Jedermann in Nowo Korsaki zog vor Nikita Romanowitsch Babajew die Mütze.
— Der Parteisekretär Kasutin blieb auf der Straße stehen, wenn er Babajew traf, und klopfte ihm leutselig auf die Schulter; der reiche und unanständig dicke Baubeauftragte Zwetkow winkte ihm aus seinem Auto zu; der Apotheker Dudorow ließ ihn ohne ein kleines Schwätzchen nicht an seinem Laden vorbeigehen; und sogar Akif Victorowitsch Mamedow, der Pope, lehnte sich an den Zaun des Kirchengartens, stützte sich auf den Stiel seiner Hacke und sagte:»Wie geht es uns denn heute, du Heide? Daß dich noch Gottes Sonne bescheint, ist ein wahres Wunder.«
Dann lachte Babajew geschmeichelt, entgegnete ein paar heitere Worte und setzte seinen Weg fort.
Die allgemeine Freundlichkeit, die ihm entgegen schlug, verdankte er nicht seinen auffällig roten Haaren, obwohl diese hier in Sibirien eine wirkliche Sehenswürdigkeit waren, sondern seinem Beruf.
Babajew war Fotograf.
Man wird nun mit Recht einwenden: Na ja, was ist denn schon dabei? Wenn jeder Pope beim Anblick eines Fotografen einen Segen ausspräche, wo käme man da hin? Natürlich ist das unmöglich, aber man mußte berücksichtigen, daß man sich hier in Nowo Korsaki befand.
Im Süden des südlichen Urals, am Unterlauf des Flusses Tobol, in der Nähe der sechs Seen, die man rätselhafterweise >Die sechs Jungfrauen< nennt, liegt diese Kleinstadt in einer von Wäldern eingeschlossenen Niederung, zu der eine einzige Straße führt. Im Winter ist diese durch Schneeverwehungen unpassierbar, im Frühjahr und im Herbst versinken die Fahrzeuge im Schlamm, und nur im Sommer ist es einigermaßen möglich, nach Kustanaj, einer etwas größeren Stadt, zu kommen, von der man nach mehrmaligem Umsteigen mit der Bahn nach Magnitogorssk gelangen kann.
Es wird behauptet, daß die ersten Bewohner der Gegend von Nowo Korsaki im Jahre 1789 entdeckt wurden, als eine Kosakenabteilung auf dem Weg zum Ural im Tobol ihre Pferde tränkte…
Es wird behauptet, daß die ersten Bewohner der Gegend von Nowo Korsaki im Jahre 1789 entdeckt wurden, als eine Kosakenabteilung auf dem Weg zum Ural im Tobol ihre Pferde tränkte und plötzlich Rauch aus den Wäldern aufsteigen sah. Die wilden Kerle ritten mit großem Geschrei in die einsame Siedlung ein, erfuhren, daß die Bewohner entlassene Verbannte waren, vergewaltigten die Frauen und Mädchen, und hauptsächlich dadurch gefiel es ihnen so gut in den Hütten, daß sie blieben und die Siedlung weiter ausbauten. Die kleine Stadt, die so entstand, tauften sie nach ihrem Kosakenführer Korsaki. Aus dem Ort Orssk am Ural raubten sie schließlich einen Popen, zimmerten eine Kirche und lebten von da an so frei wie die Wolken am Himmel und die Wellen des Tobol.
Die politischen Wandlungen Rußlands erlebten sie nur am Rande mit. Selbst als im Jahre 1922 zum erstenmal ein Mann in schwarzer Lederjacke aus Magnitogorssk erschien, sich als Kommissar der Bolschewisten vorstellte, tönende Reden hielt und verkündete, es werde nun alles anders, Rußland gehöre den Russen — was in Nowo Korsaki nie jemand bezweifelt hatte —, selbst dann änderte sich nicht viel. In der kleinen Stadt wurde ein Parteihaus gebaut, man mußte auf einmal Steuern zahlen, und ein überlebensgroßes Denkmal aus Gips wurde errichtet, das einen Mann namens Lenin darstellte. Er zeigte mit ausgestrecktem Arm und starren Augen hinüber zu den >Sechs Jungfrauen<, als wollte er mit lauter Stimme ausrufen:»Dort drüben gibt es dicke Störe!«
Das alles nahmen die Nowo Korsakier hin mit der Gelassenheit echter Waldmenschen. Nur als der Parteifunktionär die Kirche abreißen lassen wollte und den damaligen Popen Bulak provokativ am langen, schwarzen Bart zog, wallte das alte Kosakenblut wieder auf. Der Parteimensch erlag einer rätselhaften Krankheit, bei der einem die Schädeldecke platzt. Er wurde schnell begraben, und dann wartete Nowo Korsaki gelassen auf den Neuen, der aus Magnitogorssk kommen mußte.
Mit den Jahren wuchs die kleine Stadt beachtlich, auch wenn sich an den Zufahrtsmöglichkeiten nichts änderte. Ein Sägewerk entstand, ein Magazin wurde gebaut, der Genosse Zwetkow wurde als Baubeauftragter eingesetzt, und er errichtete einen großen Lehrbetrieb, in dem Landwirtschaftsingenieure ausgebildet wurden. Ein Arzt kam nach Nowo Korsaki, dem ein Apotheker folgte, und da die neue Siedlung sich als die realisierte Idee eines Irren herausstellte (denn wie kann man Häuser bewohnen, zu denen keine Straßen führen?), bekam Zwetkow den Auftrag, auch noch für die Errichtung eines kleines Flugplatzes zu sorgen. So wurde Nowo Korsaki an die große weite Welt angeschlossen, wenn auch nur die Hubschrauber und Transportmaschinen der landwirtschaftlichen Schule dort landeten und aufstiegen.
Zuletzt war es auch nicht ausgeblieben, daß eines Tages Babajew, der als junger Mensch zur Ausbildung nach Smolensk gegangen war, in die Heimat zurückkehrte und im elterlichen Haus ein Fotogeschäft eröflhete. Er nahm von einem Fenster die Gardine weg, hämmerte dahinter einen Holzkasten zusammen, stellte in diesen zwei Fotoapparate und zwei auf Pappe gezogene Plakate mit Buntfotos von Moskau und Leningrad hinein, malte ein Schild: >N. R. Babajew — Fotograf< und fertigte ein Porträt von der Großmutter des Parteisekretärs Kasutin an. Die uralte Schanna Bespulowa starrte ihr Bildnis an, klatschte in die Hände, verdrehte die Augen und fiel in Ohnmacht. Es war das erste Foto, da sie von sich gesehen hatte.
So etwas spricht sich natürlich herum. Babajew bekam dadurch rasch viel zu tun, fotografierte so ziemlich jeden Bürger von Nowo Korsaki, baute sich noch ein Atelier ans Haus, ließ aus der Stadt die modernsten Laborgeräte kommen, die er vorführte wie ein Museumsdirektor seine seltenen Schätze, und stieg zu einer geachteten Person empor. Seine Spezialität waren die Fotos von Toten. Im Sarg aufgebahrt, mit Blumen umkränzt, gaben die geliebten Dahingeschiedenen die angestauntesten Motive her. Diese Bilder in schwarzen Rahmen, effektvoll beleuchtet, fehlten bald in keinem anständigen Haushalt von Nowo Korsaki mehr.
Aber auch Babajews sonstige Produktionen zeugten von hoher Begabung. Seine Fotos von der Kirche, seine Landschaftsaufnahmen, seine Reportagen über Hochzeiten oder Parteifeiern bereicherten das Kulturleben von Nowo Korsaki. Außerdem verkaufte er natürlich Fotoapparate, veranstaltete Fotokurse, entwickelte und vergrößerte Amateuraufnahmen und hielt Lichtbildervorträge. Man durfte es mit Fug und Recht aussprechen: Nikita Romanowitsch Babajew prägte maßgeblich das Gesicht von Nowo Korsaki mit.
Das alles zu wissen, ist ungemein wichtig. Denn wer kennt schon das Leben dort am unteren Tobol, in den Wäldern bei den >Sechs Jungfrauen<, in denen man noch wildlebende Luchse und Nerze antreffen kann, wo in den Sumpfgebieten die Biber ihre Dämme bauen und im Winter das Heulen von Wolfsrudeln das ganze, im Eis erstarrte Land erschauern läßt?
So etwas prägt die Menschen, macht sie hart und läßt sie anständig bleiben. Es zwingt sie, eine große, eng verbundene Gemeinschaft zu werden, in der Sorgen und Freuden geteilt werden. Kleine menschliche Schwächen sind natürlich gang und gäbe. Aber dafür war in Nowo Korsaki Akif Victorowitsch zuständig, der jeden Sünder in die Kirche holte, vor der Ikonostase beten ließ und ihn — je nach Verfehlung — in einem kahlen Seitenraum, in dem nur ein Foto von Babajew hing, eine Höllen-Ikone aus der Sankt-Isaak-Kathedrale in Leningrad darstellend, entweder ohrfeigte und ihm mehrmals in den Hintern trat, oder ihn zur Kasse bat zum Zwecke des Ausbaus der Kirche. Es gab daher wenige Sünder in Nowo Korsaki, und auch nur deshalb duldete der Parteisekretär Pjotr Dementijewitsch Ka-sutin die Kirche in seinem Bezirk. Er betrachtete sie ökonomisch als eine Art Filter.
An einem schönen Frühsommertag, für den jeder Mensch, der ein bißchen Gefühl besitzt, Gott zu danken bereit war, begann nun das Drama, das Nowo Korsaki mehr durchschüttelte als ein Erdbeben mittlerer Stärke.
Es begann ganz harmlos: Victor Semjonowitsch Jankowski gab bei dem Fotografen Babajew einen Rollfilm ab, zwölf Aufnahmen 6x6.
«Es wäre mir lieb, Genosse«, sagte Jankowski dabei,»wenn Sie die Bilder auf 18x18 vergrößern könnten. Das ist doch möglich?«
«Wenn Sie es wünschen, mache ich ein Plakat, so groß wie eine Hauswand, daraus«, antwortete Babajew ahnungslos.»Wann brauchen Sie die Bilder, Genosse?«
«Möglichst schnell.«
«Sagen wir übermorgen?«
«Gut.«
«Matt oder glänzend?«
«Hochglanz, bitte.«
Babajew notierte sich den Namen, steckte den Film in eine braune Tüte und vermerkte auf ihr den Kundenwunsch. Jankowski kaufte auch noch einen neuen Film, sechs Blitzwürfel und verließ dann den Laden, wobei die Glöckchen oben an der Tür fröhlich klingelten.
Victor Semjonowitsch Jankowski war vor neun Wochen in Nowo Korsaki aufgetaucht und hatte sofort Aufsehen erregt. Er war jung, hellblond, groß, sportlich muskulös, hatte blitzende blaue Augen, immer ein Lächeln auf den Lippen und kam aus Leningrad. Er war mit einem hochbeinigen, mit Geräten vollbepackten Geländewagen in das Städtchen gekommen, hatte sich bei Kasutin gemeldet und ein sehr interessantes Papier vorgelegt. Demnach hatte er den Auftrag, in der Umgebung von Nowo Korsaki geologische Untersuchungen vorzunehmen, Probebohrungen und Vermessungen, und das Ministerium bat darum, ihm alle Unterstützung zuteil werden zu lassen.
