8

Flick Ohmsford saß auf einer langen Steinbank in einem der oberen Stockwerke des herrlichen Meade-Gartens in der Zwergen-Gemeinde Culhaven. Er hatte einen weiten Blick auf die erstaunlichen Gärten, die sich in Terrassen über dem felsigen Hügelhang erstreckten, an den Rändern abgeschlossen mit sorgfältig aufgeschichteten Steinen. Die Schaffung der Gärten an diesem einst unfruchtbaren Hang war eine wahrhaft wunderbare Leistung. Man hatte aus fruchtbareren Gebieten besonders reichen Humus geholt und ihn hier abgelagert, so daß das ganze Jahr über im milden Klima des unteren Anar Tausende herrlicher Blumen und Pflanzen gedeihen konnten. Die Farbenpracht war unbeschreiblich. Die zahllosen Farbtöne der Blumen mit den Farben des Regenbogens zu vergleichen, wäre eine große Ungerechtigkeit gewesen. Flick versuchte kurze Zeit, die verschiedenen Schattierungen zu zählen, gab es aber bald auf und wandte seine Aufmerksamkeit den Vorgängen unterhalb der Gärten zu, wo Angehörige der Zwergengemeinde zu ihrer Arbeit unterwegs waren.

Ein seltsames Volk, dachte Flick, so erpicht auf harteArbeit und ein geordnetes Leben. Alles, was sie taten, war gründlich vorausgeplant, sorgfältig ausgedacht bis zu einem Punkt, wo sogar der ähnlich veranlagte Flick den Kopf zu schütteln begann. Aber die Leute waren freundlich und zuvorkommend, von einer Güte, die den beiden Talbewohnern wohl tat.

Sie waren nun schon zwei Tage in Culhaven und hatten noch immer nicht erfahren können, was mit ihnen geschehen war, weshalb sie sich hier befanden oder wie lange sie bleiben würden. Balinor hatte nichts gesagt und nur erklärt, er wisse selbst wenig und sie würden mit der Zeit schon alles erfahren.

Von Allanon war nichts zu sehen und zu hören. Das Schlimmste war, daß es keine Nachricht von Menion gab und man den Brüdern verboten hatte, den Ort zu verlassen, aus welchem Grund auch immer. Zu ihrer eigenen Sicherheit, hieß es. Flick schaute wieder hinunter, um sich zu vergewissern, ob sein persönlicher Leibwächter noch zur Stelle war, und entdeckte ihn etwas abseits. Shea war von dieser Behandlung nicht angetan gewesen, aber Balinor hatte schnell erläutert, daß stets jemand in ihrer Nähe sein müßte, falls man vom Nordland her einen Anschlag auf sie verüben sollte. Flick war sofort einverstanden gewesen, weil er sich nur zu deutlich an die schrecklichen Begegnungen mit den Nachtwesen erinnerte.

Als er Shea den Weg herauf kommen sah, schob er diese Gedanken beiseite, »Etwas Neues?« fragte er, als Shea sich zu ihm setzte.

»Kein Wort«, war die kurze Antwort.

Shea fühlte sich wieder erschöpft, obwohl er zwei Tage Zeit gehabt hatte, sich von der seltsamen Odyssee zu erholen, die sie von Shady Vale zum Anar geführt hatte. Man behandelte sie gut, und die Leute hier schienen um ihr Wohlergehen besorgt zu sein, aber wie es weitergehen sollte, wurde nicht verraten.

Alle, einschließlich Balinor, schienen auf etwas zu warten, vielleicht auf das Erscheinen des langerwarteten Allanon.

Balinor hatte ihnen nicht erklären können, wie sie den Anar erreicht hatten. Auf ein Lichtsignal reagierend, hatte er sie an einem niedrigen Flußufer vor Culhaven gefunden und in den Ort gebracht. Er wußte nichts von dem alten Mann und konnte nicht erklären, wie sie den weiten Weg stromaufwärts zurückgelegt hatten. Als Shea von den Legenden über einen König des Silberflusses sprach, hatte Balinor die Achseln gezuckt und beiläufig gemeint, möglich sei alles. »Keine Nachricht von Menion?« fragte Flick.

