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Verwitterte und vom Alter rissige Holztüren standen halb geöffnet im dunklen Eingang des Turmes und hingen schräg in gebrochenen und von mangelnder Benutzung verrosteten Scharnieren. Eingehüllt in die Melodie ihres Liedes trat das Talmädchen hindurch. Im Innern herrschte bedrückende Düsternis, doch es war gerade hell genug, daß sie sehen konnte, wo ein verwaschener, dunstiger Schimmer in dünnen Streifen durch die Spalten und Risse in den bröckeligen Turmmauern sickerte. Staub überzog den Steinboden und bildete eine Schicht aus feinem Sand, der in Wölkchen aufstieg, wenn die Stiefel des Mädchens auftraten. Es war kühl hier, die Hitze und der Gestank des Dschungels blieben irgendwie ausgesperrt.

Brin verlangsamte ihre Schritte. Ein Korridor wand sich vor ihr ins Dunkel. Sie drehte sich um, als eine Warnung tief aus ihrem Innern sie veranlaßte, einen wachsamen Blick zurück in den Urwald zu werfen, der diesen Turm einschloß.

Sie ging weiter. Die Macht der Magie durchfuhr sie wie eine plötzliche Hitzewallung, daß sie zu schweben schien. Sie schritt den Korridor hinab mit seinen Biegungen und Windungen und war sich kaum des Staubs bewußt, der wie Dampf unter ihren Füßen aufstieg. Einmal kam ihr die Frage in den Sinn, weshalb außer den ihren keine andere Fußabdrücke auf dem Gang, dem sie folgte, zu sehen waren, wo doch gewiß auch die Mordgeister diesen Weg benützt hatten, aber dann vergaß sie die Sache wieder.

Stufen stiegen vor ihr an, und sie begann sie zu erklimmen — es war ein langsamer, endloser Aufstieg ins Innerste des Turmes. Stimmen schienen ihr zuzuraunen, die keinen Ursprung und keine Identität besaßen, sondern aus der Luft selbst stammten, die sie atmete. Rings herum flüsterten sie ihr zu. Schatten und Zwielicht verschwammen ineinander und vermischten sich. Es war, als flösse sie in den Stein des Turmes selbst, wie sie so geisterhaft durch seine Räume schwebte, und als dehnte sie sich aus, eins mit ihm zu werden, wie sie mit dem Maelmord eins geworden war. Sie fühlte, wie es geschah, wie ihr Körper Stück für Stück aufgesogen wurde. Der Zauber des Liedes bewirkte es, der immer noch nach dem Bösen suchte, das hier verborgen lag und in ihr Innerstes eindrang, als wäre sie wirklich eins mit ihm...

Dann endete die Treppe, und sie stand auf der Schwelle zu einem gewölbeartigen Rundbau, der grau, düster und verlassen dalag. Fast wie aus eigenem Entschluß wurde das Wünschlied leiser und die Stimmen in der Luft um sie her verstummten.

Sie betrat den Raum und war sich dabei kaum der Bewegung ihres Körpers bewußt, schien sie doch immer noch zu schweben, anstatt zu gehen. Die Schatten wichen vor ihr zurück, und ihre Augen gewöhnten sich ans Licht. Die Kammer war nicht leer, wie sie zuerst geglaubt hatte. Da erhob sich ein Podium, das in der Düsternis fast unterging; auf ihm stand ein Altar. Sie trat einen Schritt hinzu. Auf dem Altar lag etwas Großes, Rechteckiges, eingehüllt in die Finsternis, die es selbst auszustrahlen schien. Sie ging noch näher heran. Heftige Erregung durchströmte sie.

Es war der Ildatch!

Sie wußte es augenblicklich, noch ehe sie recht erkannte, was sie sah. Das war der Ildatch, das Herz alles Bösen. Die Macht des Wünschliedes erfüllte sie und durchflutete sie mit wilder, heißer Glut.

