Als Jair Ohmsford wieder zu Bewußtsein kam, stellte er fest, daß er an Händen und Füßen gefesselt und fest an einen Baumstamm gebunden war. Er befand sich nicht mehr in der Jagdhütte, sondern auf einer Lichtung im Schutz dicht stehender Fichten, die ihn wie aufgestellte Wachposten überragten. Drei Meter von ihm entfernt brannte ein kleines Feuerchen und warf seinen schwachen Schein ins schattige Dunkel der schweigenden Bäume. Nacht war über das Land hereingebrochen.
»Na, wieder wach, Junge?«
Die vertraute, spöttische Stimme erklang aus der Dunkelheit zu seiner Linken, und er drehte langsam den Kopf, um sich umzusehen. Eine gedrungene, reglose Gestalt hockte am Rand des Feuerscheins. Jair wollte gerade antworten, bemerkte dann aber, daß er nicht nur gefesselt war; er hatte auch einen Knebel im Mund.
»Oh ja, das tut mir leid«, bedauerte der andere. »Ich mußte dich natürlich knebeln. Ich konnte ja nicht zulassen, daß du zum zweiten Mal deine Zauberkraft gegen mich einsetzt, wie? Kannst du dir vorstellen, wie lange ich gebraucht habe, um mich aus dieser Holzkiste zu befreien?«
Jair ließ sich gegen den Baumstamm sinken, als ihm alles wieder einfiel. Der Gnom beim Gasthaus — der war ihm gefolgt, hatte ihn bei Rones Jagdhütte eingeholt und von hinten niedergeschlagen...
Er zuckte bei der Erinnerung zusammen und stellte fest, daß sein Kopf an der Seite immer noch schmerzte.
»Ein hübscher Trick, die Nummer mit den Schlangen.« Der Gnom kicherte leise. Er stand auf, trat in den Feuerschein und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen dicht vor seinen Gefangenen. Schmale grüne Augen musterten Jair abwägend. »Ich hielt dich für harmlos, Junge — nicht für irgendeine Druidenbrut. Pech für mich, was? Da hab’ ich doch tatsächlich geglaubt, du hättest solche Angst, daß du mir auf der Stelle verraten würdest, was ich wissen wollte — daß du mir alles sagen würdest, nur um mich loszuwerden. Nicht so du. Schlangen um die Arme und einen Anderthalb-Meter-Stock über den Schädel, das hast du mir verabreicht. Ein Wunder, daß ich noch am Leben bin.«
Der Gnom neigte das massige, gelbe Gesicht zur Seite. »Das war natürlich dein Fehler.« Ein derber Finger fuhr deutlich empor. »Du hättest mich umbringen sollen. Aber das hast du nicht, und das verschaffte mir eine zweite Gelegenheit, dich zu überwältigen. Aber so bist du wahrscheinlich als einer vom Tal. Als ich mich jedenfalls aus dem Holzkasten befreit hatte, bin ich hinter dir hergejagt wie der Fuchs hinter dem Kaninchen. Ein Jammer für dich, denn nach dem, was du mit mir angestellt hattest, wollte ich dich auf keinen Fall entkommen lassen. Nein, nicht um alles in der Welt! Diese anderen Narren hätten sich von dir abhängen lassen. Aber nicht ich. Habe drei Tage lang deine Spur verfolgt. Am Fluß hätte ich dich beinahe erwischt, aber du warst schon am anderen Ufer, und bei Nacht konnte ich deine Spur nicht erkennen. Mußte abwarten. Aber bei deinem Nickerchen in der Hütte habe ich dich dann geschnappt, wie?«
Er lachte fröhlich, und Jair lief vor Wut rot an. »Ach, ärgere dich nicht meinetwegen — ich habe nur meine Arbeit verrichtet. Außerdem war es dann eine Frage meines Stolzes. Zwanzig Jahre, und noch nie hat mich einer aufs Kreuz gelegt. Und dann kommt so ein grünes Jüngelchen. Das konnte ich nicht durchgehen lassen. Na, und dich bewußtlos schlagen — da blieb mir nichts anderes übrig. Wie gesagt, ich konnte mit der Zauberei ja kein Risiko mehr eingehen.«
Er stand auf und kam ein paar Schritte näher, sein Gesicht war von deutlicher Neugier gezeichnet. »Es war doch Zauberei, oder? Wie hast du das gelernt? Es hat etwas mit der Stimme zu tun, stimmt’s?«
»Du rufst die Schlangen mit deiner Stimme. Nur ein Trick. Ich habe mir schier in die Hosen gemacht, dabei hätte ich nicht gedacht, daß mir noch vieles Angst einjagen könnte.« Er machte eine Pause. »Außer vielleicht die Wandler.«
Jairs Augen funkelten furchtsam bei der Erwähnung der Mordgeister.
