Der Morgen kam schnell für die kleine Gruppe, und im goldenen Licht der Morgendämmerung bereiteten sie mit schläfrigen Augen ihre lange Reise vor. Balinor, Menion und die Brüder warteten auf das Erscheinen Allanons und der Vettern Eventines. Keiner sprach, zum Teil, weil alle noch halb schliefen, zum Teil, weil jeder über ihr gefährliches Unternehmen nachdachte. Shea war über den Punkt hinausgelangt, an dem seine vorherrschende Empfindung Angst war; er spürte nur eine Lähmung, die sein Gehirn zur Ergebenheit in sein Schicksal zwang. Es glich einem roboterhaften Hinnehmen der Tatsache, daß er zur sprichwörtlichen Schlachtbank geführt wurde. Trotz seiner resignierten Haltung gab es aber irgendwo in einem Winkel seines Gehirns den Glauben, daß er alle die unübersteigbar erscheinenden Hindernisse bewältigen konnte. Er fühlte, wie dieser Glaube dort schlummerte und auf eine günstigere Gelegenheit wartete, aufzustehen und sich durchzusetzen.
Die Talbewohner trugen Waldbewohnerkleidung, gestellt von den Zwergen, einschließlich warmer Kurzmäntel, in die sie sich gegen die Kälte des frühen Morgens wickelten. Die kurzen Jagdmesser, die sie aus dem Tal mitgebracht hatten, steckten in ihren Ledergürteln. Ihre Traglasten waren notwendigerweise klein, der geringen Größe der Brüder angepaßt.
Das Land, durch das sie kommen würden, war wildreich, und es gab mehrere kleine Gemeinden, die Allanon und den Zwergen freundlich gesinnt waren. Dort lebten aber auch die Gnome, die alten erbitterten Feinde der Zwerge. Man hoffte, daß der kleine Trupp unbemerkt von den Gnomen würde seinen Weg zurücklegen können. Shea hatte den Lederbeutel mit den Elfensteinen sorgfältig weggepackt und niemandem gezeigt. Allanon hatte seit seiner Ankunft in Culhaven die Steine nicht erwähnt. Ob das Absicht war oder nicht, Shea gedachte die einzig wirksame Waffe, über die er verfügte, nicht herauszugeben, und verwahrte den Beutel in seinem Rock.
Menion Leah, ein paar Meter von den auf einer Steinbank sitzenden Brüdern entfernt, ging auf und ab. Er trug unauffällige Jagdkleidung, weit geschnitten und von einer Farbe, die mit der Umgebung verschmolz. Seine Schuhe waren aus weichem Leder, getränkt mit bestimmten ölen, damit er jagen konnte, ohne gehört zu werden, aber auch nicht Gefahr lief, sich die Sohlen zu verletzen. Auf dem schmalen Rücken war das große Schwert festgegurtet, und der Knauf blinkte im Licht. Schräg über der Schulter trug er den langen Bogen und die Pfeile.
Balinor war in seinen vertrauten langen Jagdmantel gehüllt und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Unter dem Mantel war der Kettenpanzer, den man aufschimmern sah, sobald er die Arme ausstreckte. In seinem Gürtel steckten ein langes Jagdmesser und das riesigste Schwert, das die Brüder je gesehen hatten. Es war so gewaltig, daß es schien, als könne ein einziger Hieb einen Mann völlig durchtrennen. Im Augenblick war es unter dem weiten Mantel verborgen, aber die Brüder hatten gesehen, als er es umgeschnallt hatte.
Ihr Warten hatte schließlich ein Ende, als Allanon von der Ratshalle herüberkam, begleitet von den elastischen Gestalten der beiden Elfen. Er begrüßte sie und forderte sie auf, hintereinander zu gehen und nicht zu vergessen, daß sie beim Erreichen des Gnomenlandes möglichst wenig sprechen durften. Ihr Weg würde sie vom Fluß unmittelbar nach Nordendurch die Anar-Wälder in das Gebirge führen. Unterwegs würden sie nur am Tag sein, solange Wald und Berge Schutz boten, und nachts sollte der Weg erst dann fortgesetzt werden, wenn sie viele Meilen weiter nördlich die Ebenen durchqueren mußten.
