22

Während Shea nach wie vor irgendwo nördlich der Drachenzähne vermißt wurde und Allanon, Flick und Menion nach einer Spur von ihm suchten, gelangten die vier anderen Mitglieder des geteilten Trupps in Sichtweite der hohen Türme von Tyrsis, der Festungsstadt. Sie hatten fast zwei Tage angestrengten Marschierens gebraucht, und ihre gefährliche Reise durch die Linien der Nordland-Armee war noch zusätzlich behindert worden durch die mächtige Gebirgsbarriere, die das Südland-Reich Callahorn von Paranor trennte. Der erste Tag war lang, verlief aber ohne Zwischenfälle, und sie erreichten durch die Wälder neben dem von Gnomen durchstreiften Undurchdringlichen Wald das Tiefland, die Schwelle zu den gewaltigen Drachenzähnen.

Die Bergpässe waren alle streng bewacht von Gnomenjägern, und es hatte den Anschein, als werde man ohne Kampf nicht an ihnen vorbeikommen. Ein kleines Täuschungsmanöver lockte jedoch die meisten der Wachen vom Zugang zum hohen, geschlängelten Kennon-Paß, so daß die vier ins Gebirge gelangen konnten. Die schwierige Aufgabe, am Südende wieder herauszukommen, wurde erst bewältigt, als man an einem Kontrollposten in der Mitte mehrere Gnomen lautlos getötet und weitere zwanzig so verschreckt hatte, daß sie glaubten, die gesamte Grenzlegion von Callahorn stürme den Paß und stürze «ich mordlustig auf die armen Wachen. Höndel lachte danach so heftig, daß sie im Wald südlich des Kenneon-Passes vorübergehend stehenbleiben mußten, bis er seine Fassung wiedergewann.

Durin und Dayel blickten einander zweifelnd an, als sie an die grimmige Miene und wortkarge Art des Zwerges auf der Reise nach Paranor dachten. Sie hatten ihn nie über etwas lachen sehen, und Fröhlichkeit schien auch gar nicht zu ihm zu passen. Sie schüttelten ungläubig die Köpfe und blickten Balinor fragend an, der aber nur die Achseln zuckte. Er war ein alter Freund Höndels und kannte die wechselhafte Art des Zwerges. Es war gut, wieder ein Lachen zu hören.

Im Dämmerlicht des frühen Abends, während die Sonne am endlosen Horizont der westlichen Ebenen in dunstigem Rot leuchtete, standen die vier vor ihrem Ziel. Sie waren ausgelaugt und erschöpft, ihre sonst wachen Gehirne betäubt vom mangelnden Schlaf und der unaufhörlichen Anstrengung, aber ihre Stimmung hob sich in freudiger Erregung, als sie die majestätische Stadt erblickten. Sie blieben einen Augenblick am Rand der Wälder stehen, die von den Drachenzähnen in südlicher Richtung durch Callahorn verliefen. Im Osten lag die Stadt Varfleet, die den einzigen größeren Durchgang durch das Runne-Gebirge bewachte, eine kleine Bergkette oberhalb des berühmten Regenbogen-Sees. Der träge Mermidon-Fluß wand sich durch den Wald in ihrem Rücken. Im Westen lag die kleinere Inselstadt Kern, und der Ursprung des Flusses befand sich weiter westlich in der riesigen Leere der Streleheim-Ebenen. Der Fluß war durchgehend sehr breit und bildete eine natürliche Barriere gegen jeden Feind, also bot er auch zuverlässigen Schutz für die Bewohner der Insel. Wenn der Fluß hohen Wasserstand hatte, was fast das ganze Jahr über der Fall war, strömte er tief und schnell dahin, und noch war es keinem Feind gelungen, die Inselstadt einzunehmen.

Die Grenzlegion dagegen hatte ihre Garnison in der alten Stadt Tyrsis. Sie war jene präzise Kampfmaschine, die über zahllose Generationen hinweg die Grenzen des Südlandes erfolgreich gegen alle Invasionen verteidigt hatte. Es war die Grenzlegion, die stets die ganze Wucht aller Angriffe auf die Rasse der Menschen hingenommen hatte. Sie bildete die erste Verteidigungslinie gegen feindliche Eindringlinge. Tyrsis hatte die Grenzlegion von Callahorn hervorgebracht, und als Festung suchte sie ihresgleichen.