Der Gnom sah es und nickte. »Vor denen lohnt es sich, Angst zu haben. Durch und durch schwarz. Finster wie die Mitternacht. Ich würde nicht wollen, daß sie hinter mir her sind. Ich habe keine Ahnung, wie du dem bei dir Zuhause hast entkommen können...«
Plötzlich hielt er inne und beugte sich vor. »Hast du Hunger, Junge?« Jair nickte. Der Gnom betrachtete ihn einen Augenblick lang nachdenklich, dann stand er auf. »Ich will dir was sagen. Ich nehme den Knebel raus und füttere dich, wenn du versprichst, deine Zauberkünste nicht gegen mich einzusetzen. Es würde dir ohnehin nicht viel nützen, wo du an den Baum gefesselt bist — es sei denn, deine Schlangen können auch Seile durchbeißen. Ich werde dir etwas zu essen geben, und wir können uns ein bißchen unterhalten.
Die anderen werden erst morgen früh hier sein. Was hältst du davon?«
Jair dachte kurz nach und nickte zustimmend. Er hatte einen Bärenhunger.
»Also abgemacht.« Der Gnom trat zu ihm und zog den Knebel heraus. Eine Hand umschloß fest Jairs Kinn. »Und jetzt dein Wort — versprich es. Keine Zauberei.«
»Keine Zauberei«, wiederholte Jair und wand sich.
»Gut, gut.« Der Gnom ließ seine Hand sinken. »Du bist einer, der Wort hält, wette ich. Weißt du, jeder taugt nur soviel wie sein Wort.« Er griff zu seinem Gürtel nach einer festen Lederflasche, löste den Stöpsel und führte sie an Jairs Lippen. »Trink. Los schon, nimm einen Schluck.«
Jair nippte die unbekannte Flüssigkeit, seine Kehle war trocken und wie zugeschnürt. Es war derbes, bitteres Bier und brannte das ganze Stück die Kehle hinab bis zum Magen. Jair würgte und wich zurück, der Gnom verstöpselte die Flasche wieder und hängte sie zurück an seinen Gürtel. Dann hockte er sich auf seine Hinterbacken zurück und grinste.
»Ich heiße Spinkser.«
»Jair Ohmsford.« Jair mühte sich immer noch zu schlucken. »Aber das weißt du vermutlich.«
Spinkser nickte. »Das wußte ich. Aber wie es scheint, hätte ich noch ein bißchen mehr in Erfahrung bringen sollen. Du hast mich auf eine ganz schöne Verfolgungsjagd geschleppt.«
Jair zog die Stirn kraus. »Wie hast du es überhaupt geschafft, mich einzuholen? Ich hätte nicht geglaubt, daß dies noch irgend jemand gelingen könnte.«
»Ach, das.« Der Gnom schnüffelte. »Naja, irgend jemand hätte es auch nicht geschafft. Aber ich bin ja nicht irgendwer.«
»Was meinst du damit?«
Der Gnom lachte. »Ich meine, ich bin Fährtensucher, Junge. Das ist mein Beruf. Tatsache ist, daß ich das wohl besser kann als irgendein anderer, der noch am Leben wäre. Deshalb haben die anderen mich auch mitgebracht. Deshalb bin ich hier. Ich war auf Fährtensuche.«
»Nach mir?« fragte Jair verwundert.
»Nein, nicht nach dir... nach dem Druiden! Den sie Allanon nennen. Hinter ihm war ich her. Du bist mir nur zufällig zur falschen Zeit in die Quere gekommen.«
Ein entsetzter Ausdruck machte sich auf dem Gesicht des Jungen aus dem Tal breit. Dieser Gnom war ein Fährtensucher? Kein Wunder, daß er ihm nicht hatte entkommen können, wie es ihm bei jedem anderen Menschen gelungen wäre. Aber Allanon aufzustöbern...?