»Nur, daß die Zwerge ihn immer noch suchen und es eine Zeit dauern kann«, erwiderte Shea leise. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.«

Flick schaute die Gärten hinunter zu einer kleinen Gruppe bewaffneter Zwerge, die sich um die beherrschende Gestalt Balinors versammelte, als diese plötzlich aus dem Wald auftauchte.

Balinor sprach einige Minuten ernsthaft auf die Zwerge ein. Shea und Flick wußten wenig über den Prinzen von Callahorn, aber die Leute von Culhaven schienen ihn sehr zu achten. Auch Menion hatte in hohen Tönen von Balinor gesprochen. Seine Heimat war das nördlichste Königreich des weitläufigen Südlandes, und sie diente als Pufferzone zum südlichen Grenzland des Nordens. Die Bürger von Callahorn waren vorwiegend Menschen, aber im Gegensatz zu der Mehrheit ihrer Rasse vermischten sie sich frei mit anderen und hingen nicht einer Haltung der Isolierung an. Die hochgeachtete Grenzlegion war dort einquartiert, eine Berufsarmee, befehligt von Ruhl Buckhannah, dem König von Callahorn und Balinors Vater. In den fünfhundert Jahren seit ihrem Bestehen war die Grenzlegion, aufgestellt, um den Vorstoß einer Invasionsarmee aufzufangen, nie besiegt worden.

Balinor stieg langsam den Hang hinauf und grüßte die Brüder mit einem Lächeln, schwieg aber geraume Zeit, als er sich zu ihnen gesetzt hatte.

»Ich weiß, wie schwer das für euch sein muß«, sagte er schließlich. »Alle verfügbaren Zwergkrieger suchen euren Freund. Wenn ihn hier jemand finden kann, dann sie — und sie werden nicht aufgeben, glaubt mir.«

Die Brüder nickten verständnisvoll, und er fuhr fort:

»Das ist für dieses Volk eine sehr gefährliche Zeit, auch wenn Allanon davon wohl nichts erwähnt hat. Sie stehen vor der Bedrohung durch eine Invasion der Gnome im oberen Anar. Es hat an der ganzen Grenze schon Gefechte gegeben, und oberhalb der Streleheim-Ebenen scheint sich eine große Armee zu sammeln. Ihr werdet euch denken können, daß dies alles mit dem Dämonen-Lord zusammenhängt.«

»Bedeutet das, daß auch das Südland in Gefahr schwebt?« fragte Flick besorgt.

»Zweifellos.« Balinor nickte. »Das ist ein Grund, weshalb ich hier bin — um zusammen mit den Zwergen eine übereinstimmende Abwehrstrategie aufzubauen, falls ein Großangriff erfolgt.«

»Aber wo ist dann Allanon?« fragte Shea. »Wird er rechtzeitig genug hier sein, um uns zu helfen? Was hat das Schwert von Shannara mit alledem zu tun?«

Balinor blickte in die fragenden Gesichter und schüttelte langsam den Kopf.

»Ich muß offen gestehen, daß ich euch diese Fragen nicht beantworten kann. Allanon ist eine geheimnisvolle Gestalt, aber er ist ein weiser Mann und zuverlässiger Verbündeter.

Als ich ihn zuletzt sah, vereinbarten wir, uns hier im Anar zu treffen, und er ist schon drei Tage überfällig.«

Balinor verstummte, schaute über die Gärten hinweg zu den hohen Bäumen des Anar-Waldes hinüber und lauschte den Lauten der Zwerge, die unten in der Lichtung ihren Beschäftigungen nachgingen. Dann ertönte plötzlich ein Schrei, der aufgenommen wurde, sich fortpflanzte und vielstimmig heraufbrandete. Die Männer auf der Steinbank standen auf und suchten die Umgebung nach Anzeichen von Gefahr ab.