Sie durchquerte den Raum in düstere Gedanken versunken und zuckte in sich selbst zurück wie eine zusammengeringelte Schlange. Die Musik des Wünschliedes wurde zu einem giftigen Zischen. Der Raum schien sich vor ihr zu dehnen, und die Wände wichen in die Dunkelheit zurück, bis es nichts mehr auf der Welt gab als das Buch. Sie erklomm die Stufen der Empore und trat dort an den Altar, wo es geschlossen dalag. Es war alt und abgegriffen, die Kupferbeschläge grünlich-schwarz angelaufen, und der Ledereinband brüchig und fleckig — ein riesenhafter, schwerer Foliant, der aussah, als hätte er alle Epochen der Menschheitsgeschichte miterlebt.

Sie starrte einen Augenblick erwartungsvoll darauf hinab und genoß die tiefe Befriedigung darüber, das Buch schließlich zum Greifen nahe zu haben.

Dann streckte sie die Hände aus und umschloß es fest.

- Kind der Finsternis -

Die Stimme flüsterte leise in ihrem Innern, und ihre Finger klebten auf den angelaufenen Beschlägen.

- Kind der Finsternis -

Das Wünschlied erstarb zu einem Flüstern und verstummte ganz. Ihre Kehle schnürte sich zu und erstickte die Musik, fast ehe sie begriff, was sie da getan hatte. Sie stand schweigend vor dem Altar mit eng um das Buch geklammerten Händen. Ein Nachhall der Stimme zog fetzenweise durch ihr Denken, griff wie Tentakel nach ihr und fesselte sie, daß sie sich nicht rühren konnte.

- Ich habe auf dich gewartet, Kind der Finsternis. Ich habe gewartet, seit du, Kind des Elfenzaubers, das Licht der Welt erblicktest und den Schoß deiner Mutter verließest. Wir beide, du und ich, waren stets durch stärkere Bande als die des Blutes, die des Fleisches verknüpft. Viele Male haben wir uns Geist an Geist berührt, und obgleich ich dich niemals kennenlernte und niemals deinen Weg kannte, wußte ich doch immer, daß du eines Tages kommen würdest. -

Die Stimme klang unmoduliert und flach, war weder die eines Mannes noch die einer Frau, sondern eines Wesens, dem beide Geschlechter innewohnten, war bar aller Empfindungen und allen Gefühls, so daß ihr Flüstern eine Leere ausdrückte, die alles Leben entbehrte. Brin lauschte auf diese Stimme und war von Eiseskälte durchströmt. Tief in ihrem Innern zuckte das Ich, das sie noch barg und versteckt hielt, vor Entsetzen zurück.

- Kind der Finsternis -

Sie ließ rasch den Blick durch das schummrige Licht des Raumes schweifen. Wo war der Sprecher, der sich an sie wandte? Was war das für ein Wesen, das sie so in seinen Bann schlug? Ihr Blick wanderte mit Grauen zu dem Buch, das sie in Händen hielt. Ihre Finger waren weiß von der festen Umklammerung, und der lederne Einband verstrahlte sengende Hitze.

- Ich bin, Kind der Finsternis. Ebenso wie du. Ich besitze Leben. Es ist immer so gewesen. Stets existierten jene, die mir Leben verleihen wollten. Stets gab es jene, die mir das ihre schenkten. -

Brin öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton hervor. Das sengende Gefühl stieg von ihren Händen in die Arme und weiter hoch.

- Erkenne mich. Ich bin der Ildatch, das Buch der schwarzen Magie aus dem Zeitalter der Feenwesen. Ich bin älter als die Elfen - so alt wie der König vom Silberfluß, so alt wie die Welt. Die mich erschufen, die mir Gestalt verliehen, sind mit dem Auftauchen der Welt der Feen und des Menschen längst verschwunden. Einst war ich nur ein Teil der Welt, den man vor aller Augen verbarg und nur im Finstern erwähnte. Ich war lediglich eine Sammlung von Geheimnissen. Dann nahm diese Sammlung Gestalt an, als jene sie niederschrieben und studierten, die meine Macht kennenlernen wollten. Es hat immer solche gegeben, die sie angestrebt haben. Durch alle Zeitalter hindurch bin ich für sie präsent gewesen und habe jenen meine Geheimnisse offenbart, die daran teilhaben wollten. Ich habe Geschöpfe aus Zauberei geschaffen und ihnen Macht verliehen. Doch niemals war da jemand wie du —

Die Worte verhallten in erwartungs- und verheißungsvollem Flüstern, und das Talmädchen fühlte sie wie umhergewehtes Laub durch ihr Denken trudeln. Die sengende Hitze durchströmte nun ihren ganzen Körper und prickelte wie die Heißluft, die einem aus einer aufgerissenen Ofentür entgegenschlägt.

