, zu Ljutow gewandt, fort. »Stell dir vor, auf deiner Hochzeit ereignete sich ein Unglück ...«
Das war noch taktloser. Klim, der fühlte, daß er bis an die Ohrenspitzen rot wurde, schalt sich in Gedanken und verstummte, gespannt auf das, was Ljutow erwidern würde. Aber statt dessen sprach Marakujew:
»Wenige sind empört!« sagte er und schüttelte heftig den Kopf. »Ich habe keine Empörten gesehen. Nein. Aber so ein sonderbarer Mann mit einer weißen Mütze holte Freiwillige zusammen, um Gräber zu schaufeln. Er forderte auch mich auf. Er war sehr geschäftig. Er forderte einen in einem Ton auf, als habe er schon lange auf eine Gelegenheit gewartet, ein Grab zu schaufeln. Und ein großes – für viele.«
Er trank seinen Tee aus, aß und nahm einen Kognak. Seine kastanienbraunen Locken waren trocken geworden und hatten sich gelockert. Die trüben Augen bekamen einen helleren Glanz.
»Eine ungeheuerliche Kraft legten einige an den Tag«, ging er seinen Erinnerungen nach, während er in sein leeres Glas starrte. »Es ist doch nicht möglich, Makarow, mit der Hand, mit den Fingern, die Haut von einem Schädel herunterzureißen? Nicht die Haare, sondern die Haut?«
»Nein«, sagte Makarow finster und überzeugt.
»Aber einer hat sie heruntergerissen. Er hat sich mit den Nägeln in den Nacken eines Dicken neben mir gekrallt und ein Stück Haut herausgerissen. Der Knochen wurde sichtbar. Er ist es auch gewesen, der als Erster mich geschlagen hat ...« »Sie müssen schlafen«, sagte Makarow. »Kommen Sie mit ...«
»Eine unglaubliche Kraft haben sie an den Tag gelegt«, murmelte der Student, während er gehorsam Makarow folgte.
»Wie hat sich das alles abgespielt?« fragte der Diakon am Fenster.
Man antwortete ihm nicht. Klim fragte sich, wie wohl der Zar handeln werde, und fühlte, daß er zum erstenmal an den Zaren wie an ein reales Wesen dachte.
»Was werden wir denn jetzt tun?« fragte wieder der Diakon, wobei er das Fürwort scharf betonte.
»Gräber schaufeln«, knurrte Ljutow.
Der Diakon sah ihn an, darauf Klim, preßte seinen dreifachen Bart in der Faust zusammen und sagte:
»Herr, der du ein eifriger Gott, ein Gott der Rache bist, räche dich an deinen Widersachern und rotte aus, die sich gegen dich erheben ...«
Klim blickte ihn mit Befremden an. Wollte und konnte der Diakon wirklich das Geschehene rechtfertigen?
Aber der fuhr kopfschüttelnd fort:
»Grausame, satanische Worte hat der Prophet Nahum gesagt. Blickt euch um, Jünglinge, wohin ihr wollt: Strafe und Rache sind bei uns vorzüglich ausgebildet. Die Belohnungen? Von den Belohnungen wird nichts gesagt. Dante, Milton und alle die anderen bis zu unserem eigenen Volk selbst, haben die Hölle eingehend und in den düstersten Farben geschildert, das Paradies aber? Über das Paradies ist uns nichts gesagt, als daß dort die Engel dem Zebaoth Hosianna singen.«
Er schlug jählings mit der Faust auf den Tisch, so daß das gläserne Beben des Geschirrs das Zimmer erfüllte, rollte wild die Augen und schrie mit betrunkener Stimme:
»Wofür denn Hosianna? Ich frage: Wofür Hosianna? Das ist die Frage, Jünglinge: Wofür Hosianna? Und für wen Anathema, wenn dem Erschaffer der Hölle Hosianna gejubelt wird?«
Ljutow winkte ärgerlich ab.
»Hör auf!« bat er.
»Nein, warte: wir haben zweierlei Arten von Kritik. Die eine – aus Sehnsucht nach Wahrheit, die andere aus Ehrgeiz. Christus ist aus der Sehnsucht nach Wahrheit geboren, Zebaoth aber? Wie, wenn im Garten Gethsemane nicht Zebaoth Christus den Leidenskelch gezeigt hat, sondern Satan? Vielleicht war es auch kein Kelch, sondern eine höhnende Faust? Jünglinge, dies zu entscheiden, steht euch zu ...«
Makarow kam sehr rasch zurück und sagte zu Klim:
»Er sagt, er hat dort Onkel Chrisanf und diesen ... Diomidow gesehen. Du verstehst?«
Makarow schlug sich schallend mit der Faust auf die Handfläche. Sein Gesicht wurde bleich.
»Man muß in Erfahrung bringen ... Hinfahren ...«
»Zu Lida«, ergänzte Klim.
»Fahren wir zusammen. Wladimir, hol' den Arzt. Marakujew hat blutigen Auswurf.«
Im Vorzimmer teilte er aus irgendeinem Grunde noch mit:
»Sein Name ist Pjotr.«
Die Straßen waren belebt und laut. Der Lärm stieg, als sie auf die Twerskaja hinaustraten. Ohne Ende zog die Menge abgerissener, zerzauster und schmutziger Menschen vorüber. Ein Murren, nicht laut, aber beharrlich, stand in der Luft, zerrissen von den hysterischen Stimmen der Frauen. Die Menschen marschierten der Sonne entgegen und senkten die Köpfe, als fühlten sie sich schuldig. Aber oft, wenn einer von ihnen aufblickte, bemerkte Samgin in seinem erschöpften Gesicht den Ausdruck stiller Freude.
Samgin war abgestumpft von der Fülle der Eindrücke. Alle diese kummervollen, erschrockenen, von Neugier erhellten oder einfach schwachsinnigen Gesichter, die auf der reich mit dreifarbigen Fahnen geschmückten Straße unaufhörlich vorüberzogen, vermochten ihn nicht mehr zu erregen. Diese Eindrücke erlaubten Klim, sich seines geistigen Gewichts und seiner Realität voll bewußt zu werden. Über die Ursache der Katastrophe dachte er nicht weiter nach. Im Grunde ging ja die Ursache auch einleuchtend aus Marakujews Bericht hervor: die Leute hatten sich auf das »Konfekt« gestürzt und einander dabei erdrückt. Diese Erklärung setzte Klim in die Lage, von der Höhe seiner Equipage gleichmütig und verachtungsvoll auf sie herabzublicken.
Makarow saß neben ihm. Er hatte den Fuß auf das Trittbrett der Droschke gesetzt, als mache er sich bereit, auf den Fahrdamm zu springen. Er knurrte:
»Weiß der Teufel, wie diese idiotischen Flaggen einem in die Augen stechen!«
»Wahrscheinlich wird der Zar die Familien der Getöteten großherzig entschädigen«, mutmaßte Klim. Makarow bat den Kutscher, rascher zuzufahren, und erinnerte Klim daran, daß auch bei der Hochzeit der Marie Antoinette ein Unglück passiert sei.
»Er bleibt sich treu«, dachte Klim. »Selbst hier steht bei ihm an erster Stelle die Frau, als hätte es einen Ludwig gar nicht gegeben.«
Onkel Chrisanfs Wohnung war zugeschlossen. Auch an der Küchentür hing ein Schloß. Makarow prüfte es, nahm die Mütze ab und wischte sich die nasse Stirn. Er faßte augenscheinlich die zugesperrte Wohnung als ein unheilverkündendes Zeichen auf. Als sie aus dem dunklen Hausflur auf den Hof traten, sah Klim, daß Makarows Gesicht eingefallen und bleich war.
»Wir müssen uns erkundigen, wohin die ... Verwundeten gebracht werden. Wir müssen die Krankenhäuser absuchen. Gehen wir.«
»Du glaubst ...«
Aber Makarow ließ Klim nicht ausreden.
»Gehen wir«, sagte er grob.
Bis zum Abend hatten sie bei einem Dutzend Krankenhäuser nachgeforscht und waren zwanzigmal zur eisernen Faust des Schlosses an der Küchentür Onkel Chrisanfs zurückgekehrt. Es war schon dunkel, als Klim leise vorschlug, auf den Kirchhof hinauszufahren.
»Unsinn«, sagte Makarow scharf. »Schweig du nur.«
Und eine Minute später fügte er empört hinzu;
»Das ist nicht möglich.«
Seine Backenknochen hatten sich auf völlig unnatürliche Weise zugespitzt. Er bewegte die Kiefer, als knirsche er mit den Zähnen, drehte fortwährend den Kopf hin und her und verfolgte die Hast der verstörten Menschen. Die Leute wurden immer stiller, sprachen übellauniger, und der Abend ließ sie erblassen.
Makarows Stimmung, aus der die Sorge um Lida sprach, wirkte auf Klim niederdrückend Er war physisch erschöpft und fühlte sich nach dem Anblick von Hunderten zerschlagener und abgerissener Menschen vergiftet und abgestumpft.
Sie gingen gerade zu Fuß, als aus einer Nebengasse eine Droschke herausfuhr. Im Wagen saß Warwara in völlig zerzaustem Zustand und hielt Hut und Schirm auf den Knien.
»Sie haben meinen Stiefvater erdrückt«, rief sie aus, während sie dem Kutscher einen Stoß in den Rücken gab. Klim hatte den Eindruck, als ob sie es mit Stolz rief.
»Wo ist Lida?« fragte Makarow, noch ehe Klim es tun konnte. Das Mädchen sprang auf das Trottoir, steckte dem Kutscher mechanisch, aber dennoch mit einer schönen Geste Geld in die Hand und ging auf ihr Haus zu. Es lag jetzt nichts Schönes mehr in der Art, wie sie in der einen Hand den Sonnenschirm, in der anderen den Hut schwenkte und hysterisch laut erzählte:
»Er war unkenntlich. Ich fand ihn an den Stiefeln heraus und an dem Ring, wissen Sie? Mit dem Karneolstein. Grauenvoll. Das Gesicht verschwunden.«
Ihr Gesicht war verweint, das Kinn zitterte, aber Klim schien, daß ihre grünlichen Augen wütend funkelten.
»Wo ist Lida?« wiederholte Makarow hartnäckig und kam Klim zum zweitenmal zuvor.
»Sie sucht Diomidow. Ein Schauspieler hat ihn in der Nähe des Alexander-Bahnhofs gesehen und erzählt, er, Diomidow, habe den Verstand verloren ...«
Warwaras laute Stimme sammelte eine Schar neugieriger, festlich gekleideter Menschen um sie. Ein Herr mit Stöckchen und Strohhut drängte Samgin zur Seite, blickte dem jungen Mädchen ins Gesicht und fragte:
»Sind es wirklich zehntausend? Und viele Verrückte?«
Er nahm den Hut ab und rief fast mit Begeisterung:
»Welch ein außergewöhnliches Unglück!«
Klim blickte sich um, befremdet, daß Makarow diesen Idioten nicht fortjagte. Aber Makarow war verschwunden.
Bei sich in ihrem Zimmer verstreute Warwara mit schroffen Gesten den Schirm, den Hut, ein nasses Taschentuch und ihr Portemonnaie über Tisch und Bett und redete dazu in abgerissenen Sätzen:
»Eine Backe ist zerfetzt, die Zunge hängt aus der Wunde heraus. Ich sah nicht weniger als dreihundert Leichen, Mehr. Was soll das nun bedeuten, Samgin? Sie konnten doch nicht sich selbst ...«
Sie schritt rasch und leichtfüßig durchs Zimmer, als würde sie vom Wind getragen, trocknete ihr Gesicht mit einem nassen Handtuch und suchte immerfort etwas, indem sie bald Kämme, bald Bürsten vom Toilettentisch nahm und sie sogleich wieder hinwarf. Sie leckte sich die Lippen, biß darauf.
»Zu trinken, Samgin! Ich habe entsetzlichen Durst ...«
Ihre Pupillen waren geweitet und trübe. Die geschwollenen Lider, die überanstrengt zwinkerten, wurden immer röter. Sie weinte, zerriß ihr tränenfeuchtes Taschentuch und schrie:
»Er stand mir näher als die Mutter ... so komisch war er, so lieb. Und seine Liebe zum Volk, wie war sie gut ... Auf dem Friedhof erzählt man sich, die Studenten hätten Löcher gegraben, um das Volk gegen den Zaren aufzuhetzen. O mein Gott!«
Samgin war ratlos. Er verstand es noch nicht, weinende Mädchen zu trösten und fand, daß Warwaras Tränen zu malerisch waren, um aufrichtig zu sein. Aber sie beruhigte sich auch von selbst, sobald die gewaltige Anfimowna gekommen war und liebevoll, aber geschäftig zu berichten begann.
»Man hat ihn in die Kapelle überführt. Ihn nach Hause zu nehmen, erlauben sie nicht. Sie haben sehr darum gebeten, Chrisanf Wassiljewitsch nicht nach Hause zu schaffen. ›Urteilen Sie doch selbst‹, haben sie mir gesagt, ›man kann doch keine Beerdigung machen, jetzt, wo die Feierlichkeiten sind‹.«
Mit kummervoller Miene sagte die Köchin:
»Und wahrhaftig, Warja, was für einen Zweck hat es, den Zaren zu ärgern? Gott mit ihnen! Sie haben gesündigt, sie werden es auch verantworten!«
Warwara nickte schweigend, bat, Tee zu bringen, verschwand in ihr Zimmer und erschien einige Minuten später in einem schwarzen Kleid, gekämmt und mit einem traurigen, aber gefaßten Gesicht.
Beim Tee warf Klim einen Blick auf die Uhr und fragte beunruhigt:
»Was meinen Sie, wird Lida diesen Diomidow finden?«
»Woher soll ich es wissen?« fragte sie trocken und erklärte im prophetischen Ton eines Menschen, der über große Lebenserfahrung verfügt:
»Ich billige ihre Neigung für ihn nicht. Sie kann Liebe nicht von Mitleid unterscheiden, und ihrer harrt ein furchtbarer Irrtum. Diomidow weckt Erstaunen, aber kann man denn so einen lieben? Frauen lieben Starke und Kühne, diese lieben sie aufrichtig und lange. Sie lieben natürlich auch Sonderlinge. Ein gelehrter Deutscher hat einmal gesagt: ›Um bemerkt zu werden, muß man auf Grillen verfallen‹.«
Als habe sie den Tod ihres Stiefvaters ganz vergessen, redete sie fünf Minuten lang kritisch und anzüglich über Lida, und Klim begriff, daß sie die Freundin nicht liebte. Es setzte ihn in Erstaunen, wie gut sie es bis zu diesem Augenblick verstanden hatte, ihre Abneigung gegen Lida zu verbergen, und dieses Staunen hob das grünäugige Mädchen ein wenig in seinen Augen. Dann erinnerte sie sich, daß sie von ihrem Stiefvater sprechen mußte, und bemerkte, wenn auch Menschen seines Schlages sich überlebt hätten, so seien sie doch von eigentümlichem Reiz.
Klim fühlte sich immer stärker beunruhigt und unbehaglich. Er verstand, daß er überhaupt Lida gegenüber anständiger und taktischer gehandelt haben würde, wenn er die Straßen nach ihr abgesucht hätte, statt hier zu sitzen und Tee zu trinken. Aber jetzt wäre es auch unschicklich gewesen, fortzugehen.
Es war schon ganz finster, als Lida ins Zimmer stürzte, hinter ihr Makarow, der am Arm Diomidow hereinführte. Samgin schien, daß alles im Zimmer erbebte, und die Zimmerdecke sich senkte. Diomidow hinkte. Seine linke Hand war in Makarows Mütze gewickelt und mit einem Fetzen irgendeines Halsbesatzes verbunden. Keuchend, mit fremder Stimme, sagte er:
»Ich wußte es ja, ich wollte nicht...«
Sein lichtes Haar hing ihm, zum Wollklumpen geballt, herab. Das eine Auge war hinter einer dunklen Geschwulst verschwunden, das andere, weit geöffnet und trübe, glotzte schreckenerregend. Er war vom Kopf bis zu den Füßen zerlumpt. Ein Hosenbein war über die ganze Fläche aufgerissen, im Loch zitterte das nackte Knie, und dieses Zittern des runden, von schmutziger Haut überzogenen Knochens war widerwärtig.
Makarow setzte ihn sorglich auf den Stuhl an der Tür, den gewohnten Platz Diomidows in diesem Zimmer. Der Requisitenmacher stemmte sein zuckendes Bein gegen den Fußboden, schüttelte mit der Hand den Staub aus dem Haar und bellte heiser:
»Ich sagte, man muß die Massen spalten, aufteilen, damit sie einander nicht zerdrücken. O mein Gott!«
»Nun, was soll jetzt geschehen?« fragte Makarow Lida in scharfem Ton. »Wir brauchen warmes Wasser, Wäsche. Man hätte ihn ins Krankenhaus bringen sollen, aber nicht hierher ...«
»Schweigen Sie! Oder – gehen Sie hinaus«, schrie Lida und lief in die Küche. Ihr böses Schreien ließ Warwara im Ton eines epileptischen Bauernweibes aufheulen:
»Man muß sie richten, verfluchen, strafen!«
Sie starrte auf Diomidow, griff sich an den Kopf, wiegte sich auf ihrem Stuhl und stampfte mit den Füßen. Auch Diomidow glotzte sie an und schrie:
»Jedem sein Raum! Wagt es nicht! Keinerlei Köder! Kein Konfekt! Keinen Schnaps!«
Sein Bein begann von neuem zu hüpfen, es trommelte gegen den Boden, und das Knie sprang aus dem Riß hervor. Ein erstickender Kotgeruch ging von ihm aus. Makarow stützte ihn an der Schulter und sagte mit lauter, finsterer Stimme zu Warwara:
»Geben Sie Wäsche her, Handtücher ... Und lassen Sie das Schreien! Man wird sie schon richten, beunruhigen Sie sich nicht.«
»Jeder für sich!« stieß Diomidow schreiend hervor. Aus seinen Augen liefen in zwei ununterbrochenen Bächen die Tränen.
Lida stürzte ins Zimmer, stieß Makarow zurück, stellte Diomidow mit leichter Hand auf die Füße und führte ihn in die Küche.
»Wird sie ihn wirklich selbst waschen?« fragte Klim. Er verzog angeekelt sein Gesicht und schüttelte sich.
Warwara warf heftig den Kopf zurück, so daß ihre üppigen roten Haare ihre ganze Schulter zudeckten und ging rasch in das Zimmer ihres Stiefvaters. Samgin, der ihr mit den Blicken folgte, fand, daß der Moment zum Auflösen des Haares schlecht gewählt war. Sie hätte es früher tun müssen. Makarow öffnete die Fenster und murmelte:
»Ich fand sie auf der Chaussee. Dieser Kerl steht da, brüllt und predigt: ›Auseinanderjagen! Zerstreuen!‹ Während Lida ihm zuredet, mitzukommen. ›Ich hasse alle die Deinen‹, brüllt er ...«
In der Stadt ächzte und heulte es, als gerieten in einem ungeheuren Ofen feuchte Holzscheite heftig in Brand.
»Ich bin neugierig, ob die Illumination stattfinden wird«, sagte Klim.
»Natürlich wird sie abgesagt, was glaubst du denn?« bemerkte Makarow unwillig.
»Weshalb denn?« wandte Klim ein. »Es lenkt doch ab. Es wäre eine Dummheit, wenn sie sie absagten.«
Makarow setzte sich auf die Fensterbank, zupfte am Schnurrbart und schwieg.
»Hat Diomidow den Verstand verloren?« fragte Klim, nicht ohne Hoffnung auf eine bejahende Antwort. Makarow, der erst nach einer Weile antwortete, enttäuschte ihn:
»Schwerlich. Mir scheint, er gehört zu jener Sorte Menschen, die ihr ganzes Leben an der Schwelle des Wahnsinns zubringen, ohne sie zu überschreiten.«
In der Tür zeigte sich Lida. Es sah so aus, als sei sie über eine Schwelle gestolpert, die nicht da war. Mit der einen Hand griff sie nach dem Türpfosten, mit der anderen bedeckte sie die Augen.
»Ich kann nicht«, sagte sie und wankte dabei, als ob sie einen Platz zum Hinfallen suche. Die Ärmel ihrer Bluse waren bis zu den Ellenbogen umgeschlagen. Vom nassen Rock tropfte Wasser auf den Fußboden.
»Ich kann nicht«, wiederholte sie in sehr seltsamem Ton, schuldbewußt und mit offenkundigem Staunen, Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.
»Geht ihr hin und wascht ihn«, bat sie.
»Gehen wir. Du kannst mir helfen«, sagte Makarow zu Klim.
In der Küche, auf dem Fußboden, saß vor einer großen Waschschüssel Diomidow. Er war nackt, drückte den linken Arm an die Brust und stützte ihn mit dem rechten. Aus seinem nassen Haar rann das Wasser, und es schien, als ob er schmelze und sich auflöse. Seine sehr weiße Haut war mit Kot besudelt, mit blauen Flecken bedeckt und von Striemen zerrissen. Mit einer unsicheren Bewegung seiner rechten Hand schöpfte er Wasser aus der Schüssel und sprengte es sich ins Gesicht und auf das geschwollene Auge. Das Wasser rann die Brust hinunter, ohne die dunklen Flecke fortzuwaschen.
»Jedem sein Raum«, stammelte er. »Weg voneinander. Ich bin kein Spielzeug ...«
»Isaak«, fiel Klim Samgin nicht ganz am rechten Platz ein. Aber er verbesserte sich sofort: »Schlachtopfer.«
Die Köchin Anfimowna stand am Herd und sah zu, wie das Wasser aus dem Hahn mit schnaubendem Geräusch in den Kessel spritzte.
»Ganz wirr geworden ist der Bengel«, sagte sie mißbilligend und warf scheele Blicke zu Diomidow hin. »Von einfacher Herkunft und so verzärtelt. Mit Launen. Nimmt da einen Krug mit Wasser und gießt ihn Lidotschka ins Gesicht ...«
Samgin vernahm ein seltsames Geräusch. Als knirsche Makarow mit den Zähnen. Er hatte seine Litewka abgelegt und begann vorsichtig und gewandt, wie eine Mutter ihr Kind, Diomidow abzuwaschen, wobei er vor ihm niederkniete.
Und plötzlich fühlte Klim sich wie verbrannt von Empörung: Wie, diesen verpfuschten Körper würde Lida umarmen, hatte sie vielleicht schon umarmt? Dieser Gedanke jagte ihn augenblicklich aus der Küche hinaus. Er ging eilig in Warwaras Zimmer, entschlossen, Lida einige vernichtende Worte zu sagen.
Lida saß auf dem Bett. Sie hatte mit der einen Hand Warwara umschlungen und hielt ihr ein geschliffenes Flakon unter die Nase. Das Lampenlicht ließ das Flakon in Regenbogenfarben schillern.
»Was gibt es?« fragte sie.
»Er wäscht ihn«, antwortete Klim trocken.
»Hat er Schmerzen?«
»Anscheinend nicht.«
»Warja«, sagte Lida, »ich verstehe mich nicht aufs Trösten. Und überhaupt, brauchst du denn Trost? Ich weiß nicht...«
»Gehen Sie hinaus, Samgin«, schrie Warwara und ließ sich mit der Hüfte aufs Bett fallen.
Klim ging fort, ohne Lida ein Wort gesagt zu haben.
»Sie hat ein so gequältes Gesicht. Vielleicht ist sie jetzt – geheilt.«
In Kübeln prasselten und qualmten die Flammen der Fettlampen. Samgin fand die Illumination dürftig und selbst im Licht etwas Zauderndes, den Lärm der Stadt aber wenig festlich, vielmehr zornig und übelgelaunt. Auf dem Twerski Boulevard bildeten sich kleine Menschenansammlungen. In der einen wurde erbittert gestritten, ob man das Feuerwerk brennen lassen werde oder nicht. Jemand beteuerte hitzig:
»Man wird es.«
Ein langer Mensch mit Hut sagte überzeugt und streng:
»Seine Majestät, der Kaiser, wird keine Scherze zulassen.«
Eine dritte Stimme versuchte die Gegensätze auszusöhnen:
»Das Feuerwerk ist auf morgen verschoben worden.«
»Seine Majestät der Kaiser ...«
Von irgendwoher, hinter den Bäumen hervor, rief jemand klingend:
»Der tanzt jetzt gerade auf dem Adelsball, Seine Majestät der Kaiser!«
Alles blickte in die Richtung, aus der die Worte kamen, und zwei Männer gingen in so entschlossener Haltung darauf zu, daß Klim es vorzog, sich zu entfernen.
»Wenn es wahr ist, daß der Zar zum Ball gefahren ist, dann bedeutet das, daß er Charakter hat, ein kühner Mensch ist, Diomidow hat recht.«
Er schlug den Weg zum Strastnaja-Platz ein und bewegte sich inmitten eines Chaos von Stimmen. Mechanisch fing er einzelne Sätze, auf. Mit verwegener Stimme rief jemand aus:
»Ach, denke ich mir, du willst doch nicht umkommen!«
»Wahrscheinlich ist er auf einen Menschen draufgetreten, vielleicht auf Marakujew«, mutmaßte er. Aber im übrigen arbeiteten seine Gedanken schlecht, wie es immer zu sein pflegt, wenn man mit Eindrücken überlastet ist und ihr Gewicht schwer auf das Denken drückt. Überdies war er hungrig und durstig.
Am Puschkin-Denkmal hielt jemand vor einem Menschenhäufchen eine Ansprache.
»Denkt nur über unsere ganze Ordnung nach. Wie werden wir regiert?«
Samgin sah sich den Redner an und erkannte am krausen Bart und am Lächeln im zottigen Gesicht seinen redseligen Pritschennachbar in Jakow Platonows Keller.
»Der Stein ist ein Dummkopf...«
Auf dem Platz holte ihn Pojarkow ein, der wie ein Kranich einherstelzte. Samgin rief ihn zögernd an:
»Wohin?«
Pojarkow paßte sich seinem Schritt an und berichtete mit matter und leiser Stimme:
»Seit dem Morgen bin ich unterwegs, mache die Augen auf, höre. Ich versuchte, aufzuklären. Aber es dringt gar nicht bis zu ihrem Bewußtsein. Dabei ist es so einfach: man braucht bloß mit der ganzen Masse vom Feld geradewegs zum Kreml zu rücken und fertig! In Brüssel soll das Publikum sich vom Theater aus, nach der Aufführung des ›Propheten‹, in Marsch gesetzt und die Konstitution erzwungen haben. Man hat sie gegeben.«
Er blieb vor dem Eingang eines kleinen Restaurants stehen und schlug vor:
»Gehen wir in diesen ›Hafen kummervoller Herzen‹. Marakujew und ich sind häufig hier.«
Als Klim ihm von Marakujew erzählte, seufzte er:
»Es konnte schlimmer kommen. Man sagt, fünftausend sollen umgekommen sein. Eine wahre Schlacht.«
Pojarkow sprach mit dumpfer Stimme. Sein Gesicht zog sich unnatürlich in die Länge, und Samgin entdeckte heute zum erstenmal unter der langen, griesgrämigen Nase Pojarkows einen rötlichen Schnurrbart.
»Es ist ganz überflüssig, daß er sich das Kinn rasiert«, dachte Klim.
»Dieser Tage sagte mir ein Kaufmann, dem ich Unterricht erteile: ›Ich möchte gern BlinyBuchweizenpfannkuchen. Russisches Nationalgericht, beliebte Fastnachtspeise. D. Ü. essen, aber die Bekannten wollen nicht sterben.‹ Ich frage: ›Warum wollen Sie denn, daß sie sterben?‹ ›Weil‹, entgegnet er, ›die Bliny auf Totenfeiern besonders gut zu sein pflegen.‹ Wahrscheinlich wird er jetzt Bliny essen können...«
Klim aß kaltes Fleisch und trank Bier dazu. Ohne große Aufmerksamkeit folgte er Pojarkows Worten, die vom Wirtshauslärm übertönt wurden, aus dem er einzelne Sätze auffing. Ein dicker, bärtiger Mann im schwarzen Anzug schrie:
»Man darf das Volksunglück nicht dazu mißbrauchen, um heimlich falsches Geld in Umlauf zu bringen ...«
»Gut gesagt«, lobte Pojarkow. »Man spricht bei uns gut und lebt schlecht. Unlängst las ich bei Tatjana Passek: ›Friede den Gebeinen derer, die im Leben nichts taten, weder Gutes noch Schlechtes‹ Wie gefällt Ihnen das?«
»Sonderbar«, antwortete Klim mit vollem Munde.