Die alte Stadt Tyrsis war im Ersten Krieg der Rassen zerstört, dann aber wieder aufgebaut und im Lauf der Jahre erweitert worden, bis sie eine der größten Städte im ganzen Südland und bei weitem die stärkste in den nördlichen Gebieten war. Man hatte sie entworfen als Festung, die jedem Angriff gewachsen war, eine Bastion aus hochragenden Mauern und übereinandergetürmten Bollwerken auf einem natürlichen Hochplateau, vor einer nicht zu besteigenden gigantischen Felswand. Vor über siebenhundert Jahren war die große Außenmauer am Rand der Hochebene errichtet worden, die Grenzen Tyrsis hinausschiebend, so weit die Natur es überhaupt zuließ. Auf den furchtbaren Ebenen unterhalb der Festung lagen die Bauernhöfe und Felder, von denen die Stadt ernährt wurde. Die schwarze Erde wurde versorgt vom lebenspendenden Wasser des mächtigen Mermidon, der nach Osten und Süden strömte. Die Bewohner hatten ihre Häuser ringsum im Land verstreut und suchten den Schutz der ummauerten Stadt nur bei einer Invasion auf. Über Jahrhunderte nach dem Ersten Krieg der Rassen hinweg hatten die Städte um Callahorn alle Angriffe feindseliger Nachbarn erfolgreich abgeschlagen. Nicht eine von ihnen war je einem Feind erlegen, die berühmte Grenzlegion war nie geschlagen worden. Aber Callahorn hatte sich auch noch nie einer Armee von jener Größe gegenübergesehen, die der Dämonen-Lord nunmehr aufstellt die eigentliche Kraft- und Mutprobe stand deshalb erst noch bevor.

Balinor blickte auf die fernen Türme seiner Stadt und war von gemischten Gefühlen bewegt. Sein Vater war ein großer König und ein guter Mann gewesen, aber nun wurde er alt. Seit Jahren hatte er die Grenzlegion in ihrem unaufhörlichen Kampf gegen hartnäckige Gnomen-Überfälle aus dem Osten befehligt. Mehrmals war er gezwungen gewesen, lange und kostspielige Feldzüge gegen die riesigen Nordland-Trolle zu führen, als verschiedene Stämme in sein Land eingedrungen waren, entschlossen, die Städte zu erobern und ihre Bewohner zu unterjochen. Balinor war der älteste Sohn und Erbe des Reiches. Er hatte unter der sorgfältigen Anleitung seines Vaters fleißig studiert und war beim Volk beliebt - bei Menschen, deren Freundschaft nur mit Respekt und Verständnis zu gewinnen war. Er befehligte ein Regiment der Grenzlegion, das sein persönliches Abzeichen trug - einen geduckten Leoparden. Es war die Eliteeinheit der gesamten Streitmacht. Balinor war nichts wichtiger, als die Achtung und Hingabe seiner Männer immer wieder zu gewinnen. Er war nun schon Monate fortgewesen, obwohl sein Vater ihn inständig gebeten hatte, nicht zu gehen, sich seine Entscheidung noch einmal zu überlegen. Er zog nun die Brauen zusammen und blickte düster auf seine Heimat. Unbewußt hob er die Hand ans Gesicht, und der kalte Kettenpanzer berührte die Narbe an der rechten Wange.

»Denkt Ihr wieder an Euren Bruder?« fragte Höndel.

Balinor sah ihn ein wenig erstaunt an und nickte.

»Ihr müßt aufhören, über die ganze Geschichte nachzudenken«, erklärte der Zwerg ruhig. »Er könnte eine ernste Bedrohung für Euch sein, wenn Ihr ihn immer nur als Bruder und nicht als eigene Persönlichkeit betrachtet.«

»Es ist nicht so leicht, zu vergessen, daß sein Blut und das meine mehr aus uns machen als Söhne desselben Vaters«, gab Balinor dumpf zurück. »Ich kann derart starke Bande nicht mißachten oder vergessen.«

Durin und Dayel starrten einander verständnislos an. Sie wußten, daß Balinor einen Bruder hatte, aber er war ihnen noch nie begegnet und auch während der ganzen Reise kein einziges mal erwähnt worden.

Balinor bemerkte ihre verwirrten Mienen und lächelte kurz.

»Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht«, sagte er.

Höndel schüttelte den Kopf und verfiel in Schweigen.

»Mein jüngerer Bruder Palance und ich sind die einzigen Söhne Ruhl Buckhannahs, des Königs von Callahorn«, berichtete Balinor nach einer Pause. »Wir hatten ein sehr enges Verhältnis, als wir aufwuchsen - wie ihr beiden. Als wir älter wurden, entwickelten wir verschiedene Ansichten über das Leben.

Wir wurden zu verschiedenen Persönlichkeiten, wie das bei allen der Fall ist, nicht nur bei Brüdern. Ich war der Ältere, der Thronfolger.

Palance war sich darüber natürlich stets im klaren, aber es trennte uns mit der Zeit, vor allem, weil er andere Vorstellungen davon hatte, wie das Land zu regieren sei, als ich... Man kann das schwer erklären.«

»Gar nicht so schwer«, warf Höndel ein.

»Nun gut, nicht so schwer. Palance glaubt, Callahorn sollte Schluß damit machen, als erste Verteidigungslinie für Angriffe auf die Bewohner des Südlandes zu dienen. Er möchte die Grenzlegion auflösen und Callahorn vom Rest des Südlandes isolieren. In diesem Punkt gehen unsere Auffassungen völlig auseinander.« Er verstummte.

»Erzählt weiter, Balinor«, sagte Höndel scharf.

