11

Der Taxifahrer hatte sie zu einer Unfallstation in einem Krankenhaus gebracht. Danach hatte er ihr Gepäck aus dem Wagen geladen und war davongefahren. Thorn war wie in Trance, aber Jennings beantwortete alle Fragen. Er nannte falsche Namen und erzählte eine Geschichte, die die Leute im Hospital ihm sogar glaubten.

Er berichtete ihnen, sie seien betrunken gewesen und über ein Privatgrundstück gegangen. Gewiß – Warnschilder habe es gegeben, daß die Schuppen von bissigen Hunden bewacht wurden. Irgendwo in den Außenbezirken Roms sei’s gewesen, doch er könne sich nicht mehr daran erinnern, wo … nur daß es dort auch einen hohen Zaun mit spitzen Gittern gegeben habe – ja, auf die sei sein Freund gefallen …

Die Wunden der beiden Männer wurden behandelt, man gab ihnen eine Tetanusspritze, man sagte, sie sollten in einer Woche wiederkommen und sich einer Blutuntersuchung unterziehen, damit man sicher sei, daß die Spritzen gewirkt hätten. Sie zogen sich um und gingen.


*


Irgendwo fanden sie ein kleines Hotel, in dem sie sich unter falschen Namen eintrugen. Der Pförtner bestand darauf, sie sollten im voraus bezahlen, und dann gab er ihnen den Schlüssel zu einem Einzelzimmer.

Sofort ging Thorn ans Telefon. Er versuchte verzweifelt, Katherine zu erreichen, während Jennings im Zimmer auf und ab ging.

»Die Biester hätten Sie umbringen können, und sie taten es nicht«, sagte Jennings, und deutlich war die ausgestandene Angst in seiner Stimme zu hören. »Ich war es, hinter dem sie her waren; sie haben immer versucht, meinen Hals zu erwischen.«

Thorn hob die Hand, damit Jennings schwieg. Ein dunkler Blutfleck war auf seinem Hemd.

»Haben Sie mitgekriegt, was ich Ihnen gesagt habe, Thorn? Hinter mir waren sie her, nach meinem Hals haben sie geschnappt.«

»Ist dort das Krankenhaus?« fragte Thorn.

»Ja, sie liegt in Zimmer 4A.«

»Mein Gott, wenn ich das Blitzlicht nicht mitgehabt hätte …«, fuhr Jennings fort.

»Würden Sie es, bitte, versuchen?« bat Thorn. »Es ist sehr, sehr dringend.«

»Wir müssen irgend etwas tun, Thorn.«

Thorn drehte sich um und betrachtete die dunklen Stellen, welche die Riemen an seinem Hals hinterlassen hatten.

»Suchen Sie die Stadt Meggido«, sagte er ruhig.

»Wie, zum Teufel, soll ich denn das machen? Wo soll ich sie denn suchen?«

»Ich weiß nicht. Gehen Sie in eine Bibliothek.«

»Eine Bibliothek! Du lieber Himmel!«

»Hallo?« rief Thorn ins Telefon. »Katherine?«

In ihrem Klinikbett setzte sich Katherine auf, als sie hörte, daß die Stimme ihres Mannes bebte. In ihrer unverletzten Hand hielt sie den Hörer, die andere lag unbeweglich auf der weißen Stützplatte.

»Ist bei dir alles in Ordnung?« fragte Thorn.

»Ja. Bei dir auch?«

»Ja. Ich wollte mich nur vergewissern …«

»Wo bist du?«

»Ich bin in Rom. In einem Hotel, das Imperatore heißt.«

»Was ist los?«

»Nichts.«

»Bist du krank?«

»Nein, ich war besorgt …«

»Komm zurück, Jerry.«

»Ich kann jetzt noch nicht zurückkommen.«

»Ich fürchte mich.«

»Du brauchst dich vor nichts zu fürchten.«

»Ich habe im Haus angerufen und keine Antwort gekriegt.«

In seinem Hotelzimmer beobachtete Thorn den Fotografen, der sein Hemd wechselte und sich darauf vorbereitete, auszugehen.

»Jerry?« sagte Katherine. »Ich würde es für besser halten, wenn ich nach Hause ginge.«

»Bleib, wo du bist«, meinte Thorn.

»Ich mach mir wegen Damien Sorgen.«

»Nähere dich nicht dem Haus, Katherine!«

»Aber ich muß … ich muß …«

»Hör mir genau zu, Katherine. Geh nicht in die Nähe des Hauses.«

Katherine schwieg einen Augenblick, weil seine Stimme so aufgeregt klang.

»Wenn du Angst hast, daß ich irgend etwas tun könnte«, sagte sie. »dann irrst du dich sehr. Ich habe mit dem Psychiater gesprochen, und ich sehe die Dinge jetzt viel klarer. Es ist nicht Damien, der schuld an all dem ist, ich bin’s.«

»Katherine …«

»Hör mir zu. Ich nehme ein Medikament, das Librium heißt. Es ist ein Medikament gegen Depressionen. Und es wirkt. Ich will nach Hause. Und ich möchte, daß du zurückkommst.«

Sie schwieg. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme heiser. »Ich wünsche mir so sehr, es käme alles wieder in Ordnung.«

»Wer hat dir das Medikament gegeben?« fragte Thorn.

»Dr. Greer.«

»Bleib in diesem Krankenhaus, Katherine. Verlaß dein Bett nicht, bis ich dich hole! Hörst du!«

»Ich möchte so gern nach Hause, Jerry.«

»Um Himmels willen …«

»Aber es geht mir gut!«

»Es geht dir noch nicht gut!«

»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen um mich.«

»Katherine!«

»Ich fahre nach Hause, Jeremy.«

»Du bleibst, bis ich komme!«

»Wann?«

»Morgen früh.«

»Aber was ist, wenn irgend etwas zu Hause nicht stimmt? Ich habe dort angerufen …«

»Ich weiß, daß zu Hause irgend etwas nicht stimmt, Katherine.«

Es überlief sie kalt, als sie seine Worte hörte.

»Jerry?« fragte sie ruhig. »Was meinst du? Was stimmt nicht?«

»Ich kann dir das nicht durchs Telefon sagen«, antwortete Thorn verzweifelt.

»Was ist passiert? Was ist zu Hause los? Was ist nicht in Ordnung?«

»Warte doch, bis ich zu dir komme. Aber bleib, bitte, im Krankenhaus. Ich bin morgen früh bei dir und erkläre dir alles.«

»Bitte, tu mir das nicht an …«

»Du bist es nicht, Katherine. Mit dir ist alles in Ordnung.«

»Was sagst du da?«

Im Hotelzimmer warf Jennings Thorn einen verzweifelten Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Jerry?«

»Er ist nicht unser Kind«, sagte Thorn. »Katherine, Damien gehört jemand anders.«

»Was?«

»Geh nicht nach Hause«, warnte Thorn noch einmal. »Warte in der Klinik auf mich.«

Er legte auf. Katherine blieb wie betäubt sitzen, bis sie hörte, daß die Verbindung unterbrochen war. Langsam legte sie den Hörer auf die Gabel, dann starrte sie auf die Schatten, die an den Wänden spielten. Draußen, vor ihrem Zimmer im sechsten Stock, ging der Sommer dahin …

Sie hatte Angst, aber sie merkte, daß das Gefühl der Panik, das sonst ihre Angst immer begleitet hatte, verschwunden war. Das Medikament wirkte, sie war nun wieder imstande, klar zu denken.