Pojarkow schwieg, trank sein Bier und sagte darauf seufzend:
»Es liegt eine stille Verzweiflung darin...«
An ihrem Tisch erschien Marakujew. Seine Backe war mit einem weißen Tuch verbunden. Unter seinem krausen Haar sahen komisch ein Knoten und zwei weiße Ohren hervor.
»Ich war sicher, dich hier zu treffen«, sagte er zu Pojarkow und setzte sich an den Tisch.
Beide beugten sich dicht zueinander und flüsterten.
»Störe ich?« fragte Klim.
Pojarkow sah ihn von der Seite an und murmelte:
»Ja, wobei könnten Sie wohl stören?«
Seufzend fuhr er fort:
»Ich sagte ihm also, die Marxisten wollen Flugblätter herausgeben, während wir ...«
Marakujew unterbrach seine verdrossene Rede:
»Samgin, kennen Sie Ljutow gut? Eine interessante Type. Ebenso der Diakon. Aber wie bestialisch saufen die beiden! Ich schlief bis fünf Uhr nachmittags, dann stellten sie mich auf die Beine und fingen an, mich vollzupumpen. Ich ergriff die Flucht, und seitdem treibe ich mich in Moskau herum. Ich war schon zweimal hier ...«
Er bekam einen Hustenanfall, schnitt Grimassen und hielt sich die Hüfte.
»Staub habe ich geschluckt – fürs ganze Leben«, sagte er.
Im Gegensatz zu Pojarkow befand er sich in angeregter und geschwätziger Stimmung. Er blickte um sich, wie jemand, der soeben erwacht ist und noch nicht weiß, wo er sich befindet, und griff aus den Wirtshausgesprächen einzelne Sätze und Worte heraus, um sie mit Anekdoten zu illustrieren. Er war ein wenig angeheitert, aber Klim begriff, daß dieser Umstand allein seine merkwürdige, ja, sogar ein wenig beängstigende Gemütsverfassung nicht erklären konnte.
»Wenn es die Freude ist, mit dem Leben davongekommen zu sein, dann freut er sich auf läppische Weise. Vielleicht redet er bloß, um nicht denken zu müssen?«
»Es ist drückend heiß hier, Kinder, gehen wir auf die Straße«, schlug Marakujew vor.
»Ich will nach Hause«, sagte Pojarkow finster. »Ich habe genug.«
Klim hatte noch keine Lust, schlafen zu gehen, aber er wäre gern aus der düsteren Unrast des Tages in ein Reich freundlicherer Eindrücke hinübergewandert. Er machte daher Marakujew den Vorschlag, auf die Sperlingsberge zu fahren. Marakujew nickte wortlos.
»Wissen Sie«, sagte er, nachdem sie in einer Droschke Platz genommen hatten, »die meisten der Erstickten und Zerquetschten sind sogenanntes besseres Publikum. Moskauer und – junge Leute. Jawohl. Ein Polizeiarzt, ein Verwandter von mir, hat mich darauf aufmerksam gemacht. Auch Kollegen, Mediziner, sagten es mir. Ich habe es ja auch selbst beobachtet. Im Kampf ums Dasein siegen die Robusteren. Die instinktiv Handelnden...«
Er murmelte noch etwas, was vom Rasseln und Klirren der alten, ausgeleierten Equipage übertönt wurde, hustete, schneuzte sich mit abgewandtem Gesicht, und als sie außerhalb der Stadt angelangt waren, schlug er vor:
»Wollen wir nicht aussteigen?«
Vor ihnen, auf schwarzen Hügeln, blinkten die Lichter der Restaurants. Hinter ihnen wogte über den Steinmassen der Stadt, die sich über einem unsichtbaren Boden ausbreiteten, ein rötlich gelber Flammenschein. Klim fiel plötzlich ein, daß er Pojarkow noch nichts von Onkel Chrisanf und Diomidow gesagt hatte. Dies versetzte ihn in heftige Verlegenheit. Wie konnte er es nur vergessen! Aber er führte sogleich zu seiner Entschuldigung an, daß Marakujew sich ja auch nicht nach Onkel Chrisanf erkundigt hatte, obwohl er doch selbst erzählt hatte, daß er ihn in der Menge gesehen habe. Samgin suchte nach eindrucksvollen Worten, fand jedoch keine, und sagte einfach:
»Onkel Chrisanf ist erdrückt worden, Diomidow verstümmelt und hat, wie es scheint, jetzt vollständig den Verstand verloren.«
»Nein!« rief Marakujew ganz leise aus, blieb stehen, starrte sekundenlang wortlos Klim ins Gesicht und zwinkerte angstvoll.
»Tödlich?« fragte er dann.
Klim nickte. Marakujew verließ die Straße, stellte sich unter einen Baum, drückte sein Gesicht an den Stamm und sagte:
»Ich gehe nicht weiter.«
»Ist Ihnen schlecht?« fragte Klim.
»Wundern Sie sich nicht. Lachen Sie nicht«, antwortete keuchend und mit gepreßter Stimme Pjotr Marakujew. »Die Nerven, wissen Sie. Ich habe soviel gesehen. Es ist unerklärlich! Welch ein Zynismus! Welch eine Niedertracht!«
Klim schien, daß dem lustigen Studenten die Beine einknickten. Er stützte ihn am Ellenbogen. Marakujew riß sich mit einer schroffen Bewegung der Hand die Binde vom Gesicht, rieb sich damit Stirn, Schläfen und Wangen und tupfte sich die Augen.
»Zum Teufel, beide sind ja noch Säuglinge!« schrie er.
»Er weint. Er weint«, wiederholte Klim für sich. Es war unerwartet, unbegreiflich und machte ihn stumm vor Staunen. Dieser begeisterte Schreihals, unermüdliche Kampfhahn und Meister im Lachen, dieser kräftige, hübsche Junge, der einem kecken Harmonikaspieler aus dem Dorf glich, schluchzte am Straßengraben unter einem verkrüppelten Baum, vor den Augen des endlosen Zuges schwarzer Menschen mit Zigaretten zwischen den Zähnen, wie eine Frau.
Ein zottiger Kerl, der wahrscheinlich für eine Sekunde haltgemacht hatte, um ein Bedürfnis zu verrichten, musterte Marakujew und rief lustig:
»Hast schon gerade Kummer, um Tränen zu vergießen, Student! Hätte ich bloß soviel!«
»Ich weiß, es ist lächerlich zu heulen«, stammelte Marakujew.
Ganz in der Nähe stieg zischend eine Rakete empor, platzte prasselnd und übertönte die begeisterten Hurrarufe der Kinder. Dann flammte bengalisches Feuer auf, sein Widerschein verlief sich über den Himmel. Marakujews Gesicht nahm eine unnatürlich weiße, quecksilberne Färbung an, wurde dann leichenhaft grün und schließlich blutrot, als hätte man ihm die Haut vom Gesicht gerissen.
»Natürlich ist es lächerlich«, wiederholte er und wischte sich mit den schnellen Gesten eines Hasen die Wangen ab. »Hingegen haben Sie hier die Illumination, die Kinder freuen sich. Niemand begreift, niemand versteht etwas ...«
Der zottige Mensch befand sich auf einmal neben Klim und zwinkerte ihm zu.
»Nein, sie verstehen ausgezeichnet, daß das Volk ein Dummkopf ist«, begann er mit halblauter Stimme zu reden und schmunzelte in den Klim wohlbekannten krausen Bart. »Es sind Apotheker, sie verstehen sich darauf, mit harmlosem Zeug zu heilen.«
Marakujew trat so unvermittelt an ihn heran, als wolle er ihn schlagen.
»Heilen? Wen?« fragte er laut, und begann so hitzig zu reden wie im Eßzimmer bei Onkel Chrisanf. Schon nach zwei oder drei Minuten umringten ihn sechs dunkle Menschen. Sie verhielten sich schweigend und drehten die Köpfe mechanisch gleichmäßig bald nach der Seite, wo die Feuerwirbel die Wirtshäuser auf den Hügel emporhüpfen und herabstürzen, erscheinen und verschwinden ließen, bald zu Marakujew hin, dem sie auf den Mund sahen.
»Er spricht mutig«, bemerkte jemand hinter dem Rücken Klims. Eine andere Stimme sagte gleichmütig:
»Es ist ein Student, was macht es ihm aus? Gehen wir.«
Klim Samgin entfernte sich. Er sagte sich, daß ein beliebiger unter Marakujews Zuhörern ihn beim Kragen nehmen und auf die Polizei schaffen konnte.
Samgin fühlte sich sehr sicher. In Marakujews Tränen lag etwas, das ihn tief befriedigte. Er sah, daß seine Tränen echt waren und sehr gut die Schwermut Pojarkows, dem seine abgehackte und brüske Sprechweise abhanden gekommen war, das verwunderte und schuldige Gesicht Lidas, die hinter ihren Händen eine Grimasse des Ekels versteckt hatte, und das Zähneknirschen Makarows erklärten. Klim zweifelte nicht mehr daran, daß Makarow wirklich mit den Zähnen geknirscht hatte, er hatte gar nicht anders können.
Dies alles, was die Menschen unvermittelt und gegen ihren Willen offenbarten, war die reine Wahrheit, und sie zu kennen, war von ebenso großem Wert, wie den nackten, zerschlagenen und schmutzigen Körper Diomidows zu sehen.
Klim kehrte mit raschen Schritten in die Stadt zurück. Kühne Gedanken beflügelten ihn und trieben ihn an:
»Ich bin der Stärkere. Ich würde es mir nicht erlauben, mitten auf der Straße zu weinen, überhaupt zu weinen. Ich weine nicht, weil ich nicht fähig bin, mich zu vergewaltigen. Jene knirschen mit den Zähnen, weil sie sich zwingen. Aus demselben Grunde schneiden sie Grimassen. Es sind sehr schwache Menschen. In allen und jedem steckt etwas von der Nechajew. Der Nechajewismus – das ist es!«
Der Feuerschein über Moskau beleuchtete die goldenen Kuppeln und Kirchen. Sie funkelten wie die Helme der gleichgültigen Feuerwehrleute. Die Häuser sahen aus wie Klumpen Erde, aufgewühlt von einem ungeheuren Pflug, der tiefe Furchen durch die Scholle gezogen und das Gold des Feuers in ihr bloßgelegt hat. Samgin fühlte, daß auch in ihm geradlinig ein starker Pflug arbeitete und dunkle Zweifel und Ängste aufriß.
Ein Mann mit einem Spazierstock in der Hand stieß ihn an und rief:
»Sind Sie blind geworden? Wie die Kerle gehen!«
Weder der Stoß in den Rücken noch der ärgerliche Zuruf vermochten den frischen Gedankengang Samgins zu verscheuchen oder zu verwirren.
»Marakujew wird vermutlich mit dem kraushaarigen Arbeiter Freundschaft schließen. Wie albern ist es, von der Revolution zu träumen in einem Lande, dessen Menschen einander im Kampf um den Besitz eines Päckchen billigen Konfekts oder Pfefferkuchens zu Tausenden totdrücken. Selbstmörder.«
Dieses Wort erklärte Klim in vollkommen zufriedenstellender Weise die Katastrophe, an die er nicht zu denken wünschte.
»Sie haben einander zerquetscht und ergötzen sich jetzt an Leuchtraketen und Blendwerk. Makarow hat recht: die Menschen sind Kaviar. Warum habe nicht ich es gesagt, sondern er? Auch Diomidow hat recht, wenn er auch dumm ist: die Menschen müssen Raum zwischen sich lassen, dann sind sie auffälliger und einander verständlicher. Und jeder muß Platz für einen Zweikampf haben. Einer gegen einen sind die Menschen Leichtbesiegbare ...«
Samgin gefiel das Wort, halblaut wiederholte er:
»Leichtbesiegbare ... so ist es!«
In seiner Erinnerung tauchte für eine Sekunde ein unangenehmes Bild auf: die Küche, mitten darin, auf den Knien, der betrunkene Fischer. Am Boden kriechen nach allen Seiten blind und sinnlos die Krebse auseinander. Der kleine Klim drückt sich ängstlich an die Wand.
»Die Krebse – das sind Ljutow, der Diakon und überhaupt alle diese Anormalen ... die Turobojews und Inokows. Sie erwartet natürlich das Schicksal des unterirdischen Menschen Jakow Platonowitsch. Sie müssen ja umkommen, wie sollte es auch anders sein?«
Samgin fühlte, daß die Menschen dieses Schlages ihm heute besonders verhaßt waren. Man mußte mit ihnen ein Ende machen. Jeder von ihnen verlangte besondere Einschätzung, jeder trug in sich etwas Absurdes und Unklares. Gleich knorrigen Holzscheiten leisteten sie jedem Versuch Widerstand, sie so fest aneinander zu legen, wie notwendig war, um sich über sie zu erhöhen. Ja man mußte sie an einem besonders starken Faden aufreihen. Das war ebenso notwendig wie die Kenntnis der Gangart jeder Figur eines Schachspiels. An diesem Punkt angelangt, glitten Samgins Gedanken zum »Kutusowismus« hinüber. Er beschleunigte seine Schritte, denn er erinnerte sich, daß er nicht zum erstenmal an den Kutusowismus dachte, ja, daß er im Grunde immer nur dieses eine im Kopfe hatte.
»Diese zerzausten und verrenkten Menschen fühlen sich recht wohl in ihrer Haut ... in ihrer Rolle. Ich habe gleichfalls ein Anrecht auf einen bequemen Platz im Leben«, entschied Samgin und fühlte sich verjüngt, erstarkt und unabhängig.
Mit diesem Gefühl der Unabhängigkeit und Stärke saß er am nächsten Abend in Lidas Zimmer und berichtete in leicht ironischem Ton über alles, was er in der letzten Nacht erlebt hatte, Lida fühlte sich schlecht, sie hatte Fieber. Auf ihren bräunlichen Schläfen perlte der Schweiß, aber sie wickelte sich nur um so fester in ihren flaumigen Pensaer Schal, wobei sie die Arme um ihre Schultern schlang. Ihre dunklen Augen blickten ratlos und angstvoll. Von Zeit zu Zeit richtete sie den Blick auf ihr Bett. Dort lag Diomidow auf dem Rücken, hatte die Brauen hoch emporgezogen und starrte gegen die Zimmerdecke. Sein gesunder Arm lag unter dem Kopf, und die Finger irrten fieberhaft durch den Kranz goldener Haare. Er schwieg. Sein Mund stand offen, und sein zerschlagenes Gesicht schien zu schreien. Er trug ein weites Nachthemd, dessen Ärmel bis zu den Schultern geschürzt waren und wie Fittiche von ihnen abstanden. Der klaffende Kragen entblößte die Brust. Sein Körper hatte etwas Kaltes, Fischgleiches. Ein tiefer Striemen am Hals erinnerte an Kiemen.
Warwara trat herein, ungekämmt, mit Pantoffeln an den Füßen und in einer zerknüllten Bluse. Mit düster blitzenden Augen hörte sie ein paar Minuten lang Klims Bericht an, verschwand und erschien von neuem.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte sie. »Ich habe nicht genug Geld für das Begräbnis ...«
Diomidow hob den Kopf und fragte mit einem pfeifenden Geräusch:
»Sterbe ich denn?«
Er schrie und fuchtelte mit dem Arm:
»Ich sterbe nicht! Geht weg, geht alle weg!«
Warwara und Klim gingen hinaus. Lida blieb und versuchte, den Kranken zu beruhigen. Ins Eßzimmer drang sein Geschrei:
»Bringt mich ins Krankenhaus ...«
»Ich glaube nicht an seinen Irrsinn«, sagte Warwara laut. »Ich liebe ihn nicht und glaube nicht daran.«
Jetzt kam auch Lida, Sie preßte die Hände an die Schläfen und setzte sich schweigend ans Fenster.
Klim fragte:
»Was hat der Arzt festgestellt?«
Lida sah ihn mit verständnislosem Blick an. Die blauen Schatten in den Höhlen ließen ihre Augen heller erscheinen.
Klim wiederholte seine Frage.
»Die Rippen sind gequetscht. Ein Arm ausgerenkt. Aber das schlimmste ist die Erschütterung der Nerven. Er hat die ganze Nacht im Fieber geschrien: ›Zerdrückt mich nicht!‹ und verlangt, man solle die Leute weiter auseinander jagen. Nein, sag du mir, was das ist!«
»Eine fixe Idee«, sagte Klim.
Das Mädchen blickte ihn wieder verständnislos an und sagte dann:
»Das meine ich nicht. Nicht ihn. Übrigens weiß ich selbst nicht, was ich meine.«
»Er war auch vorher nicht normal«, bemerkte Klim hartnäckig.
»Was heißt hier normal? Daß die Menschen einander erst zerquetschen und dann Harmonika spielen? Nebenan wurde bis zum Morgen Harmonika gespielt.«
Mit Paketen behängt, trat Makarow ins Zimmer. Er blickte Lida scheel an:
»Habt ihr schlafen können?«
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen und ohne zu antworten, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort:
»Normal bedeutet, wenn alles ruhig ist, nicht wahr? Aber das Leben wird ja immer unruhiger.«
»Ein normaler Organismus verlangt Beseitigung krankhafter und unangenehmer Erregungen«, knurrte böse Makarow, während er die Pakete mit Verbandstoff und Watte aufschnürte. »Das ist ein biologisches Gesetz. Wir dagegen begrüßen vor Langerweile und Nichtstun die krankhaften Erregungen wie Feiertage. Deshalb, weil einige Schwachköpfe ...«
Lida sprang auf und schrie gepreßt:
»Unterstehen Sie sich nicht, in meiner Gegenwart so zu sprechen!«
»Und in Ihrer Abwesenheit darf ich es?«
Sie lief hinaus in Warwaras Zimmer.
»Neigung zur Hysterie!« bellte Makarow hinter ihr drein. »Gehen wir, Klim, hilf mir, ihm seine Kompresse zu machen.«
Diomidow drehte sich stumm und gehorsam unter seinen Händen, aber Samgin bemerkte, daß die leeren Augen des Kranken Makarows Gesicht auswichen, und als Makarow ihn aufforderte, einen Löffel Brom zu nehmen, wandte Diomidow das Gesicht zur Wand.
»Ich will nicht. Geht weg.«
Makarow zwang sich, ihm zuzureden, und blickte dabei aus dem Fenster, ohne zu bemerken, daß die Flüssigkeit vom Löffel auf Diomidows Schulter tropfte. Da hob Diomidow den Kopf und fragte, während sein geschwollenes Gesicht sich verzerrte:
»Warum quält ihr mich?«
»Sie müssen trinken«, sagte Makarow gleichmütig.
In den Augen des Kranken erschienen blaue Fünkchen. Er schluckte die Mixtur hinunter und spuckte gegen die Wand.
Makarow verweilte noch eine Minute an seinem Bett. Er hatte ein vollkommen fremdes Aussehen, zog die Schultern hinauf, krümmte den Rücken und krachte mit den Fingern. Dann seufzte er und bat Klim:
»Sag Lida, diese Nacht werde ich Wache halten...«
Damit ging er.
Diomidow lag ausgestreckt, mit geschlossenen Augen, aber sein Mund stand offen, und sein Gesicht schrie wieder wortlos. Man konnte glauben, er habe den Mund absichtlich geöffnet, weil er wußte, daß sein Gesicht dann tot und unheimlich aussah. Auf der Straße rasselten ohrenbetäubend die Trommeln. Der gleichmäßige Tritt von Hunderten von Soldatenstiefeln erschütterte den Boden. Hysterisch bellte ein erschrockener Hund. Es war unbehaglich im Zimmer. Es war nicht aufgeräumt und erfüllt von schwerem Alkoholgeruch. In Lidas Bett lag ein Schwachsinniger.
»Vielleicht lag er auch darin, als er gesund war ...«
Klim zuckte zusammen, als er sich Lidas Körper in diesen kalten, sonderbar weißen Armen vorstellte. Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu schreiten, wobei er rücksichtslos laut auftrat. Er stampfte noch heftiger, als er sah, daß Diomidow seine bläuliche Nase zu ihm hinwandte, die Augen öffnete und sagte:
»Ich will nicht, daß er wacht, Lida soll es tun. Ich liebe ihn nicht.«
Klim trat an sein Bett, reckte den Hals, drohte ihm mit der Faust und sagte leise:
»Schweig, du schwachsinnige Laus!«
Klim verspürte zum erstenmal in seinem Leben die berauschende Süßigkeit der Wut. Er weidete sich an dem erschrockenen Gesicht Diomidows, an seinen vorquellenden Augen und den Zuckungen seines Arms, der sich abmühte, das Kissen unter dem Kopf hervorzuziehen, während sein Kopf das Kissen nur noch fester ans Bett preßte.
»Schweig! Hörst du?« wiederholte er und ging aus dem Zimmer.
Lida saß im Eßzimmer auf dem Sofa, in der Hand eine Zeitung, sah aber über sie hinweg auf den Boden.
»Was macht er?«
»Fiebert«, sagte Klim geistesgegenwärtig. »Fürchtet jemanden. Phantasiert von Läusen und Flöhen...«
Samgin, der einem Menschen, wenn es auch nur ein armseliger war, Schrecken eingejagt hatte, fühlte sich stark. Er nahm an Lidas Seite Platz und sagte kühn:
»Lida, Täubchen, das alles mußt du aufgeben, es ist nichts als Einbildung, hat keinen Wert und reißt dich nur ins Verderben.«
Sie hob mahnend die Hand.
»Pst«, machte sie und blickte besorgt auf die Tür. Er dämpfte die Stimme und fuhr, während er ihr ins erschöpfte Gesicht sah, fort:
»Verlasse diese kranken, theatralischen und verpfuschten Menschen und versuche einfach zu leben, einfach zu lieben ...«
Er redete lange, ohne klar zu verstehen, was er sagte. An Lidas Augen sah er, daß sie ihm vertrauensvoll und aufmerksam zuhörte. Sie nickte sogar unwillkürlich mit dem Kopf, auf ihren Wangen erschien und verschwand tiefe Röte, manchmal schlug sie schuldbewußt die Augen nieder, und dies alles erfüllte ihn mit wachsendem Mut.
»Ja, ja«, flüsterte sie, »aber nicht so laut! »Er erschien mir so ungewöhnlich. Aber gestern, im Schmutz ... Und ich wußte nicht, daß er feige ist. Aber er ist ja feige. Er tut mir leid, aber das ist nicht mehr dasselbe. Auf einmal ist es nicht mehr dasselbe. Ich schäme mich sehr. Ich bin natürlich schuldig ... ich weiß!«
Sie legte zögernd ihren Arm auf seine Schulter:
»Ich täusche mich immer. Auch du bist ja ein anderer, als ich gewohnt war, in dir zu sehen.«
Klim versuchte, sie zu umarmen, aber sie entzog sich ihm, erhob sich, stieß mit dem Fuß die Zeitung zur Seite und trat an Warwaras Zimmertür, vor der sie lauschend stehenblieb.
Durchs offene Fenster drang aus dem Hof das aufdringlich klagende Pfeifen eines Leierkastens herein. Und der neiderfüllte und spöttische Ausruf:
»Ach, werden die Sargtischler ein schönes Geld verdienen!«
»Sie scheint zu schlafen«, sagte Lida leise und entfernte sich von der Tür.
Klim begann ihr ernsthaft klarzumachen, daß man Diomidow ins Krankenhaus schaffen müsse.
»Und du, Lida, solltest dir die Schule aus dem Kopf schlagen. Ohnehin lernst du gar nicht. Höre lieber Vorlesungen. Wir brauchen nicht Schauspieler, sondern gebildete Menschen, Du siehst ja, in was für einem wilden Land wir leben.«
Er wies mit der Hand nach dem Fenster, hinter dem die Drehorgel träge einen neuen Gassenhauer leierte.
Lida schwieg gedankenvoll. Als Klim sich von ihr verabschiedete, sagte er:
»Du solltest trotz alledem nicht vergessen, daß ich dich liebe. Meine Liebe verpflichtet dich zu nichts, aber sie ist tief und ernst.«
Klim schritt rüstig, ohne den Entgegenkommenden auszuweichen, durch die Straßen. Zuweilen streiften Stücke dreifarbigen Fahnentuchs seine Mütze. Überall lärmten festlich die Menschen, deren glückliche Natur ihnen erlaubte, das Unglück ihrer Nächsten schnell zu vergessen. Samgin studierte ihre angeregten, triumphierenden Gesichter, ihren Sonntagsstaat und verachtete sie mehr denn je.
»In Diomidows tierischer Furcht vor den Menschen ist etwas Richtiges ...«
Während er eine menschenleere und schmale Gasse passierte, kam er zu dem Endergebnis, daß es sich mit Lida und den Anschauungen eines Preis friedlich und gut leben ließ.
Doch einige Zeit darauf erzählte Preis Klim vom Streik der Weber in Petersburg.Die Petersburger Textilarbeiter traten nach dem Krönungsrummel in den ersten Streik, da ihnen der Lohn für die »Festtage« abgezogen wurde. D. Ü. Er erzählte davon mit solchem Stolz, als habe er selbst diesen Streik organisiert, und mit solcher Begeisterung, als spräche er von seinem persönlichen Glück.
»Haben Sie vom ›Kampfbund‹ gehört? Das ist seine Arbeit. Eine neue Ära beginnt, Samgin, Sie werden sehen!«
Er blickte ihm mit seinen Sammetaugen freundlich ins Gesicht und fragte:
»Und Sie studieren immer noch die Länge der Wege, die zum Ziel führen? Glauben Sie mir: der Weg, den die Arbeiterklasse geht, ist der kürzeste. Der schwerste und der kürzeste. Soweit ich Sie verstehe, sind Sie kein Idealist, und Ihr Weg ist der unsere, mühselig, aber gerade.«
Samgin schien, daß Preis, der sich sonst immer eines fehlerfreien und reinen Russisch befleißigte, in diesem Augenblick mit Akzent spreche und aus seiner Freude der Haß des Menschen einer anderen Rasse, eines Mißhandelten, klinge, der Rußland rachsüchtig Schwierigkeiten und Unglück wünscht.
Es ergab sich stets, daß Klim gleich nach Preis Marakujew unter die Augen kam. Diese beiden Menschen schritten gleichsam in Kreisen durchs Leben und beschrieben Achterschleifen: jeder rotierte im eigenen Wortkreis, doch an einem Punkt schnitten beide Kreise einander. Dieser Umstand war verdächtig und verführte zu der Annahme, daß die Zusammenstöße zwischen Marakujew und Preis nur zum Schein stattfanden, daß sie ein Spiel zur Belehrung und Verführung der anderen waren, Pokarjew hingegen wurde schweigsamer, stritt weniger, spielte seltener Gitarre, und seine ganze Gestalt bekam etwas Hölzernes und Steifes. Diese Veränderung hatte wahrscheinlich ihren geheimen Grund in der wachsenden Vertraulichkeit zwischen Marakujew und Warwara.
Bei der Beerdigung ihres Stiefvaters führte er sie an seinem Arm durch die Gräberreihen, neigte seinen Kopf gegen ihre Schulter und flüsterte ihr etwas zu, während sie sich umblickte und wie ein hungriges Pferd den Kopf schüttelte, und in ihrem Gesicht erfror eine düstere, drohende Grimasse.
Wenn man sich zu Hause bei Warwara zum Abendessen setzte, nahm Marakujew stets neben ihr Platz, aß von ihrer Lieblingsmarmelade, schlug mit der flachen Hand auf das arg mitgenommene Buch Krawtschinski-Stepnjaks »Das unterirdische Rußland« und sagte schneidig:
»Wir brauchen Hunderte von Helden, um das Volk zum Freiheitskampf aufzurufen.«
Samgin beneidete Marakujew wegen seines Talents, mit Feuer zu reden, wenngleich ihm schien, daß dieser Mensch stets dieselben schlechten Verse in Prosa vortrug. Warwara lauschte ihm stumm und mit zusammengepreßten Lippen. Ihre grünlichen Augen hingen so gebannt am Metall des Samowars, als säße darin jemand, der sie mit bewundernden Blicken betrachtete.