»Mein mißtrauischer Freund glaubt, mein Bruder sei nicht mehr sein eigener Herr - er sage diese Dinge, ohne sie wirklich zu meinen. Er wird beraten von einem Mystiker namens Stenmin, den Allanon für einen Mann ohne Ehre hält. Er werde Palance in sein Verderben führen. Stenmin hat meinem Vater und dem Volk erklärt, herrschen solle mein Bruder, nicht ich. Er hat ihn gegen mich eingenommen. Als ich fortging, schien sogar Palance zu glauben, daß ich nicht geeignet sei, Callahorn zu regieren.«

»Und die Narbe?« fragte Durin leise.

»Ein Streit, bevor ich mit Allanon fortging«, erwiderte Balinor.

»Ich weiß nicht einmal mehr, wie er anfing, aber schlagartig bekam Palance einen Wutanfall - in seinen Augen glühte echter Haß. Ich wollte gehen, und er riß eine Peitsche von der Wand und schlug zu. Das war auch ein Grund, weshalb ich beschloß, Tyrsis für eine Weile zu verlassen - damit Palance Gelegenheit fand, wieder zur Besinnung zu kommen. Wenn ich nach dem Zwischenfall geblieben wäre, hätten wir vielleicht -« Wieder verstummte er, und Höndel warf den Elfen-Brüdern einen Blick zu, der jeden Zweifel darüber ausräumte, was bei einer weiteren Auseinandersetzung zwischen den Brüdern geschehen wäre. »Ihr müßt mir glauben, wenn ich sage, daß mein Bruder nicht immer so gewesen ist, und ich halte ihn auch jetzt nicht für einen schlechten Menschen«, fuhr Balinor halblaut fort. »Stenmin hat Gewalt über Palance, und das treibt diesen in seine Wutanfälle, in denen er sich gegen mich und alles, wovon er weiß, daß es wichtig ist, wendet.«

»Es steckt mehr dahinter«, unterbrach ihn Höndel. »Palance ist ein idealistischer Fanatiker - er begehrt den Thron und stellt sich unter dem Vorwand, die Interessen der Menschen zu vertreten, gegen Euch. Er erstickt an seiner eigenen Selbstgerechtigkeit.«

»Vielleicht hast du recht, Höndel«, sagte Balinor. »Aber er ist mein Bruder, und ich liebe ihn.«

»Das macht ihn so gefährlich«, erklärte der Zwerg. »Er liebt Dich nicht mehr.«

Balinor starrte stumm vor sich hin. Die anderen schwiegen ebenfalls einige Minuten, bis er sich umdrehte und sie ruhig ansah, so, als sei nichts geschehen.

»Es wird Zeit für uns. Wir müssen die Stadtmauern erreichen, bevor es dunkel wird.«

»Ich gehe nicht weiter mit, Balinor«, warf Höndel hastig ein.

»Ich muß in mein eigenes Land zurückkehren und mithelfen, die Zwergen-Armeen auf eine Invasion gegen sie vorzubereiten.«

»Nun, Ihr könnt heute nacht in Tyrsis schlafen und morgen weitergehen«, sagte Dayel, weil er wußte, wie erschöpft sie alle waren.

Höndel lächelte und schüttelte den Kopf.

»Nein, ich muß in dieser Gegend nachts unterwegs sein. Wenn ich in Tyrsis übernachte, verliere ich einen ganzen Reisetag, und die Zeit ist kostbar für uns alle. Das ganze Südland steht und fällt damit, wie schnell wir unsere Armeen zu einer gemeinsamen Streitmacht vereinigen können, um gegen den Dämonen-Lord loszuschlagen. Wenn Shea und das Schwert von Shannara für uns verloren sind, bleiben uns nur die Armeen. Ich werde nach Varfleet gehen und dort rasten. Seid auf der Hut, Freunde. Ich wünsche Euch viel Glück.«

»Und wir dir auch, tapferer Höndel.« Balinor streckte die Hand aus. Höndel drückte sie, schüttelte den Elfen-Brüdern die Hände und verschwand winkend im Wald.

Balinor und die Elfen-Brüder warteten, bis sie ihn zwischen den Bäumen nicht mehr sehen konnten, dann marschierten sie über die Ebene auf Tyrsis zu Die Sonne war hinter dem Horizont versunken, der Himmel dunkelgrau geworden. Sie waren auf halbem Wege, als der Himmel völlig dunkel wurde und die ersten Sterne auftauchten. Als sie sich der ruhmreichen Stadt näherten, beschrieb der Prinz von Callahorn den Elfen-Brüdern die Geschichte der Entstehung von Tyrsis.

Die Stadt war erbaut auf einem Hochplateau, das zu einer Reihe von hohen, senkrechten Felswänden führte. Diese grenzten das Plateau im Süden ganz, im Westen und Osten teilweise ein. Sie waren zwar bei weitem nicht so hoch oder schroff wie die Drachenzähne oder das Charnal-Gebirge im fernen Norden, aber unfaßbar steil. Die Nordseite hinter der Stadt ragte nahezu senkrecht empor, und es war noch niemandem gelungen, sie zu ersteigen. Im Rücken war die Stadt also gut gesichert, und eine Abwehr im Süden hatte sich nie als nötig erwiesen. Das Plateau, auf dem die Stadt stand, war an der breitesten Stelle knapp über drei Meilen breit und fiel steil ab zur Ebene, die sich offen nach Norden und Westen zum Mermidon-Fluß und nach Osten zu den Wäldern von Callahorn erstreckte. In Wahrheit stellte der breite Strom die erste Verteidigungslinie gegen Angriffe dar, und es war nur wenigen Armeen gelungen, das Plateau selbst und die Stadtmauern zu erreichen. Derjenige, dem es gelang, den Mermidon zu überschreiten, stand bald danach vor der steilen Mauer des Plateaus, das von oben verteidigt werden konnte. Der wichtigste Weg zu dieser Anhöhe war eine große Straßenrampe aus Eisen und Stein, die man durch das Herausklopfen von Bolzen in den Stützen einstürzen lassen konnte.