Spinkser schüttelte hilflos den Kopf und stand auf. »Schau, ich werde dir alles erklären, aber laß uns erst etwas essen. Ich mußte dich von der zwei Meilen entfernten Jagdhütte hierher tragen, und wenn du auch klein wirkst, bist du für deine Größe ziemlich schwer. Während du geschlafen hast, hat mir das ganz schönen Appetit gemacht. Jetzt bleib still sitzen, ich werde etwas aufs Feuer setzen.«
Spinkser holte von der anderen Seite der Lichtung einen Rucksack, zog einige Kochutensilien heraus und innerhalb weniger Minuten schmurgelte über dem Feuer ein Rindfleisch-Gemüse-Eintopf. Der Duft des kochendes Essens zog durch die Abendluft an Jairs Nasenflügel, daß ihm der Mund wäßrig wurde. Ihm wurde klar, daß er schon mehr als ausgehungert war. Er hatte keine anständige Mahlzeit mehr gehabt, seit er den Gasthof verlassen hatte. Außerdem mußte er bei Kräften bleiben, falls er irgendeine Chance finden sollte, diesem Burschen zu entkommen, und er war fest entschlossen, das bei der ersten Gelegenheit zu tun.
Als das Gericht gar war, brachte Spinkser es zu der Stelle herüber, wo er gefesselt war und teilte sein Mahl mit ihm, indem er ihn löffelweise von eigener Hand fütterte. Das Essen schmeckte köstlich, und sie verzehrten alles zusammen mit einem Kanten Brot und etwas Käse. Spinkser trank noch mehr von dem Bier, ließ Jair aber aus einer Wassertasse trinken.
»Kein übler Eintopf, wenn ich das selbst sagen darf«, meinte der Gnom schließlich und beugte sich ans Feuer, um die Pfanne auszukratzen. »Habe im Laufe der Jahre eine Menge nützlicher Dinge gelernt.«
»Wie lange bist du denn schon Fährtensucher?« fragte Jair ihn erstaunt.
»Fast mein ganzes Leben lang. Ich habe in deinem Alter zu lernen begonnen.« Er packte das Kochgeschirr fort, stand auf und kam zu dem Jungen aus dem Tal. »Was weißt du über diesen Job?«
Jair berichtete ihm knapp von dem alten Fährtensucher, der im Gasthof gewohnt hatte, von ihren Gesprächen und den Suchspielen, die sie veranstaltet hatten, bis das Bein des alten Mannes geheilt war. Spinkser lauschte schweigend, und deutliches Interesse stand in seinen derben, gelben Zügen. Als Jair mit seiner Erzählung fertig war, setzte der Gnom sich zurück und ließ den Blick der scharfen Augen in vage Fernen schweifen.
»Vor langer Zeit erging es mir wie dir. Ich hatte nichts anderes im Kopf, als Fährtensucher zu werden. Schließlich bin ich mit einem von Zuhause fortgelaufen — einem alten Grenzgänger. Ich war jünger als du. Ging von Zuhause fort, geradewegs ins Ostland nach Callahorn und ins Nordland. So lebte ich über fünfzehn Jahre. Bereiste nacheinander alle Länder, weißt du. Und sie haben mich ebenso geprägt wie meine Herkunft als Gnom aus dem Ostland. Seltsam, aber das hat mich zu einer Art heimatlosem Burschen gemacht. Gnomen trauen mir nicht richtig, weil ich zu lange unterwegs war und zuviel von allem anderen gesehen habe, um wirklich einer von ihnen zu sein. Ein Gnom, der kein Gnom ist. Ich habe mehr kennengelernt, als sie jemals erfahren werden, so abgeschieden, wie sie in den Wäldern vom Ostland leben. Und das wissen sie selbst auch. Sie können mich kaum ertragen. Sie achten mich, weil ich der Beste auf meinem Gebiet bin.«
Er blickte Jair scharf an. »Deshalb bin ich auch hier — weil ich der Beste bin. Der Druide Allanon — weißt du, der Bursche, den du angeblich nicht kennst — er kam ins Rabenhorn und nach Graumark und versuchte, sich Zugang zum Maelmord zu verschaffen. Doch in diese Grube dringt nichts ein, weder Druide noch Teufel. Die Geister erfuhren, daß er dort war und nahmen die Verfolgung auf. Ein Wandler, eine Patrouille von Gnomenjägern und ich, um seine Spur aufzunehmen. Haben ihn bis zu deinem Dorf verfolgt und gewartet, bis sich jemand zeigen würde. Ich habe fest damit gerechnet, obgleich ziemlich klar war, daß der Druide bereits weitergezogen war. Und wer sollte anderer auftauchen als du?«
Jairs Verstand arbeitete wie rasend. Wieviel weiß er? Kennt er den Grund, aus dem Allanon nach Shady Vale kam? Weiß er von den... Und plötzlich fielen ihm die Elfensteine ein, die er hastig in seinem Hemd verstaut hatte, als er aus dem Tal geflohen war. Hatte er sie noch? Oder hatte Spinkser sie gefunden? Oh, Geister!