Balinors Hand griff nach dem Schwertknauf. Augenblicke später lief einer der Zwerge den Hang hinauf und schrie: »Sie haben ihn gefunden, sie haben ihn gefunden!«

Shea und Flick sahen sich an. Der Zwerg kam keuchend vor ihnen zum Stillstand, und Balinor griff nach seiner Schulter.

»Menion Leah ist gefunden worden?« fragte er.

Der Zwerg nickte freudig und rang nach Atem. Wortlos rannte Balinor den Weg hinunter, gefolgt von Shea und Flick.

Sie erreichten die Lichtung innerhalb kürzester Zeit und liefen durch den Wald zum Ort, der einige hundert Meter entfernt war. Vor sich hörten sie das Jubelgeschrei der Zwerge.

Als sie sich durch die Menge zwängten, sahen sie strahlende Gesichter. Ein Kreis von Wächtern ließ sie in einen kleinen Hof treten, der aus Gebäuden links und rechts mit einer hohen Mauer rundherum gebildet wurde. Auf einem langen Holztisch lag regungslos Menion Leah, leichenblaß und scheinbar leblos. Ärzte aus der Zwergengemeinde beugten sich über ihn. Shea schrie auf und stürzte vorwärts, aber Balinors starker Arm hielt ihn fest.

»Pahn, was ist geschehen?« rief Balinor einem der Zwerge zu.

Der Angesprochene, offenbar einer von der Suchmannschaft, eilte herbei.

»Er wird sich erholen, sobald er behandelt worden ist. Man hat ihn, in eine der Sirenen verwickelt, im Schlachthügelland unterhalb des Silberflusses gefunden. Aber nicht unsere Suchmannschaft fand ihn, sondern Höndel, der aus den Städten südlich des Anar zurückkam.«

Balinor nickte und schaute sich nach dem Retter um.

»Er ist zur Ratshalle gegangen, um zu berichten«, sagte der Zwerg.

Balinor winkte den Brüdern, verließ den Hof, zwängte sich wieder durch die Menge und ging voraus zur Ratshalle. Darin befanden sich die Amtsstuben der Räte und die lange Halle, wo der Zwerg Höndel auf einer der langen Bänke saß und gierig aß, während ein Schreiber seinen Bericht aufnahm.

Höndel hob den Kopf, als sie herankamen, starrte die Talbewohner neugierig an und nickte Balinor kurz zu, aß aber unbeirrt weiter. Balinor schickte den Schreiber fort, und die drei Männer setzten sich zu dem gleichgültig wirkenden Zwerg, der erschöpft und ausgehungert wirkte.

»Was für ein Narr, mit dem Schwert auf eine Sirene loszugehen «, murrte er. »Aber sehr mutig. Wie geht es ihm?«

»Nach der Behandlung wird ihm nichts fehlen«, erwiderte Balinor und grinste die Brüder beruhigend an. »Wie habt Ihr ihn gefunden?«

»Hörte ihn schreien.« Der andere aß weiter. »Ich musste ihn fast sieben Meilen tragen, bevor ich auf Pahn und die anderen stieß.«

Er verstummte und starrte die beiden Brüder an, bevor er sich Balinor mit hochgezogenen Brauen zuwandte.

»Freunde des Hochländers — und von Allanon«, sagte Balinor.

Höndel nickte kurz.

»Hätte nie gewußt, wer er ist, wenn er nicht Euren Namen erwähnt hätte«, sagte der Zwerg zu Balinor. »Es wäre nützlich, wenn mir ab und zu jemand erzählen würde, was vorgeht — bevor es passiert, nicht nachher.«

Balinor lächelte die verwirrten Brüder belustigt an und ließ durch ein Augenzwinkern erkennen, daß der Zwerg ein reizbares Wesen war.