Aber selbst wenn es dem Feind gelang, die Hochebene zu erklimmen und sich dort festzusetzen, erwartete ihn die dritte Abwehrlinie - eine, die noch kein Feind je überwunden hatte. Kaum dreihundert Meter vom Plateaurand entfernt, erhob sich, die ganze Stadt in einem Halbkreis einschließend, dessen Ende bis zu den Felswänden reichten, die gigantische Außenmauer. Erbaut aus mächtigen Steinblöcken, mit Mörtel zusammengefügt, war die Oberfläche glattgeschliffen worden, so daß ein Erklimmen nahezu ausgeschlossen war. Sie ragte über dreißig Meter in die Höhe, massiv, steil, unbezwingbar. Auf der Mauer waren Brustwehren für die innerhalb der Stadt kämpfenden Männer erbaut, mit Schießscharten, durch die verborgene Bogenschützen auf die Angreifer schießen konnten. Die Mauer war in Stil und Form, grob und unbehauen, aber sie hatte seit über tausend Jahren jeden Gegner ferngehalten.

Innerhalb der Mauer war die Grenzlegion in einer Reihe langer, schräg abfallender Kasernen untergebracht, zwischen Gebäuden für die Verwahrung von Vorräten und Waffen. Annähernd ein Drittel der Streitmacht war stets im Dienst, während die anderen zu Hause bei ihren Familien wohnten und ihren Berufen als Arbeiter, Handwerker und Ladenbesitzer nachgingen.

Die Kasernen konnten im Bedarfsfalle die ganze Armee fassen, wie das schon bei mehr als einer Gelegenheit geschehen war, aber im Augenblick waren sie nur teilweise besetzt. Hinter den Kasernen, den Arsenalen und Exerzierplätzen gab es eine zweite Mauer, welche die Unterkünfte der Soldaten von der eigentlichen Stadt trennte. Hinter dieser zweiten Mauer standen an den oberen, gewundenen Straßen die Wohn- und Geschäftshäuser der Stadtbevölkerung von Tyrsis, mit Sorgfalt gebaut und gepflegt.

Die Stadt erstreckte sich nahezu über das ganze Plateau, von dieser zweiten Steinmauer bis fast zu den Klippen. An der innersten Stelle war eine dritte, niedrige Mauer errichtet worden, mit Zugang zu den Regierungsbauten und dem Königspalast, komplett mit Forum und Parklandschaft. Die Parks um der Palast bildeten das einzige ländliche Element auf der Plateaufläche.

Die dritte Mauer diente keinen Verteidigungszwecken, sondern bildete die Demarkationslinie für Staatsbesitz, der dem Gebrauch durch den König vorbehalten war und, was die Parks anging, der Nutzung durch die ganze Bevölkerung. Balinor unterbrach seine Schilderung und wies die Elfen-Brüder darauf hin, daß das Reich von Callahorn eine der wenigen aufgeklärten Monarchien der Welt darstellte. Theoretisch eine Monarchie, beherrscht von einem König, bestand die Regierung auch aus einer parlamentarischen Körperschaft, deren Repräsentanten vom Volk gewählt wurden und für die Verabschiedung der Gesetze verantwortlich waren. Die Bevölkerung war sehr stolz auf ihren Staat und die Grenzlegion, in der nahezu jeder Mann gedient hatte oder noch diente. Es war ein Land, in dem sie freie Menschen sein konnten, und dafür lohnte es, zu kämpfen.

Callahorn war ein Land, das die Vergangenheit ebenso widerspiegelte wie die Zukunft. Auf der einen Seite waren die Städte in erster Linie als Festungen erbaut worden, um die häufigen Angriffe kriegerischer Nachbarn abzuwehren. Die Grenzlegion war ein Überbleibsel früherer Zeiten, als die neu entstandenen Staaten unaufhörlich miteinander Krieg geführt hatten, als ein nahezu fanatischer Stolz auf nationale Unabhängigkeit zu einer fortwährenden Auseinandersetzung über eifersüchtig bewachte Landesgrenzen geführt hatte, als Brüderschaft zwischen den Völkern der vier Länder noch undenkbar war. Die rustikale, altmodische Gestaltung und Architektur war in den schnell wachsenden Städten des tiefen Südlandes nirgends zu finden - Städte, in denen aufgeklärte Kulturen und weniger kriegerische Grundsätze sich durchzusetzen begannen. Aber es war Tyrsis, das mit seinen barbarischen Steinmauern und eisernen Kriegern das Südland geschützt und ihm Gelegenheit gegeben hatte, sich in eine neue Richtung zu entwickeln. Es gab auch Anzeichen für das Kommende in diesem pittoresken Land, Anzeichen, die von einer anderen Ära und einer nicht zu fernen Zeit sprachen.