Es gab viele vor dir. Von den Druiden stammten der Dämonen-Lord und die Schädelträger. Sie fanden in mir die Geheimnisse, die sie suchten, und wurden zu dem, was sie anstrebten. Doch ich war die Macht. Aus den von anderen Rassen ausgestoßenen Menschen wurden die Mordgeister, als die Saat schon gesät war. Aber wieder stellte ich allein die Macht dar. Immer stelle ich die Macht dar. Jedesmal haben die Betreffenden eine überragende Vorstellung, was aus der Welt und ihren Geschöpfen zu werden hat. Jedesmal verleihen die geistigen Kräfte jener, welche die innerhalb meiner Seiten gebannte Macht benutzen wollen, dieser Vision Gestalt. Und jedesmal erweist sie sich als unzulänglich, und der Bildner scheitert an der selbstgestellten Aufgabe. Kind der Finsternis, wirf nun einen Blick darauf, was ich zu bieten vermag —

Wie aus eigenem Willen schlugen Brins Hände vorsichtig den Ildatch auf, und seine Pergamentblätter begannen sich zu wenden. Worte flüsterten von einem Text, deren Schrift und Sprache älter waren als die Menschheit und wurden von Geschriebenem zu einer leisen, geheimnistuerischen Stimme. Der Geist des Talmädchens tat sich ihnen auf, und sogleich erfüllte sie das Verständnis für den Text. Da ein Hauch, dort eine leise Berührung, und finster und schrecklich enthüllten sich ihr die Geheimnisse der Macht.

Dann verstummte die Offenbarung so schnell, wie sie gekommen war, und blieb nur noch als gaukelnde Erinnerung. Die Seiten des Buches blätterten zurück, der Deckel des Einbandes klappte zu. Ihre Hände, die immer noch an dem dicken Buch klebten, begannen zu zittern.

- Nur einen Hauch meines Seins habe ich dir gezeigt. Macht, Kind der Finsternis. Macht, die jene bei weitem überträfe, über die der Druide Brona und die ihm folgten, geboten. Macht, gegen die jene der Mordgeister, die heute von mir abstammen, bedeutungslos wäre. Fühle, wie diese Macht dich durchströmt. Fühle ihre Berührung-

Die Hitzewelle durchflutete Brin. Sie fühlte, wie sie sich mit dem Schwall ausdehnte und anwuchs.

- Tausend Jahre lang wurde ich auf eine Weise benutzt, die dein Schicksal und das der Deinen bestimmen sollten. Tausend Jahre lang haben die Feinde deiner Familie sich auf meine Macht gestützt und zu zerstören gesucht, was ihr bewahren wolltet. Alles, was dich an diesen Ort zu diesem Zeitpunkt geführt hat, entstammt meinem Tun. Ich habe dein Dasein geschaffen; ich habe dein Leben gestaltet. Alles, was geschieht, hat seinen Grund, und so auch dies. Erkennst du diesen Grund? Sieh hinein -

Plötzlich erreichte sie ein warnendes Flüstern, und sie schien sich einer hochgewachsenen, schwarz gekleideten Gestalt mit ergrauendem Haar und durchdringendem Blick zu erinnern, die zu ihr von Täuschung und Bestechung sprach. Sie rang einen Augenblick lang mit dieser Erinnerung, doch sie fand keinen Namen, und das Bild wurde durch das Feuer, das sie erfüllte, und den Nachhall der Worte des Ildatchs zurückgedrängt.

- Siehst du es denn nicht selbst? Begreifst du nicht, was du bist? Schau hinein -

Die Stimme klang kalt, flach und gefühllos, doch aus ihr sprach auch ein Drängen, das ihre Gedanken beiseite schob. Ihre Sicht verschwamm, und sie schien aus dem Wesen heraus zu sehen, zu dem sie durch den Zauber des Wünschliedes geworden war.

