6

Spät an diesem Abend kehrte Katherine nach Hause zurück. Damien war bereits im Auto eingeschlafen. Nach dem Zoobesuch waren sie sofort losgefahren, und das Kind saß schweigend da, verletzt und verwirrt, weil es das Gefühl hatte, etwas Falsches getan zu haben.

Doch dann begann er über Gorilla, Pferd und Esel zu sprechen. Katherine blieb stumm. Sie starrte durch die Windschutzscheibe auf die Straße.

Als es dunkel wurde, sagte Damien, er sei hungrig, aber seine Mutter weigerte sich, ihm eine Antwort zu geben. So krabbelte er auf den Rücksitz, auf dem eine Wolldecke lag, wickelte sich ein und fiel sogleich in einen tiefen Schlaf.

Während sie fuhr, versuchte Katherine die Furcht abzustreifen, die sie zu überwältigen drohte. Es war nicht die Angst vor Damien oder vor Mrs. Baylock – es war die Angst davor, daß sie den Verstand verlieren könnte …


*


In Pereford wartete Jeremy, der hoffte, daß sie gutgelaunt nach Hause käme; er hatte gebeten, das Essen erst nach ihrer Ankunft zu servieren.

Nun saßen sie an einem kleinen Tisch, und Thorn betrachtete Katherine, als sie, ruhig und dennoch aufs äußerste gespannt, zu essen versuchte.

»Bist du in Ordnung, Katherine?«

»Ja.«

»Du bist so schweigsam.«

»Nur müde, denke ich.«

»War es ein schöner Tag?«

»Ja.«

Ihre Antworten waren so kurz, daß er sich nicht damit zufriedengeben wollte.

»Hat’s Spaß gemacht?«

»Ja.«

»Du scheinst verstört zu sein.«

»Wirklich?«

»Stimmt etwas nicht?«

»Was könnte nicht stimmen?«

»Ich weiß nicht. Es ist etwas an dir –«

»Ich bin nur müde. Ich möchte mich bald schlafen legen.«

Nur mit Mühe gelang ihr ein Lächeln, doch es war nicht überzeugend. Thorn war besorgt, als er sie betrachtete.

»Ist Damien in Ordnung?« fragte Thorn.

»Ja.«

»Bist du sicher?«

»Ja.«

Thorn beobachtete sie, und sie wich seinem Blick aus.

»Wenn irgend etwas nicht stimmt … würdest du es mir doch sagen, nicht wahr?« sagte er. »Ich meine … mit Damien?«

»Mit Damien? Was könnte mit Damien nicht stimmen, Jeremy? Was könnte mit deinem Sohn, mit unserem Sohn nicht stimmen? Wir sind doch gesegnete Leute, nicht wahr?«

Sie sah ihn freundlich an, doch in ihren Augen stand die nackte Angst.

»Ich meine, ins Haus der Thorns kommt doch nur Gutes«, fügte sie hinzu. »Die schwarzen Wolken gibt es nicht.«

»Es stimmt also doch etwas nicht, sag!«

Katherine legte den Kopf in die Hände und rührte sich nicht.

»Kathy …«, sagte Thorn liebevoll. »Was ist?«

»Ich denke …«, flüsterte sie und versuchte ihre Stimme zu beherrschen. »… ich möchte zu einem Arzt gehen.« Sie sah ihn mit schmerzerfüllten Augen an. »Ich habe … Angst«, sagte sie. »Angst, die ein normaler Mensch vermutlich nicht kennt.«

»Kathy …«, flüsterte Thorn. »Warum hast du Angst?«

»Wenn ich’s dir sagte, würdest du mich einsperren lassen.«

»Nein«, beruhigte er sie. »Nein … ich liebe dich.«

»Dann hilf mir«, flehte sie. »Such einen Arzt für mich.«

Eine Träne rollte über ihre Wange, und Thorn nahm ihre Hände in die seinen.

»Natürlich«, sagte er. »Natürlich.«

Sie weinte.

Die Geschehnisse dieses Tages blieben für immer tief in ihr eingeschlossen.