Die Augen unablässig auf jene des Gnomen gerichtet, bewegte er sich vorsichtig in seinen Fesseln, um zu spüren, ob der Druck der Steine auf seinem Körper noch zu spüren war. Aber es war sinnlos. Die Seile umschnürten seine Kleider und ließen ihn nicht eindeutig fühlen, ob er sie noch hatte. Er wagte nicht, an sich hinabzublicken, nicht einmal für einen Augenblick.
»Schneiden die Seile ein wenig ein?« fragte Spinkser plötzlich.
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nur versucht, mich bequemer zu setzen.« Er zwang sich, sich zurückzulehnen und zu entspannen. Er lenkte wieder auf ein anderes Thema. »Warum hast du dir die Mühe gemacht, mich aufzuspüren, wenn du doch Allanon verfolgen sollst?«
Spinkser neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Weil ich — dem Druiden nachspürte, um herauszufinden, wohin er ging, und diese Aufgabe habe ich erfüllt. Er ging in dein Dorf zu deiner Familie. Nun hat er die Rückreise nach dem Ostland angetreten — stimmt’s? Ach, du brauchst nicht zu antworten. Zumindest mir nicht. Aber denen, die mich begleitet haben, wirst du antworten müssen, wenn sie morgen früh hier eintreffen. Sie sind zwar ein bißchen langweilig, aber zuverlässig. Ich mußte sie zurücklassen, um sicherzugehen, dich zu erwischen. Verstehst du, sie wollen etwas über Allanons Besuch erfahren. Sie wollen wissen, warum er kam. Und unglücklicherweise für dich wollen sie noch etwas wissen.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause, während seine Augen sich in Jair bohrten. Der Junge aus dem Tal atmete tief ein. »Über die Zauberei?« flüsterte er.
»Kluges Bürschchen.« Spinksers Lächeln war hart.
»Und wenn ich es ihnen nicht verraten will?«
»Das wäre töricht«, antwortete der Gnom ruhig.
Sie starrten einander wortlos an. »Der Geist würde mich zum Sprechen bringen, wie?« fragte Jair schließlich.
»Der Geist ist nicht dein Problem.« Spinkser schnaubte. »Der Geist folgt dem Druiden nach Norden. Der Sedt ist dein Problem.«
Der Talbewohner schüttelte den Kopf. »Sedt? Was ist ein Sedt?«
»Ein Sedt ist ein Gnomenanführer — in diesem Falle Spilk. Er befehligt die Patrouille. Ein recht unangenehmer Bursche. Verstehst du, nicht wie ich. Ganz ein Ostland-Gnom. Er würde dir genauso schnell den Hals abschneiden, wie er dich ansieht. Er ist dein Problem. Die Fragen, die er stellt, solltest du besser beantworten.« Er zuckte mit den Schultern. »Außerdem werde ich alles in meiner Macht stehende tun, dafür zu sorgen, daß du freigelassen wirst, sobald du Spilk erzählt hast, was er hören will. Schließlich gilt unser Kampf nicht den Talbewohnern. Wir liegen mit den Zwergen im Streit. Ich möchte dich ja nicht enttäuschen, aber du bist wirklich ganz und gar unwichtig. Interessant ist nur die Zauberkunst, die du beherrschst. Nein, du wirst die Fragen beantworten, und ich denke, daß du dann ziemlich rasch freigelassen wirst.«
Jair beäugte ihn mißtrauisch. »Ich glaube dir nicht.«
Spinkser wich zurück. »Nein? Na, da hast du mein Wort drauf. Es ist soviel wert wie deines.« Dichte Augenbrauen wölbten sich in die Höhe.