Einen Augenblick nur zögerte sie, dann nahm sie den Hörer ab und wählte die Nummer ihres Hauses. Und wieder antwortete niemand. Dann reckte sie sich mühevoll hoch und drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage über ihrem Bett.

»Ja, Ma’am?« antwortete eine Stimme.

»Ich muß das Krankenhaus verlassen. An wen kann ich mich wenden?«

»Sie brauchen die Erlaubnis Ihres Arztes.«

»Würden Sie, bitte, einmal sehen, ob Sie ihn finden können?«

»Ich will es versuchen.«

Es klickte. Katherine wartete. Eine Krankenschwester brachte ihr den Lunch, doch sie hatte keinen Appetit. Auf dem Tablett stand ein kleiner Teller Pudding. Sie berührte ihn. Wie kühl, wie beruhigend! Sie nahm ein wenig Pudding zwischen die Finger …


*


Einige hundert Meilen entfernt, auf dem Friedhof von Cerveteri, war alles ruhig. Schwere Wolken hingen am Himmel, nur ein kaum hörbares Scharren durchbrach die Stille. Neben den beiden offenen Gräbern bewegten zwei Hunde mechanisch ihre Beine, während sie Schmutz in die offenen Gräber schaufelten, Schmutz, Sand, Lehm und Erde, die langsam die Überreste des Schakals und des Kindes bedeckten.

In einiger Entfernung hingen die angefressenen Überreste eines Hundes am eisernen Gittertor, während ein einsamer Hund den Kopf hob und einen klagenden Laut ausstieß. Der Laut wurde zu einem Gebell, das weithin hallte, das lauter und lauter wurde, als die anderen Tiere einfielen, bis die Luft von dem mißtönenden Chor des Todes erfüllt war.

In ihrem Hospitalzimmer drückte Katherine wieder auf den Knopf, und ihre Stimme klang ungeduldig.

»Ist jemand da?« fragte sie.

»Ja?« antwortete eine Stimme.

»Ich meine … ich habe Sie gebeten, meinen Arzt zu suchen.«

»Ich fürchte, ich kann es nicht. Er soll im Operationssaal sein.«

Katherine wurde ungehalten,

»Könnten Sie herkommen und mir behilflich sein?«

»Ich werde versuchen, jemanden zu Ihnen zu schicken.«

»Bitte, beeilen Sie sich.«

»Ich werde tun, was ich kann.«

Sie schaffte es, aus dem Bett zu kommen, dann ging sie zum Schrank, in dem ihre Kleider hingen. Das Jackenkleid war leicht anzuziehen, aber das Nachthemd, das sie trug, war hoch bis zum Hals zugeknöpft, und als sie sich im Spiegel betrachtete, fragte sie sich, ob es überhaupt möglich war, daß sie das Ding loswurde … mit dem Gips am Arm!

Dieses fürchterliche Ding. Es war purpurfarben, hauchdünn und einfach lachhaft in den Augen einer Frau, deren Arm festgegipst auf einer Stütze lag. Katherine zerrte an den Knöpfen, und ihre Enttäuschung wuchs, als sie diese Knöpfe nicht öffnen konnte. Dann verlor sie vollends die Geduld. Sie zerrte am Verschluß. Die Knöpfe sprangen ab. Katherine versuchte, das Ding über den Kopf zu ziehen, doch Gesicht und Haare wurden dieses fürchterliche Gewirr aus dünnem, purpurfarbenem Stoff nie und nimmer los …

Auf dem Friedhof wuchs das Geheul der Hunde zum Wutgeheul; im Hospital kämpfte Katherine gegen den Zugriff dieses Stoffungeheuers, das sich immer enger um ihren Kopf und ihren Hals schlang. Panische Angst kam über sie. Sie begann zu keuchen, aber dann öffnete sich eine Tür und sie entspannte sich, weil sie wußte, daß endlich Hilfe gekommen war.

Das schaurige Geheul der Hunde dröhnte über den Cimitero di Sant’ Angelo. Es wurde von Augenblick zu Augenblick stärker.

»Hallo«, sagte Katherine und versuchte zu sehen, wer hereingekommen war.

Aber als ihr niemand antwortete, wirbelte sie herum. Aber sie sah nichts als den schleierartigen Stoff.

»Ist jemand hier?«

Und dann sah sie die Frau.

Es war Mrs. Baylock. Ihr Gesicht war weiß gepudert, der grinsende Mund dick mit einem roten Lippenstift bemalt. Sprachlos starrte Katherine die Frau an, die langsam an ihr vorbeiging, die Fenster öffnete und dann auf die Straße hinuntersah.

»Könnten Sie mir helfen …«, flüsterte Katherine. »Ich scheine … ich scheine hier alles verdreht zu haben.«

Mrs. Baylock grinste. Katherine lachte beim Anblick dieses komischen Gesichtes.

»Es ist ein schöner Tag, Katherine«, sagte die Frau. »Ein schöner Tag zum Fliegen.«

Und dann machte sie ein paar Schritte und ihre Hände griffen fest in das rote Nachthemd.

»Bitte …«, sagte Katherine.

Einen langen letzten Augenblick sahen sie sich in die Augen.

»Sie sind eine wunderschöne Frau«, sagte Mrs. Baylock. »Geben wir uns einen Kuß?«

Sie beugte sich vor, und Katherine wich zurück, aber die Frau zog sie mit einer heftigen Bewegung zum Fenster.

Am Eingang der Notstation fuhr mit heulender Sirene und Rotlicht ein Krankenwagen vor, als hoch über ihm in einem Fenster des sechsten Stocks die Gestalt einer Frau auftauchte – ein purpurfarbenes Nachthemd überm Kopf, als sie graziös hinabzuschweben begann.

Wie in Zeitlupe schien die Gestalt sich zu senken. Es war, als hinterließe sie ein Zeichen in der Luft. Niemand sah es, bis der Körper auf dem Dach des Krankenwagens landete, noch einmal hochflog, ehe er zur Ruhe kam … ehe er schließlich wie tot in der Einfahrt zur Unfallstation liegenblieb.

Ruhe war nun eingekehrt in Cerveteri. Die Gräber waren zugedeckt, die Hunde im Dickicht verschwunden.


*


Das Telefon weckte Thorn, der in einem todesähnlichen Schlaf lag. Nun war es dunkel geworden. Jennings war nicht da.

»Ja?« fragte Thorn schlaftrunken.

Es war Dr. Becker, und schon als Thorn seine Stimme hörte, wußte er, daß etwas geschehen war.

»Ich bin froh, daß ich Sie gefunden habe«, sagte der Arzt. »Der Name Ihres Hotels war auf Katherines Nachttisch geschrieben worden, aber ich hatte Mühe, Sie trotzdem aufzutreiben …«

»Was ist los?« fragte Thorn.

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen das so mitteilen muß … durch ein Ferngespräch.«

»Was ist passiert?«

»Katherine ist aus dem Krankenhausfenster gesprungen.«

»Was …?« keuchte Thorn.

»Sie ist tot, Mr. Thorn. Wir haben getan, was wir nur tun konnten.«

Thorns Kehle war wie zugeschnürt. Er konnte nicht mehr sprechen.