»Was habt Ihr aus Sterne und Wayford zu berichten?« fragte Balinor nach einer Pause, auf die großen Südlandstädte südlich und westlich des Anar anspielend.

Höndel hörte auf zu essen und lachte kurz.

»Die führenden Herren der beiden schönen Gemeinden werden die Angelegenheit überdenken und einen Bericht schicken. Typisch untüchtige Beamte, gewählt vom uninteressierten Volk, damit sie mit dem Ball jonglieren, bis man ihn einem anderen Narren zuwerfen kann. Fünf Minuten, nachdem ich den Mund aufgetan hatte, konnte ich erkennen, daß sie mich für verrückt hielten. Sie sehen die Gefahr nicht, bis das Schwert ihre eigene Kehle berührt — dann schreien sie bei jenen von uns, die es von Anfang an gewußt haben, um Hilfe.« Er beugte sich wieder über seine Mahlzeit.

»Das ist wohl zu erwarten gewesen«, meinte Balinor sorgenvoll. »Wie können wir sie von der Gefahr überzeugen? Es hat seit so vielen Jahren keinen Krieg mehr gegeben, daß niemand mehr an ihn glauben will.«

»Das ist nicht das eigentliche Problem, wie Ihr sehr wohl wißt«, warf Höndel aufgebracht ein. »Sie sind einfach nicht der Meinung, betroffen zu sein. Die Grenzen werden schließlich von den Zwergen geschützt, gar nicht zureden von Callahorn und der Grenzlegion. Wir haben das bis jetzt getan — warum nicht auch f fürderhin? Die armen Narren...« Er verstummte entmutigt. Drei Wochen lang war er unterwegs gewesen; wie es schien, erfolglos.

»Ich verstehe nicht, was geschehen ist«, sagte Shea leise.

»Nun, dann sind wir schon zu zweit«, gab Höndel mürrisch zurück. »Ich lege mich zwei Wochen lang ins Bett. Dann sehen wir uns wieder.« Er stand abrupt auf und verließ die Halle ohne Abschiedsgruß. Die drei Männer sahen ihm nach, dann blickte Shea fragend Balinor an, der schließlich sagte:

»Das uralte Problem der Selbstzufriedenheit, Shea.« Er seufzte tief und stand auf. »Wir stehen vielleicht vor dem größten Krieg seit tausend Jahren, aber niemand will es wahrhaben. Alle sind ins gleiche Fahrwasser geraten — ein paar Leute sollen die Tore der Stadt bewachen, während die anderen unbekümmert in ihre Häuser gehen. Das wird zur Gewohnheit — sich auf wenige zu verlassen, die den Rest schützen. Und dann sind eines Tages die wenigen nicht genug, und der Feind steht in der Stadt — alles ist verloren...«

»Wird es wirklich einen Krieg geben?« fragte Flick dumpf.

»Genau das ist die Frage«, erwiderte Balinor langsam. »Der einzige, der uns die Antwort geben kann, ist fort — und überfällig.«

In der Aufregung, Menion wohlbehalten wiedergefunden zu haben, hatten die Brüder Allanon vorübergehend vergessen.

Nun stellten sich die alten Fragen mit neuer Dringlichkeit, aber die Talbewohner hatten in den vergangenen Wochen gelernt, damit zu leben, so daß sie alle Zweifel wieder einmal beiseite schoben. Balinor winkte ihnen, als er zur Tür ging, und sie folgten ihm bereitwillig.

»Bei Höndel dürft ihr euch nichts denken«, versicherte ihnen der hochgewachsene Mann, als sie nebeneinander hergingen.