»Es bedeutet mir ebenso viel wie dir, Junge. Nun nimm es schon an.«
Jair schwieg einen Augenblick. Eigentümlicherweise war er überzeugt, daß der Gnom die Wahrheit sagte. Wenn er versprach, sich um Jairs Freilassung zu bemühen, würde er das auch tun. Wenn er glaubte, Jair würde gehen können, wenn er die gestellten Fragen beantwortete, dann war das vermutlich so. Jair zog eine Grimasse. Andrerseits, warum sollte er irgendeinem Gnomen vertrauen?
»Ich weiß nicht«, murmelte er.
»Du weißt nicht?« Spinkser schüttelte verzweifelt den Kopf. »Glaub nur nicht, du hättest eine Wahl, Junge. Wenn du nichts antwortest, nimmt Spilk sich dich vor. Wenn du dann immer noch nicht redest, übergibt er dich den Wandlern. Was glaubst du, was dann mit dir geschieht?«
Jair kroch Eiseskälte in Mark und Bein. Er mochte erst gar nicht darüber nachdenken, was dann aus ihm würde.
»Ich hatte dich für schlau gehalten«, fuhr der Gnom fort, und seine runzligen, gelben Züge verzerrten sich zu einer Grimasse. »Schlau hast du dich an den anderen da hinten vorbeigeschlichen — sogar an dem Wandler. Also bleibe auch schlau. Welchen Unterschied macht es jetzt noch, was du irgend jemandem erzählst? Welche Rolle spielt es, wenn du dem Sedt erklärst, warum der Druide euch besucht hat? Der Druide ist inzwischen ohnehin fort — und ist vermutlich diesseits vom Ostland nicht mehr einzuholen. Er hat euch doch gewiß nichts so Wichtiges erzählt, oder? Und die Zauberei — alles, was sie darüber wissen wollen ist, wo und von wem du die Kenntnisse dazu erworben hast. Vielleicht vom Druiden? Oder von jemand anderem?« Er wartete einen Augenblick, aber Jair schwieg. »Nun, berichte halt, wie du sie erlernt hast und wie du sie anwendest — das ist doch recht einfach und kostet dich nichts. Aber keine Spielchen, sag einfach die Wahrheit. Wenn du das machst, wirst du nicht mehr gebraucht.«
Wieder wartete er, daß Jair antwortete, und wieder blieb der Talbewohner stumm.
Spinkser zuckte mit den Schultern. »Na, denk darüber nach.« Er stand auf, streckte sich und trat zu Jair. Mit einem fröhlichen Lächeln schob er ihm wieder den Knebel in den Mund. »Tut mir leid wegen des Schlafplatzes, aber ich kann mit dir keine großen Risiken eingehen. Soviel habe ich durch dich ja inzwischen schon gelernt.«
Immer noch lächelnd holte er eine Decke von der anderen Seite der Lichtung, brachte sie zu Jair, hüllte sie um ihn und steckte die Ecken dorthin, wo die Seile sich um den Baum schlangen, so daß sie nicht verrutschen konnte. Dann ging er zum Feuer und trat es aus. Im schwachen Schein der glühenden Kohlen sah Jair, wie seine untersetzte Gestalt in die Dunkelheit davonging.
»Ach, muß ich mich doch tatsächlich mit so Läppischkeiten befassen, wie einen Talbewohner zu jagen«, murmelte der Gnom. »Was für eine Vergeudung meines Talents! Nicht einmal ein Zwerg! Sie hätten mich wenigstens einen Zwergen aufstöbern lassen können. Oder wieder den Druiden. Pah! Der Druide hat kehrt gemacht, den Zwergen beizustehen, und ich kann hier herumsitzen und den Jungen beaufsichtigen...«
Er brummelte noch eine Weile weitgehend unverständliches Zeug vor sich hin, dann verstummte seine Stimme endgültig.
Jair Ohmsford saß allein in der Dunkelheit und überlegte, was er am nächsten Morgen tun wollte. Er schlief jämmerlich in dieser Nacht, weil die Seile, die ihn fesselten, ihn verkrampften und scheuerten und die Aussicht auf das Kommende ihn quälte. Von welchem Blickwinkel er es auch betrachtete, seine Zukunft sah finster aus. Von seinen Freunden konnte er keine Hilfe erhoffen; schließlich wußte keiner, wo er war. Seine Eltern und Brin, Rone und Allanon wähnten ihn alle sicher im Gasthof von Shady Vale. Und logischerweise konnte er auch nicht mit allzu viel Rücksicht von jenen rechnen, in deren Gefangenschaft er sich befand. Trotz Spinksers Versprechungen erwartete er nicht, freigelassen zu werden, wie viele Fragen er auch immer beantwortete. Wie sollte er schließlich auf Fragen nach der Zauberei reagieren? Spinkser hielt es eindeutig für eine angelernte Fähigkeit. Wenn die Gnomen erst erfuhren, daß es keine erworbene Kunst, sondern ein angeborenes Talent war, würden sie mehr hören wollen. Sie würden ihn ins Ostland zu den Mordgeistern mitschleppen...