Es gab in England nicht so viele Psychiater wie in Amerika, und es kostete einige Mühe, einen Spezialisten zu finden, dem man Katherine anvertrauen konnte. Schließlich landeten sie bei einem Amerikaner, der zwar noch ziemlich jung war, aber dafür ausgezeichnete Empfehlungen und nicht zuletzt eine ganze Menge Erfahrung besaß. Er hieß Charles Greer und hatte in Princetown studiert, ein Internat in Bellevue besucht und, was von besonderem Interesse war: er hatte in

Georgetown gewohnt und dort die Frauen einiger Senatoren behandelt.

»Sie werden es vielleicht nicht glauben«, sagte Greer, als Thorn in seiner Praxis vor ihm saß. »aber das allgemeine Problem unter den Frauen der Politiker ist der Alkoholismus. Ich glaube, es ist das Gefühl der Isolierung. Das Gefühl, nicht gleichwertig zu sein. Die Angst davor, daß sie keine eigene Persönlichkeit haben.«

»Sie verstehen, daß das eine vertrauliche Sache ist«, sagte Thorn.

»Genau das ist es, was ich zu verkaufen habe«, lächelte der Psychiater. »Die Leute vertrauen mir und, ganz offen gesagt, das ist alles, was ich anbieten kann. Meine Patienten diskutieren ihre Probleme nicht mit anderen Leuten, weil sie denken, daß ihr Vertrauen mißbraucht wird und so gewissermaßen wieder auf sie zurückfällt, um ihnen Angst einzujagen. Bei mir sind sie sicher. Ich kann nicht viel versprechen, aber das eine kann ich ihnen versprechen.«

»Soll Katherine Sie anrufen?«

»Geben Sie mir nur Ihre Nummer. Lassen Sie sie nicht anrufen.«

»Aber es ist doch nicht so, daß sie nicht will. Sie hat mich gebeten …«

»Gut.«

Da Thorn seine Bedenken nicht verbergen konnte, lächelte der junge Arzt.

»Werden Sie mich anrufen, nachdem Sie sie gesehen haben?« fragte Thorn.

»Ich bezweifle das«, antwortete Greer einfach.

»Ich meine … wenn Sie mir etwas zu sagen haben?«

»Was ich zu sagen habe, das werde ich ihrer Frau sagen.«

»Ich meine, falls Sie sich Sorgen um sie machen …«

»Hat sie mit Selbstmord gedroht?«

»Nein.«

»Dann werde ich mir um sie auch keine Sorgen machen. Ich bin sicher, daß der Fall nicht so ernst ist, wie Sie glauben.«

Beruhigt ging Thorn zur Tür.

»Mr. Thorn?«

»Ja?«

»Warum sind Sie heute hierhergekommen?«

»Um Sie zu sehen.«

»Aus welchem Grunde?«

Thorn zuckte mit den Schultern. »Wollte mal wissen, wie Sie aussehen, vermute ich.«

»Gibt es irgend etwas Besonderes oder Ungewöhnliches, das Sie mir sagen wollten?«

Wieder überfiel Thorn dieses unbehagliche Gefühl. Aber er schüttelte den Kopf.

»Schlagen Sie mir vielleicht vor, daß ich einen Psychiater aufsuchen sollte?«

»Möchten Sie?«

»Sehe ich aus, als ob ich einen nötig hätte?«

»Ich vielleicht?« fragte der Psychiater.

»Nein.«

»Na sehen Sie, ich habe einen«, lächelte Greer. »Bei meiner Arbeit käme ich ganz schön in Schwierigkeiten, wenn ich keinen hätte.«

Die Unterhaltung war unbefriedigend gewesen, und als Thorn wieder in seinem Büro saß, dachte er fast den ganzen Tag darüber nach.

Als er bei Greer gewesen war, da hatte er das Bedürfnis verspürt, mit ihm zu sprechen, ihm alles das zu sagen, was er nie zuvor jemanden gesagt hatte. Aber wozu wäre das gut gewesen? Die Täuschung war etwas, mit der er leben mußte. Eine Tatsache. Und doch sehnte er sich nach jemandem, dem er sich mitteilen konnte.

Der Tag verging langsam und Thorn versuchte, sich auf eine wichtige Rede vorzubereiten. Er sollte am Abend vor einer Gruppe prominenter Geschäftsleute sprechen, und es war durchaus möglich, daß die Vertreter saudiarabischer Ölstaaten unter den Zuhörern sein würden.