- Wir sind wie ein Ganzes, Kind der Finsternis, wie du es gewollt hast. Es bestand niemals die Notwendigkeit für den Elfenzauber, denn du bist, was du bist und stets warst. Deshalb sind wir eins. Bande erwachsen aus den Zauberkräften, die uns zu dem machen, was wir sind — denn wir sind nicht mehr als die Kräfte, die uns innewohnen — dir in deinem Körper aus Fleisch und Blut, mir in Pergament und Tinte. Wir sind verbündete Lebenskräfte, und was bislang geschehen ist, hat uns an diesen Punkt geführt. Darauf habe ich die ganzen Jahre gewartet...

Lügen! Das Wort zuckte durch Brins Denken und war fort. Ihre Gedanken drehten sich verwirrt im Kreis, ihre Vernunft setzte aus. Ihre Hände umklammerten immer noch den Ildatch, als bewahrte er in seinem Innern ihr Leben selbst, und sie empfand die Worte der körperlosen Stimme als eigentümlich überzeugend. Tatsächlich existierten Bande, die sie einten; es gab eine Verbindung. Brin glich dem Ildatch, war ein Teil von ihm, war ihm wesensähnlich.

In ihrem Innern rief sie den Namen des Druiden und suchte nach der Erinnerung, die sie nun verloren hatte. Rasch loderte das Feuer auf, sie fortzutragen, und wieder sprach die Stimme zu ihr.

- Diese ganzen Jahre habe ich auf dich gewartet, Kind der Finsternis. Aus der Zeit vor der Zeit bist du zu mir gekommen, und nun gehöre ich zu dir. Überlege, was mit mir zu geschehen hat. Flüstere es mir zu -

Die Worte strömten unheilvoll vor dem Hintergrund ihres rotverschleierten Gesichtsfeldes in ihrem Denken zusammen. Sie wollte schreien, doch der Laut zog sich in ihrer Kehle zusammen.

- Flüstere mir zu, was mit mir geschehen muß -

Nein! Nein!

- Flüstere mir zu, was mit mir geschehen muß -

Tränen stiegen ihr in die Augen und rannen langsam ihre Wangen hinab.

Ich muß dich benutzen, antwortete sie.

Rone stapfte kochend vor Wut vom Croagh weg, fuhr herum und kam zurück. Er umklammerte die ebenholzschwarze Klinge seines Schwerts mit beiden Händen, bis die Knöchel weiß hervortraten.

»Was genug ist, ist genug — scheuch die Katze aus meinem Weg, Kimber!« befahl er, trat auf sie zu und verlangsamte seinen Schritt, als Wisper den mächtigen Kopf herumschwenkte, um ihn anzusehen.

Wieder schüttelte das Mädchen den Kopf. »Das kann ich nicht, Rone. Er verläßt sich in dieser Sache auf sein eigenes Urteil.«

»Sein Urteil kümmert mich keinen Deut!« explodierte Rone. »Er ist nur ein Tier und darf keine solche Entscheidung fällen! Ich werde an ihm vorbeigehen, ob ihm das paßt oder nicht. Ich werde Brin in diesem Höllenschlund nicht allein lassen!«

Er riß das Schwert in die Höhe und wollte auf Wisper zugehen, doch im gleichen Augenblick ließ ein gewaltiges Beben den Berg erzittern, das aus dem dunklen Dschungel des Maelmord aufstieg.

Die Erschütterung war so heftig, daß der Hochländer und das Mädchen den Halt verloren und überrascht zurücktaumelten. Erschreckt versuchten sie, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, und eilten zum Rand der Klippen.

»Was ist dort drunten geschehen?« flüsterte Rone besorgt. »Was ist passiert, Kimber?«

»Wandler, vermutlich«, krächzte Cogline von hinten. »Haben die schwarze Magie gegen das Mädchen aufgerufen.«

»Großvater!« Diesmal war Kimber wütend.