»Wir wissen nicht genau, wie es passiert ist. Sie hat gebeten, das Krankenhaus verlassen zu können, und dann fanden wir sie draußen auf der Straße.«

»Sie ist tot?«

»Ja. Der Tod trat auf der Stelle ein. Bei dem Aufprall wurde ihr Schädel gespalten.«

Thorn begann zu stöhnen, er drückte den Hörer gegen die Brust.

»Mr. Thorn?« fragte der Arzt.

Aber er bekam keine Antwort mehr.

In der Dunkelheit seines Zimmers saß Thorn und weinte. Sein Schluchzen war draußen auf dem Korridor zu hören. Ein Nachtportier lief zu seinem Zimmer und klopfte, aber es kam keine Antwort, und so blieb es für viele Stunden.


*


Gegen Mitternacht kam Jennings zurück. Er ging gebückt, so müde war er. Im Zimmer sah er, daß Thorn auf dem Bett lag.

»Thorn?«

»Ja?«

»Ich war in der Bibliothek und dann im Autoklub und schließlich habe ich die Royal Ceographic Society angerufen.«

Thorn antwortete nicht. Jennings setzte sich schwer auf die andere Seite des Bettes. Er konnte sehen, daß der Blutfleck auf Thorns Hemd größer geworden war; die Wunde unter seiner Armhöhle leuchtete dunkel und naß.

»Etwas habe ich über diese Stadt Meggido herausgekriegt. Der Name stammt von dem Wort Harmaggedon. Das Ende der Welt.«

»Wo ist sie?« fragte Thorn ausdruckslos.

»Ungefähr fünfzig Fuß unter der Erde, fürchte ich. Außerhalb Jerusalems. Man macht gerade dort Ausgrabungen. Irgendeine amerikanische Universität.«

Wieder bekam er keine Antwort, und Jennings ging zu seinem Bett. Erschöpft legte er sich hin.

»Ich will dorthin«, flüsterte Thorn.

Jennings nickte, er stieß einen Seufzer aus.

»Wenn Sie sich nur an den Namen des alten Mannes erinnern könnten …«

»Bugenhagen.«

Jennings schaute zum anderen Bett hinüber, doch er konnte Thorns Augen nicht sehen.

»Bugenhagen?«

»Ja. Ich habe mich auch an das Gedicht erinnert.«

Verwirrt sah ihn Jennings an. »Der Name des Mannes, den Sie besuchen sollen, heißt Bugenhagen?«

»Ja

»Bugenhagen war ein Exorzist, der im siebzehnten Jahrhundert lebte. In einem unserer Bücher ist er erwähnt.«

»Das war der Name«, sagte Thorn ausdruckslos. »Ich habe mich an alles erinnert. An alles, was er gesagt hat.«

»Halleluja«, murmelte Jennings.

»Wenn die Juden nach Zion zurückkehren …«, deklamierte Thorn leise. »… und wenn der Komet am Himmel erscheint … wenn das Heilige Römische Reich aufersteht … dann werden wir alle sterben.«

Jennings hörte ihm in der Dunkelheit zu; aber plötzlich fiel ihm die tonlose Stimme auf, und es war ihm klar, daß sich irgend etwas bei Thorn verändert hatte.

»Aus dem Ewigen Meer wird er aufsteigen …«, fuhr Thorn fort. »… mit Heeren an jeder Küste … der Mann wird sich gegen seinen Bruder wenden … bis keiner mehr existiert.«

Er schwieg; Jennings wartete, während ein Streifenwagen mit heulender Sirene näher und näher kam und dann am Fenster vorbeiraste.

»Ist etwas passiert?« fragte er.

»Katherine ist tot«, antwortete Thorn ohne jedes Gefühl. »Ich will, daß das Kind auch stirbt.«

Von der Straße klang der Lärm in ihr Zimmer, und beide blieben wach, bis es ruhig geworden war.


*


Um acht Uhr rief Jennings El-Al an und buchte den Nachmittagsflug nach Israel.

Thorn war noch nie in Israel gewesen. Sein Wissen über Land und Leute, über Kriege und Kämpfe, Attentate und Aufstände stammte aus den Zeitungen und natürlich aus seinen letzten Forschungen in der Bibel. Er war verblüfft, wie modern dieser Staat war. Er sah ein Land, von dem man sich bereits in den Zeiten der Pharaonen eine Vorstellung gemacht hatte, aber geboren wurde dieses Land erst im Zeitalter des Asphalts und des Betons.

Der Himmel hatte über dem Exodus auf Kamelrücken gewacht, nun erhoben sich riesige Wolkenkratzer und turmhohe Hotels. Der Lärm von Bauplätzen hallte von den Wänden wider. Gigantische Krane bewegten sich wie mechanische Elefanten, schwangen die mächtigen Ladungen des Baumaterials dorthin, wo es gebraucht wurde. Die ganze Stadt schien entschlossen zu sein, sich so weit auszudehnen, wie es nur möglich war.

Preßlufthämmer rissen Bürgersteige und Straßen wieder auf, die erst vor wenigen Jahren asphaltiert worden waren; überall hingen Schilder, die Ausflüge ins Gelobte Land anboten; und die Polizisten, die Gepäckstücke oder Handtaschen überprüften und ständig Ausschau nach möglichen Saboteuren hielten, waren überall.

Thorn und Jennings wurden am Flughafen angehalten, weil ihre Gesichtsverletzungen Argwohn erweckten. Thorn benutzte seinen Zivilpaß und wurde durchgelassen, aber keiner hatte gemerkt, daß er ein Beamter der amerikanischen Regierung war. Auf dem Flug nach Rom hatte der private Jet, obwohl er weniger Sicherheit bot, seinen Zweck erfüllt, aber hier war es wichtig, anonym zu reisen und so auszusehen wie Herr Jedermann.

Sie fuhren mit einem Taxi zum Hilton, dann kauften sie sich leichte Bekleidung im Herrenausstattungsgeschäft. Heiß war es in der Stadt, und das Pflaster machte alles noch viel heißer. Thorns Schweiß drang durch die Bandage, und die Wunde unter dem Arm begann wieder zu schmerzen. Als Jennings die Wunde sah, schlug er dem Botschafter vor, zu einem Arzt zu gehen. Aber Thorn wollte nicht. Er wollte nur eines: er wollte diesen Bugenhagen finden.

Als sie fertig waren, war es bereits dunkel. Sie gingen durch die Straßen der City, bis die Suche beginnen konnte. Thorn fühlte sich schwach, er schwitzte stark. Sie blieben an einem Straßencafe stehen und bestellten sich Tee, denn sie hofften, er würde sich ein wenig erholen. Jetzt hatten sie einander wenig zu sagen. Jennings war nervös, er fühlte sich unbehaglich, weil sein Begleiter kaum sprach. Während er das geschäftliche Leben in der Straße beobachtete, entdeckte er zwei Frauen, die sie aus der Nähe beobachteten.

»Wissen Sie, was wir brauchen«, sagte er zu Thorn. »damit unser Verstand wieder funktionstüchtig wird?«

Thorns Augen folgten Jennings’ Blicken, und er entdeckte die Frauen, die nun auf den Tisch zukamen.

»Ich schnappe mir die mit den Leberflecken«, sagte Jennings.