Thorn wollte eine eindrucksvolle Rede halten – eine pazifistische Rede! Es war der ständige Konflikt, mit dem Israel zu kämpfen hatte, der den großen Riß zwischen den Vereinigten Staaten und dem arabischen Block verursacht hatte. Thorn wußte, daß die arabisch-israelischen Feindseligkeiten, wenn man etwas von Geschichte verstand, fast natürlich waren, tief verwurzelt in den Schriften. Aus diesem Grunde besaß er die Bibel – nicht nur eine, sondern drei, und er versuchte sein Wissen durch die Weisheit der Alten zu vergrößern. In Wahrheit gab es einen viel praktischeren Grund, denn es gab auf der ganzen Welt keine Zuhörerschaft, die nicht beeindruckt war, wenn man gelegentlich Stellen aus der Heiligen Schrift zitierte.

Er schloß sich den ganzen Nachmittag ein, bestellte seinen Lunch, während er arbeitete und dann, als er Schwierigkeiten hatte, einige wichtige Passagen zu finden, schickte er einen Boten, der ihm eine Bibliographie und einen Interpretationstext besorgte. Danach war es leichter, denn er konnte sich auf bestimmte Passagen beziehen und außerdem deren Bedeutung theologisch untermauern.

Zum erstenmal seit seiner Kindheit durchblätterte Thorn wieder eine Bibel. Er fand sie faszinierend, besonders hinsichtlich der ewigen Zwistigkeiten im Mittleren Osten. Er entdeckte, daß es der Jude Abraham war, dem Gott zuerst versprochen hatte, daß seine Leute das Heilige Land sehen würden.

Ich werde aus deinem Volk ein großes Volk machen. Wohlstand werde ich ausbreiten über dieses Land und sie werden es für immer besitzen.

Das Land, das Gott den Juden gab, war in den Büchern der Genesis und Josua deutlich begrenzt – es war das Land, das sich zwischen dem Fluß Ägyptens, dem Nil, bis zum Libanon und zum Euphrat erstreckte.

Thorn sah auf seinem Atlas nach und fand, daß der Staat Israel nur ein kleiner Streifen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer war. Nur ein winziges Stück Land dessen, was Gott offensichtlich versprochen hatte.

Konnte es sein, daß Israels Expansionsdrang von diesem nicht eingelösten Versprechen herrührte? Hier hakte Thorns Interesse ein, und er begann zu grübeln. Durfte Gott etwas versprechen, das er nicht erfüllen konnte?

Wenn ihr den Glauben bewahrt, dann werdet ihr für mich sein ein Königreich der Priester und eine heilige Nation.

Vielleicht war das der Schlüssel? Die Juden hatten das Bündnis mit Gott nicht gehalten. Es hieß, die Juden hätten Christus getötet. Das ergab sich aus dem fünften Buch Mose, denn nach dem Tode Christi wurde den Juden erklärt: Der Herr wird euch unter die Völker zerstreuen und es werden nur wenige von euch unter den Nationen bleiben, wohin Gott euch schickt. Ihr werdet Gefangene unter allen Nationen sein und Jerusalem wird von den Nicht-Juden mit Füßen getreten werden, bis die Zeit der Nicht Juden erfüllt ist.

Das wurde im Buch Lukas wiederholt, hier jedoch war das Wort ›Nichtjuden‹ durch das Wort ›Nationen‹ ersetzt. Ihr werdet mit den Füßen getreten werden, bis sich die Zeit der Nationen erfüllt hat. Es war eine klare Prophezeiung, daß die Juden durch die Geschichte hindurch Verfolgung leiden sollten, und dann würde die Verfolgung enden. Aber was war die Zeit der Nationen? Die Zeit, in der die Verfolgung endete?