Kasutin sagte ihm alles zu, quartierte Jankowski in einem alten Haus ein, das dem schwerhörigen Dachdecker Fessenko gehörte, einem zweiundachtzigjährigen Greis, der meistens in einem Lehnstuhl saß und seit vierzehn Jahren in einem bebilderten Buch las, das die Eroberung von Odessa durch die Rote Armee schilderte. Jankowski war viel unterwegs, meistens bei den >Sechs Jungfrauen< und in den Wäldern, blieb auch manchmal ein paar Tage und Nächte draußen in der Wildnis, schlief in einem gefütterten Schlafsack und schoß sich seine Braten nach Wahl aus dem reichlichen Wildbestand heraus. Was er eigentlich tat, überblickte niemand, auch nicht Kasutin.
«Er ist Geologe«, sagte Kasutin zu den Neugierigen, die ihn bedrängten.»Er hat ein Schreiben vom Ministerium bei sich. Das genügt doch, Genossen? Sind wir berechtigt oder gar in der Lage, ein Schreiben des Ministeriums zu überprüfen? Ich bitte euch, meine Lieben! Das Dokument trägt drei Unterschriften und vier Stempel!«
So etwas imponiert jedem Russen. Ein Brief mit drei Unterschriften erzeugt Ehrfurcht. Dazu noch vier Stempel — Genossen, haltet den Mund! Victor Semjonowitsch ist in einer wichtigen Mission hier. Wenn er nicht von selbst darüber spricht — Ruhe bewahren, er wird seine Gründe haben. Man hört so wundersame Dinge, was alles unter dem Boden Sibiriens verborgen liegen soll. Wir dummen Alltagsmenschen sehen ja nur die Oberfläche.
Jankowski war in Nowo Korsaki bald ein beliebter Gast. Er konnte spannend erzählen, hatte gepflegte Manieren, starrte den Frauen der Gastgeber nicht sofort auf die Brüste, erzählte keine schweinischen Witze, spielte sehr gut Schach und war überhaupt ein betont höflicher, zurückhaltender Mensch. Seine männliche Attraktivität löste zuerst Alarm bei vielen Ehemännern und den Vätern erwachsener Töchter aus, aber als sich herausstelle, daß der verführerische Victor Semjonowitsch keinerlei Katermanieren an den Tag legte, betrachtete man ihn als einen Glücksfall von Gast. Auch der Pope lud ihn mehrmals zum Essen ein, das heißt vielmehr, Akif Victorowitsch Mamedow berichtete bei diesen Gelegenheiten jeweils so herzerweichend von der Lage der Priester im einsamen Sibirien, daß Jankowski gar nichts anderes übrigblieb, als nicht sich einladen zu lassen, sondern umgekehrt den Popen zu einem opulenten Essen zu bitten. Mamedow erschien mit der Bibel in der Hand, segnete Jankowski, las vor Tisch aus der Heiligen Schrift vor und fraß dann alle Schüsseln leer.
Am begeistertsten von Jankowski aber war der alte Fessenko, der Hausbesitzer, bei dem der junge Mann wohnte: Victor Semjono-witsch brachte ihm nämlich von einer Reise nach Swerdlowsk einen neuen Bildband mit: >Die Verteidigung von Leningrad gegen die Nazitruppen<. Damit war Fessenkos Lebensabend ausgefüllt. Der
Greis wurde in diesem Jahr ja zweiundachtzig.
Der Fotograf Babajew schloß also an diesem Tag seinen Laden pünktlich um 19.00 Uhr, holte aus dem Holzkasten die Amateurfilme und verschwand in seinem Labor. Obwohl das sein Beruf und damit seine Arbeit war, empfand Babajew immer Freude an den harmlosen Fotos, die seine Kunden knipsten und die er entwickelte und vergrößerte: Mamuschka beim Wäscheaufhängen; Großväterchen beim Holzspalten; eine Teerunde mit breit und dümmlich grinsenden Weibern; ein Hundebastard, der gerade auf Onkelchens Aktentasche schiß; ein junger Mann auf einem Fahrrad; ein halbwüchsiges Mädchen auf einer Schaukel zwischen zwei Birken; alles in allem die kleine, wichtige Welt seiner Mitmenschen, die in den Fotos konserviert wurde.
Gegen 22.00 Uhr hatte Babajew alle Filme entwickelt und gewässert. Sie hingen zum Trocknen an der Leine und sollten kurz danach durch die kleine Kopiermaschine laufen. Auch darin war Babajew fortschrittlich eingerichtet — die normalen Abzüge vertraute er einer Maschine an. Anders verhielt es sich mit den Bildern von Jankowski. Dieser war ein kritischer Kunde, da kam es auf Feinheiten an, da war gute Handarbeit vonnöten. Da mußte man Zwischentöne herausholen, grobe Schatten beim Vergrößern wegwedeln… es gibt da einige Tricks, die nur Profis, wie Babajew einer war, bekannt sind.
Kurz nach 22.00 Uhr hing Jankowskis Film allein an der Leine. Babajew starrte die Negative an, bereitete dann mit zitternden Händen die Vergrößerung vor, spannte das erste Negativ ein, projizierte es in der Größe 24x24 (statt wie gewünscht 18x18) auf den Tisch und legte dann das Papier unter. Mit dicken Schweißperlen auf der Stirn belichtete er, trug dann mit der Zange das Papier zum Entwicklungsbad und legte es hinein. Langsam erwachte unter seinen starren Augen das Foto auf dem Papier, nahm Formen an, wurde deutlich, erreichte den richtigen Punkt. Babajew holte das Blatt aus der Brühe, schwenkte es im Fixierbad und hängte es dann mit einer Klammer an die Schnur. Ganz kurz ließ er es abtropfen, nahm die Vergrößerung und rannte hinaus. Er legte es unter eine starke
Lampe, warf sich davor in einen alten Korbsessel und wischte sich zunächst den Schweiß aus dem Gesicht. Durch seinen Körper lief ein leichtes Zittern, so, als habe man ihn an einen schwachen elektrischen Strom angeschlossen, der nun mit seinem Blutkreislauf durch alle Adern floß.
«Das ist toll!«sagte Babajew mit trockener Kehle.»Du lieber Himmel, das ist mehr als toll! Ganz ruhig, Nikita Romanowitsch… laß dich nicht von einem Schlaganfall umwerfen. Behalte die Nerven. Atme tief durch, geh zurück in die Dunkelkammer und vergrößere auch die anderen Fotos. Ganz ruhig.«
Eine Stunde später hingen die zwölf Vergrößerungen hochglänzend und scharf vor Babajew. Er saß da mit gefalteten Händen, genoß den Anblick und war sich klar darüber, daß er diese Nacht nicht würde schlafen können. Auch ein Fotograf hat eine angreifbare Seele.
Erschüttert entledigte sich Nikita Romanowitsch seines Auftrags, vergrößerte die zwölf Fotos auf das gewünschte Maß von 18x18, steckte sie in ein großes Kuvert, schrieb darauf mit Rotstift >Für den Genossen Jankowski< und verschloß die Bilder in der Schublade.
Dann kehrte er zurück zu seinen privaten 24x24-Vergrößerungen, lehnte sich im Sessel weit zurück und ließ den Blick über die zwölf Fotos schweifen. Ab und zu trank er einen Schluck Wodka, holte sich eine große Zwiebel, schälte und aß sie und verzehrte dazu auch noch einen Kanten Brot.
«Ungeheuerlich«, sagte er ab und zu.»Eine grandiose, herrliche Schweinerei. Und das in Nowo Korsaki! Eine Gemeinheit ist die Anonymität. Aber ich bekomme es heraus. Ich bekomme es heraus! Victor Semjonowitsch Jankowski, Sie sind ein beneidenswertes Schweinchen. O Gott, haben Sie es faustdick hinter den Ohren! Ich wette, Sie werden nicht einmal verlegen oder rot, wenn Sie die Bilder von mir abholen. Ha, wie abgebrüht müssen Sie sein!«
Babajew hatte wirklich eine schlechte Nacht.
Mit dem Genossen Parteisekretär Pjotr Dementijewitsch Kasutin konnte jeder sprechen, wenn er zwischen 11.00 und 12.00 Uhr im Parteihaus erschien und etwas wirklich Wichtiges vorzutragen hatte. Waren es aber nur Schwätzereien, und darüber entschied Kasutin allein kraft seines Amtes, trug das eine Strafe wegen Diebstahls an volkseigener, wertvoller Arbeitszeit ein. Wer nicht mit Rubeln bezahlen konnte, mußte Naturalien abliefern, etwa Speck oder Eier, Salzfleisch oder Marmelade, oder er mußte eine Stunde lang unentgeltlich für die Stadtsäuberung tätig sein. Durch solch fortschrittliche Methoden war Kasutin zu einem der am wenigsten belästigten Männer von Nowo Korsaki geworden. Oft konnte er zur Jagd gehen, widmete sich aber auch dem Studium der Parteischriften und glänzte bei Feiertagsreden mit Zitaten von Lenin, Marx, Breschnew und mit herzergreifenden Worten großer russischer Dichter. Der Pope Akif hatte es schwer, sich dagegen zu behaupten; mit frommen Bibelsprüchen war da wenig auszurichten; das klang alles sehr veraltet gegen die markigen Worte von Kasutin, bis Akif sich erinnerte, daß es im fernen Westen einen Priester mit Namen Abraham a Santa Clara gegeben hatte, dem es gelungen war, mit Flüchen und Verwünschungen die Kirchen zu füllen. Akif versuchte das nun auch, nachdem er vorher Gott um Verzeihung gebeten und eine dicke Kerze angezündet hatte.
Erstaunt hörten die Gläubigen eines Sonntags, wie Akif Victo-rowitsch mit Donnerstimme über ihre Häupter brüllte:»Was muß ich da hören? Da treibt ihr Hurerei und freßt euch die Wänste voll und sauft wie die Kühe im Trockenjahr! Hebt bloß nicht eure Köpfe! Euer sündiger Blick könnte den Himmel aufreißen!«
Nach der Predigt erschien Kasutin durch den Hintereingang in Akifs Wohnung und blickte ihn finster an.»Soll das ein neuer Stil sein?«fragte er ahnungsvoll.
«Ja«, erwiderte Akif.
«Wo soll das hinführen?«
«Zur Wahrheit. Ich werde jedem seine Sünden öffentlich vorhalten.«
«Die werden Ihnen die Kirche stürmen.«
«Ja, aber auf den Knien.«
«Man wird alles dementieren.«
«Das ist eure Stärke. Ich weiß es. Pjotr Dementijewitsch, Sie haben Ihre Lenin-Zitate, ich greife ins volle Menschenleben.«
«Was wissen Sie von mir?«fragte Kasutin, vorsichtiger gestimmt.»Väterchen Akif, man kann in aller Ruhe darüber reden.«
Mamedow war klug genug, nicht zu sagen, daß er gar nichts wußte. Er blinzelte Kasutin nur wie einen Verschwörer an, kniff ein Auge zusammen, lächelte breit, strich über seinen langen Bart und hüstelte impertinent. Kasutin erbleichte leicht, winkte ab und wandte sich zum Gehen.
«Sie können jederzeit wiederkommen«, rief Akif ihm nach und rätselte seit diesem Gespräch daran herum, welcher unbekannten Gemeinheit Kasutin wohl zu bezichtigen war.
