Terry Brooks Das Zauberlied von Shannara

1

Ein Wechsel der Jahreszeiten stand den vier Ländern bevor, als der Spätsommer langsam in den Herbst überging. Dahin waren die langen, stillen Tage der Jahresmitte, da brodelnde Hitze den Gang des Lebens verlangsamte und das Gefühl herrschte, für alles ausreichend Zeit zu haben. Hing auch die Sommerwärme noch in der Luft, so wurden die Tage allmählich kürzer, die feuchte Luft wurde trockener und die Erinnerung an die Unmittelbarkeit des Lebens erwachte von neuem. Überall waren Anzeichen des Übergangs zu erkennen. In den Wäldern von Shady Vale begann das Laub bereits, sich zu verfärben.

Brin Ohmsford blieb an den Blumenbeeten stehen, die den Weg auf der Vorderseite ihres Hauses begrenzten, und verlor sich sogleich im hochroten Blattwerk des alten Ahorns, der den Hof dahinter überschattete. Es war ein gewaltiges Exemplar mit breitem, knorrigem Stamm. Brin lächelte. Dieser Baum war für sie die Quelle vieler Kindheitserinnerungen. Unwillkürlich trat sie vom Weg und ging hinüber zu dem betagten Baum.

Sie war ein hochgewachsenes Mädchen — größer als ihre Eltern oder ihr Bruder Jair, fast so groß wie Rone Leah — und obgleich ihr schlanker Körper irgendwie auch zart wirkte, war sie so kräftig wie die anderen auch. Jair würde in diesem Punkt freilich widersprechen, doch nur deshalb, weil er schon genügend Probleme damit hatte, seine Rolle als Jüngster anzunehmen. Letzten Endes blieb ein Mädchen ein Mädchen.

Ihre Finger strichen sanft über die rauhe Ahornrinde, liebkosten sie, und ihr Blick wanderte hinauf in das Ästegewirr über ihr. Langes, schwarzes Haar strömte von ihrem Gesicht, und es konnte kein Zweifel bestehen, wessen Kind sie war. Vor zwanzig Jahren hatte Eretria genauso ausgesehen wie ihre Tochter jetzt, vom dunklen Teint über die schwarzen Augen zu den weichen, zarten Gesichtszügen. Brin fehlte nur das feurige Temperament ihrer Mutter. Das hatte Jair geerbt. Brin hatte das Wesen ihres Vaters: kühl, selbstsicher und beherrscht. Als Wil Ohmsford einmal seine Kinder verglichen hatte — wozu eines von Jairs eher tadelnswerten Mißgeschicken ihm den Anlaß gegeben hatte — war ihm ziemlich wehmütig aufgefallen, daß Jair zu allem fähig war und Brin ebenso, sie allerdings erst nach reiflicher Überlegung. Brin wußte nicht mehr genau, wer bei dieser Strafpredigt damals den kürzeren gezogen hatte.

Sie ließ ihre Hände hinten an den Seiten ihres Körpers entlanggleiten. Sie erinnerte sich an das eine Mal, da sie das Wünschlied auf den alten Baum angewandt hatte. Sie war noch ein Kind gewesen und hatte mit dem Elfenzauber herumexperimentiert. Es war Hochsommer gewesen, und sie hatte das Wünschlied eingesetzt, um das grüne Sommerlaub des Ahorns in herbstliches Feuerrot zu verwandeln. In ihrem kindlichen Denken fühlte sie sich dabei völlig im Recht, denn Rot war schließlich eine weit hübschere Farbe als Grün. Ihr Vater war wütend gewesen; der Baum hatte fast drei Jahre benötigt, um nach dem Schock wieder zu seinem natürlichen Rhythmus zu finden. Das war das letzte Mal gewesen, daß sie oder Jair, wenn ihre Eltern in der Nähe waren, Elfenzauber angewandt hatten.