Als ihren Vertreter hatte der Zwergen-Führer Höndel bestimmt, den wortkargen Burschen, der Menion vor der Sirene gerettet hatte. Höndel führte die Gruppe an, weil er sich hier am besten auskannte. Neben ihm ging Menion, der nur gelegentlich ein Wort von sich gab. Einige Schritte hinter ihnen marschierten die beiden Elfen, die sich mit leisen, melodischen Stimmen unterhielten. Beide trugen große Eschenholzbogen wie Menion. Shea und Flick folgten ihnen, und hinter den Brüdern kam der eigentliche Anführer, das dunkle Gesicht gesenkt. Balinor bildete die Nachhut. Shea und Flick begriffen, daß sie um der größeren Sicherheit willen in die Mitte genommen worden waren.
Sie erreichten den Silberfluß und überquerten ihn an einer Stelle, wo sich eine starke Holzbrücke über das schimmernde Wasser schwang. Die Gespräche verstummten danach, und alle Blicke galten dem dichten Wald. Sie kamen immer noch schnell voran; der Boden war eben, und der Pfad wand sich in nördlicher Richtung durch den Wald. Das Licht der Morgensonne fiel in breiten Strahlen durch Lücken im Geäst gelegentlich auf ihren Weg und ihre Gesichter. Laub und Zweige am Boden waren taunaß und bildeten ein Polster, das ihre Schritte dämpfte. Ringsumher konnten sie viele Laute hören, sichtbar waren aber nur bunte Vögel und ein paar Eichhörnchen, die in den Bäumen herumhüpften und manchmal einen Regen von Tannennadeln auf die Wanderer herabfallen ließen.
Die Bäume hinderten die Marschierenden daran, viel zu sehen, mit ihrem Umfang zwischen drei und zehn Fuß und ihren riesigen Wurzeln, die sich wie Gigantenfinger der Stämme unbarmherzig in den Waldboden gruben.
Der erste Tag verging ohne Zwischenfälle, und sie verbrachten die Nacht unter den Riesenbäumen, irgendwo nördlich des Silberflusses und Culhaven. Höndel war offenbar der einzige, der genau wußte, wo sie sich befanden. Man aß die Mahlzeit kalt, um nicht durch ein Feuer auf sich aufmerksam zu machen. Shea nützte die Gelegenheit, sich mit den beiden Elfen zu unterhalten. Sie waren Vettern Eventines und Brüder. Der ältere hieß Durin, ein schlanker, stiller Westländer, der einen vertrauenswürdigen Eindruck machte.
Der jüngere Bruder war Dayel, ein schüchterner, liebenswerter Bursche, einige Jahre jünger als Shea. Durin teilte Shea mit, daß sein Bruder ihr Haus einige Tage vor seiner Heirat mit einem der schönsten Mädchen im Elfenland verlassen habe. Shea hätte Dayel nicht für alt genug zum Heiraten gehalten, und es fiel ihm schwer, zu begreifen, weshalb jemand kurz vor seiner Hochzeit fortging. Durin versicherte ihm, das sei der persönliche Entschluß seines Bruders gewesen, aber Shea erklärte Flick später, er glaube, seine Beziehung zum König habe mit diesem Entschluß viel zu tun gehabt. Shea fragte sich im stillen, wie sehr der junge Elf seine Entscheidung, die junge Braut zu verlassen, schon bedauern mochte.
Am späteren Abend ging Shea zu Balinor und fragte ihn, weshalb man Dayel erlaubt habe, an der Expedition teilzunehmen.
Der Prinz von Callahorn lächelte über die Frage des Talbewohners und sagte, zu einer Zeit, in der die Heimat so vieler Leute bedroht sei, komme niemand auf den Gedanken, zu fragen, weshalb jemand entschlossen sei, Hilfe zu leisten — man nehme das einfach hin. Dayel habe nicht gezögert mitzugehen, weil sein König es verlangt habe, und weil er sonst mit sich nicht hätte leben können. Balinor berichtete, daß Höndel seit Jahren gegen die Gnomen gekämpft habe um seine Heimat zu schützen. Die Verantwortung sei ihm übertragen, weil er einer der erfahrensten und verständigsten Grenzbewohner sei. Zu Hause habe er Frau und Familie, die er in den letzten acht Wochen nur einmal gesehen habe. Alle, die an der Reise teilnähmen, hätten viel zu verlieren, schloß er, vielleicht sogar mehr, als Shea zu begreifen vermöge. Ohne seine letzte Bemerkung zu erläutern, trat Balinor zu Allanon, um sich mit ihm zu besprechen. Shea kehrte zu Flick und den Elfen-Brüdern zurück.