Thorn wandte sich den interpretierenden Texten zu und entdeckte, daß dieses eine Beispiel für den Zorn Gottes stand. Eine historische Serie von Verfolgungen, die begonnen hatte, als die Juden aus Israel vertrieben und dann von den Kreuzfahrern abgeschlachtet wurden – auf der Flucht. Im Jahre 1000, so sagen die Dokumente, wurden 12 000 Juden ermordet, dann im Jahre 1200 wurden alle, die Zuflucht in England gesucht hatten, entweder verjagt oder gehängt. Im Jahre 1298 wurden in Franken, Bayern und im heutigen Österreich 100 000 Juden umgebracht; im September 1306 verjagte man weitere 100 000 Juden mit der Androhung, sie anderenfalls zu töten, aus Frankreich. Im Jahre 1348 wurden die Juden beschuldigt, eine weltweite Pestepidemie verursacht zu haben, und mehr als eine Million von ihnen wurde auf dem ganzen Erdball verfolgt und getötet. Im August des Jahres 1492, in jenem Jahr, da Kolumbus Ruhm für sein Land erwarb, da er die Neue Welt entdeckte, vertrieb die spanische Inquisition eine halbe Million Juden und brachte eine weitere halbe Million um.

Und so ging es durch die Zeitläufe weiter bis zu Hitler, der über sechs Millionen Juden umbringen ließ. Schließlich waren nur noch elf Millionen heimatlose arme Juden über den ganzen Erdball verstreut.

War es ein Wunder, daß sie nun mit aller Kraft für ihr Land kämpften, für ein Land, das sie ihr eigen nennen konnten? Und war es ein Wunder, daß sie jeden Krieg so führten, als ob es ihr letzter wäre?

Ich will aus euch eine große Nation machen (hatte Gott versprochen). Und ich werde euch segnen und euren Namen groß machen; ihr sollt die Gesegneten sein … und alle Familien auf der Erde seien gesegnet in euch.

Wieder wandte sich Thorn seinen interpretierenden Texten zu und fand, daß drei getrennte und gleichermaßen wichtige Faktoren in Gottes Versprechen an Abraham waren. Das Geschenk eines Landes, nämlich Israel. Die Versicherung, daß Abraham und seine Abkömmlinge eine große Nation werden sollten. Und schließlich, vor allem, die Gnade: das Erscheinen des Heilands. Die Rückkehr der Juden nach Zion war verbunden mit dem zweiten Erscheinen Christi, und wenn das stimmte, dann war die Zeit nahe.

Nirgends gab es ein Zeichen, wie und wann dieses Kommen geschehen würde. Die Prophezeiungen drückten sich in Legenden und religiösen Symbolen aus. Konnte Christus bereits auf der Erde sein? War er wieder von einer Frau geboren worden, weilte er jetzt unter uns?

Instinktiv begann Thorn sich gedanklich mit den Möglichkeiten zu beschäftigen. Falls Christus jetzt auf der Erde geboren wurde, dann würde er, wie damals, so bekleidet sein, wie man heutzutage herumlief. Sicher nicht mit Roben oder Dornenkronen, sondern vielleicht chinesisch, oder er trug Blue jeans, vielleicht einen Anzug und einen Schlips. War er jetzt geboren worden? Wenn dem so war, warum schwieg er? Hatte er zu dem Schlamassel, in dem sich die Welt befand, nichts zu sagen?

Noch immer war Thorn mit diesen Überlegungen beschäftigt, als er nach Hause fuhr. Seine Bücher hatte er mitgenommen. Nachdem sich Katherine zurückgezogen hatte, schlug er im Arbeitszimmer die Bücher wieder auf und begann seine Gedanken zu ordnen.

Es war die Rückkehr Christi, mit der sich seine Fantasie beschäftigte, und er suchte die sich auf diesen Vorgang beziehenden Passagen des Textes heraus. Aber all das war ungeheuer kompliziert, denn in der Offenbarung des Johannes wurde prophezeit, daß sich Christus nach der Rückkehr zur Erde seinem Widersacher stellen müsse. Dem Antichrist. Dem Sohn des Bösen. Erbeben würde die Erde, wenn der letzte Kampf zwischen Himmel und Hölle begann. Es wird Harmaggedon sein. Die Apokalypse. Das Ende der Welt.

Plötzlich hob Thorn den Kopf. Er hatte ein Geräusch gehört, das von oben gekommen sein mußte. Ein Stöhnen. Er hörte es zweimal und dann plötzlich nicht mehr.

Leise verließ er sein Arbeitszimmer und ging die Treppe hinauf, um in Katherines Schlafzimmer zu schauen. Sie schlief, allerdings unruhig. Ihr Gesicht war schweißgebadet.