Unangenehm war Lidas Aufmerksamkeit für Marakujews Reden. Sie stützte die Arme auf den Tisch, drückte die Hände an die Schläfen und versenkte sich in das runde Gesicht des Studenten wie in ein Buch. Klim besorgte, daß dieses Buch sie stärker interessierte, als nötig war. Zuweilen, wenn er von Sofia Perowskaja und Wera Figner erzählte, öffnete Lida sogar ein wenig den Mund. Man sah dann einen Saum feiner Zähne, der ihrem Gesicht einen Ausdruck verlieh, der Klim manchmal an ein Raubtier erinnerte. Manchmal aber fand er ihn einfältig.
»So werden Heldinnen erzogen«, dachte er und fand es von Zeit zu Zeit notwendig, die flammenden Reden Marakujews durch ein paar abkühlende Sätze zu unterbrechen.
»Nur Makkabäer sterben, ohne zu siegen. Wir aber müssen siegen ...«
Aber diese Bemerkung wirkte nicht im mindesten abkühlend auf Marakujew. Im Gegenteil, sie entflammte ihn nur noch heftiger.
»Ja, siegen!« schrie er. »Aber in welchem Kampf? Im Kampf um Groschen? Damit die Menschen satt zu essen haben?«
Mit strafender Geste wies er auf Klim als auf ein abschreckendes Beispiel für die Mädchen. Und explodierte wie eine Rakete:
»Er gehört zu denen, die glauben, daß nur der Hunger die Welt regiert, daß uns nur das Gesetz des Kampfes um ein Stück Brot beherrscht, und daß für die Liebe kein Raum im Leben ist. Den Materialisten ist die Schönheit der selbstlosen Tat verschlossen. Lächerlich erscheint ihnen die heilige Torheit eines Don Quixote, lächerlich die Vermessenheit eines Prometheus, die der Welt ihren Glanz gibt.«
Marakujew schleuderte die Namen Fra Dolcino, Johann Hus und Masaniello hinaus, und sein lyrischer Tenor heulte dabei aufreizend.
»Vergessen Sie ja nicht den Herostrat«, sagte Samgin ärgerlich.
Wie sich das nicht selten bei ihm ereignete, waren diese Worte ihm selbst eine Überraschung. Er staunte und hörte auf, die entrüsteten Schreie seines Gegners zu beachten.
»Wie, wenn alle diese gepriesenen Toren nicht frei von Herostratentum wären?« grübelte er. »Sollten nicht viele unter ihnen nur darum Tempel zerstören, um durch die Trümmer ihren Namen zu verewigen? Gewiß gibt es unter ihnen auch solche, die die Tempel zerstören, um sie in drei Tagen aufzubauen. Aber sie bauen sie nicht wieder auf.«
Marakujew schrie:
»Sie hätten hören sollen, wie und was der Arbeiter sagte, dem wir – Sie erinnern sich? – damals begegneten? ...«
»Ich erinnere mich«, sagte Klim. »Das war damals, als Sie ...«
Marakujew errötete bis an die Ohrenspitzen und fuhr von seinem Stuhl auf:
»Ja, ganz recht! Als ich weinte, jawohl! Sie denken vielleicht, daß ich mich dieser Tränen schäme? Da irren Sie sich sehr.«
Klim zuckte die Achseln.
»Was soll man machen?« entgegnete er. »Ich versuche ja auch nicht, mit meinen Gedanken zu prunken.«
Nachdem sie einander noch etwa ein Dutzend Steinchen an den Kopf geworfen hatten, nötigten die versöhnlichen Bemerkungen der jungen Mädchen sie zum Schweigen. Dann gingen Marakujew und Warwara fort, und Klim fragte Lida:
»Wie ist es also, gedenkt sie die Rolle der Perowskaja zu spielen?«
»Ärgere dich nicht«, sagte Lida und blickte nachdenklich aus dem Fenster. »Marakujew hat recht: um leben zu können, muß es Helden geben. Das begreift sogar Konstantin, der mir neulich sagte: ›Nichts kristallisiert anders als am Kristall.‹ Also bedarf selbst das Salz des Helden.«
Klim trat zu ihr.
»Er liebt dich noch immer«, sagte er.
»Ich begreife nicht warum? Er ist so ein ... Er ist nicht dafür bestimmt. Nein, rühre mich nicht an«, sagte sie, als Klim versuchte, sie zu umarmen. »Konstantin tut mir so leid, daß ich ihn manchmal hasse, weil er nur Mitleid in mir weckt.«
Lida stellte sich vor den Spiegel, betrachtete mit einem Klim rätselhaften Ausdruck ihr Gesicht und fuhr leise fort:
»Auch die Liebe verlangt Heldentum. Und ich kann keine Heldin sein. Warwara kann es. Für sie ist auch die Liebe Theater. Ein unsichtbares Publikum weidet sich gelassen an den Liebesqualen der Menschen, an ihren verzweifelten Anstrengungen zu lieben. Marakujew meint, dieses Publikum sei die Natur. Das verstehe ich nicht. Ich glaube, auch Marakujew versteht nichts, außer dem einen, daß es notwendig ist zu lieben.«
Klim hatte kein Verlangen mehr, ihren Körper zu berühren, und dies beunruhigte ihn sehr.
Es war noch nicht spät. Soeben war die Sonne untergegangen, und ihr rötlicher Widerschein stand noch in den Kuppeln der Kirchen. Von Norden zog Gewölk heran, es donnerte gedämpft, als setze ein Bär träge seine weichen Tatzen über die Eisendächer der Häuser.
»Weißt du«, vernahm Klim, »ich glaube längst nicht mehr an Gott, aber jedesmal, wenn ich etwas Kränkendes und Böses erlebe, denke ich an ihn. Ist das nicht eigentümlich? Ich weiß wirklich nicht, was aus mir werden soll.«
Über diesen Gegenstand wußte Klim ganz und gar nicht zu reden. Aber er sagte mit soviel Überzeugungskraft, wie er aufbringen konnte:
»Unsere Zeit bedarf der schlichten, tapferen Arbeit, um der kulturellen Bereicherung des Landes willen ...«
Er hielt inne, da er sah, daß das Mädchen ihre Arme um den Nacken geschlungen hatte und ihre dunklen Augen ihn mit einem Lächeln ansahen, das ihn wieder so sehr verwirrte, wie schon lange nicht mehr.
»Warum siehst du mich so an?« murmelte er.
Lida antwortete sehr ruhig:
»Ich bin überzeugt, daß du an deine Worte nicht glaubst.«
»Warum denn?«
Sie gab keine Antwort. Eine Minute darauf sagte sie:
»Es wird regnen. Heftig.«
Klim erriet ihren Wink und ging. Am anderen Tag, auf dem Wege zu ihr, traf er auf dem Boulevard Warwara in weißem Rock und rosa Bluse und mit einer roten Feder am Hut.
»Wollen Sie zu uns?« fragte sie, und Klim bemerkte in ihren Augen spöttische Fünkchen. »Ich gehe nach Sokolniki. Kommen Sie mit? Lida? Aber die ist ja gestern nach Hause gefahren, wissen Sie das denn nicht?«
»Schon?« fragte Klim, der seine Betretenheit und Enttäuschung geschickt verbarg. »Sie wollte doch erst morgen reisen.«
»Ich glaube, sie wollte überhaupt nicht fort, aber sie ist dieses Diomidows mit seinen Zettelchen und Klagen überdrüssig geworden.«
Klim verstand nur mit Mühe ihr Vogelgezwitscher, das vom Lärm der Räder und vom Kreischen der Straßenbahnen in den Schienenkurven übertönt wurde.
»Sie reisen wahrscheinlich auch bald ab?«
»Ja, übermorgen.«
»Werden Sie sich von mir verabschieden?«
»Natürlich«, sagte Klim und dachte: »Von dir, buntscheckige Kuh, würde ich mich mit Freuden fürs ganze Leben verabschieden.«
Es war wirklich Zeit, heimzufahren. Die Mutter schrieb ganz ungewohnt lange Briefe, in denen sie vorsichtig die Umsicht und Energie der Spiwak lobte und mitteilte, daß die Herausgabe der Zeitung Warawka sehr in Anspruch nehme. Am Schluß des Briefes beklagte sie sich noch einmal:
»Auch im Hause ist mehr zu tun, seit Tanja Kulikow gestorben ist. Dies hat sich unerwartet und auf unerklärliche Weise ereignet. So zerbricht zuweilen aus unbekannten Gründen ein gläserner Gegenstand, ohne daß man ihn berührt hat. Beichte und Abendmahl hat sie zurückgewiesen. In Menschen wie sie schlagen Vorurteile sehr tief Wurzel. Ich betrachte Gottlosigkeit als ein Vorurteil.«
Vor Klims Augen erstand die farblose kleine Gestalt dieses Wesen, das, ohne zu klagen und ohne für sich etwas zu verlangen, sein ganzes Leben lang fremden Menschen gedient hatte. Es stimmte einen sogar ein wenig traurig, an Tanja Kulikow zu denken, dieses seltsame Menschenkind, das nicht philosphierte, sich nicht mit Worten schminkte, sondern sich nur darum sorgte, daß die Menschen es gut hatten.
»Das war eine christliche Natur«, dachte er, »eine wahrhaft christliche.«
Aber er erkannte sogleich, daß er bei diesem Epitaph nicht stehenbleiben durfte: »Auch Tiere, zum Beispiel Hunde, dienen ja den Menschen hingebend. Gewiß sind Menschen wie Tanja Kulikow nützlicher als diejenigen, die in schmutzigen Kellern über die Dummheit von Stein und Holz predigen, notwendiger, als die schwachsinnigen Diomidows, aber ...«
Er fand nicht die Zeit, diesen Gedanken zu Ende zu führen, denn im Korridor ertönten schwere Schritte, Gelaufe und die zwitschernde Stimme seines Zimmernachbarn. Dieser Nachbar war ein stämmiger Mann von dreißig Jahren. Er ging immer in Schwarz, hatte schwarze Augen und blaue Backen, sein dichter schwarzer Schnurrbart war kurz geschnitten und von wulstigen, grellroten Lippen untermalt. Er nannte sich einen »Virtuosen auf Holzblasinstrumenten«, aber Samgin hatte ihn niemals auf einer Klarinette, einer Hoboe oder einem Fagott spielen hören. Der schwarze Mensch führte ein geheimnisvolles Nachtleben. Bis Mittag schlief er, raschelte bis zum Abend mit Karten auf dem Tisch und sang mit zwitschernder Stimme halblaut immer eine und dieselbe Romanze:
»Warum folgt er mir nach,
Sucht mich überall?«
Abends verließ er mit einem dicken Spazierstock in der Hand und in die Stirn gerückter Melone das Haus. Wenn Samgin ihm auf dem Korridor oder auf der Straße begegnete, dachte er, so müßten Agenten der Geheimpolizei und Schwindler aussehen.
Als er jetzt durch den Spalt der angelehnten Tür in den Korridor blickte, sah er, wie der schwarze Mensch die üppige kleine Schwester der Zimmerwirtin in sein Zimmer zwängte, wie ein Kissen in einen Koffer, und dabei durch die Nase gurrte:
»Was laufen Sie denn weg, he? Warum laufen Sie weg von mir?«
Klim Samgin schlug protestierend die Tür zu, setzte sich grinsend auf sein Bett und plötzlich erleuchtete und durchwärmte ihn eine glückliche Erkenntnis.
»Warum läufst du weg von mir?« wiederholte er die eindringlichen Worte des »Virtuosen auf Holzblasinstrumenten«. Einen Tag darauf reiste er mit der festen Gewißheit, sich gegen Lida dumm wie ein Gymnasiast benommen zu haben, nach Hause.
»Liebe bedarf der Geste!«
Ganz ohne Zweifel lief Lida vor ihm weg, nur dadurch allein erklärte sich ihre plötzliche Abreise.
»Zuweilen flüstert einem das Leben sehr zur rechten Zeit Erkenntnisse ein.«
Die Mutter empfing ihn mit hastigen Zärtlichkeiten und fuhr sogleich mit der Spiwak fort, wie sie erklärte, um den Gouverneur zum Gottesdienst anläßlich der Einweihung der Schule einzuladen.
Warawka saß im Eßzimmer am Frühstückstisch. Er trug einen blau und goldfarbig gewürfelten chinesischen Schlafrock und eine violette, ärmellose tatarische Jacke, spielte mit seinem Bart, schnaubte bekümmert und sagte:
»Wir leben in einem Dreieck von Extremen.«
Ihm gegenüber hatte ein bejahrter, kahlköpfiger Mann mit breitem Gesicht und einer sehr scharfen Brille auf der weichen Nase die Ellenbogen ungezwungen auf den Tisch gestützt und es sich auf seinem Platz bequem gemacht. Er war mit einem grauen Jackett über einem bunten Phantasiehemd bekleidet und trug statt einer Krawatte eine schwarze Quastenschnur. Er war ins Essen vertieft und schwieg. Warawka nannte einen langen Doppelnamen und fügte hinzu:
»Unser Redakteur.«
Er begann, wie immer, ohne erst lange nach Worten zu suchen:
»Die Seiten des Dreiecks sind: der Bürokratismus, die sich neu bildende Volkstümlerbewegung und der Marxismus mit seiner Behandlung der Arbeiterfrage ...«
Der Redakteur neigte den Kopf.
»Vollkommen einverstanden«, sagte er. Die Quasten der Schnur glitten unter der Weste hervor und hingen auf den Teller herab. Der Redakteur stopfte sie mit hastigen Bewegungen seiner kurzen roten Finger an ihren Platz zurück.
Er aß in sehr bemerkenswerter Weise und mit großer Vorsicht. Aufmerksam wachte er darüber, daß die Scheiben kalten Fleisches und Schinken gleich groß waren, beschnitt mit dem Messer sorgfältig den überragenden Rand, durchbohrte beide Scheiben mit der Gabel, hob, bevor er sie in den Mund und auf die breiten, stumpfen Zähne legte, die Gabel an die Brille und prüfte forschend die zweifarbigen Stückchen. Sogar die Gurke verzehrte er mit unendlicher Behutsamkeit wie einen Fisch, als erwarte er eine Gräte darin zu finden. Er kaute langsam, wobei die grauen Haare auf seinen Backenknochen sich sträubten und sein straffes, akkurat gestutztes Kinnbärtchen sich hob und senkte. Er erweckte den Eindruck eines starken, zuverlässigen Mannes, der gewohnt war und es verstand, alles mit der gleichen Behutsamkeit und Sicherheit zu erledigen, mit der er aß.
Die lustigen Bärenäuglein in Warawkas knallrotem Gesicht betrachteten wohlwollend die hohe, glatte Stirn, die solid spiegelnde Glatze und die starken, unbeweglichen grauen Augenbrauen. Am bemerkenswertesten an dem umfangreichen Gesicht des Redakteurs fand Klim die beleidigt herabhängende, violette Unterlippe. Diese bizarre Lippe verlieh seinem plüschfarbenen Gesicht einen verzogenen Ausdruck. Mit einer solchen Schmolllippe pflegen Kinder unter Erwachsenen zu sitzen, überzeugt, daß man sie ungerecht bestraft habe. Die Sprechweise des Redakteurs war bedächtig, sehr klar und leicht stotternd. Vor die Vokale setzte er gleichsam ein Apostroph.
»Das h'eißt: die ›R'ussischen N'achrichten‹, aber ohne ihren Akademismus und, wie Sie sagten, mit einem Maximum an lebendigem Verständnis für die wahren Kulturbedürfnisse unseres Gouvernements.«
»Sehr richtig, sehr richtig!« sagte Warawka und zog schnuppernd die Luft ein.
Irgendwo ganz in der Nähe dröhnte und krachte es ohrenbetäubend, als würde ein hölzernes Haus aus einer Kanone beschossen. Der Redakteur warf einen mißbilligenden Blick aus dem Fenster und verkündete:
»Ein viel zu regnerischer Sommer.«
Klim stand auf und schloß die Fenster. Ein Regenschauer prasselte stürmisch gegen die Scheiben. Durch das nasse Rauschen hindurch hörte Klim die deutlichen Worte:
»Als Feuilletonredakteur haben wir einen erfahrenen Journalisten – Robinson. Er hat einen Namen. Was wir brauchen, ist ein Literaturkritiker mit gesundem Menschenverstand, der gegen die krankhaften Strömungen in der zeitgenössischen Literatur zu kämpfen versteht. Aber einen solchen Mitarbeiter vermag ich nicht zu entdecken.«
Warawka zwinkerte Klim zu und fragte:
»Na, Klim?«
Samgin zuckte schweigend die Achseln. Ihm kam es so vor, als hänge die Lippe des Redakteurs noch beleidigter herab.
Man trug Kaffee auf. In das Hallen des Donners und das wütende Klatschen des Regens mischten sich die Klänge eines Flügels.
»Nun, versuch es mal«, drängte Warawka.
»Ich werde es mir überlegen«, antwortete Klim leise. Alles war jetzt uninteressant und überflüssig geworden: Warawka, der Redakteur, der Regen und der Donner. Eine Gewalt hob ihn empor und trug ihn nach oben.
Als er ins Vorzimmer hinaustrat, zeigte der Spiegel ihm ein bleich gewordenes, trockenes und zorniges Gesicht. Er nahm die Brille ab, rieb sich mit beiden Händen fest die Wangen und konstatierte nun, daß seine Züge weicher und gefühlvoller geworden waren.
Lida saß am Flügel und spielte »Solveigs Lied«.
»Oh, bist du gekommen?« fragte sie und streckte ihm die Hand hin. Sie war ganz in Weiß, sonderbar klein und lächelte. Samgin fühlte, daß ihre Hand unnatürlich heiß war und zitterte. Ihre Augen blickten liebevoll. Ihre Bluse stand offen und entblößte tief ihre dunkle Brust.
»Während des Gewitters wirkt Musik besonders erregend«, sagte Lida, ohne ihm ihre Hand zu entziehen. Sie fügte noch etwas hinzu, was Klim nicht mehr hörte. Er fragte dumpf und streng: »Warum bist du so plötzlich abgereist?« hob sie mit ungewöhnlicher Leichtigkeit vom Stuhl und umarmte sie.
Er hatte etwas anderes fragen wollen, aber keine Worte gefunden. Er handelte wie in tiefer Dunkelheit. Lida schreckte zurück, er umarmte sie fester und bedeckte ihre Schulter und ihre Brust mit Küssen.
»Wage es nicht!« sagte sie und stieß ihn mit Armen und Knien zurück. »Wag' es nicht, hörst du!«
Sie riß sich aus seiner Umarmung. Klim wankte, setzte sich vor den Flügel und neigte sich über die Klaviatur. Wogen eines erschütternden Bebens überfluteten ihn, er glaubte, in Ohnmacht zu sinken. Lida war irgendwo weit hinter ihm, er hörte ihre empörte Stimme, das Klopfen ihrer Hand gegen den Tisch.
»Ich liebe sie wahnsinnig«, beteuerte er in Gedanken, »wahnsinnig«, beharrte er, als stritte er mit jemand.
Dann fühlte er ihre leichte Hand auf seinem Kopf, hörte ihre bange Frage:
»Was hast du?«
Er umschlang von neuem mit beiden Armen ihre Taille und drückte seine Wange an ihre Hüfte. »Ich weiß nicht«, sagte er.
»Oh mein Gott«, sagte Lida still. Sie versuchte nicht mehr, sich zu befreien. Im Gegenteil, sie schien sich noch inniger an ihn zu schmiegen, obwohl dies unmöglich war.
»Was soll nun werden?« fragte Klim.
Sie löste vorsichtig seine Arme von ihrem Körper und verließ ihn. In dem Zimmer, in dem ihre Mutter gewohnt hatte, blieb sie stehen, ließ die Arme am Körper herabsinken und neigte den Kopf, als ob sie bete. Der Regen schlug immer wütender gegen die Fenster, man hörte die röchelnden Laute des Wassers in den Abflußrohren.
»Geh jetzt, bitte«, sagte Lida.
Samgin stand auf und näherte sich ihr. Es war, als bitte sie nicht ihn, zu gehen.
»Ich bitte dich doch, geh!« Was nach diesen Worten geschah, war leicht, einfach und dauerte nur eine ganz kurze Zeit, es schienen Sekunden zu sein. Am Fenster stehend, erinnerte sich Samgin mit tiefem Staunen daran, wie er das Mädchen auf den Arm nahm und sie, während sie sich hintenüber aufs Bett warf und seine Ohren und Schläfen zwischen ihren Händen zusammenpreßte, dunkle Worte sagte und ihm mit einem hellen, blendenden Blick in die Augen sah.
Und nun stand sie vor dem Spiegel und ordnete mit zitternden Händen Kleidung und Frisur. Im Spiegelbild waren ihre Augen weit geöffnet, starr und angsterfüllt. Sie biß sich die Lippen, als dränge sie Schmerzen oder Tränen zurück.
»Geliebte«, flüsterte Klim in den Spiegel; er fand in seinem Innern weder Freude noch Stolz, fühlte nicht, daß Lida ihm teurer geworden war und wußte nicht, wie er handeln und was er sagen mußte. Er sah, daß er sich getäuscht hatte: Lida betrachtete sich nicht mit Angst, sondern fragend, erstaunt.
»Laß«, sagte sie und begann die zerdrückten Kissen glattzuklopfen. Da trat er von neuem ans Fenster und sah durch den dichten Regenschleier zu, wie die Blätter der Bäume tanzten und kleine graue Kugeln über das eiserne Dach des Flügels hüpften.
»Ich bin ausdauernd, ich habe es gewollt und erreicht«, sagte er sich, da er das Bedürfnis empfand, sich auf irgendeine Weise zu trösten.
»Du, geh jetzt«, sagte Lida und blickte mit dem gleichen besorgten und fragenden Ausdruck auf das Bett. Samgin küßte ihr wortlos die Hand und ging hinaus.
Alles hatte sich anders abgespielt, als er erwartete. Er fühlte sich betrogen.
»Aber was hoffte ich eigentlich?« fragte er sich. »Nur das eine, daß es dem mit Margarita und der Nechajew Erlebten nicht gleichen würde?«
Und er tröstete sich:
»Vielleicht wird es auch noch so werden.«
Aber der Trost währte nicht lange, schon im nächsten Augenblick kam ihm der kränkende Gedanke:
»Es war, als ob sie mir ein Almosen gereicht hätte ...«
Und zum zehnten Mal fiel ihm ein:
»Ja, war denn ein Junge da? Vielleicht war gar kein Junge da?«
Als er in seinem Zimmer war, schloß er die Tür zu, legte sich hin und lag so bis zum Abendtee. Als er ins Eßzimmer trat, schritt dort die Spiwak wie ein Wachtposten auf und ab, dünn und schlank nach der Entbindung, und mit gerundeter Brust. Sie begrüßte ihn mit der freundlichen Gleichgültigkeit einer alten Bekannten, fand ihn stark abgemagert und wandte sich dann wieder an Wera Petrowna, die am Samowar saß: »Siebzehn Mädchen und neun Knaben, wir brauchen aber unbedingt dreißig Schüler ...«
Von ihren Schultern floß ein leichtes perlfarbiges Gewebe. Die durchschimmernde Haut der Arme hatte die Tönung von Öl. Sie war unvergleichlich viel schöner als Lida, und dies reizte Klim. Ihn reizte auch ihr dozierender und geschäftsmäßiger Ton, ihre Buchsprache und ihre Manier, obwohl sie fünfzehn Jahre jünger als Wera Petrowna war, mit ihr zu sprechen wie die Ältere.
Als die Mutter Klim fragte, ob Warawka ihm angeboten habe, den kritischen Teil und die Bibliographie der Zeitung zu übernehmen, sagte sie, ohne Klims Antwort abzuwarten, lebhaft:
»Erinnern Sie sich, das war meine Idee? Sie besitzen alle Qualitäten für diese Rolle: kritischen Geist, im Zaun gehalten durch ein vorsichtiges Urteil, und guten Geschmack.«
Sie sagte das freundlich und ernsthaft, aber im Bau ihres Satzes schien Klim etwas Spöttisches zu liegen.
»Gewiß«, stimmte seine Mutter zu, wobei sie nickte und mit der Zungenspitze ihre verblichenen Lippen leckte. Klim forschte in dem verjüngten Gesicht der Spiwak und dachte:
»Was will sie von mir? Warum hat die Mutter sich so eng mit ihr angefreundet?«
Eine Flut rosenfarbenen Sonnenlichts wogte durchs Fenster herein. Die Spiwak schloß die Augen, legte den Kopf zurück und schwieg, während ein Lächeln ihre Lippen kräuselte. Man hörte jetzt Lida spielen. Auch Klim schwieg und verlor sich in den Anblick der rauchroten Wolken. Alles war unklar, mit Ausnahme des einen: er mußte Lida heiraten.
»Ich glaube, ich habe mich übereilt«, sagte er sich plötzlich, da er fühlte, daß in seinem Entschluß zu heiraten etwas Gezwungenes lag. Fast hätte er gesagt:
»Ich habe mich geirrt.«
Er hätte es sagen dürfen, denn er verspürte nicht mehr jenen Trieb zu Lida, der ihn so lange und so hartnäckig, wenn auch nicht heftig, bedrängt hatte.
Lida kam nicht zum Tee, sie zeigte sich auch nicht beim Abendessen.
Zwei Tage lang saß Klim zu Hause und wartete aufgeregt darauf, daß Lida im nächsten Augenblick zu ihm kommen oder ihn zu sich rufen werde. Den Mut, selbst zu ihr zu gehen, brachte er nicht auf, und es gab auch einen Vorwand, nicht hinzugehen: Lida hatte erklärt, sie fühle sich nicht wohl, und man brachte ihr das Mittagessen und den Tee auf ihr Zimmer.
»Dieses Unwohlsein ist wahrscheinlich ihr gewöhnlicher Anfall von Misanthropie«, sagte die Mutter mit einem Seufzen.
»Seltsame Charaktere bemerke ich unter der Jugend von heute«, fuhr sie fort, während sie Erdbeeren mit Zucker bestreute. »Wir lebten einfacher und heiterer. Diejenigen unter uns, die sich der Revolution zuwandten, bekannten sich mit Versen zu ihr und nicht mit Zahlen ...«
»Na weißt du, Mütterchen, Zahlen sind nicht schlechter als Verse«, brummte Warawka. »Mit Versen trocknest du den Sumpf nicht aus.«
Er nahm einen Schluck Wein, spülte damit den Mund aus, ließ das Naß durch die Gurgel laufen und sagte nach einigem Überlegen:
»Aber unsere Jugend ist wirklich säuerlich! Bei den Musikanten im Flügel verkehrt ein Bekannter von dir, Klim, wie heißt er doch gleich?«
»Inokow.«
»Richtig. Ein sonderbarer Kauz. Ich habe niemals einen Menschen gesehen, der allem und allen so fremd gegenübersteht. Ein Ausländer.«
Er musterte Klim forschend und mit einem spitzen Lächeln in den Augen und fragte:
»Und du – fühlst du dich nicht auch als Ausländer?«
»In einem Staat, in dem das Chodynka-Feld möglich ist«, begann Klim zornig, denn er war sowohl der Mutter wie Warawkas überdrüssig.
Gerade in diesem Augenblick erschien Lida in einem Schlafrock von bizarrer, goldglänzender Farbe, der Klim an die Gewänder der Frauen auf den Bildern Gabriele Rossettis erinnerte. Sie war von ungewohnter Lebhaftigkeit, scherzte über ihre Unpäßlichkeit, schmiegte sich zärtlich an den Vater und erzählte bereitwillig Wera Petrowna, daß Alina ihr den Schlafrock aus Paris gesandt habe. Ihre Lebhaftigkeit erschien Klim verdächtig und vertiefte den Zustand gespannter Erwartung, in dem er sich seit zwei Tagen befand. Er war darauf gefaßt, daß Lida jetzt etwas Ungewöhnliches und vielleicht Skandalöses sagen oder tun würde. Doch, wie immer, beachtete sie ihn fast gar nicht, und erst als sie ihr Zimmer aufsuchte, flüsterte sie ihm zu:
»Schließ deine Tür nicht ab.«
Es war für Klim erniedrigend, sich zu gestehen, daß dieses Flüstern ihn erschreckte, aber er erschrak in der Tat so heftig, daß seine Beine zitterten und er sogar taumelte wie nach einem Schlag. Er war fest davon überzeugt, daß sich in dieser Nacht zwischen ihm und Lida etwas Tragisches, Mörderisches abspielen würde. Mit dieser Gewißheit ging er wie ein zur Folter Verurteilter in sein Zimmer.