»Er ist bei allen so unwirsch, aber einer der besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Er hat die Gnomen am oberen Anar seit Jahren bekämpft und besiegt, seine Leute und die selbstzufriedenen Bürger des Südlandes geschützt, die so gern vergessen, welche entscheidende Rolle die Zwerge als Wächter an dieser Grenze spielen. Die Gnomen würden ihn nur zu gern in ihre Hände bekommen.«

Shea und Flick schwiegen, beschämt von der Tatsache, daß die Angehörigen ihrer eigenen Rasse so selbstsüchtig waren; sie begriffen aber auch, daß sie bis dahin nichts von der Lage im Anar gewußt hatten. Der Gedanke an neuerliche Feindseligkeiten zwischen den Rassen beunruhigte sie zutiefst.

»Warum geht ihr beiden nicht zu den Gärten zurück?« fragte der Prinz von Callahorn. »Ich lasse euch verständigen, sobald über Menions Verfassung mehr bekannt ist.«

Die Brüder erklärten sich widerstrebend einverstanden, weil sie wußten, daß ihre Einflußmöglichkeiten gering waren.

Bevor sie sich an diesem Abend zu Bett begaben, gingen sie dort vorbei, wo Menion in einem Zimmer lag, aber ein Zwerg, der Wache hielt, erklärte ihnen, ihr Freund schlafe und dürfe nicht gestört werden.

Am folgenden Nachmittag jedoch war Menion wach und durfte besucht werden. Selbst Flick war erleichtert, ihn gesund und wohlbehalten zu sehen, obwohl er wieder einmal feierlich betonte, er habe ihr Mißgeschick seinerzeit richtig vorausgesagt, als sie sich darauf eingelassen hätten, durch die Schwarzen Eichen zu ziehen. Menion und Shea lachten, ließen ihn aber räsonieren. Sie tauschten ihre Erfahrungen aus und wunderten sich über die unerklärlichen Vorgänge, für die es keine logischen Grundlagen gab.

Am frühen Abend desselben Tages kam die Nachricht, daß Allanon zurückgekehrt sei. Shea und Flick wollten gerade ihre Zimmer verlassen, um Menion zu besuchen, als sie die aufgeregten Rufe von Zwergen vernahmen, die an ihrem Fenster vorbei zur Ratshalle eilten, wo eine Versammlung stattfinden sollte. Die besorgten Talbewohner hatten noch keine zwei Schritte zur Tür hinaus getan, als sie von vier Wachen abgeholt und durch die Menge geführt wurden, vorbei an den offenen Türen der großen Halle zu einem kleinen Raum, in dem sie bleiben sollten. Die Zwerge schlössen von außen wortlos die Türen, verriegelten sie und nahmen draußen Aufstellung.

Das Zimmer war hell erleuchtet und ausgestattet mit langen Bänken und Tischen; Shea und Flick setzten sich verwirrt.

Die Fenster waren geschlossen und vergittert. Aus der Halle hörten sie die tiefe Stimme des Redners herüber.

Einige Minuten später ging die Tür auf, und Menion wurde von zwei Wachen hereingeführt. Als sie allein waren, berichtete der Prinz, aus Gesprächsfetzen entnommen zu haben, daß die Zwerge in Culhaven und vermutlich im ganzen Anar sich auf den Krieg vorbereiteten. Die Nachrichten, die Allanon mitgebracht hatte, schienen Erregung ausgelöst zu haben.

In der Halle nebenan erhob sich Geschrei, das anschwoll und draußen von den Zwergen aufgenommen wurde. Auf dem Höhepunkt des Lärms wurde plötzlich die Tür zu ihrem Zimmer aufgerissen, und die dunkle, riesige Gestalt Allanons stand vor ihnen.