Er beobachtete sie, bis das unruhige Hin- und Herwerfen endete und sie wieder gleichmäßig atmete, dann schloß er leise die Tür und ging zur Treppe zurück.

Während er sich durch den dunklen Flur tastete, kam er an Mrs. Baylocks Zimmer vorbei und bemerkte, daß die Tür ein wenig offen stand. Die korpulente Frau schlief auf dem Rücken – ein massiver Berg aus Fleisch, beschienen vom fahlen Licht des Mondes. Thorn blieb wie gebannt stehen. Er betrachtete das Gesicht dieser Frau. Es war ganz weiß gepudert und bot einen geisterhaften Anblick, zumal die Lippen knallrot geschminkt waren. Das Bild dieser schlafenden Maske jagte dem Betrachter eiskalte Schauer über den Rücken. Es war ein völlig fremdes, entstelltes Gesicht … doch weshalb diese Maske? Mrs. Baylocks seltsame Bemalung mußte doch einen Grund haben. Die Schlafende sah aus wie eine Dirne.

Leise schloß Jeremy die Tür. Er ging wieder in sein Arbeitszimmer und betrachtete die Bücher, die vor ihm lagen. Er konnte sich nicht konzentrieren; ziellos wanderten seine Augen über die geöffneten Seiten. Die kleine King-James-Bibel war beim Buch Daniels aufgeschlagen, und er begann sogleich zu lesen.

Und dann wird sich ein Verachtenswerter erheben, dem keine königliche Majestät gegeben wurde. Als Betrüger wird er kommen und sich das Königreich erschmeicheln. Die Heere werden vor ihm hinweggefegt und zerbrochen werden … und er wird weiter betrügen und stark werden mit einem kleinen Volk. Ohne Warnung wird er die reichsten Länder überfallen; er wird tun, was weder sein Vater noch seines Vaters Vater getan hat, denn er wird die Menschen in alle Winde zerstreuen, wird plündern und Verderben bringen. Er wird Mittel und Wege finden, um Festungen zu zerstören, er wird sich selbst verherrlichen und über jeden Gott stellen, und er wird erstaunliche Dinge gegen den Gott der Götter sprechen. Der Erfolg wird auf seiner Seite sein, bis der Unwille so groß ist, daß getan werden muß, was getan werden soll.

Thorn suchte in seinem Schreibtisch und fand eine Zigarette, dann goß er sich ein Glas Wein ein. Er ging im Zimmer auf und ab, während er versuchte, sich mit den Vorbereitungen zu seinem Vortrag zu beschäftigen, um zu vergessen, was er soeben da oben gesehen hatte …

… wenn die Juden nach Zion zurückkehrten, dann wird der Heiland wiederkommen. Wenn aber Christus kam, dann kam auch der Antichrist … beide würden getrennt aufwachsen bis zu dem Tage des Jüngsten Gerichts …

Thorn fing an, seine Bücher durchzublättern.

Kommen wird der Tag des Herrn, ein grausamer Tag, ein Tag des Zornes und heißer Wut und er wird die Menschen auf der Erde auslöschen … Seltener werden die Menschen sein als feinstes Gold … seltener als das Gold von Ophir.

Und dann im Buch Zacharias:

Einer wird ergreifen die Hand des anderen und sie werden ihre Schwerter gegeneinander schwingen. Er wird nach einem Schwert rufen, um sich auf allen seinen Bergen gegen sie zu wenden und jedermanns Schwert wird sich gegen seinen Bruder wenden.

Thorn lehnte sich zurück. Er war gepackt von der Urkraft dessen, was da prophezeit wurde.

Gewaltig wird der Zorn sein, mit dem Gott alle Völker bestraft, die Krieg gegen Jerusalem geführt haben. Das Fleisch wird von ihren Knochen fallen, während sie noch auf den Füßen stehen. Ihre Augen werden in ihren Höhlen verrotten, ihre Zungen in ihren Mündern.

Thorn kannte die Probleme des modernen Staates Israel. Die Araber mit ihrem Öl waren jetzt zu mächtig, als daß sich irgendeiner gegen sie auflehnen konnte. Wenn sich Gottes Zorn gegen die Nationen richtete, die Krieg mit Jerusalem machten, dann war prophezeit, daß er sich gegen sie wenden würde. Es wurde auch prophezeit, daß Harmaggedon, die letzte Schlacht, auf dem Territorium der Israelis stattfinden würde, und Jesus würde auf der einen Seite stehen, nämlich auf dem Ölberg, der Antichrist aber auf der anderen Seite.