Angeekelt betrachtete Thorn seinen Gefährten. Der Fotograf stand höflich auf und bot den Frauen einen Platz an ihrem Tisch an.

»Sprechen Sie Englisch?« fragte Jennings, als die Schönen sich’s bequem gemacht hatten.

Sie lächelten nur, ein Hinweis, daß sie kein Englisch konnten.

»Auf diese Weise ist es noch viel netter«, sagte Jennings zu Thorn. »Sie brauchen nur mit den Händen zu sprechen.«

Thorn verzog angewidert das Gesicht.

»Ich gehe ins Hotel zurück«, sagte er.

»Warum warten Sie nicht und sehen erst mal zu, was auf der Speisekarte steht?« »Ich bin nicht hungrig.«

»Könnte aber recht gut schmecken«, lächelte Jennings. Plötzlich merkte Thorn, was er meinte. Er stand auf und ging.

»Kümmern Sie sich nicht um ihn«, sagte Jennings zu den Mädchen. »Er ist Antisemit.«

Auf der Straße blickte Thorn noch einmal zurück. Er sah, daß Jennings die Frauen bereits befühlte; er drehte sich um und verschwand schnell in der Nacht.

Ziellos wanderte er umher, während er versuchte, nicht daran zu denken, was mit Katherine geschehen war. Er spürte das schmerzhafte Klopfen unter seinem Arm. Die nächtlichen Laute waren ihm fremd. Wenn nun der Tod ihn plötzlich rief, so würde er nicht unwillkommen sein.

Er ging an einem Nachtklub vorbei. Der Portier griff nach seinem Arm. Er versuchte ihn zu überreden: Mensch, komm doch rein. Doch Thorn ging weiter. Er schien nichts mehr zu hören, nichts mehr zu fühlen. Nicht einmal die Straßenlampen sah er durch die verschleierten Augen. Da in der Ferne strömten Leute aus einer Synagoge. Als Thorn sich ihr näherte, sah er, daß die Türen geöffnet waren. Er trat ein. Der Davidstern auf dem Altar war erleuchtet. Biblische Schriftrollen lagen unter Glas; Thorn näherte sich dem Altar, bis er vor ihm stand. Er allein, ein einsamer Mensch in der Stille der Synagoge.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?« hörte er eine Stimme aus dem Schatten. Thorn drehte sich um. Ein alter Rabbi kam auf ihn zu.

Er war ganz in Schwarz gekleidet und ging gebeugt, als ob er Arthritis hätte; der kleine, runde schwarze Hut saß fest auf seinem Kopf.

»Dies ist die älteste Thora in Israel«, sagte er und zeigte auf die Schriftrollen. »Man hat sie am Ufer des Roten Meeres ausgegraben.«

Thorn betrachtete den Mann. Die alten wässerigen Augen leuchteten voller Stolz.

»Der Boden Israels ist geschichtlicher Boden«, flüsterte der alte Mann. »Schade, daß wir darauf gehen müssen.«

Dann wandte er sich an Thorn und lächelte.

»Sie sind Tourist?«

»Ja

»Was führt Sie hierher?«

»Ich suche jemanden.«

»Sehen Sie, deswegen bin ich auch hergekommen. Ich habe meine Schwester gesucht. Aber ich fand sie nicht.« Der Mann lächelte.

»Vielleicht gehen wir auch auf ihr.«

Einen Augenblick war alles still, dann hob der Mann die Hand und löschte eine Kerze.

»Haben Sie jemals den Namen Bugenhagen gehört?« fragte Thorn.

»Ist er Pole?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er lebt in Israel?«

»Ich denke schon.«

»Was macht er hier?«

Thorn kam sich närrisch vor. Er schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es nicht.«

»Es ist ein bekannter Name.«

Sie standen eine Weile in der Dunkelheit, und der Rabbi schien nachzudenken – vielleicht, daß er versuchte, sich an diesen Namen zu erinnern.

»Wissen Sie, was ein Exorzist ist?« fragte Thorn.

»Ein Exorzist?« lächelte der alte Mann. »Sie meinen … mit dem Teufel?«

»Ja

Der Rabbi lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Warum lachen Sie?« fragte Thorn.

»So etwas gibt es nicht.«

»Nein?«

»Den Teufel. Den gibt es nicht.«

Er verschwand in der Dunkelheit, und Thorn hörte den Mann kichern, als ob er einen Witz gehört hätte. Wieder betrachtete Thorn die Schriftrollen, dann drehte er sich um und ging in die Nacht hinaus.

Jennings kehrte erst am folgenden Morgen zurück und ersparte es Thorn, Einzelheiten über sein Abenteuer in der vergangenen Nacht zu berichten. Die einzige Geste, daß er was mit den Frauen gehabt hatte, war, daß er bei geöffneter Tür im Badezimmer in die Hände urinierte und seine Genitalien mit dem Urin wusch.

Als er Thorns Gesichtsausdruck sah, der dieses merkwürdige und abstoßende Ritual beobachtete, sagte er: »Das habe ich in der RAF gelernt. Es ist so gut wie Penicillin.«

Thorn schloß die Tür und wartete ungeduldig darauf, daß Jennings sich anzog. Plötzlich widerte ihn die Begleitung dieses Mannes an. Aber noch mehr fürchtete er das Alleinsein.

»Gehen wir«, sagte Jennings. Er nahm sein Kameraetui. »Ich habe für uns eine Fahrt zu den Ausgrabungen gebucht, ehe ich herkam.«

Sie fuhren in einem Kleinbus mit zehn anderen Touristen durch die Altstadt Jerusalems. An der Klagemauer hielten sie. Die Touristen stiegen aus und fotografierten. Der Kommerzialismus war sogar hier grotesk. Verkäufer schoben sich durch die Menge der klagenden Juden. Sie priesen laut ihre Waren an – vom heißen Würstchen bis zum ›Plastiksouvenir mit Christus am Kreuz‹. Jennings kaufte zwei solche Kruzifixe, band eines um den Hals und gab das andere Thorn.

»Legen Sie das um, alter Junge. Vielleicht brauchen Sie’s.«

Aber Thorn weigerte sich. Er begriff nicht, wieso Jennings sich benahm, als ob sie sich auf Vergnügungsfahrt befänden.

Die Fahrt in die Wüste war weniger amüsant. Der Reiseführer erzählte aus der jüngsten Geschichte Israels. Er berichtete vom Krieg zwischen den Arabern und den Juden. Er sprach von den Golanhöhen, wo die meisten Schlachten ausgetragen worden waren.

Sie rumpelten durch das Dorf Daa-Lot, in dem eine Gruppe jüdischer Schulkinder von arabischen Terroristen massakriert worden war, und nun erzählte der Führer von einer anderen Gruppe Terroristen, wie diese gefangengenommen und getötet wurden, und daß man ihre Leichen zertrampelt habe, um die toten Schulkinder zu rächen.

»Nun wissen wir, warum sie an der Mauer jammern«, murmelte Jennings.

Thorn gab keine Antwort. Schweigend saßen sie nebeneinander, während der Kleinbus dahinrollte.


*


Als sie glücklich die archäologischen Ausgrabungsstätten erreichten, waren die Touristen müde und in Schweiß gebadet. Sie beschwerten sich sehr, als der Reiseführer sie in ein von Seilen umfriedetes Gebiet führte und ihnen erklärte, daß hier an Ausgrabungen gearbeitet werde.