Heute nun meldete Kasutins Sekretärin, die muntere Dunja Ser-gejewna, daß der Genosse Babajew unbedingt außer der Reihe den Genossen Parteisekretär sprechen müsse. Kasutin blickte betroffen auf die Uhr, sah, daß es kurz nach neun war, und ließ Babajew sofort eintreten. Wie immer am Morgen hatte Kasutin gerade ge-frühstückt, las dabei die Zeitung und ließ sich von Dunja Serge-jewna bedienen. Sie schmierte ihm ein Brot mit Butter und Honig, schüttete ihm den Tee ein, süßte diesen, goß Sahne dazu und servierte ihm die Herrlichkeiten von hinten, indem sie ihm dabei ihren Busen auf die Schulter legte. Das Frühstücksvergnügen wurde noch verstärkt dadurch, daß Kasutins Frau Vera und die beiden Kinder eine Ferienreise nach Rostow angetreten hatten, also weit genug weg waren, um den Familienvorstand vor Überraschungen sicher sein zu lassen.
«Mein guter Nikita Romanowitsch, du erschreckst mich«, sagte Kasutin, als Babajew ins Zimmer stürmte.»Du lieber Himmel, wie siehst du denn aus, hast du ein Gespenst im Haus?«
Babajew setzte sich ächzend, legte das große Kuvert auf den Tisch und holte ein paarmal tief Luft. Dunkle Schatten umrandeten sei-ne Augen, bleich waren die Lippen, sie zitterten, und die Wangenmuskeln zuckten. Babajew schielte zu Dunja Sergejewna hinüber, die an der Tür stand und wartete. Er hob die Hand, bohrte verzweifelt mit dem Daumen in der Nase und winkte dabei mit dem kleinen Finger. Kasutin verstand endlich.
«Ich rufe dich wieder, Genossin«, sagte er amtlich.
Dunja verließ den Raum. Mit einem Seufzer sackte Babajew in sich zusammen. Er öffnete die Lasche des Kuverts, aber zog den Inhalt nicht heraus.
«Du kennst Victor Semjonowitsch Jankowski?«fragte er rauh.
Kasutin hob die Augenbrauen.»Aber ja!«sagte er.»Wer kennt ihn nicht? Was willst du?«
«Was hältst du von ihm?«
«Er ist kein gewöhnlicher Mann.«
«Das kann man sagen. «Babajew schnaufte durch die Nase.»Und du kennst mich auch.«
Kasutin wurde vorsichtig. Er betrachtete Babajew genauer und schüttelte den Kopf.»Betrunken siehst du nicht aus.«
«Ich war immer ein ehrlicher Mensch, immer vertrauenswürdig, immer verschwiegen, diskret wie eine weiß getünchte Mauer, ein ehrlicher Freund, ein fleißiger Bürger, ein treuer Kommunist, ein anständiger Christ.«
«Willst du ein amtliches Führungszeugnis?«fragte Kasutin ungeduldig.»Wer um 9.00 Uhr morgens zu mir kommt.«
Babajew hob beide Arme, als müsse er einen Geist beschwören, zog dann die Vergrößerungen aus dem Kuvert und legte sie mit den Vorderseiten nach unten auf den Tisch. Kasutin spürte ein Kribbeln unter seinen Haaren. Die große Angst aller Russen, in seiner Umgebung könne sich ein Spion oder sonst etwas Staatsgefährdendes herumtreiben, ergriff auch ihn. Bisher war Nowo Korsaki von solchen Problemen verschont geblieben, mit Ausnahme des Streits, den Kasutin mit der Parteileitung in Magnitogorssk hatte ausfechten müssen, von der ihm vorgeworfen worden war, er dulde noch immer eine Kirche und einen Popen in seiner kleinen Stadt. Das sei eine
Schande. Kasutin hatte daraufhin den Ersten und den Zweiten Sekretär der Parteileitung nach Nowo Korsaki zur Jagd eingeladen, damit sie sich selbst ein Bild von der Bevölkerung machen konnten. Auch der Pope, Väterchen Akif, zog mit hinaus in die Wälder. Zwei Trupps wurden gebildet, und irgendwie geschah es, daß sich der Trupp mit den beiden Gästen verirrte und hilflos umherirrte. Der mitgegebene korsakische Bürger Iwan Filippowitsch Putschkin entpuppte sich in dieser Situation als Schwachkopf und Angsthase, der sich auf einen Baumstumpf setzte und resignierte, bittere Tränen weinte und verzweifelt nach dem Popen rief, damit er noch ein letztes Mal beichten könne, bevor die Wölfe ihn zerreißen würden.
Die Gäste aus der Hauptstadt lernten das große Zittern. In der folgenden Nacht, an einem winzigen Feuer, das wegen des nassen Holzes erbärmlich qualmte, hörten sie das Heulen der Mörderrudel, mal näher, mal weiter weg, aber stets um sie herum, und das fuhr ihnen so in die Knochen, daß der Erste Sekretär in dieser Nacht fünfmal hinter einem dicken Baum verschwand, sich hinhockte und seine Angst aus dem Darm drückte.
Und immer wieder heulten die Wölfe. Zuletzt so nahe, daß der halbblöde Iwan Filippowitsch auf die Knie fiel, ein Kirchenlied sang und betete.
«Nun reicht's«, flüsterte damals Kasutin dem Popen Akif zu, der ein Wolfsgeheul so erschreckend nachmachen konnte.»Jetzt werden wir sie retten.«
Väterchen Akif nahm daraufhin sein Gewehr und ballerte los, brüllte und keuchte und brach als Erlöser aus dem Dickicht auf den Rastplatz. Er sah imponierend aus mit seinem eisverkrusteten Pelz und dem gefrorenen Bart.
«Sie sind weg!«schrie er und schwenkte sein Gewehr.»Zwei habe ich erlegt, und die anderen… hui, fort sind sie! Feige Burschen alle! Man muß ihnen nur mutig gegenübertreten, so wie Sie, Genossen aus Magnitogorssk! Bravo, ihr harten Männer!«
Drei Tage später reisten die Parteifunktionäre wieder ab. Von einer Schließung der Kirche wurde nie wieder gesprochen.
Das war also die einzige Schwierigkeit gewesen, die Kasutin bisher gehabt hatte. Nun saß der Fotograf Babajew vor ihm, um 9 Uhr in der Früh, zitternd und bleich, und legte noch unbekannte Fotos vor, denen etwas Ungeheuerliches anhaften mußte.
«Was. was hast du da fotografiert?«fragte Kasutin mit vorsichtiger Stimme.
«Ich nichts. Der Genosse Jankowski. Ich habe die Bilder nur entwickelt und vergrößert.«
Jankowski! Meine Ahnung, dachte Kasutin. Mein Gefühl. Meine innere Stimme. Schon als er das erstemal hier hereinkam, groß, blond, ungehemmt, da wußte ich: Mit dem bekomme ich Schwierigkeiten. Das ist ein Mensch, so kraftvoll, so siegessicher, der spuckt einem ins Gesicht und ruft dazu noch Prost.
Jankowski also. Trotz dreier Unterschriften und vier Stempeln. Welch vollkommene Tarnung! Geologe! Da kommt man mit seinen Instrumenten überall hin, da fällt nichts auf von dem, was man tut. Da kann man zusehen, und der Kerl spioniert.
«Was ist auf den Fotos zu erkennen?«fragte Kasutin gepreßt.
«Ich bitte um strengste Diskretion. «Babajew hob das erste Foto hoch und hielt es Kasutin vor die Augen.»Und bitte Ruhe bewahren.«
Kasutin starrte die Vergrößerung an, beugte sich vor, seine Augäpfel begannen zu vibrieren.
Babajew nickte.
«Das sind Bilder, was?«sagte er gedehnt.
Kasutin nahm den Kopf zurück, wischte sich fahrig über die Augen und zeigte dann auf den flachen Stapel.
«Alle so?«fragte er heiser.
«Ja.«
«Alle mit dem nackten Weib?«
«Alle. Mal von vorn, mal von der Seite, mal von hinten, dann schräg von oben, schräg von unten.«
«Hör auf, Nikita Romanowitsch!«rief Kasutin.»Das ist ja unglaublich!«
«Überzeuge dich. Ein Foto schlimmer als das andere. Das sind
wirklich Gipfelpunkte an Unanständigkeit.«
«Fotos unseres Genossen Jankowski?«
«Das ist es ja, Pjotr Dementijewitsch. «Babajew breitete die Bilder nun nebeneinander aus. Kasutin liefen die Augen fast über. Da dehnten sich die Schenkel, rundeten sich die Hüften, wölbten sich die Brüste, glänzten die Leiber, schimmerten die Schultern, spannten sich die Rückenmuskeln, lockten die Hinterbacken. - Jankowski war ein Meisterfotograf.
«Dies hier ist offensichtlich eine wunderschöne Frau, und sie muß in Nowo Korsaki wohnen«, erklärte Babajew.»Der Film ist vor kurzem erst abgeknipst worden. Jankowski ist aber nie zusammen mit einer Frau gesehen worden. Es sind also heimliche Aufnahmen, es sind Fotos einer Frau, von der niemand weiß, daß sie sich nackt von Jankowski knipsen läßt. Das ist es, was mich so unruhig macht. Welche Frau bei uns ist so schön? Welche hat einen solch himmlischen Körper? Welche hat dieses verborgene Verhältnis zu Jankowski? Diese Fragen machen mich ganz krank.«
Kasutin schwieg. Er starrte die Fotos an und verstand die Aufregung Babajews. So vollkommen alle Bilder waren, jedem fehlte eins — der Kopf. Die Schönheit begann am Unterteil des Halses und endete unterhalb der Knie. Von welcher Seite und aus welcher Perspektive diese unanständigen Fotos auch aufgenommen worden waren — der Kopf fehlte. Dieser Superlativ an Schönheit war anonym… aber es war ein Superlativ, der mitten unter ihnen lebte.
Kasutin räusperte sich, nahm jedes Bild in die Hand, führte es nahe an seine Augen und tastete jeden Millimeter ab.
«Es ist vergeblich«, ließ sich Babajew vernehmen.»Ich habe schon mit der Lupe alles abgesucht.«
«Du bist ein Ferkel, Genosse Babajew!«
«Es geht mir nur um die Aufklärung. Ich will diese Sittenlosigkeit entlarven, will ihr das Wasser abgraben.«
Kasutin ließ die Bilder fallen. Ihr so genauer Anblick erregte ihn mehr, als er zugeben wollte. Außerdem erinnerte ihn die Brustform zu sehr an Dunja Sergejewna. Bei diesem Gedanken erstarrte er plötz-lich innerlich und wurde rötlich im Gesicht. Ein Fetzen Erinnerung explodierte in ihm. Wie sagte Jankowski immer, wenn er draußen im Vorzimmer auf Dunja traf?» Ha, da ist ja meine kleine Eichkatze! Dunja, Sie entwickeln sich zu einer permanenten Gefahr: Sie werden täglich hübscher!«Und was tat Dunja dann? Sie kicherte blöd, rollte mit den Augen und wackelte mit dem Hintern.
Kasutin riß ein Bild an sich, das die Unbekannte von hinten zeigte. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Pjotr Dementijewitsch stöhnte nach innen und nagte an der Unterlippe. Es konnte Dunja sein. Diese ausgeprägte Spalte zwischen den Backen. Der durch die Haut sich drückende, schwache Punkt des Steißknochens. Kasutin kannte Dunjas Körper so gut, daß sein Atem um so mehr zu rasseln begann, je länger er die Fotos betrachtete. Ist das möglich, dachte er verbittert. Sie betrügt mich mit diesem Kerl! Während ich Lenin studiere, läßt sie sich von oben und unten, von rechts und links, von hinten und vorn fotografieren. Welche Verworfenheit! Welcher Sittenverfall! Natürlich hat er sie mit seinen blonden Haaren und seinen blauen Augen herumgekriegt, mit seinen großsprecherischen Erzählungen, mit seinem ganzen verfluchten Talent, Frauen zu gefallen. Dunja Sergejenka! Wie schwer einem das Herz dabei wird!