Er ging auf die Talbewohner zu, drückte ihnen die Hände und beglückwünschte sie zu ihrer erfolgreichen Ankunft in Culhaven. Er war gekleidet wie bei der ersten Begegnung mit Flick, das schmale Gesicht war in der langen Kapuze halb verborgen. Er begrüßte Menion höflich, trat an einen Tisch und bedeutete den anderen, sich zu setzen. Hinter ihm waren Balinor und eine Anzahl Zwerge hereingekommen, offenbar führende Persönlichkeiten im Ort, unter ihnen der reizbare Höndel. Das Ende des Zuges bildeten zwei schlanke, fast schattenhafte Gestalten in weiter Waldbewohnerkleidung, die sich wortlos zu Allanon setzten. Shea entschied nach einem kurzen Blick, daß sie Elfen aus dem fernen Westland sein mußten. Ihre scharfen Züge, von den steilen Brauen bis zu den seltsam spitzen Ohren, deuteten darauf hin. Shea bemerkte, daß Flick und Menion sein Aussehen mit dem der Fremden verglichen. Noch keiner hatte einen Elf gesehen und mit Shea vergleichen können.

»Meine Freunde.« Der tiefe Baß Allanons erhob sich über das leise Stimmengewirr, als er aufstand. Es wurde augenblicklich still, und alle Gesichter wandten sich ihm zu.

»Meine Freunde, ich muß euch nun sagen, was ich noch keinem mitgeteilt habe. Wir haben einen tragischen Verlust erlitten.« Er machte eine Pause und blickte in die Runde. »Paranor ist gefallen. Eine Division von Gnomenjägern unter dem Befehl des Dämonen-Lords hat das Schwert von Shannara erbeutet.«

Es blieb zwei Sekunden lang totenstill, bevor die Zwerge aufsprangen und zornig durcheinanderschrien. Balinor erhob sich hastig, um sie zu beschwichtigen. Shea und Flick starrten einander ungläubig an. Nur Menion schien nicht überrascht zu sein.

»Paranor ist von innen heraus zu Fall gebracht worden«, fuhr Allanon fort, als wieder Ruhe eingekehrt war. »Über das Schicksal jener, die Schwert und Festung beschützt haben, bestehen kaum Zweifel. Wie ich erfahren habe, sind alle hingerichtet worden. Niemand weiß genau, wie es dazu gekommen ist.«

»Seid Ihr dort gewesen?« wollte Shea wissen, begriff aber im nächsten Augenblick, daß die Frage dumm war.

»Ich habe euch im Tal so schnell verlassen, weil ich erfuhr, daß man versuchen würde, Paranor einzunehmen. Ich kam zu spät, um noch helfen zu können, und entkam selbst nur mit Mühe. Das ist einer der Gründe, weshalb ich so spät in Culhaven eingetroffen bin.«

»Aber wenn Paranor gefallen und das Schwert geraubt worden ist...?« flüsterte Flick.

»Was können wir dann noch tun?« ergänzte Allanon für ihn. »Das ist das Problem, vor dem wir stehen und für das wir sofort eine Lösung finden müssen — der Grund für diese Beratung.« Allanon verließ seinen Platz und trat hinter Shea. Er legte eine Hand auf dessen schmale Schulter und sah seine Zuhörer an. »Das Schwert von Shannara ist in den Händen des Dämonen-Lords nutzlos. Erhoben kann es nur von einem Sohn des Hauses von Jerle Shannara werden — dies allein verhindert, daß der Böse sofort zuschlägt. Stattdessen hat er systematisch alle Angehörigen dieses Hauses aufgespürt und vernichtet, einen nach dem anderen, sogar jene, die ich zu schützen versuchte, nachdem ich sie gefunden hatte. Nun sind sie alle tot — bis auf einen, den jungen Shea. Shea ist nur zur Hälfte Elf, aber ein direkter Nachkomme des Königs, der das große Schwert so viele Jahre getragen hat. Nun muß er es wieder erheben.«

Shea wäre zur Tür gelaufen, hätte ihn die schwere Hand nicht festgehalten. Er blickte Flick verzweifelt an und sah die Angst, die sich in dessen Augen widerspiegelte. Menion hatte sich nicht gerührt, schien aber auch geschockt zu sein. Was Allanon von Shea erwartete, war mehr, als ein Mensch verlangen durfte.