Unter ihren Füßen befanden sich des Königs Salomon Quellen – ein ausgeklügeltes System von Gruben und Kanälen, die sich wahrscheinlich bis Jerusalem erstreckten, welches ungefähr sechzig Meilen entfernt lag.

Irgendwo innerhalb des Systems standen die Ruinen einer alten Stadt, und viele hielten diese Stadt für den Ort, wo die Bibel geschrieben worden war. Man hatte Texte gefunden, deren Inhalt sich auf das Alte Testament bezog. Die Ausgrabung war ein ehrgeiziges Projekt, denn kein Mensch wußte genau, wo die Stadt lag. Hier konnten keine Bulldozer eingesetzt werden, die die Erde aufrissen. Hier wurde, Zentimeter für Zentimeter, Erdreich mit Schaufeln und Bürsten entfernt.

Während der Fremdenführer erzählte, sprachen Jennings und Thorn mit einigen Studenten, die bei den archäologischen Ausgrabungen mitarbeiteten. Aber sie erfuhren nichts. Niemand kannte den Namen Bugenhagen, und alles, was sie von der Stadt Meggido wußten, war, daß vor vielen Jahrhunderten irgendeine Bodenumwälzung sie in die Erde hatte versinken lassen. Vielleicht war es ein Erdbeben, möglicherweise eine Überschwemmung gewesen, denn man hatte Muscheln hier gefunden – an einer Stelle, die weit vom Wasser entfernt war.

Thorn und Jennings kehrten in ihr Hotel zurück. Sie erfrischten sich, dann gingen sie über die Marktplätze und fragten jeden, den sie nur ansprechen konnten, ob er den Namen Bugenhagen jemals gehört habe.

Niemand hatte ihn gehört. Doch sie gaben nicht auf. Thorn war nun niedergeschlagen, und seine Kraft ließ mehr und mehr nach. Die meiste Arbeit übernahm Jennings. Er besuchte Geschäfte und Fabriken. Er prüfte Telefonbücher. Er ging sogar zur Polizei.

»Vielleicht hat er seinen Namen geändert«, seufzte Jennings, als sie am Morgen des zweiten Tages auf einer Parkbank saßen. »Vielleicht heißt er George Bugen oder Jim Hagen. Oder Izzy Hagenberg?«


*


Am nächsten Tag fuhren sie nach Jerusalem hinein und nahmen sich ein Zimmer in einem kleinen Hotel. Wieder versuchten sie jemanden zu finden, der diesen so fremdartig klingenden Namen gehört hatte. Doch es war zwecklos. Sie konnten so nicht weitermachen.

»Ich sage, wir geben auf«, meinte Jennings, während er den Blick von der Veranda ihres Zimmers über die Stadt schweifen ließ.

Im Zimmer war es heiß. Schweißbedeckt lag Thorn auf dem Bett.

»Wenn es hier einen Bugenhagen gibt, dann haben wir überhaupt keine Chance, ihn zu finden. Und soweit wir wissen, existiert er nicht einmal.«

Er ging ins Zimmer und holte eine Zigarette.

»Lieber Himmel, dieser kleine Priester stand doch die ganze Zeit unter der Einwirkung von Morphium. Wir verlassen uns auf sein Wort, als ob es ein Name aus der Bibel wäre. Bloß gut, daß er Ihnen nicht gesagt hat, Sie sollten zum Mond fliegen.«

Er setzte sich schwer aufs Bett und sah zu Thorn hinüber.

»Ich weiß nicht, Thorn. Vorher ergab das alles einen Sinn, aber jetzt ist es irgendwie verrückt.«

Thorn nickte. Mühsam richtete er sich auf. Sein Verband hatte sich gelöst, und Jennings verzog das Gesicht, als er die Wunde sah.

»Das sieht aber verdammt mies aus«, meinte er.

»Es ist schon gut.«

»Glaube ich nicht. Das sieht aus, als ob die Wunde eitern würde.«

»Es ist gut«, wiederholte Thorn.

»Warum lassen Sie uns nicht zu einem Arzt gehen?«

»Suchen Sie diesen alten Mann«, zischte Thorn. »er ist der einzige, der mich interessiert.«

Jennings wollte ihm gerade eine scharfe Antwort geben, als er durch ein leises Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Er ging hin und öffnete sie. Im Flur stand ein Bettler. Ein kleiner Mann, ein Araber – alt und nackt sein Oberkörper. Als er lächelte, zeigte er einen Goldzahn. Er verbeugte sich mit übertriebener Höflichkeit.

»Was wollen Sie?« fragte Jennings.

»Sie suchen den alten Mann?«

Jennings und Thorn sahen sich an.

»Was für einen alten Mann?« fragte Jennings vorsichtig.

»Auf dem Marktplatz haben Sie erzählt, daß Sie den alten Mann suchten.«

»Wir suchen einen Mann«, gab Jennings vorsichtshalber zu.

»Ich werde Sie hinbringen.«

Schwerfällig erhob sich Thorn. Er starrte Jennings an.

»Beeilen – beeilen«, drängte der Araber. »Er sagt, Sie sollen gleich kommen.«

Schweigend folgten sie zu Fuß dem kleinen Araber durch die Straßen Jerusalems. Er ging für einen alten Mann überraschend schnell. Thorn und Jennings hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Einmal hätten sie ihn fast verloren, als er in der Menge auf dem Marktplatz war, doch dann tauchte er auf der anderen Seite oben auf einer Mauer wieder auf.

Ihre Müdigkeit schien ihn zu belustigen. Er war ihnen immer einige Meter voraus, wenn er sich behende durch die engen Gäßchen und Tore bewegte. Als sie aufgeholt hatten und heftig nach Atem rangen, verzog er seinen Mund wie ein Kater. Offensichtlich hatten sie das Ende ihres Weges erreicht, doch sie sahen jetzt nur eine Wand aus Ziegelsteinen. Plötzlich war ihnen der Gedanke gekommen, man wolle sie in irgendeine Falle locken.

»Unten«, sagte der Araber. Er entfernte ein Gitter und machte eine Handbewegung, daß sie hinuntersteigen sollten.

»Was, zum Teufel, ist das?« fragte Jennings.

»Beeilen – beeilen«, wiederholte der Araber grinsend.

Wieder sahen sich Thorn und Jennings an. Sie wußten nicht, ob es richtig war, dem Araber zu folgen, aber dann zuckte Thorn mit den Schultern. Der Araber schob das Gitter wieder vor, als sie hinter ihm eintraten.

Im Innern war es dunkel. Der Mann entzündete eine Fackel und ging schnell vor ihnen her. Er stieg nach unten, und sie konnten in dem trüben Licht eine schlüpfrige Treppe erkennen, die aus rohen Steinen gehauen war. Und diese Steine waren durch die Straßendränage von dicken braunen Algen überzogen, die entsetzlich stanken und jede Bewegung zu einem Abenteuer werden ließen. Sie stolperten, als sie vorsichtig weitergingen, aber als sie endlich auf festem Boden standen, überraschte der Araber sie, denn plötzlich rannte er los.