Kasutin warf die Fotos weg und versteckte seine Hände unterm Tisch. Babajew sollte nicht sehen, wie sie zitterten.
«Es wäre am einfachsten, Jankowski selbst zu fragen«, stieß er hervor.
«Um Gottes willen, das ist unmöglich! Ein Fotograf hat so verschwiegen zu sein wie ein Beichtvater. Der Fotograf ist der enge Vertraute des Kunden. Völlig unmöglich, zu fragen: Victor Semjono-witsch, wer ist die schöne Nackte? Er könnte mich ohrfeigen, und ich dürfte ihn noch nicht einmal anzeigen. Du darfst von den Bildern überhaupt nichts wissen!«
«Und warum zeigst du sie mir dann?«regte sich Kasutin auf.»Warum stiehlst du mir den inneren Frieden?«
Babajew sah Kasutin mit unglücklichen Augen an.»Wir sind Freunde«, sagte er.»Und wir sind Menschen mit eisernen Grundsätzen.
In unserer Mitte ist eine himmlisch schöne Frau auf einem schlechten Weg. Nicht auszudenken, was daraus erwachsen kann. Ehetragödien, Mord, Selbstmord, Kinder weinen um ihre Mutter, ein Vater knüpft sich auf wegen der sittenlosen Tochter… Wir können das alles verhindern, Pjotr Dementijewitsch, wenn wir herausbekommen, wer diese nackte Frau auf den Fotos ist. Man muß sich den Kopf dazu suchen, dann haben wir sie. Man muß Vergleiche anstellen, sich umsehen. Wer könnte einen so schönen Körper haben? Die Auswahl ist ja verschwindend gering. Wer hat schon einen solch vollendeten Leib, solch feste Brüste, solch glatte Schenkel, diese hintere Rundung?«
«Ja, wer hat so etwas?«Kasutin dachte wieder an Dunja Sergejewna und an die Möglichkeit, daß sie mit Jankowski heimlich verbotene Freuden genoß. Im Haus des alten Fessenko war das möglich. Der Alte war schwerhörig, und wenn Dunja oben in Jankowskis Wohnung keuchte und stöhnte, hörte Fessenko das nie und nimmer, vor allem nicht, wenn er in seinem Kriegsbuch schmökerte. Jetzt verstand Kasutin auch, warum Jankowski dem Alten den Bildband von Leningrad mitgebracht hatte.
Er knirschte mit den Zähnen, ballte zornig die Fäuste unterm Tisch und begann vor Wut zu schwitzen.
«Wie stellst du dir das vor?«fragte er Babajew mit rauher Stimme.»Ich kann doch nicht jedes weibliche Wesen ins Parteihaus bestellen und befehlen: Genossin, ziehen Sie sich bitte aus, ich muß Sie von Amts wegen betrachten. - Es würde Männer geben, die diesen Erlaß vorher sehen wollten.«
«Man könnte es anders machen«, sagte Babajew nachdenklich.»Das Gesundheitsgesetz enthält die Vorschrift der Vorsorgeuntersuchung. Wenn du morgen bekanntgibst, daß im Gebiet des unteren Tobol einige Cholera-Fälle auftreten und sich deshalb sämtliche Frauen vorsorglich untersuchen lassen müssen, hast du sie alle hier. Das wäre am unauffälligsten.«
«Das geht nur, wenn Dr. Lallikow mitmacht. «Kasutin starrte Babajew trübsinnig an. Das Mißtrauen gegen Dunja Sergejewna zerfraß ihn. Er nahm noch einmal die Bilder, fächerte sie durch und blieb an dem Foto mit den Schenkeln hängen. Wie ein Blitz schlug es bei ihm ein, diese Haltung kannte er. So saß seine Vera manchmal da, wenn sie aus dem Bad stieg und sich vor dem Spiegel kämmte. Genau so! Ihre Hockerhaltung. Seine Frau Vera. Prachtvolle Schenkel, glatt und wohlgeformt, nach dem Bad schimmernd und nach Rosenseife duftend.
Vera! Die Mutter seiner beiden Kinder. Wie oft war Jankowski schon zu Gast gewesen? Kaum zu zählen! Und jedesmal hatte sich Vera wie ein junges Mädchen benommen, hatte besonders gut gekocht und war herumgehüpft wie ein Fohlen. Völlig verändert war sie jedesmal gewesen, wenn Jankowski sich angemeldet hatte. Ja, genau so war es. Kasutin fiel es wie Schuppen von den Augen. Und die Fotos stimmten dazu. Das waren nicht Bilder der Schenkel eines jungen Mädchens, sondern Bilder einer gesunden, kräftigen Frau von 39 Jahren. Vera Konstantinowna Kasutina! O Gott, halt mich fest, daß ich nicht mein Gewehr aus dem Schrank reiße und zu Jankowski renne! Ich weiß ja gar nichts, ich darf die Fotos ja gar nicht gesehen haben. Es muß alles in der Stille erledigt werden. Bisher war Nowo Korsaki eine Stadt ohne Skandale gewesen.
«Natürlich müssen wir Dr. Lallikow einweihen«, sagte Babajew eindringlich.»Die Reihenuntersuchung kann nur er vornehmen. Dann wird es ganz einfach sein. Ich stehe hinter einer Wand, gucke durch ein Loch und habe dabei die Bilder in der Hand. Mein fotografisches Auge sieht sofort, wenn das Modell Jankowskis sich vor Dr. Lallikow dreht. Ich gebe dir dann ein Zeichen.«
«Es wird unmöglich sein. «Kasutin schüttelte den Kopf.»Dr. Lallikow wird nie zulassen, daß du dir alle Frauen von Nowo Korsa-ki nackt betrachtest. Welch ein Gedanke!«
«Aber Dr. Lallikow darf das schon?«
«Dafür hat er Medizin studiert. Ärzte im Amt sind geschlechtslose Wesen. Ein wirklich schwerer Beruf. «Kasutin blickte aus dem Fenster. Draußen fuhr der dicke Baubeauftragte Zwetkow vorbei; er war der einzige, der einen großen Wolga-Wagen besaß. Seine Frau,
Antonina Pawlowna, saß neben ihm. Sie war bekannt für ihre Schönheit, nur schminkte sie sich zu stark. Beim Fest der Komsomolzen hatte sie den ganzen Abend mit dem Geologen Jankowski getanzt. Der gutmütige Zwetkow hatte sich darüber gefreut, er war fürs Tanzen zu dick geworden.
Kasutin erstarrte, blickte wieder auf die unanständigen Fotos und wurde von Zweifeln zerrissen. Dunja, Vera oder vielleicht Antonina Zwetkowa? Babajew hatte recht: Hier mußte eine Klärung erfolgen. Es war mörderisch, mit dieser Ungewißheit zu leben. Die nackte Schöne mußte einen Kopf bekommen und damit eine Identität.
Kasutin griff zum Telefon und rief Dr. Lallikow an.»Ich brauche Sie dringend, Simon Michailowitsch«, sagte er heiser.»Mir zerspringt sonst der Kopf.«
Dr. Lallikow kam sofort. Er war ein kleiner, fetter Mensch und trug eine Brille, deren Gläser so dick und geschliffen waren, daß jedem, der nur die Brille ansah, sofort die Augen tränten. Er war kurzatmig, was er aber nicht seiner Fettleibigkeit zuschrieb, sondern einem rein psychischen Leiden, erzeugt von seinen teuflischen Patienten, die ihm die Lunge einengten und das Herz abdrückten, wie er behauptete.
Von der Ausbildung her war Lallikow nämlich Chirurg und hatte Jahre davon geträumt, Chefarzt einer großen Klinik zu werden. Aber dann war ihm der Hodenbruch des Vorsitzenden des Eisenkombinats >Ehre des Ural< in Swerdlowsk dazwischengekommen. Boris Nikolajewitsch Werschokin, so hatte der einflußreiche Mann geheißen, hatte sich mit seinem lästigen Bruch in die Hände von Dr. Lallikow gegeben, in der berechtigten Hoffnung, nach wenigen Tagen wieder herumspringen zu können wie ein Böcklein. Lallikow hatte phantastisch operiert, weggeschnitten, ausgeräumt, geradezu künstlerisch genäht, aber als der Genosse Werschokin frohgemut wieder ins häusliche Reich zurückgekehrt war und seine liebebedürftige Frau Praskuja ihren Erwartungen handgreiflichen Ausdruck verliehen hatte, war ihr ein Entsetzensschrei entfahren, während Boris Nikolajewitsch in einen erstarrenden Schock gefallen war.
Die Sache war nicht mehr reparabel gewesen: Dr. Lallikow hatte den Vorsitzenden Werschokin in höchster künstlerischer Vollendung entmannt. Natürlich war der Skandal unterdrückt worden und hatte man Werschokin daran hindern können, Lallikow die Hirnschale einzuschlagen, aber mit der großen Karriere des Chirurgen Lalli-kow war es ein für allemal vorbei. Dr. Lallikow hatte in der Klinik die Obduktion der Gestorbenen, deren Todesursachen nachgegangen wurde, übernehmen müssen. Er hatte sich vor Kummer dann in drei Jahren seinen ungeheuren Bauch angefressen und schließlich entnervt aufgegeben. Er war nach Nowo Korsaki gezogen, wo man eine Arztstelle ausgeschrieben hatte. In seiner Praxis dort raunzte er die Patienten an und wurde vor Gram immer dicker und kurzatmiger.
«Wenn man bedenkt«, sagte er manchmal,»daß ich dazu ausersehen war, ganze Organe zu verpflanzen und die Chirurgie zu revolutionieren, nun aber hier in den Wäldern herumsitze und festsitzende Fürze lockern muß, dann fällt das Elend der ganzen Menschheit auf mich hernieder.«
Daß er nach Kasutins Anruf sofort kommen konnte, verdankte er seiner Art, mit den Patienten umzuspringen. Mit dem Parteisekretär verband ihn die Liebe zum Schachspiel, das die einzige Abwechslung war, die sich Dr. Lallikow gönnte, es sei denn, man rechnete zu seinen Liebhabereien noch das wöchentliche Klistier hinzu, das er dem Popen Väterchen Akif verabreichen mußte.
«So weit geht Gottes Güte nicht, daß er sich auch noch um den lahmen Darm seines Popen kümmert!«rief Dr. Lallikow jede Woche einmal mit unterdrückter Freude in der Stimme, wenn Väterchen Akif mit verkniffenem Gesicht auf dem Bauch lag und seinen nackten Hintern ihm entgegenstreckte.»Väterchen, tief Luft holen. Jetzt gurgeln wir mal kräftig.«
An diesem Morgen nun, nach Kasutins Notruf, riß Dr. Lallikow die Tür zu seinem Wartezimmer auf, überblickte die Schar der wartenden Patienten und brüllte:»Fließt einer weg? Nein! Fällt einer um? Nein! Ihr könnt alle warten, ihr glotzäugigen Simulanten! Ich muß weg zu einem lebensbedrohlichen Fall!«
Da niemand wagte, Dr. Lallikow zu verärgern — schließlich war er der einzige Arzt in Nowo Korsaki, und man wußte nie, ob man ihn nicht bald wirklich dringend brauchen würde —, nickten sie alle, machten traurige Gesichter und blieben geduldig sitzen.