Rone wirbelte zornig herum. »Alter Mann, wenn Brin etwas zugestoßen ist, weil diese Katze mich hier oben aufgehalten hat...«

Dann verstummte er plötzlich. Auf den Stufen des Croagh erschien eine Reihe gebeugter, ins schwächer werdende Zwielicht des Spätnachmittags gehüllte Schatten. Sie schritten einer hinter dem anderen die Treppe von Graumarks bleigrauen Mauern herab und folgten ihrer Spirale geradewegs auf das Felssims zu, wo Rone und seine Begleiter warteten.

»Mordgeister!« hauchte der Hochländer leise.

Wisper fuhr bereits herum und duckte sich angriffsbereit nieder, um sie nötigenfalls zu verteidigen. Coglines plötzliches Einatmen zischte laut durch die Stille.

Rone starrte wortlos hinauf, wo die Reihe der dunklen Gestalten länger wurde und näherrückte. Es waren zu viele.

»Stell dich hinter mich, Kimber!« mahnte er sie.

Dann riß er sein Schwert in die Höhe.

Ich muß dich benutzen... dich benutzen... dich benutzen.

Die Worte kreisten unablässig in Brins Denken und schwollen zu einer Litanei der Überredung an, die alle Vernunft zu ersticken drohte. Doch ein Hauch von Logik blieb zurück und schrie ihr über die Worte des Singsangs entgegen.

Das ist die schwarze Magie, Talmädchen! Das ist das Böse, zu dessen. Vernichtung du diesen Ort aufgesucht hast.

Doch die Berührung des Buches an der Haut ihrer Hände und das Feuer, das es in ihrem Körper entfachte, hielt sie dermaßen in ihrem Bann, daß nichts dagegen ankommen konnte. Und wieder klang die Stimme an ihr inneres Ohr und umschmeichelte sie.

- Was bin ich anderes, als eine im Laufe der Zeitalter angehäufte Sammlung von Wissen, die zum Gebrauch der Sterblichen gebunden wurde? Ich bin weder gut noch böse, sondern nur ein real existierendes Ding. Aufgezeichnete und gebundene Erfahrung — existent für jedermann, der nach dem Wissen strebt. Ich nehme, was man mir bietet, von den Leben jener, die mit meinen Lehrsätzen arbeiten, und stelle nur eine Widerspiegelung von ihnen dar. Denk nach, Kind der Finsternis. Wer sind diejenigen gewesen, die mich benutzen wollten? Welchen Zweck wollten sie damit dienen? Du bist anders als sie. -

Brin stemmte sich gegen den Altar und hielt das Buch umklammert. Hör nicht zu! Hör nicht zu!

- Für über tausend Jahre befand ich mich im Besitz deiner Feinde. Nun nimmst du ihren Platz ein und hast die Gelegenheit, mich auf eine nie erprobte Weise zu benutzen. Dir wohnt meine Macht inne. Du bist Herrin der Geheimnisse, die so viele fälschlich genutzt haben. Überlege dir, was du mit dieser Macht anfangen möchtest, Kind der Finsternis. Durch mich kann alles Lebendige und Tote neugeschaffen werden. Würde sich das Wünschlied mit dem geschriebenen Wort vereinigen, Magie mit Magie — wie großartig wäre das. Du könntest fühlen, wie großartig es wäre, wenn du es nur einmal versuchen wolltest -

Doch ein Versuch war nicht nötig. Sie hatte es bereits vorher in der Macht ihres Wünschliedes gefühlt. Macht! Sie war davon mitgerissen worden, hatte in ihrer Süße geschwelgt. Als sie sie umhüllte, erhob sie sich weit über die ganze Welt und deren Geschöpfe und konnte sie an sich ziehen oder auslöschen, ganz wie sie das entschied. Wieviel mehr konnte sie demnach vollbringen — konnte sie fühlen, wenn sie auch die Macht dieses Buches besäße?