Sie versuchten ihm zu folgen, aber sie konnten sich auf den glitschigen Steinen unter ihren Füßen nicht schnell genug bewegen. Der kleine Mann rannte. Seine Fackel wurde zu einem langen Lichtstreifen in der Ferne. Nun war es dunkel, der Tunnel war eng, ihre Arme berührten fast die Seitenwände.

Es war wie ein gewaltiger Dränagekanal, vielleicht überhaupt die Kanalisation der Stadt, und Jennings überlegte, daß es gut möglich war, daß sie durch das verwirrende System der alten Wasserkanäle wanderten, die ihnen von den Archäologen bei den Ausgrabungen in der Wüste erklärt worden waren.

Festes Gemäuer und Dunkelheit ringsum. Sie tasteten sich blindlings weiter. Ihre Schritte erklangen im Tunnel. Es war das Echo. Das Fackellicht war nun ganz verschwunden. Sie gingen langsamer, als sie merkten, daß sie allein waren.

Sie konnten einander nicht sehen, doch das mühsame Atmen sagte ihnen, daß sie nicht weit voneinander entfernt waren.

»Jennings …«, keuchte Thorn.

»Ich bin hier.«

»Ich kann nichts sehen.«

»Dieses Schwein …«

»Warten Sie auf mich.«

»Es bleibt mir nichts anderes übrig«, meinte Jennings. »Wir stehen direkt vor einer festen Mauer.«

Thorn machte noch einige Schritte, dann berührte er Jennings und schließlich befühlte er die Wand. Ihr Weg war zu Ende und der Araber verschwunden.

»Ich begreif’s nicht ganz«, sagte Jennings. »Jedenfalls ist er nicht an uns vorbeigekommen. Vielleicht ist er irgendwo unterwegs abgebogen.«

Er zündete ein Streichholz an, das für Sekunden eine kleine Stelle erleuchtete. Es war wie ein Grab. Die Felsendecke schien sie zu erdrücken. Die Risse waren naß, Asseln krochen über die Steine.

»Ist das ein Abwasserkanal?« fragte Thorn.

»Es ist naß«, bemerkte Jennings. »Warum, zum Teufel, ist es naß?«

Sein Streichholz ging aus, und sie standen wieder in der Dunkelheit.

»Aber das ist doch Wüste. Wo kommt bloß das Wasser her?«

»Es muß eine unterirdische Quelle geben …«, überlegte Thorn.

»Oder Zisternen. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir diesen unterirdischen Kanälen nahe wären. Man hat da draußen in der Wüste Muscheln gefunden. Es ist doch durchaus möglich, daß damals, als diese Stadt Meggido verschwand, unter der Erde Wasser zurückgeblieben ist.«

Thorn schwieg, sein Atem ging immer noch schwer.

»Lassen Sie uns gehen«, keuchte er.

»Durch die Wand?«

»Zurück. Wir wollen sehen, wie wir hier zurückfinden.«

Sie streckten die Hände aus, um die feuchte Felswand zu berühren. So konnten sie ihren Weg finden. Sie kamen nur langsam voran. Da sie nichts sehen konnten, schien jeder Zentimeter wie ein Kilometer zu sein. Und dann fuhr Jennings Hand plötzlich ins Leere.

»Thorn?«

Er ergriff Thorns Arm und zog ihn zu sich heran. Gleich hier zweigte ein Korridor ab in anderer Richtung – vielleicht in einem Winkel von neunzig Grad. Sie hatten ihn vorhin übersehen.

»Da hinten ist irgendwo ein Licht«, flüsterte Thorn.

»Wahrscheinlich unser kleiner Gandhi.«

Vorsichtig bewegten sie sich in diesem zweiten Korridor weiter. Es schien kein Dränagekanal zu sein, eher eine Kaverne. Felsbrocken lagen in ihrem Weg, die Wände waren uneben und dadurch wurde dieser Korridor manchmal ungewöhnlich breit.

Während sie sich vorsichtig weitertasteten, entdeckten sie schließlich, was vor ihnen lag. Es war nicht nur das Licht einer einzelnen Fackel, sondern eine hellerleuchtete Kammer. Wie Schatten standen zwei Männer da, die sie beobachteten und auf sie warteten, während sie langsam weitergingen.

Da war auch wieder der arabische Bettler. Er hielt die erloschene Fackel in der Hand. Der andere war ein älterer Mann in Khaki-Shorts und einem kurzärmeligen Hemd. Sein Anzug glich dem der Archäologen, die sie in der Wüste bei der Ausgrabungsstätte gesehen hatten.

Das Gesicht des Mannes war ernst und gespannt, das Hemd klebte ihm am schweißigen Körper. Hinter ihnen konnten sie einen Holztisch sehen, auf dem Stapel von Papieren und Schriftrollen lagen.

Jennings und Thorn stiegen über eine Türschwelle von behauenen Felssteinen und betraten den Raum. Blinzelnd versuchten sie in dem hellen Licht etwas zu erkennen. Die Kammer war von Dutzenden brennender Laternen erleuchtet. Das Dunkel ließ Gebäude und steinerne Treppen vermuten, die mit den Felsen zu verschmelzen schienen. Der Boden unter ihnen war aus hartem Lehm, doch konnten sie ab und zu Kopf Steinpflaster erkennen; es mußte sich um eine alte Straße handeln.

»Zweihundert Drachmen«, sagte der Araber mit ausgestreckter Hand.

»Können Sie ihn bezahlen?« fragte der Mann mit den Khaki-Shorts.

Thorn und Jennings starrten ihn an. Der Mann zuckte mit den Schultern.

»Sind Sie …?«

Das plötzliche Nicken des Mannes unterbrach ihn. »Sie sind Bugenhagen?«

»Ja

Jennings betrachtete ihn argwöhnisch.

»Bugenhagen war ein Exorzist im siebzehnten Jahrhundert.«

»Das war vor neun Generationen.«

»Ich bin der letzte«, erwiderte der Mann. »Und ich werde der letzte bleiben.«

Er ging hinter seinen Tisch und setzte sich schwerfällig hin. Das Licht der Tischlampe beleuchtete sein Gesicht, das fast durchsichtig erschien. Klar waren die Venen an den Schläfen und die Glatze zu erkennen. Sein Gesicht war gespannt, irgendwie verbittert, als ob ihm das, was er nun tun sollte, nicht gefiele.

»Was ist das hier für ein Ort?« fragte Thorn.

»Die Innenstadt von Jezreel, die Stadt Meggido«, antwortete der Mann ausdruckslos. »Meine Festung, mein Gefängnis. Der Ort, wo das Christentum begann.«

»Ihr Gefängnis …?« fragte Thorn.

»Geographisch gesehen ist es das Herz der Christenheit. Solange ich hier drin bleibe, kann mir nichts geschehen.«

Er schwieg und wartete auf ihre Reaktion. Noch zweifelten sie, und der Zweifel stand auf ihren Gesichtern geschrieben.

»Können Sie meinen Boten bezahlen, bitte?« fragte er.

Thorn griff in die Tasche und holte ein paar Banknoten heraus. Der Araber nahm sie und verschwand sofort in der Richtung, aus der er gekommen war. Die drei Männer sahen einander schweigend an. Der Raum war kalt und feucht. Thorn und Jennings erschauerten, als sie sich umsahen.