»Brin, komm, hilf mir bitte, den Rest zusammenzupacken.«

Ihre Mutter rief nach ihr. Sie tätschelte den alten Ahorn ein letztes Mal und drehte sich zum Haus um. Ihr Vater hatte dem Elfenzauber niemals ganz getraut. Vor etwas über zwanzig Jahren hatte er die Elfensteine, die ihm der Druide Allanon geschenkt hatte, bei seinen Bemühungen benutzt, die Erwählte Amberle Elessedil auf ihrer Suche nach dem Blutfeuer zu beschützen. Die Anwendung des Elfenzaubers hatte ihn verändert; das war ihm damals- schon klar geworden, auch wenn er nicht gewußt hatte, wie das geschehen war. Erst nach Brins und später nach Jairs Geburt war offenkundig geworden, was sich ereignet hatte. Nicht in Wil Ohmsford würde sich der Wandel manifestieren, den der Zauber bewirkt hatte, sondern in seinen Kindern. Sie waren diejenigen, welche die sichtbaren Folgen der Zauberei in sich trugen — sie, und vielleicht alle kommenden Ohmsford-Generationen, obgleich bislang keine Möglichkeit bestand sicherzustellen, daß das auf den Zauber des Wünschliedes zutraf.

Brin hatte ihm den Namen Wünschlied gegeben. Wenn man etwas wünschte, wenn man es besang, erfüllte sich der Wunsch. So war es ihr erschienen, als sie zum ersten Mal entdeckte, daß sie die Kraft besaß. Sie erfuhr früh, daß sie das Verhalten von Lebewesen mit ihrem Lied zu beeinflussen vermochte. Sie konnte das Laub des alten Ahorns verändern. Sie vermochte einen rasenden Hund zu besänftigen. Sie konnte einen Wildvogel verlocken, sich auf ihrem Handgelenk niederzulassen. Sie konnte sich selbst zum Teil jedes beliebigen Lebewesens machen — oder es zum Teil ihrer selbst. Sie wußte nicht genau, wie sie es bewirkte; es geschah einfach. Sie sang — wobei Melodie und Text wie stets unbeabsichtigt und nicht einstudiert ganz von selbst kamen — als wäre das die natürlichste Sache von der Welt. Sie war sich dessen, was sie sang, stets bewußt, überlegte jedoch gleichzeitig überhaupt nicht, da ihr Denken in unbeschreiblichen Gefühlen gefangen war. Diese Gefühle durchfluteten und durchzogen sie, erneuerten sie irgendwie, und der Wunsch pflegte sich daraufhin zu erfüllen.

Es war das Geschenk des Elfenzaubers — oder aber sein Fluch. Als letzteres hatte ihr Vater es erachtet, als er entdeckte, daß sie diese Fähigkeit besaß. Brin wußte, daß er tief in seinem Innern sich davor fürchtete, wozu die Elfensteine in der Lage waren; und davor, was sie bei ihm bewirkt hatten. Nachdem Brin den Hund der Familie dazu gebracht hatte, hinter seinem Schwanz herzujagen, bis er vor Erschöpfung fast umfiel und einen ganzen Gemüsegarten hatte welken lassen, hatte ihr Vater rasch verkündet, daß niemand jemals wieder die Elfensteine benutzen dürfe. Er hatte sie versteckt und keinem gesagt, wo sie zu finden wären, und seither waren sie auch in diesem Versteck geblieben. Zumindest glaubte das ihr Vater. Sie war sich dessen nicht so ganz sicher. Einmal, es war noch nicht allzu viele Monate her, hatte Brin beobachtet, wie Jair selbstgefällig grinste, als von den versteckten Elfensteinen die Rede war. Er würde freilich nichts zugeben, aber sie wußte, wie schwierig es war, vor ihrem Bruder etwas geheimzuhalten, und sie vermutete, daß er das Versteck gefunden hatte.