»Was für eine Person ist Eventine ?« fragte Flick die Brüder gerade. »Ich habe immer gehört, er gelte als der größte aller Elfen-Könige und werde von jedermann geachtet. Wie ist er wirklich?«
Durin lächelte breit, und Dayel lachte hell auf.
»Was können wir über unseren eigenen Vetter sagen?« meinte Dayel.
»Er ist ein großer König«, erklärte Durin nach einer Pause ernsthaft. »Sehr jung für einen König, würden die anderen Monarchen und Führer sagen. Aber er hat Weitsicht, und, was das Wichtigste ist, er handelt zum rechten Zeitpunkt.
Alle Elfen lieben und verehren ihn. Sie würden ihm überallhin folgen, alles tun, was er verlangt, und das ist ein Glück für uns alle. Die Ältesten unseres Rates würden die anderen Länder sich selbst überlassen wollen. Sie haben Angst vor einem neuen Krieg. Nur Eventine steht gegen diese Ansicht. Er weiß, daß ein Krieg nur vermieden werden kann, wenn man zuerst zuschlägt und der Armee, die uns bedroht, den Kopf abschlägt. Das ist ein Grund, weshalb dieses Unternehmen so wichtig ist — dafür zu sorgen, daß die Invasion aufgehalten wird, bevor daraus ein großer Krieg entstehen kann.«
Menion war herangeschlendert und hatte die letzte Bemerkung gehört.
»Was wißt ihr vom Schwert von Shannara?« fragte er neugierig.
»Eigentlich sehr wenig«, gab Dayel zu. »Für uns ist das aber eine Sache der Geschichte, nicht der Legende. Das Schwert hat immer ein Versprechen für die Elfen dargestellt, daß sie die Wesen aus der Geisterwelt nie mehr zu fürchten brauchen. Man ging immer davon aus, daß die Bedrohung mit dem Ende des Zweiten Kriegs der Rassen aufgehört hatte; so daß niemand sich mit der Tatsache befaßte, daß das Haus Shannara im Lauf der Zeit ausstarb, bis auf wenige wie Shea, von denen niemand etwas wußte. Eventines Familie — unsere Familie — übernahm die Herrschaft vor mehr als hundert Jahren.
Das Schwert blieb in Paranor, bis jetzt von fast allen vergessen.«
»Was ist die Macht des Schwertes?« fragte Menion.
»Ich kenne die Antwort darauf nicht«, räumte Dayel ein und sah Durin an, der aber auch die Achseln zuckte und den Kopf schüttelte. »Nur Allanon scheint das zu wissen.«
Sie blickten alle hinüber zu der hochgewachsenen Gestalt auf der anderen Seite der Lichtung. Allanon war in ein Gespräch mit Balinor verwickelt.
»Es ist ein Glück, daß wir Shea haben, einen Sohn des Hauses Shannara«, sagte Durin. »Er wird das Geheimnis der Macht des Schwertes entschlüsseln können, sobald wir es in unserem Besitz haben, und mit dieser Macht können wir gegen den Schwarzen Lord vorgehen, bevor er den Krieg anzubetteln vermag, der uns alle vernichten würde.«
»Falls wir das Schwert in die Hände bekommen«, verbesserte Shea schnell. Durin lachte zustimmend und nickte.
»Es gibt bei dem Ganzen noch immer etwas, das nicht so richtig paßt«, meinte Menion leise, stand plötzlich auf und suchte sich einen Platz zum Schlafen. Shea sah ihm nach und gab ihm recht, vermochte aber nicht zu sagen, was sie hätten tun können. Im Augenblick sah er so wenig Hoffnung, ihr Ziel zu verwirklichen, daß er sich allein darauf konzentrieren wollte, die Reise nach Paranor zu bestehen.
Als der Tag anbrach, waren die Marschierer schon wieder unterwegs, angeführt vom wachsamen Höndel. Der Zwerg eilte mit schnellen Schritten durch den Wald, der immer dichter wurde. Der Weg begann anzusteigen, ein Hinweis darauf, daß sie sich den Bergen näherten, die durch die Mitte des Anar verliefen. An einem Punkt weiter nördlich würden sie gezwungen sein, das Gebirge zu überqueren, um die Ebenen im Westen zu erreichen, die zwischen ihnen und den Hallen von Paranor lagen. Die Spannung wuchs, als sie tiefer in das Reich der Gnome eindrangen. Sie erlebten das unbehagliche Gefühl, daß jemand sie unaufhörlich beobachtete, verborgen im dichten Wald, auf den richtigen Augenblick wartend, um zuzustoßen.