So vergingen die Nachtstunden. Gelegentlich döste er, wenn seine Erschöpfung die Überhand gewann über Unbequemlichkeit und Sorgen, doch niemals sehr lange. Dann gegen Morgen überwältigte ihn doch die Müdigkeit, und er schlief ein.
Es dämmerte noch nicht, als Spinkser ihn grob wachrüttelte.
»Steh auf«, befahl der Gnom. »Die anderen sind da.«
Jair schlug blinzelnd die Augen auf, zwinkerte ins Grau der Vordämmerung, das den Wald des Hochlandes umhüllte. Die Luft war kalt und feucht, selbst mit der um seinen Körper gehüllten Decke, und feiner Nebel senkte sich herab und hing an den dunklen Fichtenstämmen. Es herrschte Totenstille, der Wald war noch nicht wieder zu Leben erwacht. Spinkser beugte sich über ihn und löste die Stricke, die ihn an den Baum banden. Es waren keine anderen Gnomen zu sehen.
»Wo sind sie?« fragte er, sobald ihm der Knebel aus dem Mund gezogen wurde.
»In der Nähe. Hundert Meter weiter unten am Hang.« Spinkser packte den Talbewohner an der Vorderseite seiner Jacke und zerrte ihn auf die Füße. »Und jetzt keine Spielchen. Behalt deine Zauberkunst für dich. Ich habe dich vom Baum losgebunden, daß du halbwegs wie ein Mann aussiehst, aber wenn du mir zuwiderhandelst, binde ich dich wieder fest. Verstanden?«
Jair nickte rasch. Seine Hände und Füße waren noch gefesselt, und seine Glieder waren so verkrampft, daß er kaum stehen konnte. Mit schmerzenden, steifen Muskeln lehnte er sich mit dem Rücken an die Fichte. Selbst wenn er es schaffte, sich loszureißen, könnte er in diesem Zustand nicht weit laufen. Sein Denken war von Schläfrigkeit und plötzlicher Angst umnebelt, während er wartete, daß er seine Kräfte wiedererlangte. Beantworte die Fragen, hatte Spinkser ihm geraten. Sei nicht töricht. Aber was für Antworten konnte er geben? Welche Antworten würden sie akzeptieren?
Dann plötzlich zeichnete sich im Zwielicht eine Reihe dunkler Gestalten ab, die sich schwer zwischen den Bäumen hervorschleppten. Zwei, drei, ein halbes Dutzend, acht — Jair beobachtete, wie einer nach dem anderen aus dem Nebel auftauchte: untersetzte Figuren, die in wollene Waldmäntel gehüllt waren. Gnomen — derbe, gelbe Züge, die sich in den tief herabgezogenen Kapuzen erkennen ließen, dickfingrige, um Speere und Keulen geklammerte Hände. Kein Wort kam über ihre Lippen, als sie im Gänsemarsch auf die Lichtung kamen, doch scharfe Augen musterten den gefangenen Talbewohner, und ihre Blicke verströmten keine Freundlichkeit.
»Ist er das?«
Der Sprecher stand an der Spitze der Reihe. Er war kräftig gebaut mit muskulösem Körper und breiter Brust. Er rammte das Ende seiner Keule in den Waldboden, umschloß die Waffe mit narbigen knotigen Fingern und drehte sie langsam.
»Also, ist er’s?«
Der Gnom warf Spinkser einen raschen Blick zu. Spinkser nickte Der Gnom ließ seinen Blick zu Jair zurückwandern. Langsam schlug er die Kapuze seines Waldmantels zurück. Derbe, kantige Züge zeichneten das breite Gesicht. Grausame Augen musterten den Talbewohner ungerührt und forschend.
»Wie heißt du?« fragte er ruhig.
»Jair Ohmsford«, antwortete Jair sogleich.