Rone Leah kam ihr an der Eingangstür entgegen, groß und kräftig wie er war, das rostbraune Haar lose auf den Schultern und mit einem breiten Stirnband aus dem Gesicht zurückgenommen. Schelmische, graue Augen verengten sich abschätzig. »Wie wäre es, wenn du auch einmal einen Finger krumm machtest, wie? Ich verrichte die ganze Arbeit, und gehöre nicht einmal zur Familie, um der Katze willen!«

»So oft, wie du hier bist, sollte man es aber fast glauben«, foppte sie ihn. »Was ist noch zu tun?«

»Nur noch diese Sachen rauszutragen, das wäre dann wohl alles.« Eine Anzahl von Ledertruhen und kleineren Koffern war im Eingang aufgestapelt. Rone ergriff den größten. »Ich glaube, deine Mutter braucht dich im Schlafzimmer.«

Er verschwand den Weg hinab, und Brin ging durch die Räume ihres Hauses zu den hinten gelegenen Schlafzimmern. Ihre Eltern machten sich zum Aufbruch zu ihrer alljährlichen Herbstfahrt zu den entlegenen Gemeinden im Süden von Shady Vale bereit, eine Reise, durch welche sie über zwei Wochen von zu Hause abwesend wären. Nur wenige Heiler besaßen die Fähigkeiten von Wil Ohmsford, und keiner davon ließ sich im Umkreis von fünfhundert Meilen um das Tal finden. So bereiste ihr Vater zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, die abgelegenen Siedlungen und bot seine Dienste an, wo sie benötigt wurden. Eretria begleitete ihn stets; sie war für ihren Mann inzwischen eine geschickte Helferin und in der Pflege der Kranken und Verletzten ebenso geübt wie er. Diese Reise stellte kein Muß dar — und wäre nicht unternommen worden, wären sie weniger gewissenhaft gewesen. Doch Brins Eltern waren von großem Pflichtbewußtsein erfüllt. Das Heilen war der Beruf, dem sie beide ihr Leben gewidmet hatten, und sie nahmen ihre Aufgabe nicht auf die leichte Schulter.

Wenn sie sich auf diesen Fahrten der Nächstenliebe befanden, war Jair Brins Aufsicht unterstellt. Diesmal war Rone Leah vom Hochland heruntergekommen, um auf sie beide aufzupassen.

Brins Mutter schaute von ihrer letzten Packarbeit auf und lächelte, als Brin das Schlafzimmer betrat. Langes, schwarzes Haar fiel offen um ihre Schultern, und sie strich es sich aus dem Gesicht zurück, das kaum älter wirkte als Brins.

»Hast du deinen Bruder irgendwo gesehen? Wir sind fast reisefertig.«

Brin schüttelte den Kopf. »Ich dachte, er wäre mit Vater zusammen. Kann ich dir bei irgend etwas helfen?«

Eretria nickte, nahm Brin bei den Schultern und zog sie neben sich aufs Bett. »Ich möchte, daß du mir etwas versprichst, Brin. Ich möchte nicht, daß ihr das Wünschlied anwendet, während dein Vater und ich fort sind. Weder du, noch dein Bruder.« Brin lächelte. »Ich wende es praktisch überhaupt nicht mehr an.« Ihre dunklen Augen suchten das dunkelhäutige Gesicht ihrer Mutter.

»Ich weiß. Aber Jair tut es, auch wenn er glaubt, ich wüßte nichts davon. Jedenfalls wünschen dein Vater und ich, daß ihr es in unserer Abwesenheit nicht ein einziges Mal benützt. Hast du mich verstanden?«

Brin zögerte. Ihr Vater begriff wohl, daß der Elfenzauber Bestandteil seiner Kinder war, aber er wollte nicht akzeptieren, daß er ein guter oder nützlicher Teil war. Ihr seid, so wie ihr seid, intelligente, begabte Menschen, pflegte er ihnen zu sagen. Ihr braucht keine Tricks und keine Kunstgriffe, um euch weiterzubringen. Seid wer und was ihr vermögt, ohne das Lied. Eretria hatte diesen Rat unterstützt, obgleich sie bereitwilliger als er anerkannte, daß sie ihn unbeachtet ließen, wenn es sich unauffällig machen ließ.