Tyrsis war die Wegkreuzung der vier Länder, und durch seine Mauern und Landschaften strömten Angehörige aller Nationen, die den Einwohnern Gelegenheit gaben, zu sehen und zu begreifen, daß die Unterschiede in Gesicht und Körper bei den einzelnen Rassen unwichtig waren. Die Menschen hatten gelernt, die innere Person zu beurteilen. Ein riesiger Berg-Troll wurde nicht angestarrt und seiner bizarren Erscheinung wegen gemieden; Trolle kamen oft in dieses Land. Gnomen, Elfen und Zwerge aller Arten und Gattungen zogen regelmäßig hindurch, und wenn sie Freunde sein wollten, wurden sie willkommen geheißen. Balinor lächelte, als er von dieser neuen, sich ausbreitenden Erscheinung sprach, die endlich überall in den Ländern die Oberhand zu gewinnen schien, und er empfand Stolz darüber, daß sein Volk zu den ersten gehörte, die alte Vorurteile fallen ließen und nach gemeinsamen Grundlagen für Verständnis und Freundschaft suchten. Durin und Dayel lauschten in stummem Einverständnis. Die Elfen wußten, was es hieß, allein zu sein in einer Welt, die nicht über ihre eigenen Beschränkungen hinauszublicken vermochte.

Balinor war zu Ende gekommen, und die drei Kameraden erreichten eine breite Straße, die in der Dunkelheit dem Plateau entgegenführte. Sie waren nahe genug herangekommen, um die Lichter der weitläufigen Stadt und Menschen auf der Steinrampe wahrnehmen zu können. Der Eingang in der hochragenden Außenmauer zeichnete sich im Licht von Fackeln scharf ab. Die Riesentore mit ihren geölten Scharnieren standen offen. Sie wurden bewacht von einer Anzahl dunkel gekleideter Posten. Aus dem Innenhof glänzte das Licht der Kasernen herüber, aber man hörte kein Lachen, was Balinor merkwürdig fand. Die Stimmen, die zu vernehmen waren, klangen still und gedämpft, als wolle niemand belauscht werden.

Die Elfen-Brüder folgten wortlos, als Balinor die Rampe hinabstieg.

Mehrere Leute kamen an ihnen vorbei, und manche dichten sich erschrocken nach dem Prinzen von Callahorn um.

Balinor ging auf diese merkwürdigen Blicke nicht ein und achtete nur auf die Stadt vor sich, aber die Brüder wechselten Blicke.

Irgend etwas war nicht in Ordnung. Sekunden später, als sie das Plateau erreichten, blieb Balinor plötzlich stehen. Er starrte durch das Stadttor, dann schaute er sich um nach den schattenhaften Gesichtern der vorbeigehenden Leute, die schnell in der Nacht verschwanden, sobald sie entdeckt hatten, wer er war. Die drei Männer standen eine Weile wie angewurzelt da.

»Was gibt es, Balinor?« fragte Durin schließlich.

»Ich weiß nicht recht«, erwiderte der Prinz sorgenvoll. »Seht euch die Abzeichen der Wachen an. Keiner trägt das Wappen des geduckten Leoparden - das Abzeichen meiner Leute. Statt dessen nicht man einen Falken, ein Zeichen, das ich nicht kenne. Auch die Menschen - habt ihr ihre Blicke gesehen?«

Die beiden Elfen nickten und sahen sich betroffen um.

»Nun, macht nichts«, sagte Balinor. »Das ist immer noch die Stadt meines Vaters, und es ist mein Volk. Wir kommen der Sache auf den Grund, wenn wir im Palast sind.«

Wieder ging er auf das gigantische Tor zu, gefolgt von den Ellen.

Der hochgewachsene Prinz unternahm nicht den Versuch, «ein Gesicht zu verbergen, als er sich den vier bewaffneten Wachen näherte, und sie reagierten nicht anders als die Leute vorher.

Sie hielten den Prinzen nicht auf und sprachen ihn nicht an, aber einer von ihnen verließ hastig seinen Posten und verschwand durch das Tor der Innenmauer in den Straßen der Stadt. Balinor und die Elfen traten durch den Schatten des Riesentores, das in der Dunkelheit wie ein monströser steinerner Arm über ihnen zu hängen schien. Sie gingen vorbei an den offenen Torflügeln und den wachsamen Posten, kamen in den Innenhof, wo sie die niedrigen, spartanischen Kasernen der Grenzlegion sehen konnten.

Es brannten nur wenige Lichter, und die Gebäude schienen beinahe verlassen zu sein. Ein paar Männer trugen Röcke mit dem Leoparden-Abzeichen, aber keine Rüstung und keine Waffen.