Nur Höndel schien keine Bedenken zu kennen.
Niemand sprach unterwegs.
Gegen Mittag stieg der Weg steil an. Die Bäume standen nun weiter auseinander, und die Büsche waren weniger belaubt.
Der Himmel wurde zwischen den Bäumen deutlich sichtbar, ein tiefes Blau, frei von Wolken. Die Sonne war warm und hell und schien durch den lichten Wald. In kleinen Gruppen tauchten Felsblöcke auf, und sie konnten vor sich die hohen Gipfel und Grate sehen. Die Luft wurde merklich kühler, je weiter sie hinaufstiegen; das Atmen fiel schwerer.
Nach einigen Stunden erreichten sie den Rand eines wieder sehr dichten Waldes alter Fichten, so eng beieinanderstehend, daß man nirgends weiter als zwanzig oder dreißig Fuß sehen konnte. Auf beiden Seiten des Weges erhoben sich Felsen Hunderte von Fuß in die Luft und ragten in das Blau des Nachmittagshimmels. Der Wald endete an den Bergwänden.
Am Rand des Fichtenwaldes ließ Höndel kurz anhalten und sprach einige Minuten mit Menion, zeigte auf den Wald und die Felsen und stellte Fragen. Allanon trat zu ihnen und bedeutete auch den anderen, näherzukommen.
»Das Gebirge, das wir überqueren werden, ist das Wolfsktaag, ein Niemandsland für Zwerge und Gnomen zugleich«, sagte Höndel leise. »Wir haben diesen Weg gewählt, weil hier die Gefahr, einer Gnomen-Patrouille zu begegnen, geringer ist. Die Wolfsktaag-Berge sind angeblich von Wesen aus einer anderen Welt bewohnt — spaßig, nicht?«
»Kommt zur Sache«, warf Allanon ein.
»Die Sache ist die«, fuhr Höndel fort, »daß uns vor einer Viertelstunde ein Gnomen-Späher entdeckt hat, vielleicht waren es auch zwei. Es mögen noch mehr in der Nähe sein, Gewißheit gibt es nicht — der Hochländer sagt, er sah Anzeichen für einen großen Trupp. Auf jeden Fall werden die Späher Meldung erstatten und rasch Hilfe holen, also müssen wir uns beeilen.«
»Schlimmer noch!« sagte Menion. »Nach allem, was man sieht, müssen sich irgendwo vor uns Gnome befinden — vielleicht in den Bäumen.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, sagte Höndel kurz. »Die Bäume verlaufen so noch etwa eine Meile, und die Felsen setzen sich auf beiden Seiten fort, verengen sich hinter dem Wald aber zum Noose-Paß, dem Zugang zum Wolfsktaag. Diesen Weg müssen wir nehmen. Es auf einem anderen zu versuchen, würde zwei weitere Tage kosten, und wir würden Gefahr laufen, mit den Gnomen zusammenzustoßen.«
»Genug gesprochen«, sagte Allanon scharf. »Machen wir uns auf den Weg! Sobald wir die andere Seite des Passes erreicht haben, sind wir im Gebirge, und dorthin folgen uns die Gnome nicht.«
»Sehr trostreich«, murmelte Flick vor sich hin.
Sie traten in den dichten Wald und schlichen zwischen den knorrigen Stämmen dahin. Vertrocknete Nadeln lagen in Haufen auf dem ganzen Boden und dämpften ihre Schritte bis zur Lautlosigkeit. Die Bäume erhoben sich schlank und bildeten mit ihren Wipfeln ein kompliziertes, spinnenartiges Geflecht, das bizarre Muster in den blauen Himmel zeichnete.
Die Gruppe folgte durch das Labyrinth von Stämmen und Ästen ihrem Anführer Höndel, der den Weg zügig und ohne Zögern wählte. Sie hatten erst einige hundert Meter zurückgelegt, als Durin sie mit einer heftigen Bewegung zum Stehen brachte und sich fragend umschaute.
»Rauch!« stieß er plötzlich hervor. »Sie haben den Wald angezündet!«
»Ich rieche keinen Rauch«, sagte Menion schnuppernd.
»Ihr habt auch nicht den scharfen Geruchssinn eines Elfen «, erklärte Allanon tonlos. Er sah Durin an. »Könnt Ihr sagen, wo?«
»Ich rieche auch Rauch«, sagte Shea, selbst erstaunt über seine Fähigkeiten.