Unglücklicherweise gehörte Unauffälligkeit nicht gerade zu Jairs Wesen. Jair war impulsiv und von einer aufreibenden Halsstarrigkeit; was nun die Anwendung des Wünschliedes anging, so verfuhr er damit ganz nach seinem Gutdünken — solange er damit durchkam.

Und der Elfenzauber wirkte bei Jair etwas anders...

»Brin?«

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen. »Mutter, ich wüßte nicht, was es ausmachen sollte, wenn Jair mit dem Wünschlied herum spielt. Es ist doch nur ein Spielzeug.«

Eretria schüttelte den Kopf. »Selbst ein Spielzeug kann gefährlich werden, wenn man es unklug benutzt. Abgesehen davon solltest du inzwischen genügend von Elfenzauber verstehen, um zu wissen, daß er niemals harmlos ist. Nun hör mich an. Du und dein Bruder seid beide dem Alter entwachsen, da ihr der ständigen Aufsicht durch Vater oder Mutter bedürftet. Aber ein kleiner Ratschlag hin und wieder ist immer noch angebracht. Ich möchte nicht, daß ihr euch in unserer Abwesenheit des Zaubers bedient. Versprich mir, daß du ihn nicht anwendest — und daß du Jair ebenfalls davon abhältst, ihn zu benutzen.«

Brin nickte langsam. »Es ist wegen der Gerüchte von den schwarzen Wandlern, nicht wahr?« Sie hatte die Geschichte gehört. Drunten im Gasthaus wurde dieser Tage von nichts anderem geredet. Schwarze Wandler — geräusch- und gesichtslose Wesen, geboren aus schwarzer Magie, die aus dem Nichts auftauchten. Manche behaupteten, der Dämonenlord und sein Gefolge kehrten zurück. »Ist das der Grund für das alles?«

»Ja.« Brins Mutter lächelte über ihre schnelle Auffassungsgabe. »Nun versprich es mir.«

Brin erwiderte das Lächeln. »Ich verspreche es.«

Nichtsdestoweniger hielt sie das Ganze für baren Unfug.

Das Packen und Aufladen nahm eine weitere halbe Stunde in Anspruch, dann waren ihre Eltern reisefertig. Jair tauchte wieder aus dem Gasthaus auf, wo er für seine Mutter als Abschiedsgeschenk eine besondere Leckerei besorgt hatte, die sie gerne mochte, und man entbot sich gegenseitig das Lebewohl.

»Denk an dein Versprechen, Brin«, flüsterte ihre Mutter ihr zu, als sie sie auf die Wange küßte und fest an sich drückte.

Dann saßen die Ohmsford-Eltern in dem Wagen, in welchem sie ihre Reise absolvieren würden, und fuhren langsam die staubige Straße hinab. Brin schaute ihnen nach, bis sie außer Sicht waren. Brin, Jair und Rone Leah gingen am Nachmittag in den Wäldern des Tales wandern, und als sie schließlich den Rückweg antraten, war es schon spät am Tag. Die Sonne war inzwischen auf die Talränder zugeglitten, und die Mittagsschatten des Waldes dehnten sich langsam zu jenen des Abends. Es war noch eine Stunde Weg zum Dorf, aber beide Ohmsfords und der Hochländer waren diesen Weg schon so oft zuvor gegangen, daß sie bei stockfinsterer Nacht den Wald hätten durchwandern können. Sie gingen leichten Schritts dahin und genossen das Ende eines prachtvollen Herbsttages.