Auch das hatte seinen Sinn, denn wenn Lallikow nicht in der Praxis war, gab es immer noch die Sprechstundenhilfe Marfa Felixowna.
Marfa hatte eigentlich Schneiderin gelernt, was Lallikow als beste Eignung dazu ansah, Verbände zu wickeln und Fäden zu ziehen. Und tatsächlich hatte sich Marfa gut eingearbeitet. Sie schmiß die Praxis zu 80 Prozent allein, bildete sich durch die Lektüre von Fachzeitschriften weiter und stieß dabei auf den Titel >Medizinische Assistentin^ Da sie mit Berechtigung annahm, die Arbeit einer solchen bei Dr. Lallikow zu verrichten, verlangte sie ab sofort, daß man sie >Frau Assistentin< titulierte. Die Patienten schwenkten willig um und begrüßten sie ehrfurchtsvoll mit der neuen Bezeichnung, denn kein Mensch fühlt sich armseliger als ein Patient, der voll und ganz der Gnade ärztlicher Behandlung ausgesetzt ist. So kam es, daß man aufatmete, wenn Dr. Lallikow plötzlich die Praxis im Stich lassen mußte und Marfa Felixowna den Laden übernahm. Erstens ging dann alles schneller, zweitens wurde man nicht beschimpft, drittens hatte Marfa sensible, weiche Hände, von denen man sich gern abtasten ließ, und viertens stimmten ihre Diagnosen fast immer. Sie waren differenzierter als jene von Dr. Lallikow. Wenn Lallikow brüllte:»Du hast Rückenschmerzen, sagst du? Da haben wir es wieder! Hast gestern am Sonntag wieder gefressen wie ein Bär, und jetzt staut sich alles im Darm! Komm wieder, wenn du den Kübel voll hast!«, dann konnte man von Marfa Felixowna hören:»Das böse Rheuma. Hier hast du eine gute Salbe. Abends kräftig in den Rücken einmassieren.«
Man kann verstehen, daß man Marfa als einen wahren Segen ansah, der aber leider ohne Dr. Lallikow nicht möglich war.
Kasutin und Babajew zuckten zusammen, als Dr. Lallikow in das
Parteibüro stürmte und die Sekretärin Dunja Sergejewna mit der Bemerkung ausschaltete:»Halt den Mund, Druckflecke kann man überpudern.«
Kasutin zuckte wie unter einem heftigen Schlag zusammen und starrte den Arzt irritiert an.»Was sagen Sie da, Genosse Lallikow?«fragte er mit rostiger Stimme.
«Sie haben nichts gehört«, knurrte Lallikow und setzte sich neben Babajew.»Ich unterliege der ärztlichen Schweigepflicht.«
«Wieso hat Dunja Sergejewna Druckflecken?«fragte Kasutin trotzdem mit einem Beben in der Stimme.»Und wo, bitte, hat sie diese?«
«Warum sollte ich sofort kommen?«wich Lallikow aus.
«Wegen der Schweigepflicht«, warf Babajew dazwischen.
«Die ist eisern.«
«Dem Himmel sei Dank. «Babajew rieb sich die Hände.»Sie können uns eine wertvolle Hilfe sein, Doktor.«
Kasutin winkte mit beiden Händen ab.»Was ist mit Dunja?«bohrte er weiter.»Genosse Lallikow, als Parteisekretär und Arbeitgeber bin ich für das Wohl meiner lieben Bürger verantwortlich. Wieso tauchen bei Dunja Sergejewna Druckflecken auf? Seit wann? Sind sie mechanischen oder animalischen Ursprungs? An welchen Stellen befinden sie sich?«
«Es geht darum«, sagte Babajew und begann auf einmal zu schwitzen,»eine Frau ohne Kopf zu finden.«
«Ha!«Lallikow zuckte von der Stuhllehne.»Ein Mord?«Sein Herz schlug einen Wirbel. Er hatte sich schon immer gewünscht, als medizinischer Sachverständiger in einem Kriminalfall tätig werden zu können, um zu beweisen, wie messerscharf seine Gedanken noch waren. Aber in Nowo Korsaki passierte nichts; die Menschen dort stanken vor Ehrbarkeit. Als einmal, vor vier Jahren, der Überlandfahrer Sergeij die Tochter des Tischlers Njemlenko gewaltsam geschwängert hatte, war der Fall sofort erledigt gewesen, als Sergeij das Mädchen heiratete. Von Drama gar keine Rede. Die Menschen in Sibirien barsten vor Ehrlichkeit. Aber nun das! Eine Frau ohne Kopf!
In Nowo Korsaki! Dr. Lallikow bekam einen seiner kurzatmigen Anfälle und mußte sich an der Tischkante festhalten.
«Ein Lustmord?«keuchte er mit hervorquellenden Augen.»Mißbraucht und dann Kopf ab? Hui! Durch den Ort weht ein böser großstädtischer Wind. Wo kann man die Dame besichtigen?«
«Hier. «Babajew legte seine Hände auf die Fotos.»Ich habe sie vergrößert.«
«Was haben Sie?«fragte Lallikow atemlos.
«Ich habe zwölf Fotos von ihr. Von oben und unten, von allen Seiten.«
«Toll.«
«Aber der Kopf fehlt.«
«Natürlich. «Dr. Lallikow streckte die Hand aus und wedelte mit den Fingern.»Geben Sie her. Reden Sie nicht so viel, Nikita Romanowitsch. Ist es eine saubere Köpfung? Ich meine: ein glatter Schnitt? Die Fotos her! Behindern Sie nicht die Wahrheitsfindung.«
«Es geht uns darum, Doktor«, sagte Kasutin und zog die Fotos an sich heran, bevor Lallikow sie ergreifen konnte,»ob Sie die Unbekannte identifizieren können. Ob Sie sie auch ohne Kopf erkennen, nur anhand ihres Körpers? Die Brüste, der Bauch, die Schenkel.«
«Sie ist nackt?«fragte Lallikow und schnaufte schwer.
«Ja, völlig.«
«Einwandfrei ein Sexualdelikt.«
«Man kann es wohl so nennen«, sagte Babajew.»Auf jeden Fall ist das für unsere Stadt ein riesiger Skandal. Da läßt sich eine Frau nackt fotografieren.«
«Wenn man keinen Kopf mehr hat, ist das noch verzeihlich. «Lallikow setzte sich wieder. Sein Asthmaanfall war vorüber.»Wo liegt die Frau? Der Körper selbst gibt mehr Aufschluß als die Fotos.«
«Wir haben nur die Bilder. «Kasutin seufzte.»Das ist es ja, Genosse Lallikow, wir haben nur die Fotos ohne Kopf und wollen nun wissen, wer es ist. In Ihrer Praxis sind doch schon alle Frauen von Nowo Korsaki gewesen, es könnte deshalb möglich sein, daß Sie anhand besonderer Körpermerkmale zu sagen vermögen: Das ist die
Genossin soundso.«
«Wer hat die Tote fotografiert?«
«Der Geologe Jankowski.«
«Mein Gott!«Dr. Lallikow rang nach Atem.»Das ist doch unmöglich, Victor Semjonowitsch ist doch kein Mörder!«
«Die Fotos zeigen auch eine Lebende«, sagte Babajew laut.
«Ohne Kopf?«brüllte Lallikow.»Seid ihr am Morgen alle schon besoffen?«
«Er hat den Kopf weggelassen. Jedes Bild fängt am Hals an. Das ist ja die Frechheit. Da fotografiert er einen nackten Frauenkörper und läßt den Kopf weg. Eine Infamie! Eine tiefe seelische Belastung für jeden!«Kasutin verschluckte sich vor Erregung, hustete bellend und erholte sich davon nur mühsam. Seine Stimme blieb im halben Diskant hängen.»Man kommt auf Gedanken, Doktor, auf Gedanken kommt man… es zerreißt einen förmlich. Und man kann Jankowski nicht fragen. Babajew ist als Fotograf ebenso eine Vertrauensperson wie Sie als Arzt eine sind. Aber das nackte Weib kann man nicht übersehen, es ist da, es lebt unter uns, und es posiert nackt vor Jankowskis Linse. «Kasutin röchelte fast.»Sehen Sie sich das an!«
Dr. Lallikow blätterte die Fotos durch, beäugte sie eingehend und putzte ein paarmal seine dicke Brille, weil die Gläser beschlugen.»Hervorragend«, sagte er dabei.»Sehr schön. Überzeugend. Nana-na, das ist eine Perspektive! Ha, wie reizend! Das ist mit dem Blick des Liebenden gestaltet. Nein, diese Formen! Nicht ein Fältchen. Nicht ein Fettpölsterchen. Nichts hängt herum.«
Kasutin vergrub den Kopf in beide Hände und starrte den Arzt verzweifelt an.
«Welche Frau in unserer kleinen Stadt hat so einen Körper?«fragte er dumpf.»Wer könnte es sein? Simon Michailowitsch, ich frage in Ihnen jetzt nicht den Arzt, sondern den Genossen unserer ruhmreichen Kommunistischen Partei. Blicken Sie auf das Bild Lenins, sehen Sie in seine Augen, erkennen Sie in seinem Blick unseren Auftrag: Die Wahrheit zum Wohle des Sozialismus! Sie müssen reden,
Dr. Lallikow! Es ist Ihre Pflicht als Parteimitglied. Sie dienen damit der Ruhe von Nowo Korsaki.«
Dr. Lallikow legte die zwölf Fotos wieder nebeneinander und betrachtete sie erneut eingehend. Babajew rauchte mit zitternden Fingern eine Papyrossa, Kasutin schlürfte den kalten Tee vom Frühstück. Wenn er Vera sagt, erschieße ich Jankowski, dachte der Parteisekretär dabei. Wenn er Dunja Sergejewna sagt, erschieße ich beide. Wenn es die vornehme, stolze Zwetkowa ist, besaufe ich mich vor Freude. Das gönne ich dem ekelhaften Zwetkow, der sich an Staatsbauten bereichert.
«Es ist schwer«, sagte Dr. Lallikow langsam und bedächtig.»Einen so vollendeten Frauenkörper habe ich kaum in meiner Praxis gesehen. Allerdings — es gibt einige. Wenige! Seltenheiten!«
«Namen!«sagte Kasutin heiser.»Bitte, Namen, lieber Genosse.«
«Das ist gefährlich.«
«Könnte es auch meine Frau Vera sein?«
«Nein. Völlig ausgeschlossen. Ihre Brüste hängen etwas durch.«
«Das stimmt«, sagte Kasutin noch heiserer.»Zwei Kinder, Genosse.«
«Eben. «Lallikow klopfte mit den Knöcheln auf die Fotos.»Das hier ist ein jungfräulicher Busen. Knackig wie eine Melone. Auch am Leib sieht man's. Der hat noch nicht geboren. Das ist ungepflügte Natur.«
«Namen«, sagte Kasutin wieder.»Bitte.«
«Nur Hypothesen.«
«Natürlich. Sie sollen doch nur Anhaltspunkte sein.«
«Es könnte sich aber auch um Galina Iwanowna handeln.«
«Nein!«Babajew war emporgezuckt.»Die Kleine aus dem Magazin? Dieses freundliche Wesen, das mir immer ein Stückchen Käse mehr gibt, weil ich ihr Schreibpapier besorge?«
«Oder auch Alia Philippowna.«
«Das wäre möglich. «Kasutin strich sich über die Nase.»Die Witwe Sitkina ist ein kleines Teufelchen. Seit sie von dem alten Sitkin befreit wurde, sollen die Kerle um ihr Haus streichen wie die Ka-ter. Die Witwe Sitkina — das wäre vielleicht die Lösung.«
«Aber sie hat unter der linken Brust einen Leberfleck — wo ist der?«Dr. Lallikow betrachtete ein Foto genau.»Nichts zu sehen. Ohne Leberfleck kann ich Alla Philippowna nicht identifizieren. Ha, ist das schwer! Wenn ich genau hinschaue, es könnte auch Rimma Ifa-nowna sein.«
«Die Korbflechterin?«Babajew schüttelte den Kopf.»Wir wissen, daß sie leicht verblödet ist. Fiel als Kind aus dem Fenster, und seitdem ist nichts mehr mit ihr los. Korbflechten hat sie noch gelernt. Völlig unmöglich, daß Jankowski, ein Ästhet, wie man sieht, sich Rimma Ifanowna genähert hat.«
«Ihr Körper ist zauberhaft und makellos«, sagte Dr. Lallikow.»Sie ist das hübscheste Mädchen von Nowo Korsaki. Warum soll Victor Semjonowitsch sich bei geistigen Werten aufhalten, wenn er unvergleichliche körperliche bekommen kann? Warum also nicht Rimma Ifanowna?«
«Und wie ist es mit Dunja Sergejewna?«fragte Kasutin gewollt leichthin.