»Über diesen Platz«, sagte Bugenhagen. »sind einstmals römische Armeen marschiert, und die alten Männer saßen auf steinernen Bänken. Flüsternd sprachen sie über die Geburt Christi. Die Geschichten, die sie erzählten, wurden hier aufgeschrieben«, fuhr er fort und machte eine umfassende Handbewegung. »in diesem Gebäude – mühselig niedergeschrieben alles – und zu Büchern vereinigt, die wir als Bibel kennen.«

Jennings entdeckte eine dunkle Höhle hinter ihnen, und Bugenhagens Augen folgten seinem Blick.

»Die ganze Stadt ist hier«, sagte er. »Fünfunddreißig Kilometer von Norden nach Süden. Das meiste ist passierbar, allerdings ist in der letzten Zeit einiges eingestürzt. Sie graben da oben weiter und dadurch stürzt manches hier unten ein. Aber bis sie unten sind, wird alles Schutt sein.« Er schwieg und in seinem Gesicht stand die Trauer.

Thorn und Jennings hörten ihm lange zu und versuchten sich das zu merken, was sie sahen und hörten.

»Der kleine Priester«, sagte Bugenhagen. »Er ist jetzt tot?«

Thorn wandte sich ihm zu, plötzlich überkam ihn die Erinnerung an Tassone.

»Ja«, antwortete er.

»Dann nehmen Sie Platz, Mr. Thorn. Wir sollten nun an die Arbeit gehen.«

Doch Thorn blieb stehen. Der alte Mann sah Jennings an.

»Sie müssen mir verzeihen. Aber das ist eine Sache, die allein Mr. Thorn angeht.«

»In dieser Angelegenheit gehöre ich zu ihm«, erwiderte Jennings.

»Ich fürchte nein.«

»Ich habe ihn hierher gebracht.«

»Sicher wird er Ihnen dankbar sein.«

»Thorn …?«

»Tun Sie, was er sagt«, antwortete Thorn.

Jennings’ Augenbrauen zogen sich zusammen. Warum war Thorn so ungehalten?

»Wo, zum Teufel, soll ich denn hingehen?«

»Nehmen Sie eine Lampe«, sagte Bugenhagen.

Widerwillig tat Jennings, was ihm der Mann gesagt hatte. Er warf einen wütenden Blick auf Thorn, dann hob er die Lampe vom Haken an der Wand und verschwand in der Dunkelheit.

Eine Weile herrschte Stille. Der alte Mann erhob sich hinter seinem Schreibtisch und wartete, bis er die schlurfenden Geräusche von Jennings’ Schritten nicht mehr hörte.

»Trauen Sie ihm?« fragte Bugenhagen.

»Ja

»Trauen Sie keinem.«

Er drehte sich um, griff in ein Regal, das in die Felsen eingehauen war, und nahm etwas heraus, das in ein Tuch eingeschlagen war.

»Sollte ich Ihnen trauen?« fragte Thorn.

Der alte Mann kehrte zum Tisch zurück und öffnete das Tuch. Es war seine Antwort. Da lagen sieben Dolche, die im Licht glänzten. Sie waren dünn, hatten Griffe aus Elfenbein und jeder Griff zeigte das geschnitzte Abbild des Gekreuzigten.

»Vertrauen Sie diesen«, sagte er. »Nur diese können Sie retten – diese allein.«

In den Kavernen dort hinten stand die Luft still. Jennings ging gebückt unter der niedrigen Felsdecke und starrte in den Lichtkreis, den die Laterne in seiner Hand warf. In den Mauern waren Gegenstände aus prähistorischer Zeit eingelassen. Skelette, halb im Fels vergraben, und es sah aus, als ob diese Wand einstmals die alte Straße gesäumt hätte. Langsam ging er in dem allmählich sich verengenden Tunnel weiter …

Die Lichter schienen trüber geworden zu sein. Angsterfüllt starrte Thorn auf den Tisch. Die sieben Dolche steckten fest in dem Holz und bildeten das Zeichen des Kreuzes.

»Es muß auf geheiligtem Boden geschehen«, flüsterte der alte Mann. »In einer Kirche. Sein Blut muß über dem Altar Gottes vergossen werden.«

Seinen Worten folgte Schweigen, und er betrachtete Thorn, um sich zu vergewissern, daß er verstanden hatte.

»Jedes Messer muß bis zum Griff in ihn eindringen. Bis zu den Füßen der Gestalt Christi … und es muß so geschehen, daß die Dolche das Zeichen des Kreuzes bilden.«

Der alte Mann streckte eine ausgezehrte Hand hoch und zog mit Mühe das Messer, das in der Mitte steckte, heraus.

»Der erste Dolch ist der wichtigste. Er löscht das physische Leben aus und bildet den Mittelpunkt des Kreuzes. Die anderen töten das geistige Leben, und sie sollten nach außen gerichtet werden … so …«

Er schwieg und erforschte Thorns Gesichtszüge.

»Sie dürfen kein Mitleid haben, es darf kein Mitfühlen geben, keine Sympathie und keine Liebe«, belehrte er ihn. »Dies ist kein menschliches Kind.«

Thorn versuchte etwas zu sagen. Als er die Worte endlich herausbrachte, klangen sie fremd, heiser, fast verzerrt, denn es war viel Betrübnis in ihnen.

»Und was ist, wenn Sie sich irren?« fragte er. »Wenn er nicht –«

»Machen Sie keinen Fehler.«

»Es muß doch irgendeinen Beweis geben …«

»Er besitzt ein Muttermal. Eine Folge der Zahl Sechs.«

Thorns Atem ging schneller.

»Nein!« rief er.

»Die Bibel sagt, daß alle Apostel Satans dieses Zeichen tragen.«

»Er hat aber keines.«

»Psalm 12, Vers 6: Laß ihn, der es weiß, dem Untier die Zahl zuordnen; denn es ist eine menschliche Zahl; die Zahl lautet: 666 .«

»Aber er hat es nicht, ich sage es Ihnen doch.«

»Er muß es haben.«

»Ich habe ihn gebadet. Ich habe jeden Zentimeter seiner Haut gesehen.«

»Wenn es auf seinem Körper nicht sichtbar ist, dann werden Sie es unter den Haaren finden. Hatte er nicht sehr viele Haare, als er geboren wurde?«

Thorn erinnerte sich an den Augenblick, da er das Kind zum erstenmal gesehen hatte. Und er erinnerte sich, wie betroffen er beim Anblick des dichten, wunderbaren Haares gewesen war.

»Entfernen Sie es«, sagte Bugenhagen. »Sie werden das Zeichen darunter versteckt finden.«

Thorn schloß die Augen und legte den Kopf in die Hände.

»Wenn Sie einmal begonnen haben, zögern Sie nicht.«

Thorn schüttelte den Kopf. Es war eine Unmöglichkeit. Er konnte es nicht tun.

»Zweifeln Sie an dem, was ich sage?« fragte Bugenhagen.

»Ich weiß nicht.« Thorn seufzte.

Der alte Mann lehnte sich zurück und betrachtete ihn.

»Ihr ungeborenes Kind wurde getötet, wie es vorausgesagt wurde. Ihre Frau ist tot …«

»Aber das ist doch ein Kind!«

»Brauchen Sie denn noch mehr Beweise?«

»Ja.«

»Dann warten Sie darauf«, sagte Bugenhagen. »Hören Sie: Es muß getan werden. Oder es wird viel Unheil geschehen. Wenn Sie unsicher sind, dann werden sie Sie besiegen.«

»Sie …?«

»Sie sagten, da wäre eine Frau. Eine Frau, die das Kind betreut.«

»Mrs. Baylock …«

Wieder lehnte sich der alte Mann zurück. Er nickte.

