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Ich wußte nichts von dem größten Elefanten. Doch als Freds mich zu dem Aufsitz-Podest schleppte, erkannte ich ihn — oder besser sie, denn es war eine Kuh. Ich hatte mehrere Stunden auf ihrem Rücken verbracht und war ziemlich vertraut mit ihr geworden — mit der lockeren, faltigen grauen Haut, die beim Laufen über ihre massiven Schultern vor- und zurückglitt, und mit den rosa Flecken auf ihrem Nacken und dem einen Dutzend Haarbüscheln auf ihrem Kopf. Ein beeindruckendes Tier, und ihr Führer Dawa hatte es gut im Griff. Er saß bereits auf ihrem Hals und hatte die nackten Füße unter den Spitzen ihrer Ohren verhakt. Elefantenführer leiten ihre Schutzbefohlenen mit einem Eisenstab, der wie ein Kaminschürhaken aussieht, nur, daß er an dem Ende, auf das es ankommt, schärfer ist. Viele Führer im Lager setzten ihre Eisen rücksichtlos ein, schlugen die Elefanten auf die rechte oder linke Kopfseite, damit sie die Richtung änderten, und stachen sie mit dem spitzen Ende, damit sie weitergingen, wenn sie zögerten; bei einigen Führern war auf jeder Wanderung Blut zu sehen. Ein paar waren jedoch sanfter, und zu denen gehörte Dawa; er führte Sunyash, indem er mit ihr sprach oder sie im äußersten Fall leicht mit den Fersen trat. Ich hatte nie gesehen, daß er seinen Stab einsetzte.

Nun unterhielten er und Freds sich auf Tibetanisch, und plötzlich konnte ich selbst in der Dunkelheit erkennen, daß er auch wie ein Tibetaner aussah; er sah aus wie die Khampas von Shambhala. Plötzlich kam mir wieder in den Sinn, daß Freds etwas davon gesagt hatte, eine Höhle zu erkunden.

»Freds«, sagte ich, als wir davon trotteten. Obwohl ich schnell nüchtern wurde, mußte ich mich am Geländer der Plattform festhalten; die sattelwunden Beine hatte ich um einen Eckpfosten geschlungen. »Was tust du mir diesmal an?«

»Nichts, George. Nur ein Ritt. Außerdem … wann habe ich dir jemals etwas angetan?«

Ich wollte ihn schlagen, hatte aber keine Hand frei. »Du hast mich auf der Südseite des Everest eine Nacht lang in eine Schneehöhle gesteckt«, sagte ich wütend. »Du hast mich einen Monat lang durch die Bürokratie von Katmandu kriechen lassen! Du hast mich als Brücke benutzt.«

»Nicht absichtlich. Außerdem wird es diese Nacht ganz anders sein.«

»Sag mir, was du vorhast, oder ich springe sofort von Bord.«

»Nun überstürze nichts, ich wollte es dir gerade erzählen, sobald wir ein gutes Stück vom Lager fort sind.«

»Also raus damit. Was hat es mit dieser Höhle auf sich?«

»Nun ja, du erinnerst dich doch noch an das Tunnelsystem, das wir bei unserem Überfall auf Chhule benutzt haben? Das ist ein großes Tunnelsystem, größer, als man erwarten könnte, und ein Großteil davon liegt unter Katmandu selbst, doch bei all den Bauvorhaben in letzter Zeit sind die meisten Eingänge zugebaut oder versperrt worden. Das bereitet den Leuten in Shambhala Probleme, weil sie die Tunnels für den Gütertransport benutzen, und um ungesehen nach Katmandu zu kommen …«

»Augenblick mal«, sagte ich und fühlte, wie die Kamikaze-Drinks in mir hin und her schwappten, was eine gewisse Übelkeit hervorrief. »Willst du damit sagen, daß Tunnels von Shambhala bis nach Katmandu führen?«

»Aber ja! Es gibt überall unter dem Himalaja Tunnels. Und ein großes Netzwerk unter Katmandu.«

Ich versuchte, das zu verkraften.