»Laßt uns morgen fischen gehen«, schlug Rone vor. Er grinste Brin an. »Bei solchem Wetter ist es ganz gleichgültig, ob wir etwas fangen oder nicht.«

Als ältester von den Dreien ging er zwischen den Bäumen hindurch vorneweg, und sein quer über den Rücken getragenes Schwert in der verschrammten, abgewetzten Scheide zeichnete sich als vager Umriß unter seinem Waldmantel ab. Einst wurde es vom Thronfolger von Leah getragen, hatte diesen Zweck jedoch längst überlebt und war ersetzt worden. Doch Rone hatte die alte Klinge stets bewundert, die einst vor Jahren sein Urgroßvater Menion Leah umgegürtet hatte, als dieser auf die Suche nach dem Schwert von Shannara aufgebrochen war. Da Rone sich so für die Waffe begeisterte, hatte sein Vater sie ihm als kleines Zeichen seines Rangs als ein Prinz von Leah geschenkt, auch wenn er der jüngste der Prinzen war.

Brin schaute zu ihm hinüber und zog die Stirn kraus. »Du scheinst etwas zu vergessen. Morgen ist der Tag, den wir den Hausreparaturen vorbehalten hatten, die wir für Vater in seiner Abwesenheit ausführen wollten. Was ist damit?«

Er zuckte fröhlich mit den Schultern. »Dann wird eben einen Tag später ausgebessert — die Reparaturen können warten.«

»Ich glaube, wir sollten den Rand des Tales etwas erkunden«, warf Jair Ohmsford ein. Er war schlank und drahtig und hatte das Gesicht seines Vaters mit den elfenhaften Zügen: schmale Augen, schräggestellte Augenbrauen und leicht spitz zulaufende Ohren unter einer Mähne wilden, blonden Haars. »Ich finde, wir sollten uns nach Anzeichen für die Mordgeister umsehen.«

Rone lachte. »Was weißt du denn von den Wandlern, Tiger?« Das war sein Kosename für Jair.

»Ebensoviel wie du, nehme ich an. Im Tal hören wir die gleichen Geschichten wie ihr im Hochland«, erwiderte der Talbewohner. »Schwarze Wandler, Mordgeister-Wesen, die sich aus der Finsternis stehlen. Drunten im Gasthaus reden sie ständig davon.«

Brin warf ihrem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu. »Und mehr steckt auch nicht dahinter — Gerede!«

Jair schaute zu Rone hinüber. »Was meinst du?«

Zu Brins Überraschung zuckte der Hochländer mit den Schultern. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

Plötzlich wurde sie wütend. »Rone, solche Geschichten hat es immer gegeben, seit der Dämonen-Lord vernichtet wurde, und nicht eine davon enthielt jemals ein Körnchen Wahrheit. Warum sollte es diesmal anders sein?«

»Ich behaupte nicht, daß es anders ist. Ich bin nur lieber vorsichtig. Vergiß nicht, zu Shea Ohmsfords Zeiten glaubten sie auch nicht an die Geschichten von den Schädelträgern — bis es zu spät war.«

»Deshalb finde ich ja, daß wir uns umsehen sollten«, wiederholte Jair.

»Und wozu genau?« drängte Brin nun in härterem Ton. »Auf das Risiko hin, daß wir etwas so Gefährliches entdecken, wie diese Dinger es sein sollen? Was willst du dann machen? Zuflucht zu einem Wünschlied nehmen?«

Jair errötete. »Wenn es sein müßte, ja. Ich könnte den Zauber benutzen...«

Sie fiel ihm ins Wort. »Der Zauber ist nicht zum Herumspielen da, Jair. Wie oft muß ich dich noch daran erinnern?«

»Ich meinte ja nur, daß...«

»Ich weiß, was du gesagt hast. Du glaubst, das Wünschlied wäre zu allem imstande, aber da täuschst du dich gewaltig. Du solltest lieber auf das hören, wovor dein Vater in Bezug auf den Gebrauch des Zaubers warnt. Eines Tages wirst du dir große Schwierigkeiten einhandeln.«