»Ihr Name ist B’aalock. Sie ist eine Abtrünnige des Teufels und sie wird sterben, ehe sie dies erlaubt.«

Die beiden Männer schwiegen. Hinter ihnen in der Kaverne wurden Schritte hörbar. Jennings löste sich aus der Dunkelheit. Er sah bestürzt aus.

»Tausende von Skeletten …«, flüsterte er.

»Siebentausend«, antwortete Bugenhagen.

»Was ist denn passiert?«

»Meggido war Harmaggedon. Das Ende der Welt.«

Jennings kam auf sie zu, erschüttert von dem, was er gesehen hatte.

»Sie meinen … Harmaggedon hat bereits stattgefunden?«

»O ja«, erwiderte Bugenhagen. »Und es wird noch viele Male geschehen.«

Er zog die Dolche heraus, wickelte sie in das Tuch ein und gab Thorn das Päckchen. Thorn wollte es nicht nehmen, doch Bugenhagen drängte es ihm auf. Ihre Blicke begegneten sich. Thorn erhob sich.

»Ich habe lange genug gelebt«, sagte Bugenhagen mit zitternder Stimme. »Ich hoffe, daß ich nicht umsonst gelebt habe.«

Thorn drehte sich um und folgte Jennings in die Dunkelheit. Schweigend gingen sie den Weg zurück, nur einmal wandten sie sich um. Aber der Raum war nicht mehr zu sehen. Die Lichter waren gelöscht. Die Dunkelheit verhüllte, was soeben noch greifbar war.


*


Schweigend gingen sie durch die Straßen Jerusalems. Fest umfaßten Thorns Hände das Päckchen. Er ging wie ein Automat, ohne auf die Umgebung zu achten. Er starrte geradeaus, und sein Gesichtsausdruck war düster.

Jennings hatte versucht, ihm das Geheimnis zu entlocken, aber Thorn blieb fest. Nun, da sie über einen schmalen Bürgersteig in offenes Baugelände gelangten, verlor der Fotograf vollends die Geduld. Er machte Thorn die bittersten Vorwürfe.

»Hören Sie! Ich will alles wissen, was er gesagt hat! Ich hab’ ein Recht, es zu wissen, nicht wahr?«

Aber Thorn ging mit gesenktem Kopf weiter. Nur seine Schritte wurden schneller, als ob er versuchte, ihm davonzulaufen.

»Thorn! Ich will wissen, was er gesagt hat!«

In der nächsten Straße war Jennings neben ihm. Er packte Thorn am Arm.

»Hören Sie! Mit mir können Sie das nicht machen! Ich bin schließlich derjenige, der ihn gefunden hat.«

Thorn blieb stehen und sah in Jennings’ Augen.

»Ja. Sie sind es, nicht wahr? Sie sind derjenige, der all das gefunden hat.«

»Was soll denn das nun wieder bedeuten?«

»Sie sind derjenige, der darauf bestanden hat! Sie sind derjenige, der nicht aufgehört hat, mir das einzureden …!«

»Nun halten Sie aber mal die Luft an!«

»Sie sind derjenige, der diese Fotos gemacht hat …«

»Sie sollen …«

»Sie sind derjenige, der mich hierher gebracht hat …«

»Was ist denn bloß mit Ihnen los?«

»Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind!«

Er entzog seinen Arm Jennings’ Griff und drehte sich um. Jennings hielt ihn fest.

»Sie werden jetzt hier einen Augenblick warten und mir zuhören, was ich Ihnen zu sagen habe.«

»Ich habe Ihnen schon viel zu lange zugehört.«

»Ich versuche doch bloß Ihnen zu helfen.«

»Nicht mehr!«

Sie starrten einander wütend an. Thorn zitterte am ganzen Leib.

»Wenn ich nur daran denke, daß ich mir das alles angehört habe! Daß ich es geglaubt habe!«

»Thorn …«

»Denn alles, was ich weiß, ist, daß dieser alte Mann irgendein Fakir ist, der mit Messern herumspielt!«

»Worüber haben Sie gesprochen?«

Mit zitternden Händen hielt Thorn das Päckchen hoch.

»Das sind Dolche! Waffen! Er will, daß ich ihn ersteche! Er erwartet von mir, daß ich das Kind ermorde!«

»Es ist kein Kind!«

»Es ist ein Kind!«

»Um Himmels willen, wie viele Beweise wollen Sie denn noch haben?«

»Und wofür halten Sie mich?«

»Nun beruhigen Sie sich doch.«

»Nein!« brüllte Thorn. »Ich werde es nicht tun! Ich will es nicht tun! Ein Kind ermorden? Für was für einen Menschen halten Sie mich eigentlich?«

Wutentbrannt wirbelte er herum, dann warf er das Päckchen mit den Messern weit von sich, sie knallten gegen eine Wand und fielen zu Boden. Da blieb Jennings stehen. Er starrte in Thorns wütende Augen.

»Vielleicht werden Sie es nicht tun«, knurrte er. »aber ich werde es tun.«

Er wollte sich umdrehen, aber Thorn packte ihn am Arm.

»Jennings.«

»Sir?«

»Ich will Sie nie mehr wiedersehen! Ich will mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben.«

Mit entschlossener Miene rannte Jennings in das Gäßchen. Er suchte das Päckchen mit den Dolchen. Am Boden lagen Steine, Holz und Sand. Die Luft erdröhnte von den Preßlufthämmern, und eine schwere Maschine, die die Erde beiseite schob, schob zugleich das Päckchen mit, bis es neben einem verrotteten Kübel lag.

Schnell rannte Jennings herbei. Er beugte sich über das Päckchen und so sah er den Arm des gewaltigen Krans nicht, als dieser hoch über ihm schwebte, einen Augenblick lang innehielt und dann die riesige Glasscheibe herunterließ, die er transportiert hatte.

Sie kam herunter mit der Endgültigkeit einer Guillotine. Sie traf Jennings’ Hals. Sie trennte seinen Kopf vom Körper. Dann zerbrach sie in Millionen Scherben.

Thorn hörte den Aufprall, dann die Schreie der Fußgänger, die aus allen Richtungen in das Gäßchen gerannt kamen, in dem Jennings verschwunden war.

Er drängte die Menge zur Seite, bis er die Stelle erreichte, wo der Körper lag. Jennings war buchstäblich enthauptet; als ob sein Herz noch schlüge, so spritzte das Blut in pulsierenden Stößen aus dem Hals. Auf einer Veranda stand eine Frau mit blassem Gesicht. Sie zeigte immerfort nach unten und schrie.

Der Kopf lag in einem Abfalleimer, die toten Augen starrten gen Himmel.

Mit letzter Kraft riß Thorn sich zusammen. Steifbeinig bewegte er sich vorwärts, dann hob er das Päckchen mit den Dolchen auf, das auf dem Schotter neben Jennings’ lebloser Hand lag.

Langsam drehte er sich um. Seine Augen schienen erstarrt zu sein, als er durch das Gäßchen ging und den Weg zum Hotel suchte.

Загрузка...