Lida ließ ihn lange warten – beinahe bis zum Morgengrauen. Die Nacht begann hell, aber schwül, und durch die geöffneten Fenster ergossen sich aus dem Garten Ströme feuchter Düfte der Erde, der Gräser und der Blumen. Dann verschwand der Mond, doch die Luft wurde noch feuchter und färbte sich dunstig blau. Klim Samgin saß halb entkleidet am Fenster, horchte ins Dunkel und schrak bei den unfaßlichen Geräuschen der Nacht zusammen. Einige Male sagte er sich voll Hoffnung:
»Sie kommt nicht. Sie hat sich anders besonnen.«
Aber Lida kam. Als die Tür lautlos aufging und auf der Schwelle die weiße Gestalt erschien, erhob er sich und näherte sich ihr. Er hörte ein zorniges Flüstern:
»Mach doch das Fenster zu!«
Das Zimmer füllte sich mit undurchdringlicher Finsternis, in der Lida verschwand. Samgin suchte sie mit ausgestreckten Armen, ohne sie zu finden und zündete ein Streichholz an.
»Laß! Du sollst nicht! Kein Licht«, vernahm er.
Es gelang ihm noch, wahrzunehmen, daß Lida auf dem Bett saß und sich hastig ihres Schlafrocks entledigte. Die Umrisse ihrer Hände schimmerten vage auf. Er trat zu ihr und kniete nieder.
»Schnell, schnell«, hauchte sie.
Im Schutz der Dunkelheit gab sie sich schamloser Raserei hin, biß ihn in die Schultern, stöhnte und forderte keuchend:
»Spüren will ich, spüren ...«
Sie weckte seine Sinnlichkeit wie eine erfahrene Frau, gieriger, als die geübte und ihrer Sache mechanisch sichere Margarita, wütender als die hungrige, ohnmächtige Nechajew. Zuweilen fühlte er, daß er jetzt gleich das Bewußtsein verlieren und sein Herz aussetzen würde. Es gab einen Augenblick, wo ihm schien, daß sie weinte. Ihr unnatürlich heißer Körper zuckte minutenlang wie in verhaltenem, lautlosem Schluchzen. Aber er war nicht sicher, daß dem so war, wenngleich sie danach aufhörte, ihm stürmisch in die Ohren zu flüstern:
»Spüren ... spüren ...«
Er konnte sich nicht erinnern, wann sie gegangen war, schlief wie ein Toter und verbrachte, zwischen Glauben und Zweifel an der Wirklichkeit des Geschehenen schwankend, den ganzen folgenden Tag wie im Traum. Er faßte nur das eine: in dieser Nacht hatte er Unbeschreibliches, noch nie Erlebtes erfahren, aber – nicht das, was er erwartet und nicht so, wie er es sich ausgemalt hatte. Die folgenden gleich stürmischen Nächte überzeugten ihn endgültig davon.
In seinen Umarmungen vergaß Lida sich nicht für einen Augenblick. Sie sagte ihm nicht ein einziges jener lieben Worte der Freude, an denen die Nechajew so reich war. Auch Margarita, mochte ihre Art, die Liebkosungen zu genießen, auch roh sein, hatte etwas Tönendes und Dankbares. Lida liebte mit geschlossenen Augen, unersättlich, aber freudlos und finster. Eine Falte des Zorns zerschnitt ihre hohe Stirn, sie entzog sich seinen Küssen mit abgewandtem Gesicht und zusammengepreßten Lippen, und wenn sie ihre langen Wimpern aufschlug, sah Klim in ihren dunklen Augen einen bösen, versengenden Schein. Aber das alles beengte ihn schon nicht mehr, kühlte seine Wollust nicht ab, sondern entflammte sie mit jedem neuen Zusammensein nur noch heftiger. Was ihn jedoch immer mehr verwirrte und störte, das war Lidas hartnäckige, bohrende Wißbegier. Zuerst belustigten ihre Fragen ihn nur durch ihre Kindlichkeit. Klim mußte an die derb gewürzten Novellen des Mittelalters denken und konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Allmählich nahm diese Naivität einen zynischen Charakter an, und Klim fühlte hinter den Worten des Mädchens ein eigensinniges Bestreben, etwas ihm Unbekannten und Gleichgültigen auf den Grund zu gehen. Er redete sich ein, Lidas unschickliche Neugier rühre von französischen Büchern her, und sie würde ihrer bald müde werden und verstummen. Aber Lida ermüdete nicht. Während sie ihm fordernd in die Augen sah, forschte sie in hitzigem Ton:
»Was empfindest du? Du kannst doch nicht leben, ohne dieses zu empfinden, nicht wahr?«
Er empfahl ihr:
»Lieben muß man stumm.«
»Um nicht zu lügen?« fragte sie.
»Schweigen ist nicht Lüge.«
»Dann ist es Feigheit«, sagte Lida und drang wieder in ihn:
»Wenn du genießt, erkennst du mich dann auf eine besondere Weise? Hat sich dann für dich in mir etwas verändert?«
»Gewiß«, antwortete Klim, um es sogleich zu bedauern, denn sie fragte:
»Wie denn? Was?«
Auf diese Fragen wußte er keine Antwort, fühlte, daß dieses Unvermögen ihn in den Augen des Mädchens herabsetzte, und dachte voll Verdruß:
»Vielleicht ist es auch nur der Zweck ihrer Fragen, mich zu sich herunterzuziehen.«
»Laß das«, sagte er schon nicht mehr freundlich. »Das sind unpassende Fragen in diesem Augenblick. Und sie sind kindisch.«
»Nun und? Wir sind beide einmal Kinder gewesen.«
Klim begann an ihr auch etwas wahrzunehmen, was den unfruchtbaren Grübeleien ähnelte, an denen er selbst einst gekrankt hatte. Es gab Augenblicke, wo sie plötzlich in einen Zustand halber Bewußtlosigkeit sank und minutenlang starr und stumm dalag. In diesen Minuten ruhte er aus und bestärkte sich in dem Gedanken, daß Lida anormal war und ihre Raserei ihr nur als Einleitung zu den Gesprächen diente. Sie liebkoste ihn mit wütender Leidenschaft, zuweilen schien es sogar, daß sie sich gewalttätig Qualen zufügte. Aber nach diesen Anfällen sah Klim, daß ihre Augen ihn feindselig oder fragend anschauten, und immer häufiger bemerkte er in ihren Pupillen böse Funken. Um diese Funken zu löschen, begann Klim Samgin sie gezwungen und bewußt von neuem zu liebkosen. Zuweilen jedoch stieg in ihm der Wunsch auf, ihr Schmerzen zuzufügen und sich für diese bösen Funken zu rächen. Es war fatal, sich daran zu erinnern, daß sie ihm einmal körperlos und hauchzart erschienen war, daß er gerade mit diesem Mädchen eine ganz besondere, reine und tiefe Freundschaft schließen wollte und nur sie allein ihm helfen sollte, sich selbst zu finden und festen Boden unter den Füßen zu gewinnen. Ja, nicht ihre seltsame und unheimliche Liebe suchte er, sondern ihre Freundschaft. Und nun war er betrogen. Als Antwort auf seine Versuche, ihr sein Fühlen nahe zu bringen, hielt sie ihm ein Schweigen entgegen und manchmal ein spöttisches Lächeln, das ihn verletzte und seine Worte schon im Beginn auslöschte.
Es hatte den Anschein, als ob Lida selbst Furcht vor ihrem höhnischen Lächeln und dem bösen Feuer in ihren Augen habe. Wenn er Licht machte, verlangte sie:
»Lösch es aus.«
Und in der Dunkelheit hörte er sie flüstern:
»Und dies ist alles? Für alle dasselbe: für Dichter, Kutscher und Hunde?«
»Höre«, sagte Klim, »du bist eine Dekadente. Das ist etwas Krankhaftes bei dir ...«
»Aber Klim, es kann ja nicht sein, daß dich dieses befriedigt? Es kann nicht sein, daß um dessentwillen Romeo, Werther, Ortis, Julia und Manon zugrunde gingen!«
»Ich bin kein Romantiker«, knurrte Klim und wiederholte: »Es ist etwas Degeneriertes ...«
Da fragte sie ihn:
»Ich bin erbärmlich, nicht wahr? Mir fehlt etwas? Sag, was mir fehlt!«
»Einfachheit«, antwortete Klim, der nichts anderes zu sagen wußte.
»Die der Katzen?«
Er getraute sich nicht, ihr zu sagen:
»Das, was die Katzen auszeichnet, besitzest du im Überfluß.«
Während er sie rasend, ja, wuterfüllt liebkoste, befahl er ihr in Gedanken:
»Weine! Du sollst weinen!«
Sie stöhnte, aber sie weinte nicht, und Klim bezwang von neuem mit Mühe den Wunsch, sie bis zu Tränen zu beleidigen und zu demütigen.
Einmal begann sie ihn im Finstern hartnäckig zuzusetzen: Was er empfunden habe, als er zum erstenmal eine Frau besaß.
Klim dachte nach und antwortete:
»Furcht. Und – Scham. Und du? Dort, oben?«
»Schmerz und Abscheu«, erwiderte sie, ohne sich zu besinnen. »Das Furchtbare empfand ich hier, als ich selbst zu dir kam.«
Sie rückte von ihm weg und fuhr nach einer Weile fort:
»Es war eigentlich nicht furchtbar, es war mehr. Es war wie das Sterben, So muß man in der letzten Minute seines Lebens fühlen, wenn der Schmerz aufgehört hat, und man nur noch stürzt. Ein Sturz ins Unbekannte, Unbegreifliche.«
Wieder schwieg sie und hauchte dann:
»Es gab einen Augenblick, wo in mir etwas starb, zugrunde ging, Hoffnungen, oder – ich weiß es nicht. Später die Verachtung vor mir selbst. Nicht Mitleid. Nein, Verachtung. Deshalb weinte ich, erinnerst du dich?«
Klim bedauerte, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Auch er schwieg lange, bevor er die vernünftigen Worte fand, die er ihr sagte:
»Es ist bei dir nicht Liebe, sondern Erforschung der Liebe.«
Sie flüsterte still und gehorsam:
»Umarme mich. Fester.«
Einige Tage lang war sie zahm, fragte ihn nicht aus und schien sogar beherrschter in ihren Zärtlichkeiten. Dann jedoch hörte Klim von neuem in der Dunkelheit ihr heißes, kratzendes Flüstern:
»Aber du mußt doch selbst zugeben, daß dies dem Menschen nicht genügen kann.«
»Was willst du noch mehr?« wollte Klim fragen, drängte aber seine Empörung zurück und stellte die Frage nicht.
Er fand, daß »dies« ihm vollkommen genügte, und alles gut wäre, wenn Lida schwiege. Ihre Liebkosungen übersättigten nicht. Er wunderte sich selbst, daß er in sich die Kraft für ein so tolles Leben fand, und begriff, daß Lida ihm diese Kraft gab, ihr immer rätselhaft glühender und unermüdlicher Körper. Er begann schon, stolz auf seine physiologische Ausdauer zu sein, und dachte bei sich, wenn er Makarow von diesen Nächten erzählte, würde der wunderliche Mensch ihm nicht glauben. Diese Nächte nahmen ihn vollkommen in Anspruch. Von dem Wunsch beherrscht, Lidas Redewut zu bändigen, sie einfacher und handlicher zu machen, dachte er an nichts, außer an sie und wollte nur das eine: sie sollte endlich ihre unsinnigen Fragen vergessen, seinen Honigmond nicht mit diesem aufreizend trüben Gift versetzen.
Aber sie ließ sich nicht bändigen, wenngleich die zornigen Lichter nicht mehr so häufig in ihren Augen zu funkeln schienen. Auch bedrängte sie ihn nicht mehr so stürmisch mit ihren Fragen. Dafür bemächtigte sich ihrer eine neue Stimmung, die sie wie mit einem Schlage packte. Mitten in der Nacht sprang Lida aus dem Bett, lief ans Fenster, öffnete es und kauerte sich, halbnackt, wie sie war, auf die Fensterbank.
»Es ist kühl, du wirst dich erkälten«, warnte Klim sie.
»Welche Trostlosigkeit!« antwortete sie ziemlich laut. »Welche Trostlosigkeit liegt in diesen Nächten, in dieser Stummheit der schläfrigen Erde, in diesem Himmel! Ich komme mir vor wie in einer Grube, wie in einem Abgrund.«
»Nun spielt sie also den gefallenen Engel«, dachte Klim.
Ihn quälte die Vorahnung schwerer Bedrängnisse. Zuweilen flammte unvermittelt die Angst auf, Lida könnte seiner überdrüssig werden und ihn von sich stoßen, manchmal aber wünschte er es selbst. Mehr als einmal hatte er schon bemerken müssen, daß seine Zaghaftigkeit vor Lida zurückgekehrt war, und fast jedesmal wollte er gleich darauf mit ihr brechen, um ihr so die Scheu, mit der sie ihn erfüllte, heimzuzahlen. Er hatte das Gefühl, zu verblöden, und er faßte nur sehr schlecht, was rings um ihn vorging. Ohnehin war es nicht leicht, die Bedeutung des Treibens zu erraten, das Warwara unermüdlich aufpeitschte und anfachte. Beinahe an jedem Abend drängten sich neue Gesichter im Eßzimmer, denen Warawka, mit seinen kurzen Armen fuchtelnd und in seinem ergrauenden Barte spielend, einschärfte:
»Die taktlose Einmischung Wittes in den Weberstreik hat der Bewegung einen politischen Charakter verliehen. Die Regierung tut alles, um die Arbeiter zu überzeugen, daß der Klassenkampf eine Tatsache ist und nicht eine Erfindung der Sozialisten – verstehen Sie?«
Der Redakteur nickte stumm und einverstanden mit seinem blankpolierten Schädel, und seine Lippe hing noch beleidigter herab.
Ein Mann in einer Samtjoppe, mit einer pompösen Halsschleife, der mächtigen Nase eines Spechts und hektischen Flecken auf den gelben Wangen schalt leise:
»Der Klassenkampf ist keine Utopie, wenn der eine ein Haus besitzt, der andere hingegen nur die Tuberkulose.«
Als Klim ihm vorgestellt wurde, reichte er ihm seine feuchte Hand, blickte ihm mit fiebrigen Augen ins Gesicht und sagte:
»Narokow – Robinson – haben Sie den Namen gehört?«
Er war unstät, sprang häufig und stürmisch von seinem Platz auf, sah stirnrunzelnd auf seine schwarze Uhr, zwirbelte sein dünnes Bärtchen zu einem Korkenzieher, stopfte es zwischen seine zerfressenen Zähne und verkürzte krankhaft die Haut seines Gesichts durch ein ironisches Lächeln, wobei er die Augen schloß und die Nasenflügel weit aufblähte, als wehre er einen störenden Geruch ab. Bei der zweiten Begegnung mit Klim teilte er ihm mit, daß dank der Feuilletons Robinsons eine Zeitung unterdrückt, eine andere auf drei Monate verboten worden war und eine Reihe weiterer Blätter »Verwarnungen« erhalten hatten, und daß in allen Städten, in denen er gearbeitet hatte, immer die Gouverneure seine Feinde waren.
»Mein Freund, ein Statistiker – er ist kürzlich im Gefängnis am Typhus gestorben –, gab mir den Spitznamen ›Geißel der Gouverneure‹.«
Man konnte nicht daraus schlau werden, ob er scherzte oder im Ernst sprach.
Klim erhaschte an ihm sogleich einen unangenehmen Zug: dieser Mensch betrachtete jedermann ironisch und feindselig hinter halbgeschlossenen Wimpern hervor.
Tief in seinem Sessel saß Warawkas Kompagnon im Zeitungsgeschäft, Pawlin Saweljewitsch Radejew, Eigentümer zweier Dampfmühlen, ein rundliches Männchen mit einem Tatarengesicht, das in ein sorgfältig gestutztes Bärtchen eingefügt war, und freundlichen, klugen Augen unter einer gewölbten Stirn. Warawka hatte offensichtlich eine sehr hohe Meinung von ihm und hing mit fragenden und erwartungsvollen Blicken an seinem Gesicht. Warawkas Unwillen über den politischen Zynismus Konstantin Pobedonoszews begegnete Radejew mit den Worten:
»Es macht die Wanze schon glücklich, daß sie stinkt.«
Dies war der erste Satz, den Klim aus dem Munde Radejews vernahm. Er setzte ihn um so mehr in Erstaunen, als er in einer so seltsamen Weise gesagt wurde, daß zwischen dem Gesprochenen und dem stämmigen, soliden Figürchen des Müllers mit dem straffen, festen wachsgelben oder, richtiger, honigfarbenen Gesicht keinerlei Übereinstimmung bestand. Sein Stimmchen war ausdruckslos und schwach.
»Sind Sie es nicht, den Boborykin zum Vorbild für seinen Kornspeicher – Sokrates Wassili Terkin genommen hat?« fragte Robinson ihn rücksichtslos.
»Ein schlechtes Buch, aber nicht ganz ohne Wahrheit«, antwortete Radejew. Er hielt seine runden Händchen auf dem Bauch gefaltet und drehte die Daumen. »Ich bin es natürlich nicht, aber ich nehme doch an, daß er nach der Natur geschildert ist. Auch unter der Kaufmannschaft finden sich neuerdings Nachdenkende.«
Samgin war zunächst geneigt zu glauben, daß dieser Kaufmann verschlagen und hartherzig sei. Als man von den Reliquien des Serafim von Sarow zu sprechen begann, sagte Radejew mit einem Seufzer:
»O weh, aus diesem Werk toter Gerechter wird uns nichts Gutes erstehen, noch weniger aus dem der lebendigen! Tun wir das doch wahrhaftig nicht freiwillig und nicht aus Not, sondern aus Gewohnheit! Wir sollten lieber zugeben, daß wir allzumal Sünder und alle im selben sündigen Erdenleben befangen sind.«
Er fand Vergnügen am Reden und rühmte sich, über alles mit seinen eigenen Worten sprechen zu können. Samgin horchte sich in sein farbloses Stimmchen, in seine stillen, abgewogenen Worte hinein und entdeckte in Radejew etwas Sympathisches, das mit seiner Erscheinung versöhnte.
»Sie bemerken sehr richtig, Timofej Stepanowitsch: in unserer jungen Generation reift eine mächtige Spaltung heran. Soll man darüber zürnen?« fragte er mit einem Lächeln seiner bernsteingelben Äuglein und antwortete gleich selbst zum Redakteur gewandt:
»Ich meine, man soll es nicht. Mir scheint von überaus großem Nutzen für unseren Staat der Zusammenstoß derer, die sich zu Herzen und den Slawophilen bekennen und sich auf Nikolaus den Wundertäter und auf die Bauern stützen, mit denen, die an Marx und Hegel glauben und auf Darwin fußen.«
Er holte Atem, beschleunigte die Drehung seiner kurzen Finger und liebkoste den Redakteur mit einem Lächeln. Der Redakteur raffte die Unterlippe auf und spannte die Oberlippe zu einer geraden Linie, so daß sein Gesicht kürzer, aber breiter wurde und auch so etwas wie ein Lächeln zeigte. Hinter seinen Brillengläsern regten sich formlose, trübe Flecke.
»Dies ist allerdings die Hauptrichtung der Spaltung«, fuhr Radejew noch sonorer und sanfter fort: »aber man kann noch eine zweite, ebenso wertvolle feststellen: es treten Jünglinge hervor, die sich nicht nur mit den Kümmernissen des Volkes, sondern auch mit den Geschicken des russischen Staates, mit der großen sibirischen Eisenbahn nach dem Stillen Ozean und anderen ebenso interessanten Dingen beschäftigen.«
Der Müller legte eine Pause ein, offenbar, damit man sich ganz mit der Bedeutsamkeit des von ihm Gesagten durchdringe, scharrte mit seinen kurzen Beinchen und fuhr fort:
»Die individualistische Stimmung von manchen unter den jungen Leuten ist auch nicht ganz ohne Nutzen, vielleicht verbirgt sich dahinter eine sokratische Besinnung auf sich selbst und eine Abwehr gegen die Sophisten. Nein, unsere Jugend entwickelt sich sehr interessant und vielversprechend. Sehr bezeichnend ist, daß Leo Tolstois verbohrte Lehre unter den Jungen keine Schüler und Apostel findet, absolut nicht findet, wie wir sehen.«
»Gewiß«, sagte der Redakteur, nahm die Brille ab und zeigte dahinter zwei sanfte Augen mit verschwommenen, fliederfarbenen Pupillen.
Radejew erfreute sich stets allgemeiner Aufmerksamkeit. Besonders Warawka saugte sich mit seinem spitzen Blick an dem Honiggesicht und den straffen, an Blutegel erinnernden Lippen des Müllers fest.
»Prachtvoll, wie der Müller die ›O's‹ rollt«, sagte er und lächelte freundselig. »Ein bestialisch kindliches Gemüt!«
Klim Samgin fand bei Warawka und Radejew etwas Gemeinsames heraus: Warawkas Arme waren kurz; der Müller hatte lächerlich kurze Beinchen.
Inokow meinte bezüglich Radejews:
»Den müßte man im Bade sehen. Nackt sieht er wahrscheinlich wie ein Samowar aus.«
Inokow kehrte soeben von einer Reise nach Orenburg, dem Turgai-Gebiet, Krassnowodsk und Persien zurück. Absonderlich in Segeltuch gekleidet, grau und wie bis auf die Knochen mit Staub durchtränkt, Sandalen an den nackten Füßen, einen breitrandigen Strohhut auf dem langherabhängenden Haar, war er das lebendig gewordene Porträt Robinson Crusoes auf dem Umschlag einer billigen Ausgabe dieses Evangeliums der Unüberwindlichen. Während er wie ein Kranich im Eßzimmer auf und ab stelzte, zupfte er mit dem Fingernagel kleine Hautschuppen von der sonnverbrannten Nase und erklärte energisch:
»Alle diese Baschkiren und Kalmücken beflecken ganz unnütz die Erde. Arbeiten können sie nicht, zum Lernen sind sie untauglich. Auch die Perser haben sich überlebt.«
Radejew sah leutselig zu ihm hin und bewegte die glattgekämmten Brauen. Warawka hänselte ihn:
»Und wohin mit ihnen nach Ihrer Meinung? Niedermetzeln? Aushungern?«
»Herbstlaub«, beharrte Inokow und schnaubte durch die Nase, als bliese er den heißen Staub der Steppe hinaus.
»Herbstlaub«, wiederholte Klim in Gedanken, während er die unergründlichen Menschen beobachtete, und fand, daß irgendeine Kraft ihre natürlichen Stellungen verrückt hatte. Jeder von ihnen bedurfte, um deutlicher sichtbar zu sein, gewisser Ergänzungen und Korrekturen. Immer mehr solcher Menschen traten in sein Blickfeld. Es wurde vollkommen unerträglich, im Reigen der nutzlos und ermüdend Klugen einherzustampfen.
Lida kam die Treppe herunter. Sie setzte sich in die Ecke, wo der Flügel stand, hüllte nach ihrer Gewohnheit die Brust eng in ihren Voileschleier und sah mit fremden Augen zu den Anwesenden hinüber. Der Schleier war blau und warf unangenehme Schatten auf die untere Gesichtshälfte, Klim war zufrieden, daß sie schwieg. Er fühlte, daß er ihr widersprechen müßte, sobald sie den Mund auftäte. Am Tage und in der Gesellschaft Dritter liebte er sie nicht.
Die Mutter trug gegenüber den Gästen ein würdevolles Benehmen zur Schau, lächelte ihnen gütig zu, und in ihrer Haltung lag etwas nicht zu ihr Gehöriges, Gezwungenes und Trauriges.
»Langen Sie zu«, forderte sie den Redakteur, Inokow und Robinson auf und schob ihnen mit einem Finger Teller mit Brot, Butter und Käse und Gläser mit Eingemachtem hin. Sie nannte die Spiwak Lisa und wechselte mit ihr Blicke des Einverständnisses. Die Spiwak stritt angeregt mit jedermann, mit Inokow häufiger als mit den anderen, wahrscheinlich, weil er sie umkreiste wie ein Kalb, das mit einem Strick an einen Pfahl gebunden ist.
Die Spiwak betrachtete sich mehr als Hausherrin denn als Gast, was Klim bestimmte, sie argwöhnisch zu beobachten. Wenn alle Außenstehenden aufgebrochen waren, ging die Spiwak mit Lida im Garten spazieren oder hielt sich oben in ihrem Zimmer auf. Sie unterhielten sich erregt, und Klim hatte stets Lust, heimlich zu horchen, wovon.
»Sehen Sie sich sie an – sehr interessant«, sagte sie zu Klim und drückte ihm die gelben Bändchen von René Doumic, Pellissier und Anatole France in die Hand.
»Wozu erzieht sie mich?« grübelte Klim und besann sich darauf, daß die Nechajew ihm Reproduktionen von Gemälden der Präraffaeliten, von Rochegrosse, Stuck und Klinger und Gedichte der Dekadenten zu schenken pflegte.
»Jeder versucht, einem etwas von sich aufzudrängen, damit man ihm ähnlich und um so verständlicher werde. Ich hingegen dränge niemand etwas auf«, dachte er mit Stolz, lauschte aber sehr aufmerksam den Urteilen der Spiwak über Literatur. Ihre Art, über die jüngste russische Dichtung zu sprechen, gefiel ihm.
»Diese jungen Leute haben es sehr eilig, sich von der humanitären Tradition der russischen Literatur frei zu machen. Im Grunde übersetzen und kopieren sie vorderhand nur die französischen Dichter und kritisieren sodann wohlwollend einander, um bei Gelegenheit kleiner literarischer Diebstähle von großen Ereignissen in der russischen Literatur zu schwatzen. Ich glaube, nach einem Tjutschew zeugt es von einer gewissen Unbildung, über die Dekadenten vom Montmartre in Begeisterung zu geraten.«
Dann und wann betrat Iwan Dronow, eine Aktentasche unterm Arm, reinlich gekleidet und mit unnatürlich knarrenden Stiefeln – in der scheuen Art eines geprügelten Katers – Warawkas Kabinett. Er grüßte Klim wie ein Untergebener den Sohn seines strengen Vorgesetzten und verzog sein stumpfnasiges Gesicht zu einer scheinheiligen Miene.
»Wie geht es dir?« fragte Samgin.
»Ich danke Ihnen, nicht schlecht«, antwortete Dronow, indem er den Nachdruck auf das »Ihnen« legte. Klim war verlegen. Im weiteren Verlauf ihres Gespräches redeten beide sich mit »Sie« an. Als Dronow sich verabschiedete, teilte er noch mit:
»Margarita läßt Sie grüßen. Sie erteilt jetzt Handarbeitunterricht in der Klosterschule.«
»In der Tat?« fragte Klim.
»Ja. Ich sehe sie häufig.«
»Warum hat er mir das gesagt?« dachte Klim beunruhigt, während er ihm durch die Brillengläser einen scheelen Blick nachsandte.
Er vergaß Dronow sofort. Lida verschlang alle seine Gedanken. Sie erfüllte ihn mit immer qualvollerer Bangigkeit. Es blieb ihm kein Zweifel daran, daß sie nicht das Mädchen war, von dem er geträumt hatte. Eine ganz andere. Während sie körperlich von Tag zu Tag berauschender wurde, begann sie schon, ihn mit verletzender Herablassung zu behandeln, und mehr als einmal schlug ihm aus ihren Fragen Ironie entgegen.
»Sag mir doch, was ist eigentlich bei dir anders geworden?«
Er wollte sagen:
»Nichts.«
Konnte auch sagen:
»Ich habe erkannt, daß ich mich geirrt habe.«
Aber es fehlte ihm an Mut, ihr die Wahrheit zu sagen, und er war auch nicht voll überzeugt, daß es die Wahrheit sei, und daß er sie ihr sagen mußte.