Ihr Bruder starrte sie an. »Worüber bist du denn so wütend?«

Sie war wütend, wie ihr nun klar wurde, und es war völlig sinnlos. »Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Ich habe Mutter versprochen, daß keiner von uns das Wünschlied anwenden würde, solange sie und Vater auf dieser Reise sind. Wahrscheinlich regt es mich deshalb so sehr auf, dich davon reden zu hören, nach Mordgeistern zu stöbern.«

Nun stand ein Funken Zorn in Jairs blauen Augen. »Wer gab dir das Recht, für mich irgendwelche Versprechungen zu machen, Brin?«

»Keiner, nehme ich an, aber Mutter...«

»Mutter hat keine Ahnung...«

»Um der Katze willen, hört bloß auf!« Rone Leah hob flehentlich die Arme. »Bei solchen Streitereien bin ich immer froh, im Gasthaus und nicht bei euch beiden zu wohnen. Nun laßt uns das alles vergessen und zu unserem eigentlichen Thema zurückkommen. Gehen wir nun morgen angeln oder nicht.«

»Wir gehen angeln«, plädierte Jair.

»Wir gehen angeln«, stimmte Brin zu, »nachdem wir zumindest ein paar der Reparaturen ausgeführt haben.«

Eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter und Brin brütete immer noch darüber, was sie als Jairs zunehmende Verblendung durch den Gebrauch des Wünschliedes erachtete. Ihre Mutter hatte recht; Jair wandte den Zauber an, wann immer er die Gelegenheit dazu fand. Er hielt es für ungefährlicher als Brin, weil es bei ihm anders wirkte. Bei Brin veränderte das Wünschlied tatsächlich Aussehen und Verhalten, bei Jair war es nur ein Trugbild. Wenn er das Wünschlied benutzte, hatten die Dinge nur den Anschein einer Veränderung. Das verlieh ihm eine größere Handlungsbreite in der Anwendung und ermutigte zu Experimenten. Er tat es insgeheim, aber er tat es nichtsdestoweniger. Nicht einmal Brin war ganz sicher, welche Fähigkeiten er inzwischen damit erworben hatte.

Der Nachmittag ging zu Ende, und der Abend brach herein. Der Vollmond hing wie ein weißes Leuchtfeuer am östlichen Horizont, und Sterne begannen zu funkeln. Mit dem Einbruch der Nacht kühlte die Luft merklich ab, in die Düfte des Waldes mischte sich spröde und schwer der Geruch von moderndem Laub. Rings um sie her stiegen das Summen von Insekten und der Gesang der Abendvögel auf.

»Ich finde, wir sollten am Rappahalladran fischen«, verkündete Jair plötzlich.

Keiner antwortete sogleich. »Ich weiß nicht recht«, meinte Rone schließlich. »Wir könnten ebensogut an den Teichen im Tal angeln.«

Brin warf dem Hochländer einen fragenden Blick zu. Rone klang besorgt.

»Doch nicht nach Bachforellen«, widersprach Jair. »Außerdem würde ich gerne für ein, zwei Nächte in den Duln-Wäldern zelten.«

»Das könnten wir auch im Tal.«

»Dann könnten wir ebensogut im Hinterhof bleiben«, erwiderte Jair, allmählich ein wenig gereizt. »In den Duln gibt es wenigstens ein paar Plätze, die wir noch nicht ausgekundschaftet haben. Wovor habt ihr eigentlich Angst?«

»Ich habe vor gar nichts Angst«, entgegnete der Hochländer abwehrend. »Ich meine nur... Schau, warum sprechen wir nicht später darüber? Laßt euch erzählen, was mir auf dem Weg hierher widerfahren ist. Ich hätte mich tatsächlich beinahe verlaufen. Da war dieser- Wolfshund...«