»Aber jetzt haben sie ein Problem. Alle Gänge nach Katmandu sind unterbrochen«, sagte Freds, »und sie wollen nun eine alte Öffnung hier im Terai benutzen. Die geriet in den letzten paar Jahrhunderten ziemlich in Vergessenheit, und Dawa und ich haben uns ein bißchen nach ihr umgesehen, und wir glauben, wir haben sie gefunden, aber ich will verdammt sein, wenn sie nicht direkt neben dem Tiger View liegt.«

»Direkt neben dem Tiger View.«

»Ja, das ist eins der großen, teuren Camps drüben im Park, wie Tiger Tops. Ein kleiner Felsvorsprung erhebt sich direkt im Süden dieses Tiger View-Camps, und dort liegt eine Höhle, und Dawa ist ziemlich sicher, daß es sich dabei um einen der Eingänge zum Tunnelsystem handelt. Also müssen wir sie des Nachts überprüfen.«

»Sind des Nachts nicht jede Menge Tiger am Tiger View?«

»Ja, aber Sunyash wird sie verscheuchen.«

Ich seufzte. »Freds, warum bin ich hier?«

»Um Gutes auf dieser Erde zu tun, George. Deshalb sind wir alle hier.«

»Ich meine, warum bin ich heute abend hier bei euch? Warum habt ihr mich mitgeschleppt?«

»Dawa und ich wollen diese Höhle überprüfen und uns vergewissern, daß es sich um den Tunneleingang handelt, und es muß jemand bei Sunyash bleiben, damit sie nicht davonspaziert. So einfach ist das.«

Mir war so schlecht, daß ich eine Weile nicht antworten konnte. »Du hast mich belogen«, sagte ich schließlich. »Du hast gesagt, daß sei nur ein Urlaub.«

»Na ja, ich dachte, ich lasse diesen Teil lieber aus, damit du dir keine Sorgen machst. Stell dir doch vor, du wärest auf Schatzsuche.«

»Eine nächtliche Schatzsuche in einem Dschungel mit Tigern. Auf dem Rücken eines gestohlenen Elefanten.«

»Sie ist nicht gestohlen, wir borgen sie nur aus.«

Ich gab es auf.

Sunyash trampelte unter dem Baldachin der Saalbäume weiter durch den Dschungel. Ein Halbmond stand im Himmel, so daß wir etwas Licht hatten — die Formen schwarz auf schwarz, und in einem gelegentlichen Strahl Mondlicht konnten wir unheimliche Bäume und hinabhängende Ranken ausmachen. Sunyash erzeugte zu viel Lärm, als daß wir sonst noch etwas hören könnten, doch als Dawa sie anhalten ließ, um sich umzusehen, umschlangen uns die Geräusche des nächtlichen Dschungels wie ein guter Soundtrack: ein Knistern und Rascheln, das Zirpen von Insekten, das leise Husten eines Tiers. Es war viel dschungelhafter als bei Tageslicht, und das Wissen, daß die Tiger zu ihren nächtlichen Streifzügen aufgebrochen waren, fügte eine Spannung hinzu, die man bei Sonnenschein nicht hatte. Freds hatte wahrscheinlich recht, wenn er behauptete, kein Tiger würde in der Nähe bleiben, wenn ein Elefant kam, doch es machte mich trotzdem nervös.

Wir schaukelten lange weiter, so lange, daß ich fast wieder eingeschlafen wäre. Dann stieß Freds mich an, und ich sah zu unserer Rechten ein Leuchten; »Tiger View«, sagte er. »Das sind die Lichter, die sie anmachen, damit sie die Tiger sehen können.«

»Ah.«

»Wir sind fast da. Es muß irgendwo da oben sein.«

»Schön.«

Wir bewegten uns durch die Dunkelheit. Ich hielt mich an meinem Pfosten und dem Geländer fest.

Schließlich ließ Dawa Sunyash anhalten. Zuerst sah es für mich hier so aus wie überall sonst auch, doch dann bemerkte ich im Mondlicht einen kleinen dunklen Hügel — eine von Sträuchern bedeckte Felskuppe, auf deren Kuppe mehrere kleine Saalbäume wuchsen. Die Scheinwerfer vom Tiger View waren immer noch ganz in der Nähe, aber nun hinter uns — zwischen uns und unserem Lager, schätzte ich.

Freds und Dawa glitten von Sunyash hinab. »He!« sagte ich.