Einer von ihnen riß die Augen auf, als die drei Männer stehen blieben, und rief seinen Kameraden etwas zu. Eine Tür öffnete sich, und ein graubärtiger Veteran tauchte auf; er starrte Balinor und die Elfen an, gab ein kurzes Kommando, und die Soldaten wandten sich widerstrebend ab, während er auf die drei Neuankömmlinge zueilte.

»Lord Balinor, Ihr kommt endlich!« rief er zur Begrüßung und senkte kurz den Kopf.

»Hauptmann Sheelon, ich freue mich, Euch zu sehen.« Balinor ergriff die Hand des Mannes. »Was geht in der Stadt vor? Weshalb tragen die Wachen das Zeichen des Falken und nicht unseren Kampfleoparden?«

»Mein Lord, die Grenzlegion hat Befehl erhalten, sich aufzulösen. Nur eine Handvoll von uns tut noch Dienst, die anderen sind in ihre Häuser zurückgekehrt.«

Sie starrten den Mann ungläubig an. Die Grenzlegion aufgelöst, angesichts der gewaltigsten Invasion, die das Südland je bedroht hatte? Sie erinnerten sich alle an Allanons Worte, wonach die Grenzlegion die einzige Hoffnung für die Völker der bedrohten Länder sei.

»Auf wessen Befehl?« fragte Balinor gepreßt.

»Eures Bruders«, erwiderte Sheelon. »Er hat seiner eigenen Garde befohlen, unsere Pflichten zu übernehmen, und die Legion angewiesen, sich bis auf weiteres aufzulösen. Die Lords Acton und Messaline gingen zum König, um ihn zu bitten, sich zu besinnen, aber sie sind nicht zurückgekehrt. Wir konnten nichts anderes tun als gehorchen...«

»Sind denn alle toll geworden?« schrie Balinor und packte den anderen am Rock. »Was ist mit meinem Vater? Regiert er dieses Land nicht mehr, ist er nicht mehr Befehlshaber der Legion? Was sagt er zu dieser Narretei?«

Sheelon senkte den Blick und suchte nach Worten. Balinor schüttelte ihn heftig.

»Ich - ich weiß es nicht, Herr«, murmelte der Mann. »Wir hörten, der König sei krank, und dann erfuhren wir nichts mehr. Ihr Bruder hat sich zum zeitweiligen Herrscher ernannt. Das ist drei Wochen her.«

Balinor ließ den Mann betroffen los und starrte geistesabwesend auf die Lichter des fernen Palastes.

»Wir müssen sofort zum Palast und mit Eurem Bruder sprechen«, sagte Dayel scharf. Er sah den jungen Elf an.

»Ja, natürlich, du hast recht«, sagte er. »Wir müssen zu ihm.«

»Nein, Ihr dürft nicht hingehen!« schrie Sheelon auf. »Keiner ist mehr zurückgekommen. Es gibt Gerüchte, daß Euer Bruder Euch zum Verräter erklärt haben soll - Ihr hättet Euch mit dem bösen Allanon verbündet, dem schwarzen Wanderer, der den dunklen Mächten dient. Es heißt, Ihr sollt eingesperrt und hingerichtet werden!«

»Das ist lächerlich«, sagte Balinor. »Ich bin kein Verräter, das weiß mein Bruder. Was Allanon betrifft, so ist er der beste Freund, den das Südland finden kann. Ich muß zu Palance und mit ihm sprechen. Wir mögen verschiedener Meinung sein, aber seinen eigenen Bruder würde er nie ins Gefängnis werfen. Dazu hat er nicht die Macht.«

»Es sei denn, Euer Vater ist tot«, warnte Durin. »Angeraten ist Vorsicht jetzt, bevor wir den Palast betreten. Höndel glaubt, daß Euer Bruder unter dem Einfluß Stenmins steht, und wenn das zutrifft, könntet Ihr in größerer Gefahr schweben, als Ihr ahnt.«

Balinor dachte nach und nickte. Er schilderte Sheelon schnell die Bedrohung Callahorns durch eine bevorstehende Invasion aus dem Norden und bekräftigte seine Ansicht, daß die Grenzlegion zur Verteidigung ihrer Heimat bitter nötig sei. Dann packte er den alten Soldaten an der Schulter und beugte sich vor.

»Ihr wartet vier Stunden auf meine Rückkehr oder das Erscheinen eines persönlichen Boten. Wenn ich bis dahin nicht herausgekommen bin oder Nachricht geschickt habe, sucht Ihr die Lords Ginnisson und Fandwick auf. Die Grenzlegion soll sofort wieder aufgestellt werden. Dann wendet Euch ans Volk und verlangt ein offenes Verfahren über unsere Sache von meinem Bruder. Das kann er nicht verweigern. Außerdem schickt Ihr Boten nach Westen und Osten, zu den Zwergen und Elfen, um ihnen mitzuteilen, daß wir gefangen sind, ich und die Vettern Eventines. Könnt Ihr Euch das alles merken?«

»Ja, mein Lord.« Der Soldat nickte. »Es wird geschehen, wie Ihr befehlt. Möge Euch das Glück treu sein, Prinz von Callahorn.

« Er drehte sich um und verschwand in der Kaserne, während Balinor zornig und ungeduldig auf die Innenstadt zuging.