Er antwortete:
»Es ist zu früh, davon zu sprechen.«
»Bei mir ist nichts anders geworden«, deutete Lida flüsternd an, und ihr Geflüster in der schwülen nächtlichen Dunkelheit wurde ihm zum Albtraum. Es lag etwas Beklemmendes darin, daß sie ihre dummen Fragen stets im Flüstertone stellte, als ob sie selbst sich ihrer schäme, und diese Fragen klangen immer zynischer. Einmal – er sagte ihr etwas Beruhigendes – hielt sie ihn mit den Worten an:
»Warte mal, wo habe ich das gelesen?«
Sie besann sich und sagte im Ton der Gewißheit:
»Es ist aus Stendhals Buch ›Über die Liebe‹.«
Sie sprang aus dem Bett und ging rasch durchs Zimmer, über die tiefen und vollen Schatten auf dem Fußboden. Ihre mit schwarzen Strümpfen bekleideten Beine verschmolzen in seltsamer Weise mit den Schatten, die auch über ihr vom Mondschein bläulich getöntes Hemd glitten. Es sah so aus, als habe sie keine Beine und schwebe durch den Raum. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und stellte sich dann mit streng gefurchten Brauen vor den Spiegel. Sie betrachtete sich so oft und so eingehend im Spiegel, daß Klim es zuletzt als sonderbar und lächerlich empfand. Sie stand da, biß sich die Lippen, zog die Augenbrauen hinauf und strich sich über Brust, Leib und Hüften. Hinter ihrem nackten Körper zeigte der Spiegel die dunkle Tapete der Wand, und es war sehr unangenehm, Lida verdoppelt zu sehen: die eine, die lebendige, schaukelte über dem Boden, die andere glitt durch die reglose Leere des Spiegels.
Klim fragte sie unfreundlich:
»Glaubst du, schon schwanger zu sein?«
Sie ließ die Arme am Körper hinabgleiten, wandte sich heftig herum und fragte erschrocken:
»Was?«
Sie sank auf einen Stuhl und flüsterte kläglich:
»Ja, aber es kommen doch nicht immer Kinder? Und es sind ja noch nicht sechs Wochen ...«
»Was hast du nur? Fürchtest du dich davor, ein Kind zu kriegen?« Es bereitete Klim Vergnügen, sie zu verhöhnen. »Und was sollen hier die Wochen?«
Sie antwortete nicht, sondern begann sich hastig anzukleiden.
»Und erinnerst du dich: du wolltest ja einen Knaben und ein Mädchen haben?«
Sie schlüpfte so eilig in ihre Kleider, als könne sie sich nicht schnell genug vor ihm verbergen.
»Wollte ich es?« murmelte sie. »Ich erinnere mich nicht.«
»Du warst damals zehn Jahre alt.«
»Heute gefallen mir Knaben und Mädchen nicht mehr.«
Sie bückte sich, um die Schuhe anzuziehen, und sagte:
»Nicht alle haben das Recht, Kinder in die Welt zu setzen.«
»Hu, wie philosophisch!«
»Jawohl«, fuhr sie fort, während sie sich dem Bett näherte, »nicht alle. Wenn man schlechte Bücher schreibt oder miserable Bilder malt, so ist das kein großes Unglück, aber für schlechte Kinder verdient man Strafe.«
Klim war entrüstet.
»Woher hast du diese greisenhaften Einbildungen? Es ist lächerlich, sie anzuhören. Sagt das die Spiwak?«
Sie verließ ihn mit ihrem leichten Schritt, sich vorsichtig auf die Zehenspitzen erhebend. Es fehlte nur noch, daß sie den Rock aufnahm, dann hätte es so ausgesehen, als ob sie über eine schmutzige Straße ginge.
Klim mußte untätig zuschauen, wie diese fatalen Gespräche zwischen ihm und Lida unaufhaltsam zunahmen, ohne daß er ihnen aus dem Wege gehen konnte.
Eines Nachts ergab es sich, daß er ihr auf eine ihrer gewöhnlichen Fragen hin den Rat gab:
»Lies die ›Hygiene der Ehe‹, es gibt ein solches Buch, oder nimm dir ein Lehrbuch der Geburtshilfe vor.«
Lida kauerte auf dem Bett, sie hatte die Arme um ihre Knie geschlungen und ihr Kinn darauf gelegt.
»Warum«, fragte sie, »läuft bei dir alles auf Geburtshilfe hinaus? Wozu dann Gedichte? Was ruft Gedichte hervor?«
»Das solltest du lieber Makarow fragen.«
Mit höhnischem Lächeln fügte er hinzu:
»Marakujew nennt Makarow sehr glücklich einen Troubadour aus der Hintergasse.«
Lida wandte sich zu ihm um, glättete mit dem spitzen Nagel ihres kleinen Fingers seine Brauen und sagte:
»Du sprichst dumm. Und immer so, als ob du ein Examen ablegtest.«
»So ist es auch«, antwortete Klim. »Weil du mich immerfort examinierst.
Ihre Stimme brach sich in zwei Noten, wie in der Kindheit.
»Ich gebe dir häufig recht, aber nur, um nicht mit dir streiten zu müssen. Mit dir kann man über alles streiten, aber ich weiß, daß es nutzlos ist. Du bist schlüpfrig. Du hast keine Worte, die dir teuer wären.«
»Es ist mir unverständlich, wozu du dies sagst«, murmelte Klim böse, da er ahnte, daß ein entscheidender Augenblick eintrat.
»Wozu ich es sage?« fragte sie nach einer Pause. »In einem Operettenschlager heißt es: ›Liebe? Ja, was ist denn Liebe?‹ Ich grüble darüber seit meinem dreizehnten Jahr, seit dem Tage, an dem ich mich zum erstenmal Weib fühlte. Es war sehr entwürdigend. Ich bin unfähig, an etwas anderes zu denken, als daran.«
Samgin hatte den Eindruck, daß sie ratlos und schuldbewußt sprach. Er wünschte ihr Gesicht zu sehen und zündete ein Streichholz an. Aber Lida bedeckte ihr Gesicht mit der Hand und sagte in gereiztem Ton ihr gewohntes:
»Du sollst kein Licht machen.«
»Du liebst das Spiel im Dunkeln«, scherzte Klim, bereute es aber sogleich. Es war dumm.
Im Garten brauste der Wind. Die Bäume scheuerten sich an den Scheiben, ihre Zweige stießen mit kurzen Lauten gegen die Läden, und man hörte noch ein rätselhaftes, seufzendes Geräusch, als winselte ein Hündchen im Schlaf. Diese Laute vermischten sich mit Lidas Geflüster und gaben ihren Worten einen kummervollen Ton.
»Man darf einander nicht belügen«, vernahm Klim. »Man lügt, um bequemer zu leben, ich aber suche nicht Bequemlichkeit, versteh mich doch! Ich weiß nicht, was ich will. Vielleicht hast du recht, es ist wirklich etwas Greisenhaftes in mir, und dies ist der Grund, warum ich nichts lieben kann, und alles mir verkehrt und nicht so, wie es sein sollte, erscheint.«
Zum erstenmal seit ihrem Verhältnis sprach zu Klim aus Lidas Worten etwas Verständliches und Vertrautes.
»Ja«, sagte er, »vieles ist nur erdacht, ich weiß es.«
Und zum erstenmal kam ihm der Wunsch, Lida auf ganz besondere Art zu liebkosen, sie zu Tränen zu rühren und zu ungewöhnlichen Geständnissen geneigt zu machen, damit sie ihm ihre Seele ebenso willig enthülle, wie sie gewohnt war, ihren empörerischen Körper zu enthüllen. Er war sicher, daß sie gleich etwas erschütternd Einfaches und Weises sagen und aus allem, was er erfahren hatte, einen bitteren, aber heilkräftigen Saft für ihn und sie pressen würde.
»Mir scheint, siehst du, die glücklichen Menschen sind nicht jung, sondern betrunken«, fuhr sie fort zu flüstern. »Niemand von euch hat Diomidow verstanden, ihr hieltet ihn für irr, aber wie erstaunlich wahr ist sein Ausspruch: ›Vielleicht ist Gott eine Erfindung, aber die Kirchen sind Wirklichkeit. Es sollte aber nur Gott und den Menschen geben, steinerne Kirchen sind unnötig. Das Wirkliche beengt‹.«
»Der Anarchismus eines Schwachsinnigen«, warf Klim hastig ein. »Ich kenne das, ich habe gehört: ›Der Baum ist ein Dummkopf, der Stein ist ein Dummkopf‹ und so fort. Ein Unsinn!«
Er fühlte, daß ungeheuer bedeutende Gedanken in ihm reiften. Aber um ihnen Ausdruck zu verleihen, gab ihm sein boshaftes Gedächtnis nur fremde Worte ein, die Lida wahrscheinlich schon kannte. Auf der Suche nach eigener Sprache und um Lidas Flüstern ein Ende zu machen, legte er einen Arm um ihre Schulter, aber sie ließ die Schulter so jäh abfallen, daß seine Hand auf ihren Ellenbogen hinunterglitt, und als er ihn drückte, verlangte Lida:
»Laß mich los.«
»Warum?«
»Ich will fort.«
Und sie ging und ließ ihn wie immer in der Finsternis und im Schweigen zurück.
Oft war es auch so, daß sie ganz plötzlich fortging, wie erschreckt durch seine Worte, doch diesmal hatte ihre Flucht etwas besonders Verletzendes, denn wie ihren Schatten nahm sie alles mit sich, was er ihr sagen wollte. Klim stieg aus dem Bett und öffnete das Fenster. Ein Windstoß fuhr ins Zimmer, erfüllte es mit Staubgeruch, blätterte unwillig in den Seiten eines Buches, das auf dem Tisch lag, und half Klim dabei, sich zu empören.
»Morgen werde ich mich mit ihr aussprechen«, beschloß er, während er das Fenster zumachte und sich wieder ins Bett legte. »Genug der Launen und des Geredes ...«
Er fand Lidas Stimmung nachgerade unberechenbar, und er nannte das bereits schizophren. Zum zweitenmal, seit er Lida kannte, bemerkte er auch, daß sie sich sogar physisch spaltete: wieder trat durch ihre vertrauten Züge das hinter ihnen verborgene fremde Antlitz. Sie hatte plötzlich Anfälle von Zärtlichkeit für ihren Vater und Wera Petrowna und backfischhafter Verliebtheit in Jelisaweta Spiwak. Es gab Tage, wo sie die Menschen mit den Augen einer anderen ansah: sanft, teilnahmsvoll und so traurig, daß Klim besorgte, daß sie, von Reue übermannt, gleich ihr Liebesverhältnis mit ihm eingestehen und schwarze Tränen weinen würde. Der Ausdruck »schwarze Tränen« gefiel ihm sehr. Er fand, daß sie eins seiner glücklichen Bilder seien.
Besonders stutzig machte es ihn, zu sehen, wie liebevoll Lida um seine Mutter bemüht war, die trotzdem fortfuhr, lehrhaft und gleichsam aus Gnade mit ihr zu sprechen, wobei sie nicht in das Gesicht des Mädchens blickte, sondern auf ihre Stirn oder über sie hinweg.
Doch plötzlich entlud sich dieses Liebeswerben in einem überraschenden und beinahe rohen Ausfall.
Eines Abends beim Tee erteilte Wera Petrowna Lida herablassende Ermahnungen:
»Das Recht zu kritisieren beruht entweder auf starkem Glauben oder auf sicherem Wissen. Von Glauben spüre ich nichts bei dir, und was dein Wissen betrifft, so wirst du zugeben, daß es ungenügend ist ...«
Lida ließ sie nicht ausreden und warf nachdenklich dazwischen:
»Der Kutscher Michail schreit die Leute an, sieht aber selber nicht, wo er fahren muß, und man hat Angst, daß ihm jemand unter seinen Wagen gerät. Er ist schon fast blind. Weshalb wollen Sie ihn nicht heilen?«
Wera Petrowna blickte Warawka fragend an und zuckte die Achseln. Warawka murmelte:
»Heilen? Er ist vierundsechzig Jahre alt. Dagegen gibt es keine Heilung.«
Lida ging aus dem Zimmer, erschien aber einige Minuten darauf im Garten in lebhaftem Gespräch mit der Spiwak und Klim hörte sie fragen:
»Aber weshalb muß ich fremde Fehler verbessern?«
Zuweilen fühlte Klim, daß sie ihm so trocken und gezwungen begegnete, als habe er sich gegen sie etwas zuschulden kommen lassen, und als sei ihm zwar schon verziehen, aber die Verzeihung Lida nicht leicht gefallen. Nachdem er sich all dies hatte durch den Kopf gehen lassen, beschloß er noch einmal:
»Morgen führe ich eine Aussprache herbei.«
Am nächsten Morgen, beim Frühstück, teilte Warawka, während er Brotkrümel aus seinem Bart schüttelte, Klim mit:
»Heute werde ich die Redaktion mit den kulturfördernden Kräften der Stadt bekannt machen. Auf siebzigtausend Einwohner kommen rund vierzehn Kräfte, jawohl, mein Lieber! Drei von diesen Kräften stehen unter unmittelbarer Polizeiaufsicht und die übrigen wahrscheinlich so gut wie alle unter geheimer.« Deutsch sagte er: »Sehr komisch.«
Er sann nach, drückte eine halbe Zitrone in seinen Tee aus, seufzte und fuhr fort:
»Unser Staat, Bruder, ist wahrlich das Originellste, was man sich vorstellen kann. Sein Köpfchen ist für diesen Rumpf zu klein. Ich habe Lida aufs Land hinausgeschickt, um den Schriftsteller Katin einzuladen. Wie ist es nun mit dir, gedenkst du, Kritiken zu schreiben?«
»Ich will es versuchen«, antwortete Klim.
Die Abendgesellschaft mit den vierzehn »Kräften« erinnerte ihn an die Sonnabendsitzungen rund um Onkel Chrisanfs Fischpasteten.
Der sehr gealterte Rechtsanwalt Gussew hatte sich einen Bauch angemästet. Er stemmte ihn gegen die gebrechliche kleine Figur Spiwaks und gab mit matten Worten seiner Empörung über die Verbreitung von Balalaikas im Heere Ausdruck.
»Die Schalmei, das Horn und die Harfe – das sind wirkliche Volksinstrumente. Unser Volk ist lyrisch, die Balalaika entspricht nicht seinem Geiste.«
Spiwaks schwarze Brillengläser sahen auf seine Brust. Er antwortete furchtsam:
»Ich glaube, das ist nicht wahr, sondern nur die Unart, für ›schlecht‹ ›Volk‹ oder ›volkstümlich‹ zu sagen.«
Und zu seiner Frau gewandt:
»Ich will gehen und nachsehen, ob es auch nicht weint.«
Er lief fort, und Gussew begann jetzt, auf den Statistiker Kostin einzureden, einen Menschen mit einem vollen, weibischen Gesicht.
»Ich gebe Ihnen natürlich zu, daß Alexander III. ein dummer Zar gewesen ist, aber immerhin hat er uns den rechten Weg zur Vertiefung in unsere nationale Eigenart gewiesen.«
Der Statistiker, stadtbekannt durch seine Gewohnheit, sich im Gefängnis aufzuhalten, lachte gutmütig, während er aufzählte:
»Pfarrschulen, Wassermonopol ...«
Robinson mischte sich ein.
»Ja, wenn man sich schon in die nationale Eigenart zu vertiefen beabsichtigt, darf man auch die Balalaika nicht ablehnen.«
Kostin fiel Robinson ins Wort und schrie mit hoher Stimme heraus: »Das ganze ist nur die Politik, dem Rad der Geschichte Strohhalme zwischen die Speichen zu schieben.«
Inokow sagte mit finsterem Lächeln zu Klim:
»Dieser Gefängnisinsasse spricht über Geschichte, wie ein treuer Sklave von seiner Herrin.«
Inokow war unheilverkündend schwarz gekleidet: schwarzes Wollhemd, gegürtet mit einem breiten Riemen, und schwarze Hosen, die er in die Stiefel geschoben hatte. Er war stark abgemagert, musterte alle Anwesenden mit zornigen Blicken und lenkte seine Schritte gemeinsam mit Robinson häufig zum Spirituosentisch. Und immer folgte ihnen, schief seitwärts trottend wie ein Krebs, der Redakteur. Klim war zweimal Zeuge, wie er den Feuilletonisten ermahnte:
»Narokow, legen Sie sich nicht zu stark ins Zeug. Es schadet Ihnen.«
Am Tisch führte der Schriftsteller Katin das Kommando. Die Jahre hatten auf seinem Gesicht keine Spuren zurückgelassen, nur an den Schläfen waren die Spitzen seiner Haare ergraut, und über seine straffen Bäckchen liefen die Muster roter Äderchen. Er hüpfte wie ein Gummiball von einer Ecke in die andere, fing die Menschen ein, schleppte sie zur Wodka und hänselte mit seiner kleinen lebhaften Tenorstimme den Redakteur:
»Rütteln wir den Spießer auf, Maximitsch? Sagen wir ihm gründlich die Meinung, wie? Laß nur keine Marxisten ran! Du wirst sie doch nicht ranlassen? Nun, sieh dich nur vor! Ich bin einer von den Alten ...«
Während er einen Imbiß zum Schnaps nahm, sagte er, vor Vergnügen blinzelnd:
»Ach, das sind doch nur fabrikmäßig eingemachte Pilze, sie begeistern nicht! Die Schwester meiner Frau sollten Sie sehen, die hat gelernt, Pilze zu marinieren – einfach fabelhaft!«
Gussews Gehilfe, der junge Advokat Prawdin, in einem elegant geschnittenen Gehrock, gescheitelt und parfümiert wie ein Friseur, suchte eindringlich Tomilin und Kostin zu überzeugen.
»Die unbestreitbaren Normen des Rechts ...«
Tomilin lächelte metallisch, während Kostin zärtlich seine abnorm entwickelten Backenknochen rieb und in sanftem Tenor Einwände erhob.
»Gerade in diesen Ihren Normen stecken alle Grundlagen des sozialen Konservativismus.«
Die Witwe des Notars Kosakow, eine ehemalige Studentin, die für die Erziehung außerhalb der Schule tätig war, eine Frau mit einem Kneifer auf der Nase und einem schönen, strengen Gesicht, bewies dem Redakteur, daß die Theorien Pestalozzis und Fröbels in Rußland nicht anwendbar seien.
»Wir haben einen Pirogow, haben einen ...«
Robinson unterbrach sie, indem er sie darauf aufmerksam machte, daß Pirogow ein Anhänger der Prügelstrafe sei, und deklamierte die Verse Dobroljubows:
»Doch nicht mit jenen gewöhnlichen Hieben,
Womit man überall die Dummen gerbt,
Sondern mit denen, die für ehrenwert erachtet
Nikolai Iwanowitsch Pirogow ...«
»Die Verse sind miserabel, außerdem werden überall in Europa die Kinder mit Prügeln gestraft«, erklärte die Kosakow im bestimmtem Ton.
Doktor Ljubomudrow wagte es zu bezweifeln:
»Überall? Und, wenn ich mich nicht irre, prügelt man nicht, sondern schlägt mit dem Lineal auf die Hände.«
»Doch, man prügelt«, beharrte die Kosakow. »In England prügelt man.«
Tomilin, bekleidet mit einem blauen Flauschrock und schweren, über die stumpfen Stiefel fallenden Hosen, schlenderte durch das Eßzimmer wie über einen Markt, wischte sich mit dem Tuch sein heftig schwitzendes, fuchsiges Gesicht, beobachtete, stand für einen Moment still, um zuzuhören, und geruhte nur selten, einige herablassende, kurze Sätze fallen zu lassen. Als Prawdin, ein leidenschaftlicher Freund des Theaters, jemandem zurief: »Erlauben Sie, es ist ein Vorurteil, daß das Theater eine Schule sein soll, das Theater ist ein Schauspiel für das Auge!« sagte Tomilin ironisch lächelnd:
»Das ganze Leben ist ein Schauspiel für das Auge.«
Kapitän Gortalow, der Erzieher in einer Kadettenschule gewesen und dem die Erlaubnis zur Ausübung einer pädagogischen Tätigkeit entzogen worden war, ein vorzüglicher Kenner seiner Heimat und ein tüchtiger Botaniker und Gärtner, mager, sehnig, mit brennenden Augen, bewies dem Redakteur, daß die Protuberanzen das Ergebnis des Falls fester Körper in die Sonne und der Aufschüttelung ihrer Masse seien, während am Teetisch Radejew sockelfest dasaß und den Damen erzählte:
»Da ich ein wenig, übrigens nur in sehr geringem Maße, belesen bin und Europa kenne, finde ich, daß Rußland in der Gestalt seiner Intelligenz etwas Einzigartiges von ungeheurem Wert hervorgebracht hat. Unsere Landärzte, Statistiker, Dorflehrer, Schriftsteller und überhaupt geistig Schaffenden sind ein Schatz von ungewöhnlicher Kostbarkeit ...«
»Scherzt er? Meint er es ironisch?« riet Klim Samgin, während er seinem glatten, schwachen Stimmchen lauschte.
Kapitän Gortalow marschierte in militärischem Paradeschritt an Radejew heran und streckte ihm seine lange Hand hin.
»Ein treffendes Urteil. Eine ausgezeichnete Idee. Meine Idee. Und darum: die russische Intelligenz muß sich als einheitliches Ganzes fühlen. Das ist es. So wie die Orden der Johanniter und Jesuiten, Jawohl! Die ganze Intelligenz hat eine einzige Partei zu werden, nicht aber sich zu zersplittern! Das lehrt uns der ganze Gang der Zeitgeschichte. Das sollte uns auch der Selbsterhaltungstrieb lehren. Wir haben keine Freunde. Wir sind Ausländer. In der Tat. Die Bürokraten und Kapitalisten knechten uns. Für das Volk sind wir Sonderlinge und Fremde.«
»Sehr wahr, Fremde!« rief gefühlvoll der Schriftsteller Katin, der bereits angeheitert war.
Die Sprechweise des Kapitäns hatte etwas von einem Trommelwirbel, seine Stimme betäubte. Radejew nickte, rückte vorsichtig mit dem Stuhl von ihm weg und murmelte:
»Dies bedarf einer kleinen Richtigstellung.«
Spiwak kam zurück, beugte sich zu seiner Frau hinab und sagte:
»Es schläft. Ganz fest.«
Diese Leute, die noch einmal jenes Kindheitserlebnis: die von dem betrunkenen Fischer gefangenen, mit knirschenden Schwänzen nach allen Seiten über den Küchenboden strebenden Krebse, heraufbeschworen, interessierten Klim nicht im geringsten. Er hörte gleichgültig ihre Reden an, wich geflissentlich einer Teilnahme an ihren Streitigkeiten aus und betrachtete mit scharfen Augen Inokow. Es mißfiel ihm, daß er zusammen mit Lida aufs Land hinausgefahren war, um den Schriftsteller Katin einzuladen, mißfiel auch, daß dieser grobschlächtige Bursche so familiär zwischen Lida und der Spiwak hin und her schaukelte, während er sich mit spöttischem Lächeln bald zu der einen bald zu der anderen hinüberneigte. Zu Beginn des Abends war Inokow mit demselben spöttischen Lächeln an ihn herangetreten und hatte gefragt:
»Von der Universität entfernt?«
Diese unerwartete Frage und ihre Form schlugen Klim vor den Kopf. Fragend starrte er in das verunglückte Gesicht des Burschen.
»Revoltiert?« fragte dieser abermals. Als aber Klim ihm erklärte, daß er in diesem Semester nicht studiert habe, stellte Inokow eine dritte Frage:
»Aus Vorsicht nicht studiert?«
»Was hat die Vorsicht damit zu schaffen?« erkundigte sich Klim trocken.
»Um nicht in eine Affäre hineingerissen zu werden«, erläuterte Inokow und drehte ihm den Rücken.
Einige Minuten darauf erzählte er Wera Petrowna, Lida und der Spiwak:
»Drei Monate später, er kam gerade aus Paris zurück, trifft er mich auf der Straße und ladet mich ein: ›Kommen Sie zu uns, meine Frau und ich haben eine wunderschöne Sache gekauft!‹ Ich ging, will mich setzen, da schiebt er mir ein leichtes Stühlchen von seltsamem Aussehen hin, mit vergoldeten Beinen und Samtpolster. ›Bitte, Platz zu nehmen!‹ Ich weigere mich, aus Furcht, einen so zierlichen Gegenstand zu zerbrechen. ›Nein, nehmen Sie nur Platz!‹ bittet er. Kaum sitze ich, beginnt unter mir eine Musik etwas sehr Lustiges zu spielen! Ich sitze und fühle, daß ich rot werde, er und seine Frau aber sehen mich mit seligen Blicken an und lachen, freuen sich wie Kinder! Ich stand auf, und die Musik verstummte. ›Nein!‹ sage ich, ›das gefällt mir nicht. Ich bin gewohnt, Musik mit den Ohren zu hören.‹ Da waren sie beleidigt.«
Diese simple Erzählung erheiterte die Mutter und die Spiwak und entlockte Lida ein Lächeln. Samgin fand, daß Inokow mit großem Geschick den Harmlosen spielte, während er in der Tat verschlagen und böse sein mußte. Nun sprach er wieder und ließ dabei seine kalten Augen blinken:
»Ja, da sind nun die Leute in die herrlichste Stadt Europas gereist, haben dort die abgeschmackteste Sache erstanden, die sie finden konnten, und sind glücklich. Dies hier aber –« er reichte der Spiwak sein Zigarettenetui – »ist das Geschenk eines schwindsüchtigen Tischlers mit Frau und vier Kindern.«
Das Zigarettenetui erregte Entzücken. Auch Klim nahm es in die Hand. Es war aus der Wurzel des Wacholderstrauchs gedrechselt. In den Deckel hatte der Meister kunstvoll einen kleinen Teufel eingebrannt, der Teufel hockte auf einem Mooshügel und kitzelte mit einem Schilfrohr einen Reiher.
»Zwei Tage und zwei Nächte hat er daran geschnitzt«, sagte Inokow, wobei er sich die Stirn rieb und alle fragend ansah. Zwischen dem musikalischen Stuhl und diesem Ding scheint mir ein Zusammenhang zu bestehen, den ich nicht begreife. Ich begreife überhaupt vieles nicht.«
Er grinste breit, schüttelte den Kopf und zündete sich eine Zigarette an. Das Streichholz löschte er erst zwischen seinen Fingern und warf es erst dann auf eine Untertasse.
»Zuerst siehst du die Dinge an und dann sie dich. Du – mit Interesse, sie fordernd: ›Rate, was wir wert sind!‹ Nicht in Geld, sondern für die Seele. Na, ich werde mal gehen und einen Schnaps trinken ...«
Samgin folgte ihm. Am Imbißtisch herrschte ein Gedränge. Warawka frönte seiner Redelust. In der einen Hand hielt er ein Glas Wein, mit der anderen zog er seinen Bart über die Schulter und hielt ihn dort fest.
»Die Studentenunruhen sind ein Ausdruck gefühlsmäßiger Opposition. In der Jugend dünken die Menschen sich begabt, und diese Einbildung erlaubt ihnen, zu glauben, daß sie von Stümpern regiert werden.«
Er nahm einen Schluck Wein und fuhr mit erhöhter Stimme fort:
»Aber da unsere Regierung in der Tat stümperhaft ist, findet die gefühlsmäßige Opposition unserer Jugend eine glänzende Rechtfertigung. Wir wären friedlicher und klüger, hätten wir so talentvolle Staatsmänner wie zum Beispiel England. Aber Köpfe haben wir unter unseren Staatsmännern nicht, und so heben wir denn einen Mann wie Witte auf den Schild.«
Inokow stieß rücksichtslos die Umstehenden auseinander, ging an den Tisch, schenkte sich Wodka ein und sagte halblaut zu Klim:
»Ein handfester Kerl ist Ihr Stiefvater. Und wer ist dieser Rote?«
»Mein alter Lehrer, ein Philosoph.«
»Ein Hanswurst vermutlich.«
Samgin wollte unwillig werden, als er aber sah, daß Inokow Käse kaute, wie ein Hammel Gras, fand er, daß es sinnlos wäre, sich aufzuregen.
»Wo ist die Somow?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete Inokow gleichgültig. »Ich glaube im Kaukasus bei einem Hebammenkursus. Wir haben uns ja getrennt. Ihre einzige Sorge ist die Konstitution und die Revolution. Ich hingegen bin mir noch im unklaren darüber, ob eine Revolution überhaupt nötig ist ...«
»So ein Flegel!« dachte Klim, während er die dumpfe, zänkische Stimme an sein Ohr klingen ließ.