Brin fiel einen Schritt zurück und ließ sie vorgehen und erzählen. Sie war immer noch erstaunt über Rones unerwartete Abneigung, auch nur einen kurzen Zeltausflug in die Duln zu machen — einen Ausflug, wie sie ihn zuvor Dutzende von Malen unternommen hatten. Gab es jenseits des Tales etwas, wovor sie sich fürchten mußten? Sie blickte finster drein, als sie an die Besorgnis dachte, die ihre Mutter ausgesprochen hatte. Nun auch noch Rone. Der Hochländer war nicht so schnell wie sie bei der Hand gewesen, die Geschichten von Mordgeistern als Gerüchte abzutun. Vielmehr war er sogar außergewöhnlich zurückhaltend gewesen. Normalerweise hätte Rone solche Geschichten ebenso wie sie lachend als Unfug verspottet. Warum nicht diesmal? Möglicherweise, dachte sie, hatte er Grund, sie nicht als lächerlich abzutun. Eine halbe Stunde verstrich, dann tauchten allmählich die Lichter des Dorfes zwischen den Bäumen des Waldes auf. Nun war es dunkel, und sie hielten sich mit Hilfe des hellen Mondenscheins an ihren Weg. Der Pfad führte hinab in die geschützte Senke, wo das Dorf lag, und verbreiterte sich schließlich vom Fußweg zur Landstraße. Häuser tauchten auf; aus ihrem Innern ließ sich der Klang von Stimmen vernehmen. Brin fühlte, wie die erste Spur von Müdigkeit über sie hinweg strich. Es täte gut, in ihr behagliches Bett zu kriechen und die ganze Nacht durchzuschlafen.

Sie gingen hinab durch die Mitte von Shady Vale und kamen an dem alten Gasthof vorüber, der so viele Generationen lang von der Ohmsford Familie geführt worden war, der er gehörte. Das Haus war immer noch im Besitz der Familie, doch die Ohmsfords lebten dort nicht mehr — nicht seit dem Dahinscheiden von Shea und Flick. Freunde der Familie führten inzwischen das Gasthaus und teilten Betriebskosten und Einkünfte mit Brins Eltern. Brin wußte, daß sich ihr Vater im Gasthaus niemals wohlgefühlt hatte, denn er besaß keine Beziehung zu diesem Geschäft und zog sein Leben als Heiler dem eines Wirtes vor. Nur Jair zeigte echtes Interesse an den Geschehnissen des Wirtshauses und das deshalb, weil er so gerne die Geschichten hörte, welche die Reisenden mit nach Shady Vale brachten — Geschichten voller Abenteuer, die den Geist des ruhelosen Tiefländers befriedigen konnten.

An diesem Abend herrschte viel Betrieb im Gasthaus, die breiten Doppeltüren wurden aufgestoßen, drinnen fiel Licht über Tische und eine lange Theke, an der sich Reisende und Leute aus dem Dorf drängten, lachten und scherzten und den kühlen Herbstabend über einem oder zwei Glas Bier zubrachten. Rone grinste über die Schulter hinweg Brin an und schüttelte den Kopf. Keiner wartete begierig darauf, daß dieser Tag zu Ende ging.

Wenige Augenblicke später erreichten sie das Haus der Ohmsfords, ein Bauernhaus aus gemörteltem Stein inmitten von Bäumen auf einem kleinen Hügel. Sie hatten den halben Pflasterweg zurückgelegt, der zwischen Heckenreihen und blühenden Pflaumenbäumen zur Eingangstür führte, als Brin sie plötzlich zum Anhalten veranlaßte.

Im vorderen Zimmer brannte Licht.

»Hat einer von euch heute früh, als wir gingen, eine Lampe brennen lassen?« fragte sie ruhig und wußte die Antwort schon. Beide schüttelten die Köpfe.

»Vielleicht hat jemand zu einem Besuch hereingeschaut«, meinte Rone.

Brin blickte ihn an. »Das Haus war abgeschlossen.«

Sie starrten einander wortlos einen Augenblick lang an, und ein vages Gefühl von Unbehaglichkeit beschlich sie. Jair jedoch empfand nichts dergleichen.