Durin wollte seinen Bruder flüsternd dazu bewegen, außerhalb der Stadtmauern zu warten, bis er wisse, was mit Balinor und ihm selbst geschehen sei, aber Dayel weigerte sich rundweg, zurückzubleiben.

Durin gab es schließlich auf und seufzte nur.

Sie überquerten den Innenhof und traten durch das Tor der Innenmauer in die Stadt. Auch dort glotzten die Wachen sie fassungslos an, hinderten aber die Männer nicht, ihrer Wege zu gehen.

Balinor richtete sich höher auf, als er den Tyrsischen Weg betrat, die Hauptstraße der Stadt. Er war nicht länger ein erschöpfter Wanderer, sondern der Prinz von Callahorn, der nach Hause zurückkehrte. Die Menschen erkannten ihn sofort, blieben zunächst stehen und gafften ihn an, faßten sich dann ein Herz, als sie seine aufrechte, würdige Haltung sahen, und liefen herbei, um ihn zu begrüßen. Die Menge schwoll von wenigen Dutzend auf einige hundert Personen an, während Balinor stolz durch die Stadt schritt, jenen zulächelnd, die ihm folgten. Die Rufe und Schreie der Menschen schwollen brausend an, und der Name des Prinzen wurde immer wieder im Chor gerufen. Einige Menschen drängten sich an ihn heran und flüsterten ihm Warnungen zu, aber der Prinz war nicht mehr gewillt, auf dergleichen zu hören. Er schüttelte nur den Kopf und marschierte weiter.

Die ganze Menschenmenge strömte durch das Herz von Tyrsis, drängte sich unter den riesigen Bögen und Quergängen über den Straßen, schob sich durch die Engstellen vorbei an hohen, weißgestrichenen Gebäuden und kleineren Wohnhäusern zur Brücke von Sendic, die sich über die unteren Bereiche der Parkanlagen wölbte. Am anderen Ende befanden sich die Palasttore, dunkel und geschlossen. Auf dem Scheitelpunkt der weitgeschwungenen Brücke blieb der Prinz von Callahorn plötzlich stehen und wandte sich der Menge zu. Er hob die Arme. Die Menschen blieben stehen und verstummten.

»Meine Freunde - meine Landsleute.« Die stolze Stimme tönte in die Dunkelheit hinein und hallte donnernd wider. »Ich habe dieses Land und seine tapferen Bürger vermißt, aber jetzt bin ich wieder zu Hause - und ich gehe nicht mehr fort. Es besteht kein Anlaß zur Furcht. Dieses Land wird alles überdauern. Wenn es in der Monarchie Schwierigkeiten geben sollte, stelle ich mich ihnen. Ihr müßt jetzt zu euren Häusern zurückkehren und auf den Morgen warten, der euch in besserem Licht zeigen wird, daß alles gut steht. Bitte, geht jetzt nach Hause, wie ich.«

Ohne die Reaktion der Menge abzuwarten, drehte er sich um und ging über die Brücke auf die Palasttore zu. Die Elfen-Brüder eilten ihm nach. Die Stimmen der Menschen erhoben sich wieder, aber die Menge folgte ihnen nicht. Gehorsam kehrte man um und ging in die Stadt zurück, düster vor sich hinmurrend. Die drei Männer verloren die Menge rasch aus den Augen, als sie das Gefälle hinunterschritten. Nach wenigen Minuten erreichten sie die hohen, in Eisen gefaßten Tore des Buckhannah-Palastes.

Balinor zögerte nicht, sondern griff nach dem riesigen Eisenring und ließ ihn donnernd auf das Tor krachen. Einen Augenblick lang war nichts zu hören als das Echo, während die Männer in der Dunkelheit standen und lauschten. Dann verlangte eine halblaute Stimme aus dem Inneren, sie sollten ihre Namen nennen. Balinor tat es und befahl mit scharfer Stimme, sofort das Tor zu öffnen. Die schweren Riegel wurden zurückgezogen, die Torflügel öffneten sich. Balinor trat in den Gartenhof, ohne der Wachen zu achten, die Augen auf das prachtvolle Gebäude mit den Säulen gerichtet. Die hohen Fenster waren dunkel, mit Ausnahme derjenigen im Erdgeschoß des linken Flügels. Durin warf hastig einen Blick in die Schatten, wo er ein Dutzend schwer bewaffneter Wachen entdeckte. Sie trugen alle das Abzeichen des Falken.

Der wachsame Elfe wußte sofort, daß sie in eine Falle liefen, wie er es seit dem Betreten der Stadt schon vermutet hatte. Zunächst wollte er Balinor aufhalten und ihn warnen, aber er begriff, daß der Prinz ein zu erfahrener Kämpfer war, um nicht zu wissen, worauf er sich einließ. Durin wünschte sich erneut, seinen jüngeren Bruder vor der Stadt zurückgelassen zu haben, aber das war nicht mehr zu ändern. Sie gingen durch den Garten zu den Palasttüren. Dort gab es keine Wächter, und die Türen öffneten sich unter Balinors Händen sofort. Die Halle mit den riesigen Wandgemälden schimmerte im Licht von Fackeln. Die Holztäfelung war alt und kostbar, dunkel verfärbt und teilweise bedeckt mit schönen Gobelins und Schildwappen von Generationen der herrschenden Familien. Während die Brüder hinter Balinor durch diese Halle und die daran anschließenden schritten, entsannen sie sich ihres Aufenthaltes in Paranor. Auch dort hatte sie inmitten der historischen Pracht eines anderen Zeitalters eine Falle erwartet.