»Nun, ich glaube, wir haben unseren jungen Freund ein wenig erschreckt.« Allanon lachte kurz. »Sei nicht verzweifelt, Shea. So schlimm, wie es jetzt aussieht, ist es nicht.« Er drehte sich um und kehrte an seinen alten Platz zurück. »Wir müssen das Schwert um jeden Preis zurückholen. Es bleibt uns keine andere Wahl. Wenn uns das nicht gelingt, wird das ganze Land in den größten Krieg gestürzt werden, den die Rassen seit der fast völligen Vernichtung des Lebens vor zweitausend Jahren erlebt haben. Das Schwert ist der Schlüssel.

Ohne es müssen wir uns auf unsere sterbliche Kraft, unseren Kampfesmut verlassen — eine Schlacht mit Eisen und Muskeln, die nur dazu führen kann, daß auf beiden Seiten unzählige Tausende sterben werden. Das Böse ist der Dämonen-Lord, und er kann ohne die Hilfe des Schwertes nicht vernichtet werden — und ohne den Mut einiger Männer, zu ' denen auch wir gehören.« Es herrschte Totenstille, als er wieder in die Runde blickte. Plötzlich stand Menion Leah auf.

»Was Ihr meint, ist, daß wir nach Paranor gehen sollen, um das Schwert zurückzuholen.«

Allanon nickte mit schwachem Lächeln, als er auf die Reaktion der verwunderten Zuhörer wartete. Menion setzte sich langsam, mit ungläubiger Miene.

»Das Schwert ist noch in Paranor«, fuhr Allanon fort. »Es spricht vieles dafür, daß es dort bleiben wird. Weder Brona noch die Träger des Totenschädels können es selbst entfernen — sein bloßes Vorhandensein bedroht ihr Dasein in der sterblichen Welt. Jeder Kontakt über mehrere Minuten hinweg würde unerträgliche Qualen verursachen. Das heißt, daß jeder Versuch, das Schwert nach Norden zu befördern ins Reich der Totenschädel, mit Hilfe von Gnomen unternommen werden muß, die Paranor besetzt halten.

Eventine und seine Elfen-Krieger hatten den Auftrag, die Druidenfestung und das Schwert zu sichern. Paranor ist verloren, aber die Elfen halten noch den südlichen Teil von Streleheim nördlich der Festung, und jeder Versuch, nach Norden zum Schwarzen Lord zu gelangen, würde erfordern, daß ihre Patrouillen umgangen werden müssen. Anscheinend ist Eventine nicht in Paranor gewesen, als es erobert wurde, und ich habe keinen Grund anzunehmen, er werde nicht versuchen, das Schwert zurückzuholen oder zumindest jeden Versuch zu vereiteln, es zu entfernen. Der Dämonen-Lord ist sich darüber im klaren, und ich glaube nicht, daß er die Gefahr eingehen wird, die Waffe zu verlieren, indem er sie den Gnomen überläßt. Stattdessen wird er sich in Paranor verschanzen, bis seine Armee nach Süden marschiert.

Es besteht die Möglichkeit, daß der Dämonen-Lord von uns nicht erwartet, wir würden versuchen, das Schwert zurückzuholen.

Vielleicht glaubt er, das Geschlecht von Shannara sei ausgerottet. Er mag damit rechnen, daß wir uns darauf konzentrieren, unsere Abwehr gegen seinen bevorstehenden Angriff zu verstärken. Wenn wir sofort handeln, mag es deshalb einer kleinen Gruppe gelingen, unbemerkt in die Burg zu gelangen und das Schwert zu holen. Ein solches Unternehmen wäre gefährlich, aber wenn selbst die geringste Aussicht auf Erfolg besteht, lohnt sich der Einsatz.«

Balinor hatte sich erhoben. Allanon nickte und nahm Platz.