»Wir binden sie an diesen Baum«, sagte Freds zu mir hinauf. »Halte deine Füße auf ihrem Rücken, damit sie weiß, daß du da bist. Wir kommen so schnell wie möglich zurück; länger als eine Stunde werden wir wohl nicht brauchen.«

»He!« protestierte ich. Doch sie waren schon fort. Ich saß allein auf dem Rücken eines Elefanten, des Nachts mitten im Dschungel. Hier lag eine klassische Freds-Operation vor. Doch so nervös ich auch war, sie kam mir, verglichen mit den Situationen, in die er mich zuvor gebracht hatte, eher als harmlos vor. Ich machte es mir bequem, die Stiefel fest auf Sunyash’ breiten Rücken gedrückt, und sie machte es sich vor einem Bambusbüschel bequem, um einen kleinen Mitternachtssnack einzulegen, und in meiner Trunkenheit hatte ich den Eindruck, ziemlich unbehelligt aus dieser Sache herauszukommen. Es war nicht einmal so kalt. Ich war daran gewöhnt, des Nachts in Nepal hinauszugehen und augenblicklich zu frieren, doch hier unten im Terai war es nur etwas kühl und feucht, und ich saß überdies direkt auf einer ziemlich wirksamen Heizung. Also legte ich mein Kinn auf das Geländer, versuchte, die nächtlichen Dschungelgeräusche zu ignorieren und ein paar Äste zu sägen.

Ich schien gerade einzuschlafen, als mir auffiel, daß ich eigentlich überhaupt keine Dschungelgeräusche hörte. Das kam mir komisch vor. Und Sunyash hob vor mir ihren großen Kopf, und sie hatte den Rüssel ausgestreckt und schien anscheinend herumzuschnüffeln.

Und plötzlich legte sie den Kopf zurück, daß unsere Stirnen beinahe gegeneinander geprallt wären, und stieß einen Trompetenstoß aus wie von vierzig Waldhornspielern, die man gleichzeitig in den Magen getreten hatte, und dann setzte sie sich in Bewegung. Sie kümmerte sich gar nicht um das, womit Freds und Dawa sie angebunden hatten, und nach allem, was ich wußte, zerrten wir einen Saalbaum in unserem Kielwasser hinter uns her, doch auf jeden Fall donnerten wir durch den Dschungel. Ich klammerte mich aus nackter Angst ums Leben an dem vorderen Geländer der Plattform fest und rief Sunyash so einiges zu, doch nichts davon schien irgendeinen Einfluß auf ihr Toben zu haben. Sie wollte hier weg, und ich glaubte, den Grund dafür zu kennen. Ein Tiger! Würde er uns verfolgen, an Bord springen und mich fressen? Äste schlugen gegen meinen Körper, als Sunyash durch die Bäume preschte, und sie lief schneller, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ein Elefant kann ein beträchtliches Tempo erreichen, und wenn er es erst einmal erreicht hat, scheint man auf einem Zug zu sitzen, einem Zug, der entgleist ist und heftig über unebenen Boden poltert. Ein Ast schlug mir gegen die Stirn, und danach nahm ich alles nur noch undeutlich wahr. Mein Leben schien davon abzuhängen, daß ich sie bremste, und ich sah keine andere Alternative, als unter dem vorderen Geländer hindurchzuschlüpfen und auf den Fahrersitz zu gleiten, wobei ich jeweils einen Stiefel unter ihren Ohren gegen ihren Hals drückte. Nachdem mir das gelungen war, stellte ich fest, daß es kein besonders sicherer Sitz war; man konnte sich nirgendwo festhalten. Ich beugte mich vor und packte ihre Ohren, die wild auf und ab schlugen, und zerrte an ihnen, so heftig ich konnte. Sunyash warf den Kopf hin und her und hätte mich beinahe abgeschüttelt, doch mein Rücken knallte gegen das Plattform-Geländer, und ich verlor nur meinen Atem.

Und dann fiel sie in einen schnellen Trott zurück. »Gute Sunyash«, rief ich ihr zu und wünschte, ich würde mehr von der nepalesischen Elefantenführersprache beherrschen. »Sunyash«, sagte ich mit so ruhiger Stimme, wie ich sie aufbringen konnte. Sie würde das Wort erkennen. Ich wiederholte es wie ein Mantra. Sie wurde etwas langsamer, aber nicht viel. Ich wußte nicht, ob sie wußte, wo sie war. Vielleicht lief sie zu den Ställen des Lagers zurück; vielleicht hatte sie sich aber auch verirrt. Ich glaubte, über meine linke Schulter noch einen fernen Schimmer der Scheinwerfer des Tiger View sehen zu können.