»Wenn man um der Sattheit willen für die Revolution ist, so bin ich dagegen, denn ich fühle mich satt schlechter als hungrig.«
Klim überlegte, auf welche Weise er diesen schlauen Strolch, der so gewandt die Rolle des gutherzigen Jungen spielte, aus dem Konzept bringen und entlarven könnte. Doch ehe er etwas ersinnen konnte, versetzte Inokow ihm einen leichten Schlag auf die Schulter und sagte:
»Es interessiert mich, zu wissen, Samgin, woran Sie denken, wenn Sie ein solches Hechtgesicht machen.«
Klim runzelte die Stirn und rückte von ihm weg. Aber Inokow bestrich unbekümmert ein Stück Roggenbrot mit Butter und fuhr nachdenklich fort:
»So vor einer Woche ungefähr sitze ich mit einem lieben Mädel im Stadtpark, Es ist schon spät, still, der Mond segelt am Himmel, die Wolken fliehen, von den Bäumen fallen Blätter auf den mit Lichtflecken gescheckten Erdboden. Das Mädchen, eine Gespielin meiner Kindheit, eine alleinstehende Prostituierte, ist traurig, klagt, bereut, überhaupt ein Roman, wie er sein soll. Ich tröste sie: ›Hör auf‹, sagte ich ihr, ›laß sein! Die Türen der Reue öffnen sich leicht, aber was hat es für einen Zweck?‹ Trinken Sie einen? Na, ich werde mir einen zu Gemüte führen.«
Er kniff das linke Auge zu, leerte das Glas und schob ein kleines Stück Brot mit Butter in den Mund, was ihn nicht hinderte, weiterzusprechen.
»Plötzlich kommen Sie des Weges mit genau so einem Hechtgesicht wie eben jetzt. Aha, denke ich, am Ende sage ich Annita nicht das Richtige. Der dort aber weiß, was man sagen muß. Was hätten Sie, Samgin, einem solchen Mädel gesagt?«
»Wahrscheinlich dasselbe wie Sie!« erwiderte Klim liebenswürdig. Er hatte die Lust verloren, Inokows Verschlagenheit zu entlarven.
»Dasselbe?« wunderte sich Inokow, »Ich kann es nicht glauben. Nein, Sie haben was ganz Eigenes, so etwas ...«
Klim lächelte, da er fand, daß ein Lächeln in diesem Fall bedeutender war als Worte. Inokow streckte abermals die Hände nach der Flasche aus, machte jedoch eine abwinkende Geste und kehrte zu den Damen zurück.
»Ein Weiberfreund«, dachte Klim, aber bereits gnädig.
Wie früher begegnete er Inokow häufig auf der Straße, am Flußufer unter den Lastträgern oder abseits von den Menschen. Er stand bis an die Knöchel im Sand eingegraben, kaute an einem Strohhalm, zerbiß ihn, spuckte die Stücke aus oder verfolgte rauchend und mit nachdenklich zugekniffenen Augen das emsige Schaffen der Leute. Stets war er mit Staub bedeckt und sah in seinem breiten, zerdrückten Hut wie ein Fackelträger aus. Er sah ihn auch in Dronows Gesellschaft aus einer Bierschenke treten. Dronow kicherte und vollführte mit der rechten Hand runde Gesten, als schleife er einen Unsichtbaren an den Haaren hinter sich drein. Inokow sagte:
»Ganz recht. Vielleicht scheint uns nur, daß wir uns nicht vom Fleck bewegen, während wir in Wirklichkeit spiralenförmig emporsteigen.«
Er sprach auf der Straße ebenso laut und rücksichtslos wie im Zimmer und fixierte jeden Vorübergehenden wie jemand, der sich verlaufen hat und nicht weiß, wen er nach dem Weg fragen soll.
Es war unbegreiflich, weshalb die Spiwak soviel Wesens von Inokow machte, weshalb die Mutter und Warawka ihm offensichtlich zugetan waren und Lida ganze Stunden plaudernd mit ihm im Garten verbrachte und ihm freundschaftlich zulächelte. Sie lachte auch jetzt, während sie am Fenster vor Inokow stand, der sich mit einer Zigarette in der Hand auf der Fensterbank niedergelassen hatte.
»Ja, ich muß mich unbedingt mit ihr aussprechen ...«
Er tat das am anderen Tag. Gleich nach dem Frühstück suchte er sie in ihrem Zimmer auf und fand sie in Mantel und Hut, den Sonnenschirm in der Hand, zum Weggehen bereit. Ein feiner Regen leckte die Fensterscheiben.
»Wohin willst du?«
»In die Kanzlei des Gouverneurs. Wegen meines Passes.«
Sie lächelte.
»Wie komisch deine Verwunderung war! Ich habe dir doch mitgeteilt, daß Alina mich nach Paris ruft und mein Vater mich fortgelassen hat ...«
»Das ist nicht wahr!« entgegnete Klim zornig. Er fühlte, wie ihm die Knie zitterten. »Kein Wort hast du mir gesagt. Ich höre es zum erstenmal. Was tust du?« fragte er aufgebracht.
Lida warf ihren Schirm auf das Sofa und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Ihr bräunliches, sehr erschöpftes Gesicht lächelte fassungslos, und in ihren Augen bemerkte Klim ungeheucheltes Staunen.
»Wie ist das seltsam!« sagte sie leise und blickte blinzelnd in sein Gesicht. »Ich war überzeugt, es dir gesagt ... dir Alinas Brief vorgelesen zu haben. Hast du es auch nicht vergessen?«
Klim schüttelte den Kopf. Sie stand auf und sagte, während sie im Zimmer auf und ab schritt:
»Siehst du, das kam so ... Ich rede und streite so viel mit dir, wenn ich allein bin, daß mir scheint, du weißt alles, hast alles verstanden ...«
»Ich würde mit dir reisen«, murmelte Klim, der ihr nicht glaubte.
»Und dein Studium? Es ist für dich Zeit, nach Moskau zu fahren ... Nein, wie sonderbar sich das mit mir ereignet hat! Ich sage dir, ich hätte schwören können ...«
»Ja, aber wann werden wir uns trauen lassen?« fragte Klim zornig und ohne sie anzublicken.
»Was?« Sie blieb stehen. »Mußt du ..., müssen wir es denn?« hörte er sie bang flüstern.
Sie stand mit weitgeöffneten Augen vor ihm. Ihre Lippen bebten, und in ihr Gesicht schoß das Blut.
»Warum trauen lassen? Ich bin ja nicht schwanger.«
Dies klang so gekränkt, als hätte nicht sie es gesagt. Sie ging fort und ließ ihn in dem leeren, nicht aufgeräumten Zimmer zurück, in einer Stille, die kaum von dem zaghaften Rauschen des Regens gestört wurde. Lidas plötzlicher Entschluß, abzureisen, vor allem aber ihr Schreck, als er fragte, wann sie heiraten wollten, entmutigten Klim so sehr, daß er im ersten Augenblick nicht einmal beleidigt war. Erst als er mehrere Minuten im Zustand völliger Niedergeschlagenheit zugebracht hatte, riß er sich die Brille von der Nase, schritt erregt im Zimmer auf und ab, zupfte so heftig an seinem Schnurrbart, daß es schmerzte, und fragte sich:
»Das Ende?«
Sogleich erinnerte er sich daran, daß er ja selbst die Möglichkeit eines Bruches erwogen habe.
»Ja, ich habe sie erwogen! Aber nur in den Augenblicken, wo sie mich mit ihren absurden Fragen marterte. Ich habe mit dem Gedanken gespielt, aber ich wollte es nicht, ich will sie nicht verlieren!«
Vor dem Spiegel stehenbleibend, rief er aus:
»Wenn schon auseinander gegangen sein muß, dann soll die Initiative von mir ausgehen und nicht von ihr!«
Er blickte sich um, ihm schien, daß er diese Worte laut und mit erhobener Stimme gesagt habe. Das Stubenmädchen, das ruhig den Tisch abwischte, überzeugte ihn davon, daß er nur in Gedanken geschrien hatte. Aus dem Spiegel starrte ihm ein bleiches Gesicht entgegen, und seine kurzsichtigen Augen blinzelten hilflos. Er setzte eilig die Brille auf und rannte in sein Zimmer. Sich auf die Lippen beißend und die Hände an die Schläfen pressend, legte er sich hin.
Eine halbe Stunde später hatte er sich von der eigentlichen Ursache seines Schmerzes überzeugt: Er hatte es nicht vermocht, Lida vor Seligkeit schluchzen, ihm dankbar die Hände küssen, erstaunte Worte der Zärtlichkeit flüstern zu lassen, wie es die Nechajew getan hatte. Nicht ein einziges Mal, nicht für eine Minute ließ Lida ihn den Stolz des Mannes genießen, der einer Frau das Glück gibt. Es wäre leichter gewesen, mit ihr zu brechen, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, diese Wollust zu verspüren.
»Nicht eine einzige aufrichtige Zärtlichkeit hatte sie für mich«, dachte Klim und erinnerte sich mit Empörung daran, daß Lidas Liebkosungen ihr nur als Stoff für Untersuchungen dienten.
»Nietzsche hat recht: dem Weibe kann man sich nur mit der Peitsche in der Hand nähern. Man müßte hinzufügen: und mit Konfekt in der anderen.«
Allmählich ruhiger werdend, sagte er sich, daß das Verhältnis mit ihr, schon jetzt beunruhigend genug, weiterhin einfach zu einer unerträglichen und verhaßten Fessel geworden wäre. Wahrscheinlich würde Lida ihm auf ihrer unsinnigen Suche nach dem, was angeblich hinter der Physiologie des Geschlechtslebens verborgen war, untreu werden.
»Makarow sagt, Don Juan sei kein Romantiker, sondern ein Sucher unbekannter, unerforschter Empfindungen und an derselben Leidenschaft des Suchens nach dem Unerforschten krankten viele Frauen, zum Beispiel George Sand«, grübelte Klim. »Makarow nannte übrigens diese Leidenschaft nicht eine Krankheit. Turobojew bezeichnete sie als ›geistigen Vampirismus‹. Makarow sagt, die Frau strebe halb unbewußt danach, den Mann bis zum letzten Zug zu erkennen, um den Ursprung seiner Herrschaft über sie, dasjenige, womit er sie in der Urzeit bezwungen hat, zu ergründen.«
Klim Samgin schloß fest die Augen und beschimpfte Makarow in Gedanken.
»Idiot. Was kann es Dümmeres geben als einen Romantiker, der Gynäkologie studiert? Um wieviel einfacher und natürlicher ist doch Kutusow, der Dmitri so leicht und rasch Marina weggenommen hat, oder Inokow, der sich von der Somow in dem Augenblick losgesagt hat, als er sich mit ihr langweilte!«
Samgins Gedanken nahmen einen immer kriegerischeren Charakter an. Er verdoppelte sein Bemühen, sie zuzuspitzen, denn hinter diesen Gedanken meldete sich das trübe Bewußtsein eines verlorenen großen Spiels. Und nicht nur Lida war verspielt und verloren, sondern noch etwas für ihn viel Wichtigeres. Aber daran wollte er nicht denken, und sobald er hörte, daß sie nach Hause gekommen war, ging er entschlossen hinauf, um eine Entscheidung herbeizuführen. Wenn sie schon auf einer Trennung bestand, dann sollte sie sich als den schuldigen Teil bekennen und um Verzeihung bitten.
Lida saß in ihrem kleinen Zimmer am Tisch und schrieb einen Brief. Sie sah schweigend über die Schulter weg zu Klim hin und zog fragend ihre sehr dichten, aber feinen Brauen hinauf.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte Klim und setzte sich an den Tisch.
Sie legte die Feder hin, erhob die Arme über ihren Kopf, straffte sich und fragte:
»Worüber?«
»Es ist notwendig«, sagte Klim, bemüht, ihr mit strengem Blick ins Gesicht zu schauen.
Heute ähnelte sie besonders auffallend einer Zigeunerin, Das volle, krause Haar, das sie niemals glatt kämmen konnte, das magere, bräunliche Gesicht mit dem brennenden Blick der dunklen Augen und den langen, geschweiften Wimpern, die feine Nase, die biegsame Figur im bordeauxroten Rock, die schmalen, in dem orangefarbenen, blaugeblümten Schal gehüllten Schultern.
Ehe Klim genügend gewichtige Worte für den Anfang seiner Rede finden konnte, begann Lida ruhig und ernst:
»Wir haben soviel geredet ...«
»Erlaube! Man darf einen Menschen nicht so behandeln, wie du mich behandelst«, sagte Samgin eindringlich. »Was bedeutet dieser plötzliche Entschluß, nach Paris zu reisen?«
Aber sie überhörte seine Frage und fuhr in einem Ton fort, als sei sie dreißig Jahre alt.
»Außerdem habe ich mich mit dir unterhalten, wenn ich dich verließ und mit dir allein war. Ich habe dich redlich sprechen lassen, redlicher als du selbst sprechen konntest. Ja, glaube mir! Du bist ja nicht sehr ... mutig. Darum sagtest du auch, man müsse ›schweigend lieben‹. Ich aber will reden. Will schreien, erkennen. Du hast mir geraten, das ›Lehrbuch der Geburtshilfe‹ zu lesen ...«
»Sei doch nicht nachtragend«, bat Klim.
»War es denn Bosheit, daß du mir die ›Hygiene der Ehe‹ empfohlen hast? Aber ich habe dieses Buch nicht gelesen, denn darin wird doch gewiß nicht erklärt, weshalb du gerade mich für deine Liebe brauchst? Das ist eine dumme Frage? Ich habe noch dümmere. Wahrscheinlich hast du recht: ich bin degeneriert, eine Dekadente, und tauge nicht für einen gesunden, ausgeglichenen Mann. Ich hoffte, in dir einen Menschen zu finden, der mir helfen würde ... Übrigens weiß ich nicht, was ich von dir erwartet habe ...«
Sie stand auf, reckte sich und sah aus dem Fenster, auf die Wolken, die grau wie schmutziges Eis waren. Samgin sagte zornig:
»Auch ich habe ja geglaubt, du würdest mir ein guter Freund sein ...«
Sie betrachtete ihn sinnend und fuhr gedämpfter fort:
»Sieh nur, wie das alles rasch verfliegt ... als wenn ein Hobelspan in Feuer aufgegangen wäre! Ein Aufflammen, und schon ist nichts mehr da.«
Ihr bräunliches Gesicht wurde dunkel, sie wandte den Blick von Klims Gesicht ab, stand auf, straffte sich.
Auch Klim erhob sich, gefaßt auf Worte, die ihn verwundeten.
»Es lebt sich nicht froh, wenn man nichts begreifen kann, in einem Nebel, in dem nur selten für einen Augenblick ein versengendes Licht aufflammt.«
»Du weißt zu wenig«, sagte er mit einem Seufzen und schlug sich mit den Fingern aufs Knie. Nein, Lida erlaubte es nicht, sich von ihr beleidigt zu fühlen, ihr harte Worte zu sagen.
»Was muß man denn wissen?« fragte sie. »Man muß lernen.«
»Muß man das? Sich sein Leben lang als Schülerin fühlen?«
Sie lachte bitter und blickte durchs Fenster in den buntscheckigen Himmel.
»Mir scheint, alles, was ich bisher weiß, braucht man nicht zu wissen. Aber ich werde trotzdem versuchen zu lernen«, hörte er ihre nachdenkliche Stimme. »Nicht in dem unruhigen Moskau, aber vielleicht in Petersburg. Nach Paris muß ich, denn Alina ist dort, und es geht ihr schlecht. Du weißt ja, daß ich sie liebe ...«
»Warum?« wollte Klim fragen, aber das Mädchen kam herein und bat Lida, zu Warawka hinunterzukommen.
Schweigend und Seite an Seite stiegen sie die Treppe hinab. Klim verweilte im Vorzimmer und sah leer auf die verschiedenen Mäntel, die sich an der Wand entlang hinzogen, Sie hatten etwas, das ihn an einen Bettlerhaufen auf den Stufen einer Kirche, an Bettler ohne Kopf erinnerte.
»Nein, es darf so nicht bleiben, so unausgesprochen«, entschied er, und setzte sich, sobald er in seinem Zimmer war, hin, um Lida einen Brief zu schreiben. Er schrieb lange. Als er aber die beschriebenen Seiten überlas, fand er, daß sein Schreiben zwei Menschen verfaßt hatten, die ihm gleichermaßen unähnlich waren: der eine ließ dumm und roh an Lida seinen Spott aus, der andere versuchte unbeholfen und kläglich, sich zu rechtfertigen.
»Aber ich habe mir ja ihr gegenüber nichts vorzuwerfen«, empörte er sich, zerriß den Brief und faßte auf der Stelle den Entschluß, nach Nishni Nowgorod zur Allrussischen Ausstellung zu fahren. Er würde überraschend abreisen wie Lida, und noch bevor sie ins Ausland fuhr. Auf diese Weise würde sie begreifen, daß die Trennung ihn nicht schmerzte, Aber vielleicht würde sie erkennen, daß er litt, ihren Entschluß ändern und mit ihm fahren?
Doch als er Lida mitteilte, daß er morgen abreise, bemerkte sie sehr gleichgültig:
»Wie gut, daß es bei uns ohne dramatische Auftritte abgelaufen ist. Ich habe ja befürchtet, es würde Szenen geben.«
Sie umarmte ihn und küßte ihn fest auf den Mund.
»Wir scheiden als Freunde? Und wenn wir uns später wiedersehen, werden wir klüger sein, ja? Und werden einander vielleicht mit anderen Augen ansehen?«
Klim war über ihre Worte und die Tränen in ihren Augenwinkeln ein wenig gerührt oder erstaunt. Er sagte leise, bittend:
»Wäre es nicht besser, du kämst mit mir?«
»Nein«, sagte sie entschlossen. »Nein, ich will nicht! Du würdest mich stören.«
Und sie trocknete hastig ihre Augen. Besorgt, daß er ihr etwas Unpassendes sagen könnte, küßte auch Klim hastig ihre trockene, heiße Hand.
Später, als er in seinem Zimmer auf und ab wandelte, überlegte er:
»Im Grunde ist sie ein unglückliches Wesen. Eine taube Blüte. Seelenlos ist sie. Vernünftelt, ohne zu fühlen ...«
Er blieb mitten im Zimmer stehen, nahm die Brille ab, vollführte mit ihr eine schaukelnde Bewegung und dachte, während er sich umblickte:
»Aber wie schnell ist alles zu Ende gegangen! Wirklich, als wären Hobelspäne heruntergebrannt.«
Er stand den Dingen hilflos gegenüber, fühlte aber gleichzeitig, daß für ihn Tage der Ruhe gekommen seien, deren er bereits bedurfte.
Wenige Tage später und Klim Samgin saß im Zuge, der sich Nishni Nowgorod näherte. Drei Werst vor dem Bahnhof glitt der gedrängt volle Zug langsam durch die Landschaft, als wollte der Lokomotivführer, daß die Reisenden sich die buntscheckige Anhäufung manierierter neuer Gebäude, die sich mitten im öden Feld, zwischen kahlen, gelben Sandflächen und schmutzig grünen Riedinseln erhoben, genau ansehen sollten.
Neben den Schienen, etwas tiefer gelegen als die Böschung, strahlte der Maschinenpavillon blendend grell gegen die Sonne. Er war aus Stahl und Glas erbaut und hatte die Form eines ungeheuren, mit dem Boden nach oben gestülpten Waschzubers. Durch die Scheiben konnte man sehen, wie im Innern des Gebäudes sich eine Schar Metallgiganten träge regte, gefangene Bestien aus Eisen sich drängten. Der einstöckige landwirtschaftliche Pavillon war in einem geschweiften Halbbogen angelegt und mit Holzschnitzereien in jenem originalrussischen Stil verziert, den der Deutsche Ropet erfunden hatte. In beklemmender Enge erhoben sich noch eine große Zahl eigenwillig angeordneter Bauwerke von ungewöhnlicher Architektur. Einige erinnerten an die sympathischen Schöpfungen eines Konditors. Wie ein gigantisches Stück Zucker ragte aus ihrer bunten Menge die weiße Villa der Kunstabteilung hervor. Auf dem Gipfel des Zarenpavillons, der im Türmchen- und Zinnenstil der Märchen errichtet war, funkelte im Sonnenlicht der doppelköpfige goldene Adler und breitete die Schwingen aus. Über dem goldenen Adler blähte sich in der blauen Luft, an einem langen Seil befestigt, die graue Blase eines Ballons.
Die ruhige Bewegung des Zuges versetzte dieses Städtchen in langsame Drehung. Es schien, als ob alle diese wunderlichen Gebäude um einen unsichtbaren Mittelpunkt kreisten, ihre Plätze vertauschten, einander verdeckten und über die sandbestreuten Wege und kleinen Plätze glitten. Dieser Eindruck eines wirren Reigens, eines trägen, aber machtvollen Gedränges, wurde noch verstärkt durch die winzigen Figürchen der Menschen, die ängstlich, auf gewundenen Pfaden, zwischen den Bauten hin und her trippelten. Sie waren nicht zahlreich, und nur wenige von ihnen strebten eilig in verschiedene Richtungen. Die meisten machten den Eindruck von Verirrten und Suchenden. Die Menschen erschienen weniger beweglich als die Gebäude, die sie bald zeigten, bald hinter ihren Vorsprüngen versteckten.
Dieser halb märchenhafte Eindruck eines stillen, aber machtvollen Reigens erhielt sich in Klim für die ganze Dauer seines Aufenthalts in dieser seltsamen Stadt am Rande eines unfruchtbaren, traurigen Ödlandes, das in der Ferne von dem bläulichen Stachelpelz eines Fichtenwaldes – des »Sawelowschen Waldrückens« – und jenseits der unsichtbaren Oka von den »Spechtsbergen« eingeschlossen war. In deren Schoß, im Grün der Gärten versteckt, ruhten die Häuschen und Kirchen Nishni Nowgorods.
Samgin stieg in einem jener hölzernen, rasch gezimmerten Hotels ab, in denen alles knarrte und ächzte und bei dem leisesten Geräusch zu beben schien, wusch sich rasch, zog sich um, trank ein Glas heißen Tee und begab sich sofort auf die Ausstellung. Er hatte dorthin nicht mehr als dreihundert Schritte.
Erst abends kehrte er zurück, geblendet, betäubt und wie nach einem Ausflug in ein fernes, unbekanntes Land. Aber dieses Gefühl der Sättigung bedrückte Klim nicht, sondern machte ihn weiter, strebte mit Macht nach Gestaltung und versprach, ihn mit einer großen Freude zu beschenken, die er bereits dunkel ahnte.
Sie gewann erst nach einiger Zeit deutliche Gestalt, an einem regnerischen Tag des nicht sehr freundlichen Sommers. Klim lag im Bett. Er hatte sich in die leichte Decke gewickelt und seinen Mantel darüber gebreitet. Ein zorniger Regen peitschte die Dächer, krachender Donner erschütterte das Hotelgebäude, durch die Fensterritzen pfiff und schnob ein feuchter Wind. An drei Stellen fielen in gleichem Takt schwere Wassertropfen von der Decke herab und verbreiteten einen Geruch von Leimfarbe und Morast.
Klim sah vor sich das Panorama eines ungeheuren, phantastisch reichen Landes, von dessen Dasein er keine Ahnung gehabt hatte. Ein Land des vielfältigsten Arbeitsfleißes. Es hatte seine Erzeugnisse gesammelt und zeigte sie wie auf der flachen Hand voll Stolz sich selbst. Man mochte glauben, die hübschen Bauten seien in bewußter Absicht auf dem traurigen Feld errichtet, Seite an Seite neben einem ärmlichen und schmutzigen Dorf, dessen ausdruckslose Wohnstätten in trauriger Eintönigkeit über den von Wolga und Oka angeschwemmten Sand verstreut waren, der an stürmischen Tagen, wenn von der Wolga der heiße Steppenwind blies, Wolken grauen, stechenden Staubes herüberschickte.
Diese Nachbarschaft der Schätze des Landes und der Armut irgendwelcher kleinen Leute schien selbstgefällig andeuten zu wollen:
»Wir leben zwar schlecht, aber seht nur, wie gut wir arbeiten!«
Nicht so protzig und ruhmredig, aber um so eindrucksvoller bezeugte die Messe den Reichtum des Landes. Die niederen, eintönig gelben Reihen ihrer steinernen Läden hatten die weiten Rachen ihrer Türen geöffnet und zeigten im Grottenzwielicht Berge mannigfaltig bearbeiteter Metalle, Berge von Tuch, Zitz und Wollstoffen. Da glänzte farbenprächtiges Porzellan, blitzte Spiegelglas, das alles aufnahm, was an ihm vorüberzog. Dicht neben den Verkaufsständen mit Kirchengeräten wurde kunstvoll geschliffenes Glas feilgeboten, und gegenüber den gewaltigen, mit Pokalen und Weingläsern reich besetzten Vitrinen leuchtete das blanke Steingut der Toiletteneinrichtungen. In diesem Nebeneinander des Kirchlichen und Profanen konstatierte Klim die Schamlosigkeit des Handels.
Die Messe war belebter als die Ausstellung. Die Leute trugen ein freieres, geräuschvolleres Benehmen zur Schau, und alle schienen mit Begeisterung dem Geschäft obzuliegen. Das bunte Gemisch von Volkstypen, die Fülle von Ausländern, Asiaten, schwer gekleideten Orientalen setzte in Erstaunen. Das Ohr fing fremde Laute, das Auge bizarre Figuren und Gesichter auf. Unter den Russen begegnete man häufig langbärtigen Gestalten, die Samgin unangenehm an den Diakon erinnerten, und dann dachte Klim jedesmal für Augenblicke und mit Beklemmung daran, daß dieses mächtige Land nach dem Wunsch von Leuten mit drei Fingern, aus dem geistlichen Stand ausgestoßenen Diakonen, hysterischen Säufern und übermütigen Studenten vom Schlage Marakujews umgestaltet werden sollte. Pojarkow, den Klim ausdruckslos fand, und der elegante, solide Preis, der gewiß einmal Professor wurde, – diese beiden beunruhigten Klim nicht. Der selbstbewußte, zahlenbegeisterte Kutusow war in seiner Erinnerung verblaßt, und Klim liebte es auch nicht, sich seiner zu erinnern.
Er schaute zur hölzernen, aus Schiffsplanken gezimmerten Decke empor und verfolgte aufmerksam, wie das Wasser durch die Ritzen leckte, schwere Glastropfen bildete und, auf dem Fußboden aufprallend, zu Pfützen auseinanderlief.
Noch einmal sah er den Glanz der Stahlwaffen aus Slatoust, die Messer, Gabeln, Scheren und Schlösser aus Pawlow, Watsch und Worsma. Im mit Gewehrpatronen, Säbeln und Bajonnetten ausgeschmückten Pavillon der Kriegsmarine zeigte man eine langläufige, blankgeputzte Kanone aus den Werkstätten von Motiwilicha, blitzend und kalt wie ein Fisch. Ein stämmiger, gleichsam aus Bronze gegossener Matrose erklärte, während er sein bläuliches Kinn streichelte und seinen schwarzen Schnurrbart zwirbelte, dem Publikum herablassend und mit komischer Unbeholfenheit:
»Dieses Geschütz wird an diesem Ende geladen, mit diesem Geschoß hier, das Sie nicht mal heben können, und feuert in dieser Richtung aufs Ziel, also auf den Feind. Sie, Herr, rühren Sie nicht mit dem Stock daran, das ist verboten!«
Goldbrokat leuchtete wie ein Roggenfeld an einem Juliabend, wenn die Sonne untergeht, Glanzstoff streifen erinnerten an das bläuliche Licht der Mondnächte im Winter, buntfarbige Stoffe an die herbstliche Pracht der Wälder. Diese poetischen Vergleiche kamen Klim nach einem Besuch der Gemäldeabteilung, wo ein »erklärender Herr« mit ausgeprägter Stirn, langer Mähne und magerem, klapprigem Rumpf dem Publikum begeistert von den Landschaften Nesterows und Lewitans erzählte, Rußland abwechselnd die Prädikate ›brokaten‹ und ›baumwollen‹ gab und es schließlich auf dem Gipfel seiner Ekstase wie folgt schilderte:
»Auf irdischem Samt wundervolle Stickereien in farbenprächtiger Seide von der Hand des größten der Künstler – Gottes!«
Klim empfand den Stolz des Patrioten, als er im mittelasiatischen Pavillon die für Chiwa und Buchara bestimmten groben deutschen Nachahmungen des russischen Brokats, des leuchtenden Zitz der Firma Morosow und des blütenweißen Porzellans der Kusnezows besah.