- Alles Bestehende wäre dein. Alles. Sei, wie du magst, und gestalte die Welt, wie sie deines Wissens sein sollte. Du könntest so vieles vollbringen, und es verhielte sich bei dir so, wie es sein sollte — nicht wie bei jenen, die vor dir kamen. Du verfügst über die Kraft, die ihnen abging. Du bist dem Elfenzauber entsprungen. Benutze mich, Kind der Finsternis. Erforsche die Grenzen deiner eigenen Magie und der meinen. Werde eins mit mir. Darauf habe ich gewartet, und zu diesem Zweck bist du gekommen. Das war uns ewig vorbestimmt. Ewig -

Brin schüttelte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen. Ich bin gekommen, das zu zerstören, dem ein Ende zu bereiten... In ihrem Innern schien alles zu zerbrechen und zu Scherben auseinanderzufallen wie Glas auf Stein. Blendende Hitzewallungen durchloderten sie, und sie hatte das Gefühl, losgelöst zu sein von ihrem Körper, der sie zurückzuhalten suchte.

- Ich habe Wissen zu bieten, das ich dir schenken würde. Ich besitze Einsicht, die alles jemals von sterblichen Wesen Erträumte übersteigt. Sie vermag dich zu allem zu machen, das du willst. Ein ganzes Leben kann neugestaltet werden, so wie es sein sollte, wie du es für richtig erkennst. Vernichte mich, und alles, was ich um schließe, ist sinnloserweise verloren. Zerstöre mich, und nichts von allem, was geschehen könnte, wird Wirklichkeit. Wahre das Gute, Kind der Finsternis, und nimm es in Besitz -

Allanon, Allanon...

Doch die Stimme schnitt ihren lautlosen Schrei ab.

- Sieh dich um, Kind der Finsternis. Was du wirklich zerstören möchtest, steht hinter dir. Nun dreh dich um und schau. Dreh dich um und schau -

Sie fuhr herum. Eine ganze Ansammlung Wandler glitt geisterhaft als große, schwarze und abweisende Gestalten aus dem Dunkel. Sie zogen einer nach dem anderen in den runden Kuppelraum und hielten inne, als sie Brin erblickten, die in ihren Händen das Buch der schwarzen Magie hielt. Wieder flüsterte die Stimme des Ildatch ihr zu.

- Das Wünschlied, Kind der Finsternis. Gebrauche den Zauber. Vernichte sie. Vernichte sie -

Sie handelte fast ohne nachzudenken. Sie riß den Ildatch beschützend an sich und setzte die Macht ihrer Magie ein. Sie wirkte schnell und löste sich in ihr wie eine Flutwelle. Brin stieß einen Schrei aus, und das Wünschlied zerriß die finstere Stille des Turmes. Es drang durch die Düsternis des Rundbaus wie ein greifbares Ding. Es packte die Wandler in einer laut schallenden Explosion, und sie hörten einfach auf zu sein. Nicht einmal Asche blieb von ihrer ehemaligen Existenz.

Brin taumelte gegen den Altar zurück, und in ihrem Körper vermischte sich die Magie des Wünschliedes mit der des Buches.

- Fühle sie, Kind der Finsternis. Fühle die Macht, über die du gebietest. Sie erfüllt dich, und ich bin ein Teil von ihr. Wie leicht müssen deine Feinde vor dir fallen, wenn diese Macht entfesselt wird? Kannst du noch länger zweifeln, was geschehen muß? Denk nicht mehr daran, daß jemals etwas anderes geschehen könnte. Denk nicht mehr daran, daß wir nicht eins sein könnten. Nimm mich und benutze mich. Zerstöre die Geister und die schwarzen unheilvollen Wesen, die dir Widerstand leisten wollen. Mach mich zu deinem Besitz. Verleih mir Leben -

Noch immer kämpfte jener tief in ihrem Innern verborgene Teil, um der Stimme Widerstand zu leisten, doch sie hatte keine Gewalt mehr über ihren Körper. Der war nun im Besitz des Zaubers, und sie saß in seiner Hülle fest. Sie wuchs aus sich heraus zu einem neuen Wesen, und das winzige Restchen Ich sah immer noch die Wahrheit, die auf der Strecke blieb. Sie wuchs an, bis es aussah, als erfüllte sie den ganzen kleinen Raum. Hier war so wenig Platz für sie! Sie benötigte den Raum, der draußen vorhanden war!

Ein langes, qualvolles Stöhnen brach von ihren Lippen, sie streckte die Arme aus und hielt den Ildatch in die Höhe.

- Benutze mich. Benutze mich -

In ihr begann die Macht anzuschwellen.

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