Durin schnupperte eine Weile mit vorgestrecktem Kopf, ehe er meinte:
»Schwer zu sagen, aber sie scheinen ihn nicht nur an einer Stelle angezündet zu haben. Wenn es so ist, wird er binnen Minuten in Flammen stehen.«
Allanon zögerte einen Augenblick, dann bedeutete er ihnen, den Weg zum Noose-Paß fortzusetzen. Sie beschleunigten ihre Schritte, bemüht, die andere Seite der Falle zu erreichen.
Ein Brand in diesem ausgetrockneten Wald würde jeden Rückzugsweg abschneiden, sobald er einmal durch die Wipfel fegte. Die langen Schritte Allanons und Balinors zwangen Shea und Flick zu laufen, um nicht zurückzubleiben.
Einmal schrie Allanon Balinor etwas zu, und die breitschultrige Gestalt verschwand zwischen den Bäumen. Vor ihnen waren Menion und Höndel verschwunden, und von den Elfen-Brüdern waren nur mehr verschwommene Schatten zu sehen, die zwischen den Bäumen dahin huschten. Lediglich Allanon war deutlich erkennbar, einige Schritte hinter ihnen, und er trieb sie an. Wolken von weißem Rauch tauchten zwischen den dichtgedrängten Baumstämmen auf, einem undurchdringlichen Nebel gleichend, der den Weg einhüllte und die Atmung erschwerte. Vom Feuer selbst war noch immer nichts zu sehen. Die Flammen waren offenbar noch nicht hoch genug gezüngelt, um sich durch das Astgeflecht auszubreiten und ihnen den Weg zu versperren. Binnen Minuten war der Rauch überall, und Shea und Flick begannen heftig zu husten. Ihre Augen brannten von der Hitze und dem ätzenden Dunst. Plötzlich brachte Allanon sie zum Stehen. Er schaute sich um. Balinor tauchte aus dem Wald hinter ihnen auf, in seinen langen Mantel gehüllt.
»Ihr habt recht, sie sind hinter uns«, keuchte er. »Sie haben hinter uns den ganzen Wald angezündet. Sieht nach einer Falle aus, in der wir zum Noose-Paß getrieben werden sollen.«
»Bleibt bei ihnen«, befahl Allanon und deutete auf die angstvollen Talbewohner. »Ich muß die anderen einholen, bevor sie den Paß erreichen.«
Mit unglaublicher Schnelligkeit für einen so riesigen Mann hetzte Allanon davon und war im nächsten Augenblick zwischen den Bäumen verschwunden. Balinor bedeutete den Brüdern, ihm zu folgen, und sie schlugen dieselbe Richtung ein, im erstickenden Rauch um jeden Atemzug ringend. Dann hörten sie mit erschreckender Plötzlichkeit das scharfe Prasseln von brennendem Holz, und der Rauch wogte in riesigen, heißen Wolken vorbei. Das Feuer holte sie ein. In wenigen Minuten mußte es sie erreichen und bei lebendigem Leib verbrennen.
Krampfhaft hustend, stürzten die drei blindlings dahin, verzweifelt bemüht, dem Inferno zu entrinnen. Shea warf einen kurzen Blick nach oben und sah zu seinem Entsetzen die Flammen in allen Wipfeln der hohen Fichten züngeln.
Dann tauchte plötzlich durch Rauch und Wald die undurchdringliche Steinmauer der Felsen auf und Balinor winkte sie in diese Richtung. Minuten später, als sie sich an der Felswand entlang tasteten, sahen sie ihre Kameraden in einer Lichtung außerhalb der lodernden Bäume kauern. Vor ihnen lag ein offener Pfad, der sich zwischen den Klippen in den Fels hinaufschwang und im Noose-Paß verschwand. Die drei traten hastig zu den anderen, während der ganze Wald in Flammen aufging.
»Sie versuchen, uns vor die Wahl zu stellen, entweder im Wald zu verbrennen oder durch den Paß zu kommen«, überschrie Allanon das Tosen der Flammen. »Sie wissen, daß wir nur zwei Wege haben, stehen aber vor der gleichen Wahl und verlieren dadurch ihren Vorteil. Durin, lauft ein Stück auf den Paß zu und stellt fest, ob die Gnome einen Hinterhalt gelegt haben.«
Der Elf huschte davon, und sie sahen ihm nach, bis er zwischen den Felsen verschwunden war. Shea kauerte bei den anderen und wünschte sich, irgendetwas tun zu können.