»Was hat der Druide von euch gewollt?«
Jair zögerte und überlegte, was er sagen sollte. Etwas Unangenehmes flackerte in den Augen des Gnomen. Unvermittelt schnappte der sich seine Keule, holte aus und schlug dem Mann aus dem Tal die Beine unterm Körper fort. Jair fiel hart, daß er schier keine Luft mehr bekam.
Der Gnom stand schweigend über ihm, griff dann hinab und zerrte ihn an seiner Jacke wieder auf die Beine.
»Was hat der Druide von euch gewollt?«
Jair schluckte und versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. »Er wollte meinen Vater besuchen«, log er.
»Warum?«
»Mein Vater ist im Besitz der Elfensteine. Allanon will sie als Waffe gegen die Mordgeister einsetzen.«
Darauf trat ein endloser Augenblick der Stille ein. Jair wagte nicht einmal zu atmen. Falls Spinkser die Elfensteine in seinem Hemd gefunden hatte, war die Lüge bereits offenbart, und es wäre um ihn geschehen. Er wartete mit auf den Gnomen geheftetem Blick.
»Wo stecken sie jetzt, der Druide und dein Vater?« forschte der andere schließlich weiter.
Jair atmete aus. »Nach Osten gezogen.« Er zögerte und ergänzte dann: »Meine Mutter und meine Schwester besuchen die Dörfer südlich vom Tal. Ich sollte im Gasthof auf ihre Rückkehr warten.«
Der Gnom grunzte nichtssagend. Ich muß versuchen, sie zu schützen, dachte Jair. Spilk beobachtete ihn aufmerksam. Er wandte kein Auge von ihm. Du kannst nicht merken, daß ich lüge, überlegte Jair. Das kannst du nicht.
Dann hob sich ein knotiger Finger von der Keule und deutete auf ihn. »Kannst du zaubern?«
»Ich...« Jair ließ den Blick über die finsteren Gesichter um sich her schweifen.
Der Knüppel zuckte hoch und hieb schnell und kräftig über Jairs Knie, daß er wieder zu Boden sank. Der Gnom lächelte mit hartem Blick. Er riß Jair wieder hoch.
»Antworte mir — betreibst du Zauberei?«
Jair nickte wortlos; er war stumm vor Schmerz. Er konnte kaum stehen.
»Zeig es mir«, befahl der Gnom.
»Spilk.« Spinksers Stimme drang leise durch die plötzliche Stille. »Vielleicht erwägst du deine Forderung noch einmal.«
Spilk warf Spinkser einen knappen Blick zu und winkte dann ab. Seine Augen richteten sich wieder auf Jair. »Zeig es mir.«
Jair zögerte. Wieder zuckte die Keule hoch. Obwohl Jair diesmal darauf vorbereitet war, konnte er nicht schnell genug zurücktreten, um dem Schlag auszuweichen. Er traf ihn seitlich im Gesicht. Schmerz explodierte in seinem Kopf, Tränen schössen ihm in die Augen. Er stürzte auf die Knie, aber Spilks dicke Hände waren in seine Jacke verklammert und zerrten ihn wieder in die Höhe.
»Zeig es mir!« befahl der Gnom nochmals.
Nun stieg Zorn in Jair auf — ein so heftiger Zorn, daß er kochte. Er dachte erst gar nicht darüber nach, was er als nächstes tat; er handelte einfach. Ein kurzer, gedämpfter Schrei brach von seinen Lippen und wurde unvermittelt zu einem furchterregenden Zischen. Sogleich wimmelte Spilk von riesigen, dicken, grauen Spinnen. Der Gnomen-Sedt schrie entsetzt auf, riß wie von Sinnen an den großen, pelzigen Insekten und wich vor Jair zurück. Die Gnomen hinter ihm liefen in alle Richtungen davon, und Speere und Keulen sausten zu Boden, als sie versuchten, die Spinnen von sich selbst fernzuhalten. Der Sedt wälzte sich am Boden, schlug auf der Erde wild um sich und versuchte die schrecklichen Dinger abzuschütteln, die sich so hartnäckig an ihn klammerten; seine Schreie erfüllten die Morgenluft.
Jair sang einen Augenblick länger und verstummte dann. Wäre er nicht an Händen und Füßen gefesselt gewesen und nicht so benommen von Spilks Schlägen, hätte er die Verwirrung, die das Wunschlied ausgelöst hatte, genutzt, um einen Fluchtversuch zu unternehmen. Als sein Zorn verebbte, verstummte Jair.