»Ich verstehe die Macht des Schwertes über den Dämonen-Lord nicht — soviel gebe ich zu«, begann Balinor. »Ich weiß aber, welche Bedrohung uns allen erwächst, wenn Bronas Armee ins Südland eindringt, wozu man entschlossen scheint. Meine Heimat wird als erste bedroht sein, und wenn ich das auf irgendeine Weise verhindern kann, bleibt mir keine Wahl. Ich gehe mit Allanon.«

Die Zwerge sprangen auf und schrien durcheinander. Allanon erhob sich von seinem Platz und hob die Hände.

»Diese beiden jungen Elfen neben mir sind Vettern von Eventine. Sie werden mich begleiten, denn ihr Einsatz ist mindestens ebenso groß wie euer eigener. Balinor schließt sich an, und ich werde einen der Zwergenführer mitnehmen — nicht mehr. Die Gruppe muß klein gehalten werden, wenn wir Erfolg haben sollen. Sucht den besten Mann unter euch aus und schickt ihn mit.« Er schaute hinunter zum Ende des Tisches, wo Shea und Flick halb verwirrt, halb entsetzt um sich blickten. Menion Leah saß mit gesenktem Kopf da. Allanon sah Shea erwartungsvoll an, und sein Gesicht wurde plötzlich weicher, als er die erschrockenen Augen des jungen Talbewohners sah, der so viele Gefahren überwunden hatte, nur um jetzt zu vernehmen, daß er eine noch viel riskantere Reise nach Norden unternehmen sollte. Allanon schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Ich glaube, ich komme lieber mit«, sagte Menion, der wieder aufgestanden war. »Ich bin mit Shea gegangen, um dafür zu sorgen, daß er Culhaven sicher erreicht. Meine Pflicht ist getan, aber ich schulde es meiner Heimat und meinem Volk, sie zu schützen, so gut ich kann.«

»Was könnt Ihr also bieten?« fragte Allanon trocken. Shea und Flick waren offenkundig wie gelähmt.

»Ich bin der beste Bogenschütze im Südland«, erwiderte Menion. »Vielleicht auch der beste Fährtensucher.«

Allanon schien kurz zu zögern, dann warf er einen Blick auf Balinor, der die Achseln zuckte. Menion lächelte kühl.

»Warum sollte ich euch Rede und Antwort stehen?« fragte er Allanon.

Die schwarze Gestalt blickte ihn beinahe verwundert an, während Balinor unwillkürlich einen Schritt zurücktrat, Shea wußte sofort, daß Menion eine Herausforderung im Sinn hatte und daß alle am Tisch über den unheimlichen Allanon etwas wußten, nur die drei Reisenden nicht. Shea stand plötzlich auf und räusperte sich. Alle blickten in seine Richtung, er räusperte sich.

»Hast du etwas zu sagen?« fragte ihn Allanon. Shea nickte und warf einen Blick auf seinen Bruder, der ihm kaum merklich zunickte. Shea räusperte sich ein zweitesmal.

»Mein besonderes Talent scheint zu sein, daß ich in die falsche Familie hineingeboren worden bin, aber ich halte wohl besser durch. Flick und ich — und Menion — gehen mit nach Paranor.«

Allanon nickte befriedigt und lächelte sogar ein wenig, im Innersten erfreut über den jungen Talbewohner. Shea mußte, vor allen anderen, stark sein. Er war der letzte Sohn des Hauses Shannara, und das Schicksal von so vielen hing von diesem einen kleinen Zufall ab.

Menion Leah hatte sich hingesetzt und atmete ein wenig auf. Er hatte Allanon bewußt herausgefordert und damit Shea veranlaßt, ihm zu Hilfe zu kommen, indem er sich bereit erklärte, nach Paranor zu gehen. Es war ein verzweifeltes Hasardspiel gewesen, den kleinen Talbewohner zu einer Entscheidung zu bringen. Der Hochländer hätte sich beinahe auf eine tödliche Konfrontation mit Allanon eingelassen. Er hatte Glück gehabt. Er fragte sich, ob ihnen das Glück auch bei dieser bevorstehenden Reise beistehen würde.

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