»Die Gnome sind nicht dumm«, sagte Allanon scharf. »Die im Paß wissen, daß sie abgeschnitten sind von jenen, die den Wald angezündet haben, bis sie an uns vorbeikommen. Sie würden das Risiko, sich durch die Wolfsktaag-Berge zurückziehen zu müssen, nie eingehen. Entweder befindet sich eine große Streitmacht der Gnome im Paß, was Durin feststellen wird, oder sie haben etwas anderes im Sinn.«
»Was es auch ist, sie werden es vermutlich in dem Teil versuchen, der >Knoten< genannt wird«, sagte Höndel. »An dieser Stelle verengt sich der Weg so sehr, daß zwischen den überhängenden Felsen jeweils nur ein Mann hindurchschlüpfen kann.«
»Ich begreife nicht, wie sie uns aufhalten wollen«, meinte Balinor. »Die Felswände sind beinahe vertikal — niemand könnte sie ohne große Mühe erklimmen. Die Gnome hatten keine Zeit, dort hinaufzugelangen, seitdem sie uns entdeckt haben!«
Allanon nickte nachdenklich. Menion Leah flüsterte mit Balinor, dann verließ er die Gruppe und ging zum Paßzugang, wo die Klippenwände sich verengten. Er suchte den Boden ab. Die Hitze aus dem brennenden Wald war so stark geworden, daß sie sich tiefer in die Mündung des Passes zurückziehen mußten. Alles war noch verhüllt von den weißen Rauchwolken, die wie eine Mauer aus dem sterbenden Wald quollen und sich in der Luft nur zögernd auflösten. Lange Augenblicke vergingen, während die sechs die Rückkehr von Durin und Menion abwarteten. Der schlanke Hochländer richtete sich auf und kam zurück, Augenblicke später gefolgt von Durin.
»Im Paß waren Fußspuren zu sehen, aber nichts sonst«, meldete Durin. »Bis zum engsten Punkt ist offenbar alles unberührt. Ich bin nicht weitergegangen.«
»Da ist noch etwas«, warf Menion hastig ein. »Am Eingang zum Paß fand ich zwei deutlich unterscheidbare Reihen von Fußspuren, die hinein- und hinausführten. Gnomenspuren.«
»Sie müssen vor uns hineingeschlüpft und dann wieder herausgekommen sein, während wir hier herum tappten«, sagte Balinor aufgebracht. »Aber wenn sie vor uns dort gewesen sind, was...?«
»Wir erfahren es nicht, wenn wir hier sitzen und reden«, sagte Allanon scharf. »Das sind alles nur Vermutungen. Höndel, übernehmt mit dem Hochländer die Führung und paßt auf! Die anderen halten sich in der Reihenfolge wie bisher!«
Der stämmige Zwerg machte sich mit Menion auf den Weg, und sie guckten hinter jeden Felsblock an dem gewundenen Pfad, der sich im Paß verengte. Shea warf einen Blick nach hinten und stellte fest, daß Allanon zwar hinter ihm lief, Balinor aber nirgends mehr zu sehen war. Anscheinend hatte Allanon ihn erneut als Nachhut zurückgelassen, damit er auf lauernde Gnome achtete. Shea wußte, daß sie in einem Hinterhalt steckten, der ihnen von den verschlagenen Gnomen gelegt worden war und von dem sich bald zeigen würde, wie er aussah.
Der Pfad stieg die ersten hundert Meter steil an, wurde dann ebener und so schmal, daß zwischen den Felswänden jeweils nur für eine Person Platz war. Der Paß war nicht mehr als eine tiefe Nische im Fels, der überhing und in der Höhe fast zusammenwuchs. Nur ein schmaler Streifen vom blauen Himmel war über ihnen erkennbar und erhellte den von Felsblöcken übersäten Weg. Sie kamen nur noch langsam voran, als die Vorausgehenden nach einem Hinterhalt der Gnome suchten. Shea wußte nicht, wie weit Durin bei seinem Späziergang gekommen war, aber anscheinend hatte er sich nicht in den >Knoten< gewagt. Shea konnte sich vorstellen, wie es zu diesem Namen gekommen war. Die Enge des Durchgangs hinterließ den deutlichen Eindruck des Knotens einer Henkerschlinge.