»Na, dann laßt uns hineingehen und sehen, wer da ist«, erklärte er und setzte sich in Bewegung.

Rone legte ihm eine Hand auf die Schulter und zog ihn zurück. »Nur einen Moment, Tiger. Laß uns nichts überstürzen.«

Jair riß sich los, schaute wieder zu dem Licht und zurück zu Rone. »Was glaubst du denn, wer da drinnen auf uns wartet — einer von den Wandlern?«

»Wirst du wohl mit dem Unsinn aufhören!« befahl Brin in scharfem Ton.

Jair feixte. »Das dachtest du doch tatsächlich, wie? Einer von den Wandlern, der gekommen ist, uns zu holen!«

»Wie nett von ihnen, Licht für uns gemacht zu haben«, bemerkte Rone trocken.

Sie starrten wieder unentschlossen zu dem Lichtschein im Fenster.

»Nun, wir können nicht die ganze Nacht hier draußen stehenbleiben«, entschied Rone schließlich. Er griff über seine Schulter nach hinten und zog das Schwert von Leah aus der Scheide. »Sehen wir doch einmal nach. Ihr zwei haltet euch hinter mir. Wenn irgend etwas passiert, lauft zum Gasthaus zurück und holt Hilfe.« Er zögerte. »Nicht, daß ich damit rechne, daß irgend etwas passieren wird.«

Sie gingen hintereinander zur Eingangstür, blieben davor stehen und lauschten. Im Haus herrschte Stille. Brin reichte Rone den Haustürschlüssel, und sie traten hinein. Im Flur war alles stockfinster bis auf einen Streifen gelben Lichts, der sich den kurzen Gang entlangzog. Sie zauderten einen Augenblick, gingen dann lautlos den Flur hinab und traten in das Vorderzimmer.

Es war leer.

»Nun, kein Mordgeist hier«, verkündete Jair sogleich. »Nichts außer...«

Er sollte seinen Satz niemals zu Ende bekommen. Ein riesenhafter Schatten trat aus dem verdunkelten Wohnzimmer dahinter ins Licht. Es war ein Mann von über zwei Metern Größe, der ganz in einen schwarzen Umhang gehüllt war. Eine lockere Kapuze war zurückgeschlagen und enthüllte ein mageres, kantiges Gesicht, das wettergegerbt und hart aussah. Schwarzes Haar und ein schwarzer Bart umrahmten Haupt und Gesicht, waren rauh und mit grauen Strähnen meliert. Doch die Augen zogen ihrer aller Blicke auf sich, die tief und durchdringend im Schatten seiner breiten Stirn lagen und alles, auch das Verborgene, zu sehen schienen.

Rone Leah riß rasch das Breitschwert in die Höhe, und der Fremde hob die Hand aus seinen Gewändern.

»Das wirst du nicht benötigen.«

Der Hochländer zögerte, starrte einen Augenblick lang in die dunklen Augen des Fremden und ließ das Schwert dann wieder langsam sinken. Brin und Jair blieben wie versteinert stehen, und konnten sich weder umdrehen und davonlaufen, noch brachten sie ein Wort hervor.

»Ihr habt nichts zu befürchten«, erklang tief und dröhnend die Stimme des Fremden.

Keiner der drei fühlte sich dadurch sonderlich beruhigt, doch alle entspannten sich ein wenig, als die dunkle Gestalt keinen weiteren Schritt auf sie zutrat. Brin warf ihrem Bruder einen hastigen Blick zu und stellte fest, daß Jair den Fremden intensiv musterte, als überlegte er etwas. Der Fremde betrachtete den Jungen, dann Rone, schließlich sie.

»Kennt mich keiner von euch?« murmelte er leise.

Es herrschte eine kurze Stille, dann nickte Jair plötzlich.

»Allanon!« rief er, und die Erregung stand ihm im Gesicht geschrieben. »Ihr seid Allanon!«

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