Ich verspürte keine Gewissensbisse, Freds und Dawa dort auf ihrem Hügel zurückzulassen, zumindest nicht, bis es hell wurde. Doch falls Sunyash einfach ziellos herumwanderte, würde ich bei Anbruch der Dämmerung genauso wenig wissen, wo ich war, wie jetzt. Also versuchte ich zögernd, ihr die Richtung zu weisen. Das war so ähnlich, als wollte man Autofahren lernen, während der Wagen ohne Kontrolle einen Berg hinabrollt, doch abgesehen von den gelegentlichen tiefhängenden Zweigen bestand keine unmittelbare Gefahr. Wie ich es mir gedacht hatte, brachte ein Tritt unter das linke Ohr sie dazu, etwas nach rechts zu steuern. Weitere Tritte unter beide Ohren bestätigten, daß sie um ein paar Grad abbog, wenn man nur hart genug trat, um sie zu überzeugen, daß man es ernst meinte. Also knuffte ich sie immer wieder unter ihr linkes Schlappohr, bis wir den Weg zurückkehrten, den wir gekommen waren, wobei sie dann allerdings langsamer wurde und schließlich sogar stehenblieb. »Komm schon, Sunyash.« Kein Mucks. »Geh!«

Sie wollte nicht verstehen. Keine Bewegung. Nun würden die gröberen Führer ihre Eisen nehmen und die Tiere buchstäblich in den Kopf stechen und ihnen abwechselnd heftige Tritte direkt hinter beide Ohren versetzen. Ich hatte gesehen, wie ein Elefant, der sich weigerte, eine kleine Brücke zu überqueren, auf diese Weise dazu gebracht wurde, geradewegs in den Kanal zu treten, den die Brücke überspannte, und auf der anderen Seite hinaufzulaufen, wobei beide Bewegungen äußerst unbeholfen gewirkt hatten. Und andere Führer hatten diese Methode auf weiten Ebenen angewandt, um die Elefanten dazu zu bringen, in ihre Version eines Galopps zu fallen, damit die Touristen miterlebten, wie schnell ein Elefant laufen konnte.

Ich nehme an, ich hätte in diesem Augenblick bei Sunyash den Stock eingesetzt, doch ich hatte keinen. Auf meine Faustschläge und Tritte reagierte sie nicht, und wenn ich an ihrem empfindlichen Ohren zog, schüttelte sie nur verwirrt den Kopf.

Schließlich beugte ich mich vor und flüsterte etwas in diese monströsen Ohren. »Bistarre«, sagte ich, was »langsam« bedeutet. Dieses Wort lernen die meisten Trekker schon an ihrem ersten Tag in Nepal von ihren Trägern. »Bistarre, Sunyash, bistarre.« Dazu drückte ich meine Stiefel gegen ihren Kopf, wie ein Rodeoreiter, der versucht, aus einem lahmen Pferd Zusatzpunkte herauszuholen.

Und sie setzte sich in Bewegung.

Danach kam es nur darauf an, sie langsam zu dirigieren, wobei ich die Scheinwerfer beim Tiger View als Bezugspunkte nahm. Als ich mich dort befand, wo meiner Meinung nach der Hügel sein sollte, war kein Hügel zu sehen. Ich ließ sie in Kreisen herumwandern, bis ich auf den Hügel stieß. Die Scheinwerfer am Tiger View gaben mir sogar eine Vorstellung, auf welcher Seite der Erhebung wir uns befanden, als Sunyash sich entschloß, die Gegend zu verlassen.

Wir trotteten gerade los, als Sunyash plötzlich trompetete. Ich dachte schon, wir würden wieder in einen Galopp fallen, und rief »Nein!«; doch es war nur Dawa, der ihren Rüssel hinaufkletterte. Freds zog sich an den Riemen der Plattform an ihren großen runden Seiten hoch.

»Hallo, Kumpel«, sagte Freds. »Tut mir leid, daß wir so lange gebraucht haben, aber wir haben gefunden, wonach wir suchten. Hoffentlich hast du dich nicht gelangweilt.«

»Nein«, sagte ich.

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