Dr. Lallikow beäugte die Fotos wieder.
«Warum nicht?«sagte er nach einer qualvoll langen Betrachtung.»Die Schenkelchen könnten stimmen. Auch der Hintern.«
Sag ich's doch, dachte Kasutin. Meine Ahnung. Mein Gefühl. Dunja und Jankowski. Es ist ihr Hintern. Dafür kenne ich ihn viel zu gut. Besser jedenfalls als Dr. Lallikow, der wieder die Stirn runzelt. Halten Sie ein, Genosse, es ist Dunja Sergejewna. Eine so süße Gesäßfalte hat nur sie. Ich armer Mensch! Ich Geschlagener!
«Aber es könnte auch Antonina Pawlowna sein«, sagte Lallikow.
Babajew stieß laut die Luft aus.»Die Frau des Genossen Zwetkow?«
«Sehr attraktiv. Auch sie noch kinderlos. Aber das liegt an Zwetkow. Rassul Alexejewitsch ist zu dick. Ersparen Sie mir Details, Genossen. Aber Antonina Pawlownas Körper könnte es auch sein. Ein Leib wie aus Marmor. «Dr. Lallikow putzte sich die Nase und rieb wieder seine Brillengläser.»Das ist wirklich eine schwere Aufgabe, meine Lieben. Ein Göttinnenleib — und dann kein Kopf. Da ist auch ein Arzt überfordert. Wir sehen die Patientinnen meist in einer besseren Verfassung.«
«Aber im Prinzip!«keuchte Kasutin.»Im Prinzip, Genosse!«
«Im Prinzip könnte es auch Stella Gawrilowna sein.«
«Ich passe«, sagte Babajew erschüttert.»Wieso hat unsere Friedhofsgärtnerin eine solch herrliche Figur?«
«Da muß man den lieben Gott fragen. «Dr. Lallikow tippte auf zwei Fotos.»Das hier sieht ganz nach Stella Gawrilowna aus. Diese Hüften! Ich möchte sagen: fast unverkennbar. Und der Schwung des Leibes — ich weiß noch genau, wie mir durch Zufall ein Tablettenröhrchen von ihrem Nabel bis zwischen ihre Schenkel gerollt ist. Gelacht hat sie da, gelacht!«
«Das glaube ich auch. «Kasutin nagte an der Unterlippe.»Wie viele haben wir jetzt?«
«Genug, um zu verzweifeln«, sagte Babajew.»Es ist unmöglich, daß Jankowski mit allen so intim war, daß.«
«Warum nicht?«Dr. Lallikow hüstelte, was die Spannung noch hob.»Jankowski ist ein strammer Bursche. Zweiunddreißig Jahre alt. Ein Baum im besten Saft. Und wie lange weilt er schon in Nowo Korsaki? Na — bestimmt schon neun Monate. Liebe Genossen, was kann ein Mann wie Jankowski in neun Monaten alles leisten? Wir müssen alles in Betracht ziehen. Alles und alle. Diese Fotos beweisen: Jankowski ist ein hervorragender Kenner der Schönheit. Und die Frau, die er verewigt hat, ist es wert. Als Arzt habe ich genug Vergleichsmöglichkeiten, um zu urteilen: Das hier ist ein einmaliger Körper.«
«Und das in unserer Stadt!«
«Ja! Das sollte uns stolz machen!«
«Eine Venus ohne Kopf!«
«Den setzen wir ihr auf!«Dr. Lallikow wurde nun auch von einer Art Jagdfieber befallen. Er sah das ganze Problem sportlich: Eine Schnitzeljagd mit noch unbekanntem Ziel, die Entdeckung von Neuland; die Vollendung eines Puzzles. Die Aufgabe mußte zu lösen sein.»Zählen wir zusammen, was wir haben. Genosse Kasutin, schrei-ben Sie mit. Es kommen in Frage: Antonina Pawlowna Zwetkowa — Alla Filippowna Sitkina — Galina Iwanowna — Rimma Ifanowna — Stella Gawrilowna.«
«Und Dunja Sergejewna?«fragte Kasutin heiser.
«Auch. Muß ebenfalls auf die Liste.«
«Muß auf die Liste. «Kasutins Hand bebte, als er den Namen hinschrieb. Von seinem Nacken rann Schweiß in das Hemd und über den Rücken.»Und wie geht es jetzt weiter?«
«Wir fangen da an, wo es meistens endet: beim Friedhof. «Dr. Lal-likow rieb sich die Hände.»Stella Gawrilowna arbeitet eng mit dem Popen zusammen. Es kann sein, daß Mamedow zufällig gesehen hat, daß Jankowski mit Stella über Gebühr lang gesprochen hat. Vielleicht hat er sie sogar im Gärtnerhaus besucht? Wir werden Väterchen Akif befragen.«
«Das bedeutet, daß wir den Popen einweihen müssen«, sagte Ka-sutin sauer.
«Er wird glücklich sein, Sünden in seiner Gemeinde zu entdecken. Außerdem bleiben wir unter uns: Ein Arzt, ein Priester, ein Fotograf und ein Parteisekretär sind die Vertrauten der Bürger. Wir sind die Klagemauer. Wir schlucken alles. Es wäre unfair, den Popen auszuschließen.«
«Er wird am wenigsten Auskunft darüber geben können«, sagte Kasutin abweisend,»wer die nackte Frau auf den Fotos ist.«
«Auch da hat man sich schon getäuscht. «Dr. Lallikow lächelte breit und fett.»Man soll keinen Menschen unterschätzen.«
Wer die Kirche betrat, ganz gleich, welche Stellung er im Leben einnahm und wie er hieß, kehrte Ehrfurcht heraus spätestens in dem Augenblick, in dem er AkifVictorowitsch Mamedow bemerkte. Wenn der Pope um die Ikonostase herumkam, im wallenden Gewand, mit abstehendem weißen Bart, mit dichten Brauen, feurigen Augen und einer Stimme, die eine Ahnung von den Auferstehungsfanfaren vermittelte, dann schlug jeder das Kreuz und kam in jene Stimmung, die Lenin mit einem Opiumrausch verglich.
Akif Victorowitsch, der an diesem Vormittag hinter der Ikonostase auf einem Schemel saß und zwei vergoldete Messingkreuze polierte, hörte mit Verwunderung die Kirchentür knarren. Er überlegte, wer wohl jetzt so von Sünde geplagt sein könnte, daß er priesterlichen Beistand nötig hatte, und legte den Putzlappen weg. Die Kirche von Nowo Korsaki war arm, sie konnte sich keinen Kirchendiener leisten, alles mußte Mamedow selbst machen, und wenn nicht einige alte Frauen freiwillig und für das Versprechen, in den Himmel zu kommen, den Boden aufgewischt, Staub weggewedelt und die Fenster poliert hätten, wären an Väterchen Akif auch diese Tätigkeiten noch hängengeblieben. Es war schon mühsam gewesen, für die Gottesdienste einen Vorsänger zu finden, denn die Alten waren nicht mehr kräftig bei Stimme, und unter den Jungen hetzte die Partei gegen den Popen und sagte ihnen, wer in die Kirche ginge oder sich sogar zum Vorsänger hergäbe, verrate den großen Vater Lenin und sei nicht würdig, in der Volksgemeinschaft ernst genommen zu werden.
Väterchen Akif mußte deshalb mit etwas vorliebnehmen, das einmalig im orthodoxen Gottesdienst ist: Er ließ die Jungfrau Stella Gawrilowna vorsingen. Ganz richtig — die Friedhofsgärtnerin von Nowo Korsaki. Kasutin nannte das einen ganz üblen Dreh, aber mit Stella war nicht zu reden.»Ich singe gern«, gab sie bei fünf Vorladungen vor dem Parteiausschuß zu Protokoll.»Wo steht bei Lenin, daß ein Russe nicht singen darf?«
«Aber in der Kirche!«brüllte Kasutin.
«Ich singe auch bei den Komsomolzen und zur l.-Mai-Feier und zur Oktoberrevolution, wenn man mich darum bittet«, antwortete Stella Gawrilowna.»Ich stehe mit meiner Stimme jedem zur Verfügung.«
Natürlich hatte Kasutin sie daraufhin nie gebeten. Um so stärker brodelte in ihm nun der Triumph, dem Popen klarzumachen, daß Stella anscheinend auch noch anderswie jedem zur Verfügung stand, wenn man sie darum bat. Für Kasutin bedeutete diese Stunde eine gewonnene Schlacht gegen die Reaktionäre.
Akif warf den Putzlappen weg, ordnete sein Priestergewand, kämmte mit gespreizten Fingern seinen Bart, klemmte das größte der geputzten Kreuze unter den Arm und betrat mit großer Würde den Kirchenraum. Er erschrak aber doch, als er Kasutin, Babajew und Dr. Lallikow aufgereiht nebeneinander stehen sah, als wollten sie einen Kanon singen.
«Die Dreieinigkeit des Satans«, sagte Väterchen Akif dröhnend. Er hob das Kreuz, machte das Segenszeichen und blieb vor der Ikonostase stehen.»Was bringt ihr Verdammtes, meine Söhne?«
«Wir kommen privat«, sagte Kasutin mit breitem Lächeln, das Akif hätte warnen müssen. Wenn Kasutin in der Kirche lächelte, mußten die Pforten des Paradieses eingestürzt sein.
«Es ist sehr wichtig«, ließ sich auch Babajew vernehmen. Mit Babajew hatte Väterchen Akif weniger Probleme — er fotografierte mit Könnerschaft kirchliche Feiern an Ostern und Weihnachten. Ein großes Foto von ihm, das Mamedow in vollem Ornat beim Osteropfer zeigte, hing in der Wohnung des Popen gleich neben der schönen Ecke mit dem ewigen Licht.
«Wir brauchen Ihren wertvollen Rat«, schloß Dr. Lallikow den rätselhaften Aufzug ab.