Sie bogen nach links ein in eine andere Halle, Balinor noch immer einige Schritte voraus. Einen Augenblick lang erinnerte er Durin an Allanon, riesig, aufgebracht, gefährlich. Durin tastete nach seinem Dolch. Wenn sie wieder in eine Falle geraten sollten, würde es nicht ohne seinen Widerstand abgehen.

Dann blieb Balinor vor einer offenen Tür stehen. Die Elfen-Brüder hasteten ihm nach und starrten an ihm vorbei in den hell beleuchteten Raum. Ein Mann stand an der Rückwand des elegant eingerichteten Zimmers - ein großer Mann, blond und bärtig, die breite Gestalt in eine lange, purpurne Robe mit dem Abzeichen eines Falken gehüllt. Er war einige Jahre jünger als Balinor, hatte aber dieselbe aufrechte Haltung. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Die Elfen wußten sofort, daß er Palance Buckhannah war. Balinor trat einige Schritte in das Zimmer, ohne etwas zu sagen, den Blick auf das Gesicht seines Bruders gerichtet. Die Elfen folgten ihm und schauten sich argwöhnisch um. Es gab zu viele Türen, zu viele schwere, bodenlange Vorhänge, hinter denen Wachen lauern mochten. Einen Augenblick später bewegte sich hinter ihnen etwas. Dayel drehte sich ein wenig zur Seite. Durin duckte sich und griff nach seinem Messer, während er ein paar Schritte von den anderen fort machte.

Balinor tat nichts, sondern stand stumm vor seinem Bruder, starrte in das vertraute Gesicht und entdeckte betroffen den Haß in Palances Augen. Er hatte gewußt, daß eine Falle auf ihn wartete, daß sein Bruder vorbereitet sein würde, aber immer noch geglaubt, sie würden miteinander reden können, von Bruder zu Bruder, offen und frei, trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten.

Aber als er in diese Augen blickte und das haßerfüllte Funkeln sah, begriff er, daß sein Bruder der Vernunft nicht mehr zugänglich war, daß er vielleicht sogar den Verstand verloren hatte.

»Wo ist mein Vater?«

Balinors knappe Frage wurde beantwortet von einem Rauschen, als verborgene Schnüre ein großes Netz aus Leder und Stricken auslösten, das unbemerkt über den drei Eindringlingen gehangen hatte und nun auf sie herabfiel. Die am Netz befestigten Gewichte rissen sie alle zu Boden, und ihre Waffen waren nutzlos gegen die starken Stricke. Auf allen Seiten wurden Türen aufgerissen, die schweren Vorhänge glitten zur Seite, und mehrere Dutzend Wachen stürzten sich auf die Gefangenen, die Keine Möglichkeit zu entkommen hatten und nicht einmal vermochten, sich zum Kampf zu stellen. Man nahm ihnen die Waffen ab, fesselte ihre Hände hinter dem Rücken und legte ihnen Augenbinden um. Dann stellte man sie auf die Beine und hielt sie fest. Es blieb kurze Zeit still, als jemand herankam und vor ihnen stehenblieb.


»Du bist ein Narr gewesen, hierher zurückzukommen, Balinor«, sagte eine kalte Stimme. »Du hast gewußt, was geschehen würde, wenn ich dich wiederfinde. Du bist ein dreifacher Verräter und ein Feigling dazu - ein Verräter am Volk, an meinem Vatcr und nun sogar an mir. Was hast du mit Shirl getan? Was hast Du mit ihr gemacht? Dafür wirst du sterben, Balinor, das schwöre ich. Führt sie hinunter!«

Hände rissen sie herum und stießen sie durch die Halle, durch eine Tür, eine lange Treppe hinunter, wieder durch eine Halle, in einen Gang, der zusammen mit anderen einem verschlungenen Labyrinth glich. Ihre Stiefel hallten auf glitschigen Steinen in schwarzer, ungebrochener Stille. Plötzlich ging es wieder eine Treppe hinunter und in einen anderen Korridor. Sie rochen die muffige, kalte Luft und spürten die Feuchtigkeit an den Wänden und am Boden. Kreischend wurden alte Riegel zurückgeschoben, eine Tür ging knarrend auf. Die Hände drehten sie ruckartig herum und stießen sie nach vorn, so daß sie auf den Steinboden fielen, noch immer gefesselt und blind. Die Tür fiel zu, die Riegel wurden vorgeschoben. Sie hörten Schritte in der Ferne verklingen, dann klirrte Metall, als Türen verriegelt wurden, eine immer weiter entfernt als die anderen, bis sie schließlich in der Stille ihres Gefängnisses nur noch ihre eigenen Atemzüge hörten. Balinor war nach Hause gekommen.

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