Wehe dir, oh Erde und Meer, denn der Teufel sendet das zornerfüllte Untier, weil er weiß, daß die Zeit kurz ist …

Laß ihn, der es weiß, die Zahl des Untiers nennen, denn es ist eine menschliche Zahl; die Zahl heißt 666.

Harmaggedon. Das Ende der Welt. Die Schlacht über Israel.

Der Herr wird erscheinen … seine Füße werden an jenem Tag auf dem Ölberg stehen, der auf der östlichen Seite Jerusalem gegenüber liegt … und Gott der Herr wird kommen und alle Heiligen mit ihm.

Thorn schloß seine Bücher und schaltete die Schreibtischlampe aus. Schweigend saß er längere Zeit da. Er fragte sich, was das eigentlich für Bücher waren und wer sie geschrieben hatte, warum sie überhaupt geschrieben worden waren. Und er wunderte sich, warum er ihnen glaubte und dennoch von ihnen abgestoßen wurde. Wenn man ihnen glaubte, dann waren alle Bemühungen nichtig. Sie waren dann alle nur Pfandstücke für die größeren Kräfte des Guten und des Bösen. Waren die Menschen nur Puppen, die von oben und von unten manipuliert wurden? Konnte es wirklich einen Himmel geben? War es möglich, daß es eine Hölle gab? Es war ihm klar, daß dies kindliche Fragen waren, aber dennoch mußte er sie stellen. Er hatte sie kürzlich gefühlt, diese gewaltigen Kräfte, die sich jeder Kontrolle entzogen. Nicht um zufällige Kräfte ging es hier, sondern um sinnvolle! Es waren Erlebnisse, die ihn unsicher – nein, hilflos gemacht hatten.

Das war der richtige Ausdruck dafür. Er war hilflos. Alle waren hilflos. Sie hatten nicht darum gebeten, geboren zu werden und sie erflehen den Tod nicht. Sie sind dazu bestimmt. Warum nur müssen sie zeitlebens so viele Schmerzen erdulden? Ist’s darum, daß dies Erdendasein wenigstens abwechslungsreicher werde auf diese Weise?

Thorn lag auf der Couch und schlief. Seine Träume waren von Angst erfüllt. Er sah sich als Frau verkleidet, dennoch wußte er, daß er ein Mann war. Er befand sich auf einer belebten Straße und hielt einen Polizisten an, dem er zu erklären versuchte, daß er sich verirrt habe und sich fürchtete. Der Polizist weigerte sich ihm zuzuhören. Statt dessen leitete er den Verkehr um ihn herum, bis er ihm so nahe war, daß er den Fahrtwind hören konnte. Und dieser Wind wurde immer stärker, je schneller der Verkehr abrollte. Thorn hatte das Gefühl, in einem Sturm gefangen zu sein, und so stark war der Sturm, daß er nicht mehr atmen konnte. Er keuchte; er klammerte sich an den Polizisten, doch der tat so, als wäre er überhaupt nicht vorhanden. Also schrie er nach Hilfe und keiner hörte ihn, weil das Sturmgeheul ja stärker war als seine Stimme und weil das schwarze Auto auf ihn zugerast kam mit Getöse. Ausweichen unmöglich. Der Sturm packt ihn und hält ihn fest, und es gibt kein Vorwärts, kein Zurück. Je näher das Auto, desto schmerzlicher die Lähmung, und dazu diese Fratze eines Fahrergesichts, das gar kein Gesicht ist – bloß lauter Fleisch und ein großes häßliches Loch, aus dem Gelächter quoll und Blut und Blut und Blut …

In diesem Augenblick fuhr Jeremy aus dem Schlaf hoch. Die Kehle schien ihm wie zugeschnürt. Er war in Schweiß gebadet. Es dauerte geraume Zeit, bis er sich von den Schrecken des Traums erholt hatte.

Unbeweglich lag er da. Es war noch früh am Morgen. Im Haus war alles still. Da plötzlich kamen ihm die Tränen, und er weinte wie ein Kind.

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