AkifVictorowitsch geriet in einen vakuumähnlichen Zustand. Mit Dr. Lallikow verband ihn keine direkte Freundschaft, dazu war der Arzt ein zu guter Kommunist und Parteigenosse, aber der Pope rechnete es Lallikow immer hoch an, wenn dieser am Bett eines armen Kranken sagte:»Hier kann kein Pülverchen mehr helfen, nur noch Gott. «Die besorgte Verwandtschaft schickte dann selbstverständlich sofort nach dem Popen, und Akif gelang es stets, Lallikows Patienten würdig und mit gereinigter Seele sterben zu lassen. Dieses Hand-in-Hand-Arbeiten erzeugte eine große gegenseitige Achtung. Wenn also Dr. Lallikow nun in der Kirche erschien und um Rat bat, mußte es sich um eine gewaltige Verfehlung handeln.
Väterchen Akif stellte das Kreuz behutsam auf einen Tisch, winkte mit der Hand und sagte:»Kommt mit. Wir können dabei auch einen Erdbeerwein trinken.«
Das kam fast einer Drohung nahe. Jeder wußte, daß der Pope selbst einen Erdbeerwein kelterte, der von durchschlagender Wirkung war und einer Rizinuskur in nichts nachstand. Nur bei Akif selbst versagte der Wein, was zu den wöchentlichen Klistieren führte, die Dr. Lallikow stets mit Bibelsprüchen begleitete. Akif war gegen soviel Bibelwissen machtlos.
Im Wohnzimmer setzte man sich um einen runden Tisch. Akif holte Gläser und eine dunkelgrüne Literflasche mit seinem höllischen Wein. Man wartete höflich, bis er eingegossen hatte, dann legte Babajew seine Vergrößerungen auf den Tisch, zunächst wieder mit den Vorderseiten nach unten. Der Pope zog das Kinn an, sein weißer Bart sträubte sich heftig, die Augen blickten mit fordernder Schärfe.
«Ich höre«, sagte er laut, als niemand sprach.
«Machen wir es kurz«, erklärte Kasutin mit heller Stimme. Er zitterte seinem Triumph entgegen.»Er muß ja schweigen.«
«Eine gemeinsame Beichte?«Akif atmete tief ein.»Haben sich die politischen Verhältnisse plötzlich geändert?«
«Hier!«Kasutin ergriff die Bilder, drehte sie um und warf sie vor dem Popen wieder auf den Tisch. Schultern, Busen, Hüften, Schenkel, Hinterbacken.
Dr. Lallikow sah Kasutin vorwurfsvoll an.
«Sie Rohling«, sagte er anklagend.»Väterchen könnte einen Schock bekommen.«
AkifVictorowitsch warf einen langen Blick auf die Fotos und sagte dann ruhig:»Ein Weib.«
«Er erkennt es. «Kasutin lächelte breit.»Das enthebt uns weiterer Erklärungen. Was ist Ihre Meinung, Genosse Mamedow?«
Väterchen Akif, dem das >Genosse Mamedow< von jeher wie ein Stein im Magen lag, schob die Fotos zusammen, als sei für ihn die Sache beendet.»Ein schönes Weib«, ergänzte er und griff zu seinem Glas Erdbeerwein.»Ihr niedrig denkenden Individuen: Jede Schönheit ist Gottes Werk. Ob eine Rose blüht, eine Birke sich schlank im Wind wiegt oder ein Sonnenstrahl auf eines Mädchens Busen fällt. Gott lächelt immer.«
«Damit können wir gehen«, sagte Dr. Lallikow nüchtern.»Mehr ist nicht zu erwarten in diesen geweihten Räumen.«
«Wir haben gedacht, Sie kennen diese Frau«, ließ sich Babajew vernehmen.
Väterchen Akif zuckte zusammen, stellte sein Glas, ohne getrunken zu haben, hin und brüllte erbost:»Iiiich?«
«Wir meinen.«, krächzte Babajew und kroch in sich zusammen.
«Ich? Ihr kommt zu mir, zeigt mir ein nacktes Weib und erwartet von mir die entsprechende Auskunft? O Gott dort oben, was muß ich leiden unter diesen Menschen! Wie tief gesunken sind diese Kreaturen! Hinaus mit euch!«
«Ich will nur einen Namen nennen.«
«Hinaus!«
«Könnte die Nackte nicht Stella Gawrilowna sein?«
«Nein!«brüllte Väterchen Akif.
«Sind Sie so sicher?«
«Ja!«
Dr. Lallikow schabte über seine Nase, aber es gab kein Zurück mehr. Man war unter sich, wie gesagt, man war die Gemeinschaft der Schweiger.
«Wieso sind Sie so sicher?«fragte er.»Akif Victorowitsch, ich als Arzt würde in diesem Fall nicht so sicher sein.«
«Aber ich!«Akif ließ die mächtige Faust auf die Bilder fallen. Er blickte noch einmal hin und schüttelte dann wieder den Kopf.»Es ist nicht Stella Gawrilowna! Wo sind die Haare?«
«Der Kopf fehlt ja«, sagte Kasutin tadelnd.
«Wer redet denn vom Kopf?«
Babajew seufzte und schloß erschüttert die Augen. Kasutin wurde rot wie eine Mohnblume. Dr. Lallikow faltete die Hände über seinem kugeligen Bauch, als wolle er zu einer Litanei ansetzen. Nur Akif, das strenge Väterchen, war empört und sich der soeben ausgesprochenen Offenbarung nicht bewußt.
Väterchen Akif zuckte zusammen, stellte sein Glas, ohne getrunken zu haben, hin und brüllte
erbost.
«Es stimmt!«sagte Kasutin endlich gepreßt.»Sie ist haarlos. Genosse Dr. Lallikow, warum haben Sie, als Arzt, so etwas nicht sofort gesehen? Müssen wir dazu einen Priester haben?«
«Ich habe auf Formen geachtet, nicht auf Löckchen!«rief Lalli-kow beleidigt.
«Mäßigen Sie sich!«schrie Kasutin erregt. Sein Triumph über Akif fiel in sich zusammen.»Wir stehen vor einer völlig neuen Situation: Die nackte Frau hat sich am Körper rasiert.«
«Pfui!«meinte Babajew voller Abscheu.
«In unserer Stadt rasiert sich eine Frau und läßt sich auch noch so fotografieren. Das schlägt aller Moral ins Gesicht. Das ist einwandfrei westliche Dekadenz. Damit werden die Fotos politisch und gehen die Parteileitung etwas an. Das ist eine sexuale Unterwanderung unserer Ideologie. Das ist Sabotage mit Hilfe des Unterleibes. Ha, das kann man gar nicht nach Magnitogorssk melden. Das muß unter uns ausgestanden werden. Dieses Laster müssen wir ganz allein in aller Stille ausbrennen. «Kasutin holte tief Luft.»Das Weib rasiert sich… an, an dieser Stelle! Genossen, wir müssen verhindern, daß Nowo Korsaki auf solch widerliche Weise vom Westen verseucht wird. Wir müssen diese Frau unter allen Umständen finden. Dieser haarlose Körper ist eine Kriegserklärung.«
Väterchen Akif grunzte tief, trank mit einem Schluck sein Glas Erdbeerwein aus und starrte dann wieder auf die unanständigen Fotos.
«Also, Stella Gawrilowna scheidet aus«, sagte Dr. Lallikow sachlich.»Akif Victorowitsch verbürgt sich dafür.«
«Seien Sie still!«knirschte Mamedow.
«Wann hatten Sie das letztemal Gelegenheit, sich vom Vorhandensein von Löckchen zu überzeugen?«
«Sie Satan!«Väterchen Akif rollte wild mit den Augen.»Nur Gott allein sieht in eines Menschen Herz!«
«Kennt Stella überhaupt den Geologen Jankowski?«
Akifs Kopf schnellte ruckartig empor.»Was hat Victor Semjo-nowitsch damit zu tun?«
«Von ihm stammen die Fotos!«erklärte Kasutin voll Freude.»Kennt er Stella?«
«Ja«, nickte Akif.»Er holt bei ihr Blumen zur Ausschmückung seiner Wohnung.«
«Hahaha«, lachte Babajew höhnisch.»Was holt er denn für Blümchen? Rittersporn und Fleißiges Lieschen?«
«Auf keinen Fall Männertreu. «Kasutin legte sich voll ins Zeug.»Die Fotos sind neuesten Datums, das wissen wir. Wäre es nicht möglich, daß Stella Gawrilowna sich von heute auf morgen rasiert hat… speziell wegen der Fotos? Und Sie können es noch gar nicht wissen, Väterchen?«
«Ganz frisch rasiert, nicht ein Flaum ist auf den Bildern zu sehen«, sagte Babajew.»Ich habe mit der Lupe gesucht.«
«Wir wissen alle: Stella Gawrilowna besitzt nicht nur eine gute Stimme, sie hat auch einen herrlichen Körper, gefüllt mit Temperament. «Dr. Lallikow zog die Fotos an sich heran.»Wenn man sich hinzudenkt. sie hatte, nein, sie hat lange schwarze Haare. Akif Vic-torowitsch, wann können wir von Ihnen mit genauer Information rechnen?«
Väterchen Mamedow saß zurückgelehnt in seinem Stuhl und starrte hinauf zur rohen Holzdecke seines Zimmers. Er machte einen sehr angeschlagenen Eindruck. Sein stolzer Bart hing traurig herab auf die Brust, seine Finger umkrampften die Tischkante. Er hatte den netten Geologen Jankowski sehr gern gehabt. Jankowski konnte plaudern, war klug und welterfahren — zu welterfahren, wie sich jetzt herausstellte. Ein Fetischist glatter Körperlichkeit. Wer hätte das in ihm vermutet? Ein Mensch, der über griechische Philosophie diskutieren konnte und auch über den Zaroaster-Kult Bescheid wußte. Bei Stella Gawrilowna kaufte er nicht nur Blumen — er kümmerte sich auch um die Wurzeln.
Väterchen Akif redete sich innerlich gut zu. Er zitierte im Geiste die Stelle aus seiner Predigt: >…und vergib deinen Peinigern, denn Verzeihen öffnet den Himmel.< Er sah ein, daß er nie etwas Blödsinnigeres gesagt hatte.
«Nur zum Zwecke der Wahrheitsfindung mache ich noch mit«, sagte er heiser.»Nur, um dem Teufel entgegenzutreten und ihn zu vernichten. Nur deshalb! Es ist meine Pflicht, gegen die Verworfenheit anzutreten.«
«Bravo!«sagte Dr. Lallikow.»Blicken wir auf unsere Liste. Wer steht da noch?«
«Dunja Sergejewna können wir auch streichen«, meinte Kasutin zögernd.»Genossen, bitte keine Fragen, keine scheelen Blicke, kein impertinentes Grinsen, ich schlage sonst um mich. Ich stelle lediglich nüchtern fest: Nach Entdeckung der Rasur scheidet Dunja Serge-jewna mit Sicherheit aus.«
«Mit Sicherheit?«fragte Dr. Lallikow und strich den Namen auf der Liste durch.
«Mit Sicherheit, ja!«schrie Kasutin.»Sind Sie nun zufrieden, Sie Ferkel?«
«Die Wahrheitsfindung, Genosse. «Lallikow lächelte gemein. Seine Brillengläser funkelten.»Aber es bleiben noch genug andere übrig. Da ist die schöne Witwe Sitkina.«
«Ihr könnte man das auch zutrauen«, meinte Babajew.»Man munkelt, sie habe neun Liebhaber. Warum soll nicht Jankowski die Nummer zehn sein? Alla Philippowna ist zu allem fähig.«
«Wen könnte man fragen?«sinnierte Kasutin.»Schließlich fällt plötzliche Haarlosigkeit den anderen auch auf.«
«Das übernehme ich«, sagte Dr. Lallikow.