Shea konnte Flicks keuchenden Atem in seinem Nacken spüren. Er empfand durch die Nähe der Felswände ein erstickendes Gefühl. Die Gruppe ging langsam weiter, ein wenig gebückt, um nicht an die messerscharfen Felsvorsprünge zu stoßen.
Plötzlich stockte die Kolonne, und sie drängten sich alle zusammen. Shea hörte hinter sich die tiefe Stimme Allanons zornig schimpfen. Allanon wollte wissen, was geschehen sei, und verlangte, nach vorn gelassen zu werden. Shea sah an der Spitze einen hellen Lichtausschnitt. Anscheinend weitete sich der Weg endlich. Aber gerade als Shea glaubte, den Noose-Paß hinter sich zu haben, hörte er Rufe. Menions Stimme tönte überrascht und zornig durch das Halbdunkel. Allanon fluchte und befahl weiterzugehen. Einen Augenblick lang rührte sich nichts, dann geriet die Kolonne wieder in Bewegung und schob sich langsam vorwärts, hinein in eine weite, von den Felswänden umgrenzte Fläche unter freiem Himmel.
»Das habe ich befürchtet«, murmelte Höndel vor sich hin, als Shea hinter Dayel aus der Nische trat. »Ich hatte gehofft, daß die Gnome sich nicht so weit in das Land wagen würden, das für sie tabu ist. Hier scheint nun die Falle zu sein, in die sie uns gelockt haben.«
Shea trat hinaus in das Licht auf einen ebenen Sims, wo die anderen schon standen und wütend vor sich hin murrten. Allanon kam hinter ihm heraus, und sie betrachteten gemeinsam die Szenerie. Das Felsband, auf dem sie standen, ragte von der Öffnung des Passes etwa fünfzehn Fuß hinaus und stürzte dann senkrecht in einen viele hundert Fuß tiefen Abgrund hinab. Selbst im grellen Sonnenlicht schien dieser bodenlos zu sein. Die Felswände bildeten hinter ihnen und rund um den Abgrund einen Halbkreis, um danach schroff abzufallen und den Weg zu den dichten Wäldern freizugeben. Der Abgrund, ein Trick der Natur, sah wirklich aus wie eine unregelmäßige Schlinge. Es gab keinen Ausweg. Auf der anderen Seite der Schlucht baumelten die Überreste einer alten Brücke aus Seilen und Holz, früher der einzige Weg, den Abgrund zu überqueren.
Acht Augenpaare suchten die steilen Felswände ab, nach einem Weg, an ihnen hinauf zukommen. Aber es war nur allzu klar, daß der einzige Weg zur anderen Seite direkt über den Abgrund führte.
»Die Gnome wußten, was sie taten, als sie die Brücke zerstört haben«, fauchte Menion. »Wir sitzen zwischen ihnen und diesem bodenlosen Loch fest. Sie brauchen uns nicht einmal zu folgen. Sie können warten, bis wir verhungern. Wie unsinnig...«
Er verstummte empört. Sie wußten alle, daß sie dumm gewesen waren, sich in eine solche einfache, aber wirksame Falle locken zu lassen. Allanon trat an den Rand des Abgrunds, starrte in die Tiefe und richtete dann den Blick auf die andere Seite.
»Wenn es etwas schmaler wäre oder ich mehr Anlauf hätte, könnte ich hinüberspringen«, sagte Durin. Shea schätzte die Entfernung auf mindestens fünfunddreißig Fuß. Er schüttelte zweifelnd den Kopf. Selbst wenn Durin der beste Weitspringer der Welt gewesen wäre, hätte Shea einem Versuch unter solchen Umständen wenig Aussicht gegeben.
»Augenblick!« rief Menion, trat zu Allanon und deutete nach Norden. »Was ist mit dem alten Baum, der dort aus der Felswand ragt?«
Alle schauten hinüber, ohne sich erklären zu können, was der Hochländer meinte. Der Baum, den er bezeichnete, wuchs im Fels, fast hundertfünf zig Meter von ihnen entfernt.
Sein grauer Umriß zeichnete sich gegen den Himmel ab. Die Äste waren nackt und ohne Laub, sie hingen tief hinab wie die müden Glieder eines Riesen, der mitten im Schritt erstarrt war. Es war der einzige Baum, den man entlang des mit Steinen übersäten Weges sehen konnte, bevor dieser den Wald erreichte. Shea blickte hinüber, sah aber dort keine Hilfe.