Spielzeug und Maschinen, Glocken und Equipagen, Juwelierarbeiten und Flügel, blumiger Saffian aus Kasan, unendlich zart anzufühlen, Zuckerberge, gewaltige Haufen Hanfseil und geteerter Taue, eine Kapelle aus Stearinkerzen, wunderbares Rauchwerk von Sorokoumowski und Eisenerz aus dem Ural, vortrefflich gegerbte Häute, Borstenfabrikate – vor diesen unermeßlichen Schätzen sammelten sich kleine Gruppen, betrachteten gleichmütig die großartigen Leistungen ihrer Heimat und verstimmten Klim Samgin einigermaßen, indem sie durch ihr Schweigen abkühlend auf seine gehobene Stimmung wirkten.
Selten hörte er Ausrufe des Entzückens, und wenn sie ertönten, so fast immer aus dem Munde der Frauen vor den Vitrinen des Textilgewerbes, der Böttcher, Parfümfabrikanten, Juweliere und Kürschner. Übrigens konnte man vermuten, daß die Mehrzahl der Besucher dank einem Übermaß von Eindrücken die Sprache verloren hatte. Doch bisweilen wollte es Klim scheinen, als klinge einzig aus dem Lob der Frauen ehrliche Freude, während die Urteile der Männer nur schlecht über ihren Neid hinwegtäuschten. Er gelangte sogar zu dem Ergebnis, daß Makarow am Ende recht haben könnte. Die Frau begriff besser als der Mann, daß alles auf der Welt für sie da war.
Die Wogen seines Patriotismus stiegen besonders hoch, wenn er Gruppen von Angehörigen fremdstämmiger Völkerschaften begegnete, die aus allen Gegenden vom Weißen Meer bis zum Kaspi-See und Schwarzen Meer, von Helsingfors bis Wladiwostok zum Fest der über sie gebietenden Nation zusammengeströmt waren. Würdevoll bewegten sich die Bewohner Chiwas und Bucharas und die dicken Sarten, deren weite Gesten nur denen schlaff erschienen, die nicht wußten, daß Geschwindigkeit eine Eigenschaft des Teufels war. Verweichlichte Perser mit gefärbten Barten standen malerisch vor Blumenbeeten. Ein hoher Greis mit einem orangegelben Bart und purpurnen Fingernägeln deutete mit dem langen Finger seiner gepflegten Hand auf die Blumen und wandte sich in getragenem Ton, als spreche er Verse, an sein Gefolge. Ein unförmig großer Ring mit einem Rubin blitzte an seinem Finger und zog die gebannten Blicke eines schmächtigen Menschen in einer schwarzen, schräg geschnittenen Persianerkappe an. Ohne seine roten, schwimmenden Augen vom Rubin loszureißen, bewegte der Mensch seine dicken Lippen, und seine Miene schien Angst auszudrücken, daß der Stein aus seiner schweren, goldenen Fassung herausspringen könnte.
Häufig begegnete man gut gewachsenen Wolgatataren, Krimtataren, die wie rumänische Musikanten aussahen, Georgiern und Armeniern von geräuschvoller Lebhaftigkeit, sowie finsteren, bedächtigen Finnen mit heller Haut, die bei der städtischen Straßenbahn beschäftigt waren. Vor dem Pavillon der Archangelsker Eisenbahn, der von dem Mäzen Sawwa Mamontow, dem Erbauer der Bahn, im Stil der alten Kirchen des Nordlands errichtet worden war, hatte sich eine Familie stülpnasiger Samojeden angesiedelt, die dem Publikum ein Walroß zeigten, das in einem an dem Pavillon angebauten Bassin hauste und in aufgeräumter Stimmung »Danke, Sawwa!« sagen sollte.
In der Filzjurte hockten mit untergeschlagenen Beinen zehn Kirgisen mit gußeisenbraunen Gesichtern. Sieben bliesen mit gewaltiger Kraft in lange Rohre aus irgendeinem, den Klang dämpfenden Holz. Ein Jüngling mit unwahrscheinlich breiter Nasenwurzel und schwarzen Augen, die irgendwo in der Nähe der Ohren saßen, schlug schläfrig auf ein Tambourin, während ein zwerghaft kleiner Greis mit einem von grünlichem Moos überwucherten Gesicht mit beiden Händen kindisch auf einen mit Eselshaut bespannten Kessel schlug. Zuweilen öffnete er weit seinen zahnlosen, vor spärlichen Schnurrbarthaaren eingesponnenen Mund und stieß minutenlang mit dünner, schneidender Kehlstimme ein langgezogenes Klagen aus.
Hirten aus dem Gouvernement Wladimir mit asketischen Heiligengesichtern und Raubvogelaugen spielten auf ihren Schalmeien meisterhaft russische Volkslieder. Auf einer anderen Estrade gegenüber dem Pavillon der Kriegsmarine exekutierte ein Orchester aus Saiteninstrumenten unter der Leitung des Beaus Glawatsch eine seltsame Nummer, die im Programm die Bezeichnung »Musik der Himmelssphären« trug. Dieses Musikstück gab Glawatsch, dreimal täglich, es war beim Publikum sehr beliebt, während Leute mit Forschungstrieb sich im Pavillon anhören konnten, wie die leise Musik in der Stahlmündung eines langen Geschützes widertönte.
»Ein bemerkenswertes akustisches Phänomen«, belehrte Klim ein sehr liebenswürdiger, weiblich aussehender Mann mit schönen Augen. Klim glaubte nicht, daß die »Musik der Himmelssphären« sich der Kanone mitteilen könnte, aber da er in leutseliger Stimmung war, ließ er sich verlocken, dem Phänomen beizuwohnen. Er vernahm in der kalten Höhlung des Geschützes nicht das mindeste, kam sich sehr dumm vor und beschloß gewitzigt, der Stimme des Volkes, die Orina Fedossow, eine Erzählerin alter Nordlandssagen, pries, nicht Gehör zu schenken.
Täglich, um die Stunde des Abendgottesdienstes, näherte sich den Holzgerüsten, an denen die Glocken von Okonischnikow und anderen Gießereien hingen, ein älterer Mann in einer ärmellosen Jacke und mit einer gefütterten Mütze. Er entblößte seinen kahlen Schädel von der Form einer Melone, blickte mit weit aufgerissenen Augen, die weiß und leer wie die eines Blinden waren, zum Himmel empor und bekreuzigte sich dreimal. Dann verneigte er sich bis zum Gürtel vor den Zuschauern und Zuhörern, die schon auf ihn warteten, bestieg das eine Gerüst und schwang den fünfpudschweren Klöppel der großen Glocke. Feierlich bewegten die sanft anschwellenden, tiefen Seufzer des empfindlichen Metalls die Luft. Es war, als ob der eiserne schwarze Klöppel lebendig geworden sei, aus eigener Kraft die Glocke schwingen ließ und gierig am Metall leckte, während der Glöckner ihn vergeblich mit seinen langen Armen zu fangen suchte und aus Verzweiflung darüber mit dem kahlen Schädel gegen den Glockenrand schlug.
Endlich gelang es ihm, den in Schwung geratenen Klöppel zum Stehen zu bringen, worauf er sich zum Gerüst mit den kleinen Glocken wandte. Man sah seine schwarze Gestalt krampfhaft mit Armen und Beinen strampeln, während er »Rühme dich, rühme dich, russischer Zar« läutete. Der Glöckner zappelte so heftig, daß der Eindruck entstand, als hänge er in der Schlinge eines unsichtbaren Strickes, mühte sich ab, sich daraus zu befreien, und schüttelte wild den Kopf. Sein langes Gesicht schwoll auf und füllte sich mit Blut, doch je länger dies währte, desto volltönender rühmte das gehorsame Metall der Glocken den Zaren. Nachdem er ausgeläutet hatte, trocknete er sich den triefenden Schädel und das nasse Gesicht mit einem blau und weiß gewürfelten Taschentuch ab, starrte wieder mit furchtbaren, weißen Augen in den Himmel, verneigte sich vor dem Publikum und entfernte sich, ohne auf lobende Bemerkungen und Fragen zu antworten. Man erzählte sich, er sei von einem großen Leid heimgesucht worden und habe das Gelübde getan, bis ans Ende seiner Tage zu schweigen.
Klim sah den Glöckner einige Male sein Werk verrichten und entdeckte plötzlich, daß er dem Diakon ähnele. Von dieser Minute an war er überzeugt, daß der Glöckner ein Verbrechen begangen habe und jetzt schweigend büße. Klim hätte gern den Diakon an seiner Stelle gesehen.
Im übrigen verbrachte Samgin die Tage in stiller Ergriffenheit vor der Überfülle und Vielgestaltigkeit der Dinge und Waren, die von eben den schlichten Menschlein der verschiedensten Art geschaffen worden waren, Menschen, die sich bedächtig auf den mit sauberem Sand bestreuten Pfaden bewegten, bescheiden die Erzeugnisse ihres Fleißes besichtigten, ohne viel Aufhebens lobten, was sie sahen, und mehr noch, nachdenklich schwiegen. In Samgin meldete sich ein Gefühl der Schuld gegen diese stillen, bescheidenen Menschen, er betrachtete sie freundschaftlich, ja mit einer Nuance von Achtung vor ihrer äußeren Unscheinbarkeit, hinter der sich eine märchenhafte, allerschaffende Kraft verbarg.
»Das ist die Universität«, dachte er, damit beschäftigt, seine Eindrücke abzuwägen. »Die Erkenntnis Rußlands – das ist die wichtigste lebendige Wissenschaft!«
Sehr lästig fiel ihm Inokow, dessen alberne Figur im weiten Cape mit dem Fackelträgerhut schon von fern die Aufmerksamkeit auf sich lenkte und überall auftauchte, wie ein phantastischer, hungriger Vogel auf der Nahrungssuche. Inokow sah jetzt bedeutend männlicher aus, seine Wangen hatten sich mit feinen Ringen dunkler Barthaare bedeckt, was die Züge seines breitknochigen und groben Gesichts ein wenig milderte.
Klim konnte sich indessen nicht dazu entschließen, Inokow zu meiden, weil dieser keineswegs sympathische Bursche genau wie sein Bruder Dmitri eine Menge wußte und recht vernünftig über das Kustargewerbe, den Fischfang, die chemische Industrie und die Schiffahrt zu erzählen verstand. Samgin konnte davon profitieren, nur beeinträchtigten Inokows Reden stets bis zu einem gewissen Grade seine aufgeräumte und gefühlsselige Stimmung.
»Diese ganze Herrlichkeit hat etwas von einer Witwe ...«, sagte Inokow. »Wissen Sie, so eine bejahrte und augenscheinlich nicht sehr kluge Witwe von zweifelhafter Schönheit, die mit ihrer Mitgift prahlt, um einen Mann zur Ehe mit ihr zu verlocken ...«
Als beschäftige er sich damit, eine schwierige Aufgabe zu lösen, biß er sich die Lippen, wobei sein Mund sich zu einem feinen Strich spannte.
Darauf schimpfte er polternd:
»Diese Tölpel! Haben den Einfall gehabt, die Ausstellung ihrer Schätze auf Sand und Moor aufzubauen! Auf der einen Seite die Ausstellung, auf der anderen die Messe und in der Mitte das urfidele Dorf Kupawino, wo unter drei Häusern zwei mit Bettlern und Hafendieben vollgestopft sind, und das dritte mit öffentlichen Dirnen.«
Wenn Klim Samgin seiner Begeisterung über die Entwicklung der Textilindustrie Ausdruck verlieh, machte Inokow ihn darauf aufmerksam, daß das Dorf, sowohl was die Qualität als auch was die Farben der Stoffe betraf, sich immer schlechter kleidete, und daß man die Baumwolle aus Mittelasien nach Moskau schickte, um sie dort zu verarbeiten und dann nach Mittelasien zurückzuschicken. Weiter hielt er ihm vor Augen, daß ungeachtet des Holzreichtums in Rußland Papier in Millionen Pud in Finnland eingekauft wurde.
»Zedern gibt es im Ural in Hülle und Fülle, Graphit ebenfalls, aber Bleistifte zu fabrizieren, verstehen wir nicht.«
Noch peinlicher war es, anzuhören, was Inokow über gewisse erfolglose Erfinder vorbrachte.
»Waren sie im landwirtschaftlichen Pavillon?« fragte er und krümmte spöttisch die Lippen. »Dort hat so ein russisches Genie ein Fahrrad ausgestellt, genau das gleiche, auf dem die Engländer schon im 18. Jahrhundert vergeblich zu fahren versuchten. Ein anderer Esel hat ein Klavier ausgetüftelt, und alles, Klaviatur, Saiten, mit eigener Hand gemacht. Zwei Drittel der Saiten sind selbstredend aus Darm. Klappern tut dieser Musikkasten wie eine alte Dorfkalesche. Irgendein abgedankter Notar exponiert eine Klatsche, um die Pferdebremsen totzuschlagen. Die Klatsche wird an der vorderen Achse des Wagens befestigt, was bewirkt, daß sie das Pferd schlägt, das natürlich wild wird. Im tiefsten Wald sollte man diese Trottel verstecken, wir aber haben nichts Eiligeres zu tun, als uns vor allem Volk mit ihnen zu brüsten!«
Samgin nahm täglich mit ihm das Frühstück in einem schwedischen Papphaus am Eingang der Ausstellung. Inokow nährte sich bescheiden mit einem Stück Schinken und einer Menge Brot, und trank dazu eine Flasche Schwarzbier. Während er sein Gesicht mit der Hand streichelte, als wische er die Sommersprossen ab, erzählte er:
»Die Leinwand eines gewissen Wrubel, eines offenbar hochbegabten Künstlers, wurde von der Ausstellung zurückgewiesen. Ich verstehe nichts von Malerei, eine Kraft vermag ich aber auf jedem Gebiet zu erkennen. Sawwa Mamontow hat für Wrubel eine besondere Bude außerhalb der Ausstellung errichten lassen, sehen Sie dort drüben! Der Eintritt ist unentgeltlich, aber der Besuch ist schlecht, selbst an den Tagen, wenn dort Mamontows Opernchor singt. Ich sitze dort häufig und wundere mich über den Anblick, der sich mir bietet: an der einen Wand »Prinzessin Traum«, an der anderen Mikula Seljaninowitsch und die Wolga. Eigenartig. Ein Zeitungsmann hat sich die ›Prinzessin‹ und Mikula angeschaut und gerügt: ›Politik. Alliance franco-russe. Kein Verständnis dafür. Kunst muß von Politik frei sein‹.«
Inokow lächelte gezwungen spöttisch, wischte aber das Lächeln sofort mit der Hand von den Lippen. Er teilte Klim beständig die verschiedensten Neuigkeiten mit:
»Witte ist angekommen. Gestern geht er mit dem Ingenieur von Kasi und Quintiliana und zitiert: ›Es ist leichter, mehr zu tun als gerade soviel.‹ Ein selbstgefälliger Bauer. Man schafft Arbeiter herbei, um den Zaren zu begrüßen. Hier am Ort gibt es entweder zu wenig oder sie sind nicht zuverlässig genug. Übrigens wirbt man in Sormowo und in Nishni, bei Dobrow-Nabgolz, Leute an.«
»Wie stehen Sie eigentlich zum Zaren?« fragte Klim.
Inokow sah ihn erstaunt an.
»Habe mir nie darüber den Kopf zerbrochen.«
Klim Samgin erwartete den Zaren mit einer Unruhe, die ihn selbst irritierte, die er sich aber nicht verhehlen konnte. Er fühlte, daß er den Mann sehen mußte, der an der Spitze dieses ungeheuren, reichen Rußland stand, eines Landes, mit einem merkwürdig glatten Volk, über das etwas Bestimmtes auszusagen schwierig war, schwierig deshalb, weil dieses Volk allzu reichliche Einspritzungen mit skandalsüchtigen Elementen erhalten hatte. Samgin hatte die dunkle Hoffnung, daß in dem Augenblick, wo er den Zaren sehen würde, alles, was er erlebt und durchdacht hatte, seinen endgültigen Abschluß erhielt. Vielleicht würde diese Begegnung dem ersten Sonnenstrahl gleichkommen, mit dem der Tag beginnt, vielleicht aber auch dem letzten, hinter dem schon die warme Sommernacht sanft die Erde umfängt. Vielleicht hatte Diomidow recht: der Zar war kein Durchschnittsmensch, nicht so einer, wie sein Vater. Er, der mit solcher Kühnheit die Hoffnungen der Menschen, die seine Gewalt einschränken wollten, zunichte gemacht hatte, mußte auch einen energischeren Charakter haben als sein Großvater. Ja, es war möglich, daß Nikolaus II. die Kraft besaß, allein gegen alle zu stehen, und seine junge Hand stark genug war, um sich mit dem Eichenknüppel Peters des Großen zu bewaffnen und den Leuten zuzurufen:
»Was soll der Unfug!«
Zwei Tage später drängte Inokow seine Gedanken in eine andere Richtung.
»Sie wollen sich nicht Orina Fedossow anhören?« fragte er befremdet. »Aber sie ist ja ein Wunder.«
»Ich bin kein Freund von Wundern«, sagte Samgin, der sich an die Kanone und die »Musik der Himmelssphären« erinnerte.
Aber Inokow fuchtelte mit dem Arm und sagte erregt:
»Im Vergleich mit ihr ist alles andere Plunder!«
Er packte Klim am Ärmel seiner Jacke und fuhr fort:
»Erinnern Sie sich der ›Mütter‹ im zweiten Teil des ›Faust‹? Aber die phantasieren wie im Fieber, während diese Frau ... Nein, Sie müssen mitkommen!«
Klim sah Inokow zum erstenmal in einer solchen Gemütsverfassung. Neugierig, ihre Ursache kennenzulernen, folgte er ihm in einen Saal, wo Lektionen und Vorträge gehalten wurden, und wo Glawatsch vortrefflich auf der Orgel spielte.
Ein hochgewachsener, bärtiger Mann in einem langen, wie aus Eisenblech zusammengenieteten Rock trat auf die Estrade heraus. Er begann mit schallender Stimme in der Weise zu sprechen, wie Leute, die dressierte Affen oder Seehunde vorführen.
»Ich!« sagte er. »Ich, ich, ich«, wiederholte er immer häufiger und machte dabei mit den Armen Schwimmbewegungen. »Ich habe das Vorwort geschrieben. Das Buch ist am Eingang zu haben. Sie ist Analphabetin. Kennt dreißigtausend Verse auswendig ... Ich ... Mehr als die Ilias hat. Professor Shdanow ... Als ich ... Professor Barsow ...«
»Das hat nichts zu bedeuten«, beruhigte ihn Inokow. »Dieser Mann ist stets dumm.«
Auf die Estrade trippelte mit wiegendem Gang ein schiefgewachsenes Mütterchen, angetan mit einem dunklen Zitzkleid und einem abgetragenen, buntgeblümten Kopftuch. Eine komische, gute, alte, aus Runzeln und Falten geknetete Hexe mit einem runden Stoffgesicht und lächelnden Kinderaugen.
Klim warf einen zornigen Blick auf Inokow, überzeugt, daß er wieder wie vor der Kanone Gelegenheit haben werde, sich als dummer August vorzukommen. Aber Inokows Gesicht leuchtete in trunkener Seligkeit, er klatschte stürmisch in die Hände und murmelte:
»Ach, du Liebe ...«
Es war ein komischer Anblick. Samgin wurde weicher. Er beschloß, was auch kommen möge, zehn Minuten auszuhalten, zog seine Uhr hervor, beugte den Kopf und – warf ihn sofort empor: Von der Bühne ergoß sich eine außergewöhnlich melodische Stimme. Uralte, schwere Worte ertönten. Es war die Stimme eines Bauernweibes, aber trotzdem konnte man nicht glauben, daß die Alte diese Verse sprach. Es war nicht nur die echte Schönheit der gesprochenen Worte, diese Stimme hatte etwas unmenschlich Zärtliches und Weises. Eine magische Kraft, die Klim mit der Uhr in der Hand erstarren ließ Er hätte sich sehr gerne umgeblickt, um zu sehen, mit welchem Ausdruck die anderen Leute dem krummhüftigen Mütterchen lauschten. Aber er konnte seinen Blick nicht losreißen von dem Spiel der Fältchen in dem zerknitterten, guten Gesicht, von dem wunderbaren Glanz der Kinderaugen, die jeden Vers beredt ergänzten und den verschollenen Worten ein lebendiges Leuchten und einen bestrickend weichen Klang verliehen.
Während sie mit ihrem Watteärmchen eintönige Bewegungen ausführte, erzählte diese alte Frau aus dem Olonetzker Gebiet, die wie eine plump zurechtgeschneiderte Zeugpuppe aussah, wie die Mutter des Recken Dobrynja ihn aussandte, um Heldentaten zu bestehen und von ihm Abschied nahm, Samgin sah diese hochgewachsene Mutter, hörte ihre harten Worte, aus denen dennoch Furcht und Trauer sprachen, sah den breitschultrigen Recken Dobrynja vor sich, wie er niederkniete, das Schwert in den ausgestreckten Händen hielt und mit gehorsamen Augen zur Mutter emporblickte.
Augenblicke lang schien es Klim, als sei er allein in dem Saal, auch diese gute Hexe sei am Ende gar nicht da, sondern durch die Geräusche hinter den Wänden des Saals dringe aus verschollenen Jahrhunderten auf wahrhaft wunderbare Weise die zum Leben erwachte Stimme des heroischen Altertums zu ihm.
»Nun, was?« fragte feierlich Inokow. Sein durch ein seliges Lächeln geweitetes Gesicht hatte etwas Betäubtes. Die Augen waren naß.
»Erstaunlich!« antwortete Klim.
»Es kommt noch viel schöner! Beachten Sie: sie ist keine Schauspielerin, sie spielt nicht Menschen, sondern spielt mit den Menschen!«
Diese seltsamen Worte verstand Klim nicht, aber er erinnerte sich ihrer, als die Fedossow von dem Streit des Rjasaner Bauern Ilja Muromez mit dem Kiewer Fürsten Wladimir zu erzählen begann. Samgin starrte, von neuem magisch gebannt, von dem sanften Leuchten der unverlöschlichen Augen gestreichelt, in das mit allen Runzeln sprechende Zauberinnengesicht. Sein Verstand sagte ihm zwar, daß der gewaltige Recke aus dem Dorfe Karatscharow, von dem launenhaften Fürsten aus seiner Heimat vertrieben, nicht mit dieser Stimme sprechen, und daß in seinen scharfen Steppenaugen natürlich nicht ein so spitzes, ironisches Lächeln sitzen konnte, das entfernt an die listigen und weisen Fünkchen in den Augen des Historikers Kljutschewski erinnerte.
Doch sobald ihm der unerbittliche Gelehrte in Erinnerung kam, war Klim plötzlich nicht mit dem Verstand, sondern mit seinem ganzen Wesen von der Gewißheit erfüllt, daß gerade dieses elend zurechtgeschneiderte Zitzpüppchen die wirkliche Geschichte der Wahrheit des Guten und der Wahrheit des Bösen sei, die nur in dem Ton der schiefgewachsenen Olonetzker Alten von der Vergangenheit berichten mußte und konnte, gleich liebevoll und weise von Zorn und Zärtlichkeit, von dem unerschöpflichen Leid der Mütter und den Heldenträumen der Kinder, von allem, was das Leben ausmacht. Und ebenso melodisch die Menschen liebkosend, mit ebenso bezaubernder Stimme, ob sie nun von Wahrheit sprach oder von Legende, würde dereinst vielleicht die Geschichte auch davon berichten, wie der Mensch Klim Samgin auf Erden wandelte.
Weiter fühlte Samgin, daß er niemals so gut, so klug und beinahe bis zu Tränen unglücklich gewesen war, wie in dieser seltsamen Stunde, unter Menschen, die stumm dasaßen, verzaubert von der alten, lieben Hexe, die aus uralten Märchen in eine prahlerisch aus dem Boden gestampfte und trügerische Wirklichkeit getreten war.
Inokow störte Klim in seinem andächtigen Gefühl, so rein zu sein, wie er es noch niemals war. In den kurzen Pausen zwischen den Erzählungen der Fedossow, wenn sie, neue Kraft schöpfend, sich die dunklen Lippen mit der Zungenspitze leckte, ihre schiefe Hüfte streichelte und an den Zipfeln ihres Kopftuchs zupfte, das unter ihrem, an die Kappe eines Pilzes erinnernden Kinn zusammengebunden war, wenn sie sich seitlich wiegte, lächelte und dem begeisterten Publikum zunickte, – in diesen Minuten zerschlug Inokow Klims Stimmung, indem er rasend Beifall klatschte und mit schluchzender Stimme schrie:
»Danke, Großmütterchen, liebes, danke!«
Er war erregt wie ein Betrunkener, sprang auf seinem Stuhl empor, schneuzte sich ohrenbetäubend, trampelte. Sein Umhang glitt ihm von den Schultern, und er trat mit den Füßen darauf.
Klim verbrachte den Rest des Tages in einem Zustand der Entrücktheit. Sein Gedächtnis raunte ihm eindringlich die uralten Worte und Verse zu, vor seinen Augen wiegte sich die Puppenfigur, schwebte die weiche Wattehand, spielten die Runzeln in dem guten und klugen Gesicht, und lächelten die großen, sehr hellen Augen.
Drei Tage später aber stand er auf der Messe, inmitten der Menge, die sich um die Kapelle drängte, auf der die Fahne gehißt wurde, die die Eröffnung des Allrussischen Jahrmarkts verkündete. Inokow versprach, er wolle sich bemühen, ihm zu der Stunde in die Ausstellung Eingang zu verschaffen, wenn der Zar dort sein würde, doch er glaube, das werde schwerlich gelingen. Auf jeden Fall werde der Zar aber den Messepalast besuchen, und dann könne man ihn dort sehen.
Klim gegenüber und rechts und links von ihm zogen sich zwei endlose Reihen stämmiger, hochgewachsener und gutgekleideter Männer, einige in neuen Wamsen und langschößigen Röcken, die meisten in Jacken. Hier und dort hoben sich scharf die roten Flecke der Bauernkittel ab, glänzten in der Sonne plüschene Pluderhosen, spiegelten die Schäfte blankgeputzter Stiefel. Klim sah zum erstenmal in seinem Leben so nah vor sich und in so großer Masse das Volk, über das er seit seinen Kinderjahren so erbittert hatte streiten hören, und von dessen mühseligem Dasein ihm so viele traurige Erzählungen berichteten. Er betrachtete diese Hunderte von langhaarigen, glattgescheitelten oder kahlen Köpfe, von stumpfnasigen, bärtigen, gesunden und soliden Gesichtern mit sprechenden, freundlichen und strengen, gutmütigen und klugen Augen. Diese Leute standen stramm, Hüfte an Hüfte, und ihre breiten Brüste verwuchsen zu einer einzigen Brust. Es war klar: dies war dasselbe große russische Volk, dessen geschickte Hände jene unermeßlichen Reichtümer hervorgebracht hatten, die drüben auf dem eintönigen Feld so malerisch verstreut waren. Ja, es war eben dieses Volk, das die Auslese seiner Besten in den Vordergrund rückte, und es war gut, daß alle übrigen, stutzerhaft gekleideten, aber weniger ansehnlichen Menschen gehorsam hinter den Rücken dieser Männer der Arbeit zurückgetreten waren und ihnen den ersten Platz eingeräumt hatten. Je genauer Klim sich die Menschen der ersten Reihe ansah, desto höher stieg seine Achtung vor ihnen und versetzte ihn in angenehme Erregung. Es war einfach unmöglich, sich vorzustellen, daß diese einfachen und bescheidenen Menschen, die ein so ruhiges Bewußtsein ihrer Kraft hatten, den »lustigen Studenten« oder irgendwelchen ehrgeizigen Schwachköpfen folgen könnten.
Diese Menschen waren von so großer Bescheidenheit, daß man einige von ihnen vorrücken, nach vorn stoßen mußte, was auch bestens von einem riesigen schnauzbärtigen Polizeibeamten mit goldener Brille und einem beweglichen Menschen mit dünnen Waden und einem mit einem dreifarbigen Band dekorierten Strohhut besorgt wurde. Sie schritten langsam die beiden Menschenmauern ab und ließen abwechselnd sanfte Zurufe erklingen.
»Der Glatzkopf dort, vorrücken!«
»Du, Riese, was versteckst du dich? Stell dich hierhin!«
»Der mit dem Ohrring, hierher!«
Der bewegliche Mensch maß Klim mit einem Blick und tippte ihm mit dem Handschuh auf die Schulter.