«Sie?«Väterchen Akif grunzte wohlig.»Wo stehen Sie in der Reihe?«
«Ich bin ihr Arzt!«stieß Lallikow hervor.»Alla Philippowna leidet an einer verschleppten Bronchitis. Sie hüstelt immer. Morgen will sie wieder zu mir kommen. Da informiere ich mich.«
«Diagnostizieren Sie Bronchitis zwischen den Schenkeln?«fragte Akif genußvoll.»O weh, wenn jemand bei Ihnen etwas an der Speiseröhre hat.«
«Es bleibt auf der Liste noch Rimma Ifanowna!«schrie Dr. Lal-likow mit hochrotem Gesicht.»Sie hat die schönsten roten Haare, die man je gesehen hat!«
«So etwas rasiert man sich nicht ab!«sagte Väterchen Akif dröhnend.»Eine Schande wäre das.«
«Rimma wäre blöd genug, dem zuzustimmen«, erklärte Babajew.
«Aber Jankowski ist nicht so blöd. «Kasutin hob die Schultern.»Indes, weiß man es? Wie reagiert ein Glattkörperfetischist auf ein Büschel roter Haare? Vielleicht wie ein Stier, gerade weil sie rot sind? Solche Perverse sind unberechenbar. Doktor Lallikow, was sagt die Medizin darüber?«
«Mein Fachgebiet ist die Chirurgie«, knurrte Lallikow.»Mit der Psychiatrie bin ich immer vorsichtig. Die Psychiater wissen zuviel und im Grunde genommen gar nichts. - Was ist also mit Rimma?«
«Sie könnte man fragen. «Väterchen Akif strich seinen weißen Bart.»Ein gläubiges Kind ist sie. Ihrem Priester wird sie willig Auskunft geben.«
«Rimma kann Ihnen viel erzählen«, sagte Kasutin.
«Dieses im Geiste ruhende Kind lügt mich nicht an.«
«Ich würde mich überzeugen«, schlug Babajew vor.
«Wer entfernt dieses Schwein Nikita Romanowitsch aus meiner Wohnung?«brüllte Mamedow.
«Der Vorschlag des Genossen Babajew ist nicht so abwegig. «Ka-sutin nahm im Sitzen Haltung an.»Denken Sie an das Wort Lenins: >Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!< AkifVictorowitsch, betrachten Sie es als tiefgehende Gewissenserforschung. Es genügt ja ein ganz schneller, keuscher Blick.«
Väterchen Akif schwieg, trank ein zweites Glas Erdbeerwein und schielte auf die Fotos. Er nahm sich vor, mit Jankowski selbst über dessen Interesse an der Friedhofsgärtnerei zu sprechen.
«Die Nächste«, sagte Dr. Lallikow.»Galina Iwanowna. Sie ist verlobt.«
«Da ist es einfach. «Kasutin winkte ab.
«Wieso? Wollen Sie den Bräutigam fragen?«
«Warum nicht?«
«Der Verlobte ist Maxim Ferapontowitsch Lagatin, Gebietsmeister im Mittelgewichtsboxen. Fragen Sie ihn nur, Pjotr Dementijewitsch, Ihr Gesicht kriege ich schon wieder hin. Sie sehen so schon wie ein Affe aus.«
«Sie müssen immer alles komplizieren. «Kasutin lehnte sich zurück und wagte es, einen Schluck von Akifs Erdbeerwein zu trinken. Er schmeckte vorzüglich, süß und süffig, aber das war ja das Teuflische daran. Man trank ahnungslos und hockte dann drei Tage lang auf dem Topf.»Wie kann man bei Galina Iwanowna feststellen, ob Jankowski bei ihr.?«
«Ich weiß, daß Jankowski alles im Magazin kauft und mit Galina sogar schon im Kino war«, unterbrach Babajew.»Der Film hieß: >Wenn der Kranich schreit!< Eine hundertprozentige Liebesgeschichte.«
«Na also, gibt es mehr Klarheit?«Kasutin lachte zufrieden vor sich hin.»Unsere schöne Galina kann es sein.«
«Und Mittelgewichtsmeister Lagatin nimmt die Enthaarung einfach hin?«gab Väterchen Akif zu bedenken.»Wieso hat Galina keinen verbundenen Kopf? Wieso kein blaues Auge? Überhaupt: Wieso läuft Jankowski noch immer mit einem Gesicht herum?«
«Lagatin und Jankowski sind Freunde«, sagte Dr. Lallikow.
«Ein raffiniertes Bürschchen, dieser Victor Semjonowitsch«, lachte Babajew.»Trinkt mit dem Bräutigam seinen Wodka und rasiert dann die Braut.«
«Ein Abgrund«, sagte Väterchen Akif dumpf grollend.»Welch ein Abgrund an Verworfenheit! Ein starkes Herz muß man da haben. «Er dachte an Stella Gawrilowna, an die Blumenkäufe Jankowskis und die möglichen Auswirkungen. Es war menschlich, Jankowski in die Hölle zu wünschen.
«Bleibt also nur meine Wenigkeit«, stellte Dr. Lallikow fest.»Ich werde Galina Iwanowna untersuchen. Dazu habe ich ein Recht. Lebensmittelgesetz: Jede Verkäuferin, die mit offener Ware in Berührung kommt, muß ein Gesundheitszeugnis vorweisen können, ihre Gesundheit also kontrollieren lassen. Dazu gehört auch eine Untersuchung vom Scheitel bis zur Sohle. Schon wegen des Fußpilzes.«»Ich werde Ihren Einsatz nicht vergessen, Genosse Lallikow«, sagte Kasutin feierlich.»Haken wir also Galina ab. Wer bleibt?«
«Ein schwerer Fall: Antonina Pawlowna Zwetkowa. Unser Paradeweib.«
«Sie färbt sich die Haare«, sagte Babajew.
«Auf dem Kopf. Aber der Kopf ist weg und nicht wichtig.«
«Man kann auch Zwetkow nicht danach fragen.«
«Und wenn!«Dr. Lallikow winkte ab.»Er müßte erst nachsehen, auswendig wüßte er es nicht. Und Antonina Pawlowna würde sich sehr wundern und an eine psychische Erkrankung von Rassul Al-exejewitsch glauben, wenn dieser plötzlich tiefsitzendes Interesse zeigen würde. Um es vorweg zu sagen: Antonina kann ich nicht untersuchen.«
«Warum nicht?«fragte Väterchen Akif interessiert.»Fällt Ihnen dabei die Brille von der Nase?«
«Die Zwetkowa fährt nach Magnitogorssk. Sie hat dort einen Internisten, einen Gynäkologen, einen Urologen und noch einige Olo-gen mehr. Die typische Reaktion der Reichen. Der Dorfarzt ist ein Rindvieh. je größer die Stadt, um so klüger die Mediziner. Bisher war sie nur zweimal bei mir.«
«Aber Sie haben sie nackt gesehen?«
«Unter größter Betonung der Verschwiegenheit: ja. Sie hatte einen juckenden Ausschlag rund um den Nabel. Ich weiß heute noch nicht, warum sie damit zu mir gekommen ist.«
«Und?«
«Was heißt >und Ich konnte sie heilen. Zwetkow bedankte sich bei mir mit einem ganzen gekochten Schinken. Aber seither weiß ich, daß Antonina Pawlowna einen der schönsten Frauenkörper besitzt, den ich je gesehen habe.«
«Und so etwas ist im Besitz des fetten, impotenten Zwetkow! Es ist ist eine Schande!«Kasutin blätterte noch einmal die Fotos durch. Soviel geballte weibliche Schönheit griff ihm ans Herz.»Wie kann man bei der Zwetkowa feststellen, ob sie es ist, die von Jankowski fotografiert wurde? Wir alle wissen: Jankowski geht bei den Zwet-kows ein und aus.«
«Was nutzt es uns, das zu wissen?«Dr. Lallikow war grob genug, seine Gedanken weiter auszusprechen.»Wir wissen nun auch alle, daß Jankowski mit sämtlichen Frauen auf unserer Liste bekannt ist.«
«Mit Ausnahme von Dunja Sergejewna«, sagte Kasutin stolz.»Sie scheidet mit Sicherheit aus. Die Zeit entlastet sie völlig.«
«Schweifen wir nicht ab. «Väterchen Akif seufzte tief bei etlichen geheimen Gedanken.»Wie kann man bei der Zwetkowa Gewißheit erlangen?«
«Ich müßte Rassul Alexejewitsch unter den Tisch trinken und dann danach fragen. Vielleicht haben wir Glück, und er hat sein Weibchen zufällig im Bad gesehen.«
«Ob ihm überhaupt solche Kleinigkeiten auffallen?«gab Dr. Lal-likow zu bedenken.
«Ich sagte: Wenn wir Glück haben, unverschämtes Glück. Man muß das Erinnerungsvermögen von Zwetkow anregen. Manchmal passieren solche Phänomene. Erst ist alles leer. und dann — bums — zuckt es in einem hoch. Man muß es versuchen.«
«Dann sollte die Offensive klar sein«, sagte Dr. Lallikow.»Jeder gehe jetzt an seine Aufgabe. Meine lieben Freunde, diesen Jankowski kriegen wir klein. Ihm nützt es gar nichts, wenn er auf seinen unanständigen Fotos den Kopf wegläßt. Wir kreisen ihn ein, und wir erlegen ihn wie einen Hasen.«
«Und dann?«fragte Väterchen Akif.»Wenn wir wissen, wer die Nackte ist, was dann?«
«Die Partei wird sich um sie kümmern«, sagte Kasutin streng.»Natürlich diskret. Mit Gewisssenserforschung. Mit Fingerspitzengefühl. Solche Fälle muß man mit seelischer Ausgewogenheit behandeln. Noch können sich unsere Frauen — im Gegensatz zu den Weibern im dekadenten Westen — schämen. Genossen, ans Werk!«
Am Nachmittag hatte Kasutin ein Erlebnis, das ihn umwarf und vieles veränderte.
Er stand bei dem Apotheker Akbar Nikolajewitsch Dudorow im Laden und unterhielt sich mit ihm über den Fortschritt auf dem pharmazeutischen Markt, als Dudorow neue Ware bekam. Ein Lieferwagen aus Magnitogorssk brachte sie. Interessiert sah Kasutin, wie Dudorow ein Päckchen sofort wegnahm und einen Namen darauf schrieb.
A. P. Zwetkowa.
Es dauerte lange, bis Kasutin seine drängende Frage loswurde.»Was ist?«erkundigte er sich vorsichtig.»Ist die Genossin Zwetkowa krank?«
«Nein. Warum?«Dudorow blickte Kasutin verblüfft an.»Sie ist gesund.«
«Das Medikament da. «Kasutin zeigte auf das beschriftete Päckchen.»Ich weiß, Apotheker unterliegen der Schweigepflicht. Aber ich sehe es nun mal.«
«Es ist eine Creme«, sagte Dudorow geheimnisvoll.»Aber, bitte, zu keinem einen Laut.«
«Der Mund der Partei ist verschlossen wie ein Tresor. «Kasutin nickte zu dem Päckchen hin.»Gegen Pickel rund um den Nabel, nicht wahr?«
«Nein. «Apotheker Dudorow sah Kasutin, seinen Parteisekretär, irritiert an.»Eine neuentwickelte Enthaarungscreme.«
Kasutin schluckte, klopfte Dudorow auf die Schulter und verließ die Apotheke wie ein startender 100-Meter-Läufer.