»Wenn ich einen Pfeil in den Baum schieße, mit einer Schnur daran, könnte jemand, der leicht ist, sich hinüberhangeln und ein Seil für uns anbringen«, schlug der Prinz von Leah vor und packte seinen Bogen.
»Der Schuß geht über hundert Meter«, erwiderte Allanon gereizt. »Mit der zusätzlichen Belastung durch eine Schnur müßtet Ihr den großartigsten Treff er der Welt erzielen, ganz zu schweigen davon, ihn so tief in den Stamm zu setzen, daß er das Gewicht eines Mannes tragen würde. Ich glaube nicht, daß das möglich sein wird.«
»Nun, einfallen muß uns etwas, sonst können wir das Schwert von Shannara und alles andere vergessen«, knurrte Höndel mit zorngerötetem Gesicht.
»Ich habe eine Idee«, erklärte Flick plötzlich und trat einen Schritt vor. Alle sahen ihn an, als begegnete er ihnen zum erstenmal.
»Nun gut, dann behalt sie nicht für dich!« rief Menion ungeduldig.
»Also, Flick?«
»Wenn es in unserer Gruppe einen hervorragenden Schütten gäbe«, sagte er und warf Menion einen giftigen Blick zu, »könnte er einen Pfeil mit der Schnur in die Holzstücke der Brücke schießen, die dort hängen, und sie auf unsere Seite herüberziehen.«
»Das zu versuchen, lohnt sich!« sagte Allanon sofort.
»Und wer...?«
»Ich kann das«, sagte Menion selbstbewußt und lächelte Flick an.
Allanon nickte knapp, und Höndel zog eine starke Kordel heraus, die Menion Leah an einem Pfeil befestigte, bevor er das andere Ende um seinen breiten Ledergürtel knotete. Er legte den Pfeil in den großen Bogen und zielte. Alle Augen starrten über die Kluft zu dem Seil, das auf der anderen Seite baumelte. Menions Augen folgten dem Seil nach unten in die Dunkelheit, bis er ein Stück Holz etwa dreißig Fuß tiefer hängen sah. Alle warteten atemlos, als er den mächtigen Bogen spannte, schnell visierte und den Pfeil surren ließ, der hinüberschoß und sich in das Holz bohrte.
»Gut gemacht, Menion«, lobte Durin. Menion lächelte.
Vorsichtig wurde gezogen, bis man die durchtrennten Seilenden wieder beisammen hatte. Allanon suchte vergeblich nach einer Verankerung, aber die Pflöcke waren von den Gnomen entfernt worden. Höndel und Allanon stemmten sich am Rand des Abgrunds ein und spannten das Brückenseil, während Dayel sich Hand über Hand über dem gähnenden Abgrund hinüberhangelte, ein zweites Seil um die Hüften geschlungen. Es gab ein paar unbehagliche Augenblicke, als der schwarzgekleidete Riese und der stumme Zwerg ihre ganzen Kräfte aufbieten mußten, um das Seil zu halten, aber am Ende stand Dayel sicher auf der anderen Seite. Balinor erschien wieder und teilte mit, daß der Waldbrand nachließ und die Gnomenjäger wohl bald auftauchen würden. Hastig wurde Dayels Seil herübergeworfen, nachdem er es auf seiner Seite befestigt hatte. Man zog das längere Ende zwischen die herausragenden Felsen am Paßeingang und verankerte es. Die anderen Angehörigen der Gruppe hangelten sich Hand über Hand nach drüben, bis alle sicher auf der anderen Seite standen.
Dann wurde das Seil durchgeschnitten und in den Abgrund geworfen, zusammen mit dem Rest der alten Brücke, um sicherzustellen, daß man ihnen nicht folgen konnte.
Allanon befahl, lautlos weiterzugehen, damit die herannahenden Gnome nichts merkten. Bevor sie sich auf den Weg machten, trat er auf Flick zu und legte die Hand auf seine Schulter.
»Heute hast du dir das Recht verdient, dieser Gemeinschaft anzugehören, mein Freund«, sagte er, »ein Recht, das über die Beziehung zu deinem Bruder hinausgeht.« Er wandte sich ab und gab Höndel ein Zeichen. Shea blickte in Flicks rotes, glückliches Gesicht und schlug ihm auf die Schulter. Flick hatte sich wahrlich das Recht verdient, neben den anderen zu stehen — ein Recht, das Shea sich vielleicht noch nicht erworben hatte.