Spilk wälzte sich noch ein paar Sekunden am Boden. Dann begriff er plötzlich, daß die Spinnen fort waren. Langsam erhob er sich auf die Knie, sein Atem kam heiser und stoßweise, sein verschlagenes Gesicht zuckte, bis seine Augen Jair fanden. Er heulte auf, als er sich hochrappelte und sich mit ausgestreckten, knotigen Händen auf den Talbewohner stürzte. Jair taumelte rückwärts, und seine Füße verfingen sich in den Stricken. Einen Moment später lag der Gnom auf ihm und hämmerte wie von Sinnen mit den Fäusten auf ihn ein. Dutzende von Schlägen trafen Jairs Gesicht und Kopf, wie es ihm schien, überall gleichzeitig. Schmerz und Schock spülten über ihn hinweg. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Wenige Augenblicke später kam er wieder zu sich. Spinkser kniete neben ihm und tupfte sein Gesicht mit einem wassergetränkten Tuch ab. Das kalte Wasser brannte, und er zuckte vor der Berührung zurück.
»Du hast mehr Mut als Verstand, Junge«, flüsterte der Gnom, als er sich tief hinabbeugte. »Alles in Ordnung?«
Jair nickte und fuhr mit der Hand hoch, um sein Gesicht zu befühlen. Spinkser schlug seine Hand fort.
»Laß es bleiben.« Er tupfte ihn noch ein paarmal mit dem Tuch ab und ließ dann ein schwaches Grinsen über sein derbes Gesicht huschen. »Du hast den alten Spilk halb zu Tode erschreckt. Halb zu Tode!«
Jair schaute an Spinkser vorbei zu der Stelle, wo der Rest der Patrouille am anderen Ende der Lichtung kauerte und ihn nicht aus den Augen ließ. Spilk stand ein Stück von allen anderen entfernt, sein Gesicht war schwarz vor Wut.
»Mußte ihn selbst von dir loszerren«, sagte Spinkser. »Sonst hätte er dich umgebracht. Hätte dir glatt den Schädel eingeschlagen.«
»Er befahl mir, ihm die Zauberei vorzuführen«, murmelte Jair und schluckte schwer. »Also habe ich sie ihm vorgeführt.«
Die Vorstellung schien den Gnomen zu erheitern, und er gestattete sich ein zweites, leichtes Grinsen, wobei er sorgsam das Gesicht von dem Sedt abgewandt hielt. Dann schob er seinen Arm unter Jairs Schultern und hob ihn in eine sitzende Stellung. Er goß aus dem Behältnis an seinem Gürtel eine kleine Ration Bier und gab sie dem Talbewohner zu trinken. Jair nahm es an und schluckte und würgte, als es ihm brennend zum Magen hinablief.
»Besser?«
»Besser«, gab Jair zu.
»Dann hör zu.« Das Lächeln war erloschen. »Ich muß dich wieder knebeln. Du bist nun meiner Obhut unterstellt. Die anderen wollen nichts mit dir zu tun haben. Du sollst außer zu den Mahlzeiten gefesselt und geknebelt bleiben. Also benimm dich. Es wird eine lange Reise.«
»Eine lange Reise wohin?« Jair versuchte erst gar nicht, das Entsetzen in seinem Blick zu verbergen.
»Nach Osten. In den Anar. Du sollst den Mordgeistern übergeben werden, hat Spilk beschlossen. Er will, daß sie einen Blick auf deine Zauberkünste werfen.« Der Gnom schüttelte ernst den Kopf. »Tut mir leid, aber daran ist nichts zu ändern. Nicht nach dem, was du angestellt hast.«
Ehe Jair etwas erwidern konnte, schob Spinkser den Knebel in seinen Mund. Dann löste er die Stricke um Jairs Fußknöchel und zog den Talbewohner auf die Füße. Er holte ein kurzes Seil hervor, schlang ein Ende um Jairs Gürtel und band das andere an seinen eigenen.
»Spilk!« rief er dem anderen zu.
Der Gnomen-Sedt drehte sich wortlos um und schlug den Weg in den Wald ein. Der Rest der Patrouille folgte ihm.
»Tut mir leid, Junge«, wiederholte Spinkser. Gemeinsam marschierten sie von der Lichtung in den frühen Morgennebel.