»Ein wenig zurücktreten, junger Mann!«
Ein Bursche mit einem silbernen Reif im Ohr schob Klim mit dem Rammbock seiner Schulter spielend hinter sich und sagte halblaut mit heiserer Stimme:
»Mit der Brille kannst du auch von hier sehen.«
Aber hinter seinem breiten Rücken war jede Aussicht versperrt.
Samgin machte den Versuch, sich zwischen ihn und einen bärtigen Kahlkopf zu schieben, doch der Bursche stemmte seinen unerbittlichen Ellenbogen vor und fragte:
»Wohin?«
Und empfahl dringend:
»Bleib auf deinem Platz!«
Klim fügte sich.
»Ja«, dachte er, »dieser kann jeden an seinen Platz befördern.«
Er fragte ihn:
»Woher sind Sie?«
Der Mann mit dem Ohrring drehte seinen straffen Hals und neigte sein rotes Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart.
»Aus dem zweiten Bezirk.«
»Arbeiter?«
»Feuerwehrmann.«
Samgin schwieg, überlegte und fragte von neuem:
»Weshalb tragen Sie nicht Uniform?«
Der Mann mit dem Ohrring gab ihm keine Antwort. Statt seiner erteilte sein Nebenmann, ein schlanker, schöner Mensch in einem gelben Seidenhemd, redselig Auskunft:
»Er geht als Arbeiter. Man soll nicht zeigen, daß man zu den Handwerkern gehört. Diese Ausstellung ist nichts für sie. Wenn so ein Handwerker nicht arbeitet, ist er betrunken, und es ist überflüssig, dem Zaren Betrunkene zu zeigen.«
»Richtig«, sagte jemand sehr laut. »Unsere Liederlichkeit interessiert ihn nicht.«
Der kahlköpfige Riese mischte sich zornig ein:
»Man muß unterscheiden, ob einer Arbeiter ist oder Handwerker. Ich zum Beispiel bin Arbeiter bei Wukol Morosow, wir sind hier neunzig Mann. Auch aus der Nikolsker Manufaktur sind welche hier.«
Es entspann sich ein gemächliches Geplauder, und bald erfuhr Klim, daß der Mann im gelben Hemd Tänzer und Sänger war und dem Chor Snitkins, der an der ganzen Wolga bekannt war, angehörte. Der Nachbar des Tänzers war ein Bärenjäger und Waldhüter aus den kaiserlichen Forsten. Er war knorrig von Gestalt, hatte einen schwarzen Bart und die runden Augen eines Uhus.
Samgin, dem das Geschwätz dieser zufälligen Menschen auf die Nerven fiel, wollte den Platz wechseln und versuchte von der Seite her zwischen dem Tänzer und dem Feuerwehrmann hindurchzuschlüpfen. Aber der Feuerwehrmann packte ihn an der Schulter, stieß ihn in die Reihe zurück und sagte unhöflich:
»Es wird nicht herumgelaufen. Du siehst doch, alle stehen.«
Der Tänzer sah Klim mit einem spöttischen Lächeln an und erläuterte:
»Heute wird das Publikum nicht beachtet.«
»Achtung, er kommt!«
Eine Kommandostimme rief:
»Treskin, daß die Leute sich nicht unterstehen, auf die Dächer zu klettern!«
Alle verstummten, strafften sich und hefteten ihren Blick horchend auf die Oka, einen Streifen, wo zwei Linien puppenhaft winziger Menschen mit den dünnen Armen fuchtelten und sich die Köpfe von den Schultern zu reißen und spielerisch emporzuwerfen schienen. Man hörte Glockengeläute, Besonders tief schallte die Glocke der Kremlkathedrale. Gleichzeitig mit dem metallischen Getöse stieg ein anderes, brüllendes an und rollte immer näher. Klim war Zeuge gewesen, wie ganz Moskau zum Empfang des Zaren Hurra brüllte. Aber damals hatte dieses Brüllen ihn, den man auf demütigende Weise zusammen mit Betrunkenen und Taschendieben in einen Hof gejagt hatte, nicht erregt. Heute dagegen fühlte er, daß er vor innerer Bewegung taumelte und es ihm dunkel vor den Augen wurde.
Aus der dichten Menschenwand auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, hinter der dicken Kruppe eines Pferdes hervor, kroch schwerfällig der Glöckner von der Ausstellung und erreichte in drei Schritten die Mitte des Fahrdamms. Sogleich liefen zwei Männer ihm nach und riefen komisch erschrocken:
»Wohin steuerst du, Satan? Wohin, du Fratze?«
Aber der Glöckner stieß die Leute mit dem Arm zur Seite, hob seine wilden Augen zum Himmel empor und bekreuzigte mit einer weit ausholenden Geste der rechten Hand dreimal die Straße.
»Du bist einer«, rief wohlwollend ein Weber aus.
Man stieß den Glöckner eilig in die Menge zurück. Seine gefütterte Mütze blieb auf dem Straßenpflaster liegen.
Samgin schien es, als verfinstere sich die Luft, zusammengepreßt von dem machtvollen Geheul der Tausende, einem Geheul, das heranrückte wie eine unsichtbare Wolke, auf seinem Wege alle Geräusche auswischte und das Glockenläuten und die Schreie der Posaunen der Militärkapelle auf dem Platz vor dem Meßpalast verschluckte. Als dieses Heulen und Brüllen bis zu Klim herangerollt war, betäubte es ihn, hob ihn empor und ließ auch ihn mit vollen Lungen brüllen:
»Hurra!«
Das Volk sprang empor, schwenkte die Arme, schleuderte Mützen und Hüte in die Luft. Es schrie so tosend, daß man nicht hören konnte, wie das feurige Gespann des Gouverneurs Baranow mit den Hufen gegen das Pflaster schlug. Der Gouverneur hatte ein Knie auf den Sitz der Equipage gestellt, blickte rückwärts und schwenkte seine Mütze. Er war ganz stahlgrau, verwegen und heroisch. Die goldenen Blättchen der Orden glänzten auf seiner gewölbten Brust.
In einiger Entfernung hinter ihm jagte in vollem Galopp ein Dreigespann weißer Rosse. Von ihren silbernen Zäumen stoben weiße Funken. Die Pferde traten lautlos auf, unhörbar rollte die breite Equipage. Es war ein seltsamer Anblick, wie die zwölf Beine der Pferde durcheinanderwechselten, so daß es schien, als glitte die Equipage des Zaren durch die Luft, von der Erde losgerissen durch den gewaltigen Schrei der Begeisterung.
Klim Samgin fühlte, wie sich für einen Augenblick alles ringsum und er selbst von der Erde losriß und im Wirbel des orkanartigen Gebrülls durch die Luft flog.
Der Zar, schmächtig, kleiner als der Gouverneur, in blaugrauer Uniform, federte auf dem Polsterrand der Equipage. Mit der einen Hand stützte er sich auf das Knie, die andere hob er mechanisch an die Mütze. Gleichmäßig nach rechts und links nickend, blickte er lächelnd in die zahllosen, kreisrund geöffneten, zähnestarrenden Münder, in die von Natur roten Gesichter. Er war sehr jung, gepflegt, hatte ein schönes, sanftes Gesicht und lächelte schuldbewußt.
Ja, es war ein ausgesprochen schuldbewußtes Lächeln, das sanfte Lächeln Diomidows. Auch seine Augen waren die gleichen, Saphiraugen, und hätte man ihm das kleine, lichte Bärtchen abrasiert, so wäre es Diomidow selbst gewesen.
Er flog vorüber, begleitet von tausendköpfigem Gebrüll, dasselbe Gebrüll empfing ihn weiter hinten. Andere Equipagen jagten vorbei, Uniformen und Orden blitzten, aber schon war es hörbar, wie die Pferde mit den Hufen aufschlugen und die Räder über die Steine rollten, und alles sank wieder auf den Erdboden herab.
Wieder stellte der Glöckner sich in die Mitte der Straße und schlug mit schweren Bewegungen seiner Hand hinter den Equipagen ein Kreuz. Die Leute machten einen Bogen um ihn wie um einen Pfahl. Ein Mann mit rotem Gesicht bückte sich, hob die Mütze auf und reichte sie dem Glöckner. Der Glöckner schlug sich mit der Mütze aufs Knie und entfernte sich mit schweren Schritten mitten auf dem Fahrdamm.
Klims Augen, die gierig den Zaren verschlungen hatten, sahen noch immer seine blaugraue Figur und das schuldbewußte Lächeln in seinem hübschen Gesicht. Samgin fühlte, daß dieses Lächeln ihm seine Hoffnung geraubt und ihn mit tiefer Trauer erfüllt hatte. Er war dem Weinen nahe. Ihm waren auch vorher schon Tränen in die Augen gekommen, aber das waren Tränen jener Freude gewesen, die ihn und alle erfaßt und über die Erde emporgehoben hatte. Nun aber weinte Klim dem Zaren und dem in der Ferne verhallenden Geschrei Tränen des Kummers und des Schmerzes nach.
Es war unmöglich, sich damit abzufinden, daß der Zar wie Diomidow aussah, unerträglich war das schuldige Lächeln der Verlegenheit in dem Gesicht des Herrschers über ein Hundertmillionenvolk, und unbegreiflich, wodurch dieser jugendliche, hübsche und sanfte Mensch ein so markerschütterndes Gebrüll auszulösen vermochte.
Willenlos und zu Boden gedrückt, bewegte sich Klim Samgin inmitten der Menge, die unvermittelt ausgelassen wurde. Er hörte lebhafte Stimmen:
»In der alten Zeit hätten wir auf die Knie fallen müssen ...«
»He, Jungens, jetzt gehen wir Bier trinken!«
Hinter Klims Rücken begeisterte sich jemand mit heller Stimme:
»Mit welcher Unbekümmertheit sie schlagen!«
»Wen?«
»Alle.«
Eine solide Stimme sagte eindringlich:
»Die Kritiker soll man auch schlagen.«
»Roman, wieviel hast du für die Stiefel gegeben?«
Vom Zaren wurde nicht gesprochen. Nur einen einzigen Satz fing Klim auf:
»Er wird es schwer haben mit uns.«
Dies sagte ein stämmiger Bursche, anscheinend ein Tuchfärber, denn seine Hände waren mit tiefblauer Farbe gefärbt. Er führte einen ordentlich gekleideten Greis am Arm, stieß die Leute rücksichtslos zur Seite und schrie sie an:
»Geh zu!«
Aber auch er hatte am Ende gar nicht den Zaren gemeint.
»Und wie, wenn alle diese Menschen sich ebenfalls betrogen fühlen und es bloß geschickt verbergen?« dachte Klim.
Ein scharfäugiger Mensch sah ihm ins Gesicht und fragte mißtrauisch:
»Was weinen Sie, junger Herr? Was für einen Grund haben Sie, heute zu weinen?«
Samgin wischte sich verlegen die Augen, beschleunigte den Schritt und bog in eine der Straßen des Stadtteils Kunawin ein, die nur aus öffentlichen Häusern bestand. Beinahe aus jedem Fenster sahen, in buntem Wechsel mit Trikoloren, halbentkleidete Frauen heraus, zeigten ihre nackten Schultern und Brüste und tauschten zynische Rufe von Fenster zu Fenster. Abgesehen von den Fahnen bot die Straße einen so gewohnten Anblick, als sei nichts geschehen und der Zar und die Begeisterung des Volkes bloßer Traum.
»Nein, Diomidow hat sich geirrt«, dachte Klim, als er in einer Droschke saß und zur Ausstellung fuhr. »Dieser Zar wird es schwerlich wagen, die Menschen anzuschreien wie das bucklige Mädchen.«
Am Eingang der Ausstellung empfing ihn Inokow.
»Man kann durch!« sagte er hastig. »Schade, Sie sind zu spät gekommen.«
Inokow hatte sich die Haare scheren, die Wangen rasieren lassen, seinen Umhang mit einem billigen, mausgrauen Anzug vertauscht und sah jetzt so unauffällig aus, wie jeder andere ordentliche Mensch. Nur die Sommersprossen traten noch stärker in seinem Gesicht hervor. Im übrigen unterschied er sich durch nichts von den anderen, ein wenig gleichförmig gekleideten Leuten. Es waren ihrer nicht viele. Sie interessierten sich vornehmlich für die Architektur der Bauten, musterten die Dächer, guckten in die Fenster und hinter die Ecken der Pavillons und lächelten einander liebenswürdig zu.
»Ochrana?« fragte Klim flüsternd.
»Wahrscheinlich nicht alle!« antwortete Inokow ärgerlich und grundlos laut. Er hielt beim Gehen den Hut in der Hand und sah stirnrunzelnd zu Boden.
»Man hat hier bereits eine Posse aufgeführt«, sagte er. »Am Eingang zum Zarenpavillon empfing den Zaren eine Leibwache, wissen Sie, solche wohlgebildeten russischen Jünglinge in weißen, silbergestickten Röcken, hohen Mützen und Äxten in der Hand. Man sagt, der Literat Dmitri Grigorowitsch habe sie sich ausgedacht. Sie bildeten Spalier, und der Zar fragt den einen: ›Ihr Name?‹: ›Nabgolz‹, den zweiten: ›Eluchen‹, den dritten: ›Ditmar‹. Der vierte hieß Schulze. Der Zar lächelte und ging an den nächsten schweigend vorüber. Da sieht er, wie so eine stupsnäsige Visage ihn anschmachtet. Er lächelt der Visage zu: ›Ihr Name?‹ Da krächzt die Visage ihm im Baß entgegen: ›Antor!‹ Die Sache war die, daß die Visage ihre Wirtshausrechnung in dieser abgekürzten Form unterschrieb. Ihr richtiger Name lautete Andrej Torsujew.«
Inokow erzählte dies mit leiser Stimme, man merkte ihm an, daß er es unlustig tat und mit anderen Dingen beschäftigt war.
»Ist das wahr?« fragte Samgin ungläubig.
»Na, natürlich. Wenn was dumm ist, so heißt das, es ist wahr.«
Klim schwieg, da er sich an den Feuerwehrmann und den Tänzer erinnerte, die er für Arbeiter gehalten hatte.
Die ordentlichen Leute erstarrten plötzlich mit den abgezogenen Hüten in der Hand. Aus dem Pavillon der chemischen Industrie trat der Zar heraus, gefolgt von den drei Ministern: Woronzow-Daschkow, Wannowski und Witte. Der Zar ging langsam, spielte mit seinem Handschuh und hörte sich an, was ihm sein Hofminister sagte, wobei er ihn sanft am Ärmel zupfte und auf den Weinbau-Pavillon deutete, einen niedrigen, von Rasenflächen eingefaßten Hügel. Aus der Ferne und zu Fuß erschien der Zar Klim noch kleiner als in der Equipage. Offensichtlich hatte er keine Lust, zum Pavillon hinabzusteigen, in den Woronzow ihn haben wollte. Er wandte sein Gesicht ab und sagte mit verlegenem Lächeln etwas zum Kriegsminister, der in Zivil war und einen Spazierstock in der Hand hielt.
Diese drei berührten sich fast mit den Körpern, während der breitschultrige Witte von der Höhe seiner wuchtigen Statur auf sie herabsah. In seine Schultern war ohne Sorgfalt und gleichsam nur für den ersten dringenden Bedarf ein kleiner Kopf mit einem kaum wahrnehmbaren Näschen und einem dünnen, mordwinischen Bärtchen eingepflanzt. Er sah mit besorgt hängenden Lippen und tief hinter den Vorsprüngen der Brauen versteckten Augen bald auf den – an ihm gemessen – kleinen Zaren und die gleichfalls schmächtigen Minister, bald auf die goldene Uhr, die in seiner Hand zu schmelzen schien. Samgin fiel besonders in die Augen, wie fest und kräftig Witte die langen und breiten Sohlen seiner schweren Füße auf den Boden setzte.
Einige Schritte von dieser Gruppe entfernt warteten in ehrfurchtsvoller Haltung der schneidige, dünne und eckige Gouverneur Baranow und der graubärtige Kommissar der Kunstgewerbeabteilung, Grigorowitsch, der mit der Hand weite Kreise in der Luft zog, und die Finger in einer Weise bewegte, als salze er den Erdboden oder streue Samen aus. In dichter, stummer Gruppe standen die Abteilungskommissare, solide, ordenbehängte Herren, sowie ein großer Mann in goldgesticktem Kaftanrock mit dem Gesicht eines einfältigen Bauern.
»Der Millionär Nikolai Bugrow«, erläuterte Inokow. »Man nennt ihn den Lehnsfürsten von Nishni Nowgorod. Und das ist Sawwa Mamontow.«
Aus dem Nordland-Pavillon trat mit raschen Schritten ein vierschrötiges kahlköpfiges Männchen mit weißem Bärtchen und vergnügtem, rosigem Gesicht. Im Gehen wehrte er lachend den »erklärenden Herrn« ab, den mit der ausgeprägten Stirn und den langen Haaren.
»Bagatellen, Wertester, die reinsten Bagatellen«, sagte er so laut, daß der Gouverneur Baranow strenge zu ihm hinsah. Alle »ordentlichen Leute« beehrten ihn gleichfalls mit ihrer Aufmerksamkeit. Auch der Zar richtete seine Blicke mit immer dem gleichen schuldigen Lächeln auf ihn, während Woronzow-Daschkow ihn zu Klims Entrüstung noch immer am Ärmel zupfte.
»Adaschew«, mußte er denken und wünschte dem Minister von ganzem Herzen das Los dieses Erziehers Iwans des Schrecklichen.
Die Ausstellung lag still und verlassen, wie an regnerischen Tagen. Werktäglich pfiffen die Lokomotiven im Waggonhof, knirschten die Geleise in den Weichen, dröhnten die Puffer, und eintönig sangen die Sirenen des Weichenstellers.
Der Tag, der klar begonnen hatte, wurde gleichfalls trübselig. Der Himmel bedeckte sich mit einer glatten Schicht grauer, fadenscheiniger Wolken. Die Sonne, von ihnen überzogen, wurde glanzlos-weiß wie im Winter. Ihr verstreutes Licht ermüdete die Augen. Die Buntheit der Bauten verblaßte, steif und entfärbt hingen die zahllosen Flaggen herab. Die »ordentlichen Leute« bewegten sich schlaff. Die blaugraue, bescheidene Figur des Zaren wurde dunkel und noch weniger bemerkbar auf dem Grunde der großen, soliden Männer, die schwarz gekleidet waren oder goldbestickte ordengeschmückte Uniformen trugen.
Der Zar schritt an der Spitze dieser Männer langsam auf den Marine-Pavillon zu. Es schien, als ob sie ihn vorwärts stießen. Jetzt bückte der Gouverneur Baranow sich geschmeidig, hob etwas vor den Füßen des Zaren vom Boden auf und schleuderte es beiseite.
»Haben Sie genug?« fragte Inokow grinsend.
Samgin nickte stumm.
Er fühlte sich physisch erschöpft, hatte Hunger und war traurig. Eine solche Traurigkeit hatte er als Kind empfunden, wenn man ihm vom Weihnachtsbaum nicht den Gegenstand schenkte, den er haben wollte.
»Wissen Sie, wem der Zar ähnlich sieht?« fragte Inokow.
Klim blickte ihm, auf eine Grobheit gefaßt, wortlos ins Gesicht. Aber Inokow sagte nachdenklich:
»Cherubino, als Offizier verkleidet.«
»Isaak«, murmelte Samgin.
»Was?«
»Isaak«, wiederholte Klim lauter und mit einem Ärger, den er nicht zurückhalten konnte.
»Ach ja, der aus der Bibel«, erinnerte sich Inokow. »Ja, aber wer ist dann Abraham?«
»Ich weiß es nicht.«
»Merkwürdiger Vergleich«, grinste Inokow, seufzte dann und sagte:
»Meine Korrespondenzen werden nicht gedruckt. Der Redakteur, ein alter Wallach, schreibt, ich unterstreiche zu sehr die negativen Seiten, und dies mißfalle dem Zensor. Er schulmeistert: jede Kritik müsse von einer allgemeinen Idee ausgehen und sich auf sie stützen. Aber der Teufel soll wissen, wo sie steckt, diese allgemeine Idee!«
Klim hörte auf, seinem übelgelaunten Geschimpfe zu folgen. Er war mit den Gedanken bei dem jungen Mann in der blaugrauen Uniform, bei seinem verlegenen Lächeln. Was würde dieser Mensch sagen, wenn man ihm einen Kutusow, einen Diakon, einen Ljutow gegenüberstellte? Ja, wie stark konnten die Worte sein, die er diesen Leuten zu sagen vermochte? Und Klim erinnerte sich – nicht spöttisch wie sonst, sondern mit Bitterkeit – seines alten Spruchs:
»Ja, war denn ein Junge da? Vielleicht war gar kein Junge da?«
Aber überlastet mit Eindrücken, hatte er es, wie ihm schien, verlernt zu denken. Die Spinne, die das Gewebe der Gedanken spann, war erstarrt. Er sehnte sich danach, heimzufahren, in die Sommerfrische, und auszuruhen.
Aber er durfte nicht abreisen. Ein Telegramm Warawkas bat ihn, seine Ankunft abzuwarten.
Und während Klim Samgin auf Warawka wartete, erblickte er einen wirklichen Herrn.
Es war ein Mann von mittlerem Wuchs, gekleidet in weite, lange Gewänder von jener unergründlichen Farbe, die die Blätter der Bäume im Spätherbst annehmen, wenn sie schon den sengenden Hauch des Frostes verspürt haben. Diese schattenhaft leichten Gewänder umhüllten den dürren, knochigen Leib eines alten Mannes mit zweifarbigem Gesicht. Durch die stumpf-gelbe Gesichtshaut traten die braunen Flecke eines uralten Rostes. Das steinerne Gesicht wurde durch ein graues Bärtchen verlängert, dessen Haare man zählen konnte. Büschel desselben grauen Haares sprossen aus den Mundwinkeln hervor und bogen sich nach unten zu. Die Unterlippe, gleichfalls rostfarben, hing verachtungsvoll herab, über ihr starrte eine ungerade Reihe bernsteingelber Zähne. Seine Augen zogen sich schräg zu den Schläfen hinauf, die Ohren, spitz wie bei einem Raubtier, waren fest an den Schädel gedrückt, auf dem ein Hut mit Kugeln und Schnüren thronte. Der Hut gab dem Menschen das Aussehen des Priesters einer unbekannten Religion. Es schien, daß die Pupillen seiner schmalen Augen nicht rund und glatt seien wie bei gewöhnlichen Menschen, sondern geformt aus feinen, spitzen Kristallen. Und wie aus einem von Meisterhand gemalten Bildnis folgten diese Augen Klim unverwandt, von welcher Seite er auch auf dieses uralte, zum Leben erwachte Bildnis schauen mochte. Die stumpfen, samtenen Schaftstiefel mit unförmig dicken Sohlen mußten sehr schwer sein, aber der Mensch bewegte sich lautlos. Seine Füße glitten, ohne sich vom Erdboden zu lösen, über ihn hin wie über Öl oder Glas.
Ihm folgte respektvoll eine Gruppe Menschen, unter denen man vier Chinesen in Nationaltracht bemerkte. Gelangweilt schritt der schneidige Gouverneur Baranow an der Seite des Generals Fabrizius, des Kommissars des Zarenpavillons, in dem die Schätze der Minen von Nertschinsk und des Altai, Edelsteine und gediegenes Gold ausgestellt waren. Auch Leute mit und ohne Orden befanden sich, dicht aneinander gedrängt, im Gefolge des seltsamen Besuchers.
In seinem gleitenden Gang wanderte dieser würdevolle Mensch von einem Gebäude zu andern. Sein steinernes Gesicht blieb unbewegt, kaum merklich bebten die breiten Nüstern seiner mongolischen Nase und verkürzte sich die verachtungsvolle Lippe, deren Bewegung nur deshalb zu sehen war, weil die grauen Haare in den Mundwinkeln sich sträubten.
»Li Hung Tschang«,Chinesischer Kanzler unter der Monarchie, bereiste 1896 Europa, unterzeichnete nach dem Boxeraufstand den Vertrag mit den Mächten. D. Ü. flüsterten die Leute einander zu, »Li Hung Tschang!«
Und sie traten ehrfürchtig grüßend zurück. Die Leute würdigte der berühmte Chinese keines Blickes. Die Gegenstände betrachtete er mit geringschätziger Flüchtigkeit, und nur vor wenigen verweilte er Sekunden, eine Minute lang, blähte die Nüstern und bewegte den Schnurrbart.
Seine Hände ruhten, in den weiten Ärmeln geborgen, auf dem Bauch. Zuweilen jedoch erriet einer der Chinesen ihren unsichtbaren Wink oder beugte sich einem nicht wahrnehmbaren Zeichen und begann leise mit dem Abteilungskommissar zu reden, um dann mit gesenktem Kopf, ohne aufzublicken, noch verhaltenere Worte an Li Hung Tschang zu richten.
In der Marineabteilung sprach er ihm von einer Kanone. Der alte Chinese, der ihr in unbeweglicher Haltung seine Seite zuwandte, sah sie sekundenlang aus den Augenwinkeln an und – glitt weiter.
General Fabrizius strich seinen Kosakenschnurrbart glatt, eilte dem hohen Gast vorauf und deutete mit der Geste eines Befehlshabers auf den Zarenpavillon.
Li Hung Tschang blieb stehen. Sein chinesischer Dolmetscher entfaltete eine emsige Geschäftigkeit, verneigte sich und flüsterte lächelnd und mit ausgebreiteten Armen.
»Man darf nicht vor ihm gehen?« fragte laut ein stattlicher Mann mit einer Menge Orden auf der Brust und lächelte ironisch. »Nun, aber neben ihm darf man? Wie, auch das darf man nicht? Niemand?«
»Zu Befehl, Eure Exzellenz!« antwortete jemand mit der Stimme eines Droschkenkutschers.
Der Stattliche blies so heftig die Backen auf, daß sie rot anliefen, überlegte und sagte in französischer Sprache:
»Man soll den Dolmetscher fragen, wer denn eigentlich das Recht hat, neben ihm zu gehen.«
Alle schwiegen. Dann ließ sich, schon leiser, die Kutscherstimme vernehmen:
»Der Übersetzer, Eure Hochwohlgeboren, sagt, daß er es nicht weiß. Vielleicht Ihr, das heißt, unser Kaiser, sagt er.«
Der Stattliche berührte die Orden auf seiner Brust und murmelte wütend:
»Wirklich ... Zeremonien!«
General Fabrizius errötete ebenfalls, zupfte seinen Schnurrbart und ließ Li Hung Tschang den Vortritt.
Im Altai-Pavillon blieb Li Hung Tschang vor der Edelstein-Vitrine stehen und bewegte die Schnurrbarthaare. Sogleich bat der Dolmetscher, die Vitrine zu öffnen. Als man die schwere Glasscheibe hochgehoben hatte, befreite der alte Chinese, ohne Hast zu verraten, seine Hand aus dem Ärmel, der wie aus eigener Kraft bis zum Ellenbogen hinaufglitt. Die knochigen Finger der greisenhaften, eisernen Hand senkten sich in die Vitrine und griffen von der weißen Marmorplatte einen großen Smaragd – die Zierde des Pavillons. Li Hung Tschang hob den Edelstein an sein linkes Auge, hielt ihn an das rechte, nickte kaum merklich mit dem Kopf und ließ die Hand mit dem Stein in den Ärmel gleiten.
»Er nimmt ihn sich«, erklärte der Dolmetscher liebenswürdig lächelnd die Geste.
General Fabrizius erbleichte und stammelte:
»Aber erlauben Sie! Ich habe doch nicht das Recht, Geschenke zu machen!«
Der berühmte Chinese glitt bereits aus der Tür des Pavillons und wandte sich zum Ausgang der Ausstellung.
»Li Hung Tschang«, sagten die Leute leise einander und verneigten sich tief vor dem Mann, der einem Magier aus alter Zeit glich. »Li Hung Tschang!«
Der Tag war unfreundlich. Angstvoll jagte der Wind hinter allen Ecken hervor und wirbelte den Sand der Wege in die Luft. Am Himmel drängten sich wimmelnde Wolkenfetzen, auch die Sonne war voller Unrast, als sei sie bemüht, die seltsame Gestalt des Chinesen so hell wie möglich zu beleuchten.