33

Unheilvoll und bedrohlich kam der Mwellret Stythys in der Düsternis der Zelle näher, und Jair wich langsam zurück.

»Gib mir diesse Zauberkünsste«, zischte das Ungeheuer und winkte dann mit gekrümmtem Finger. »Gib ssie her, Elfling!«

Der Talbewohner flüchtete weiter in die Dunkelheit, daß die Ketten, mit denen er an Hand- und Fußgelenken gefesselt war, über den Boden klirrten. Dann stieß er mit dem Rücken gegen die Zellenwand und konnte nirgendwohin weiter ausweichen.

Ich kann nicht einmal vor ihm davonlaufen! dachte er verzweifelt.

Vom Zelleneingang ertönte das leise Schlurfen von Lederstiefeln auf Stein, und dahinter tauchte der Gnomenwärter aus dem Korridor auf. Mit tief ins Dunkel gesenktem Kopf trat die verhüllte Gestalt in den Raum. Stythys drehte sich um, als der andere näher kam, und seine kalten Augen funkelten mißbilligend.

»Habe dasss kleine Kerlchen nicht gerufen«, knurrte der Mwellret bedrohlich, und die schuppigen Hände scheuchten den Gnom fort.

Doch der Gefängniswärter schenkte ihm keine Beachtung. Stumm und reaktionslos schlurfte er an dem Echsenwesen vorüber, als hätte er es nicht gesehen, und kam geradewegs auf Jair zu. Der Gnom hielt immer noch den Kopf gesenkt und die Hände tief in die Falten seines zerfetzten Umhangs vergraben und schwebte wie ein Gespenst durch die Dunkelheit. Jair beobachtete sein Näherkommen mit einem Gemisch von Überraschung und Ungewißheit. Als der kleine Mann sich näherte, schreckte der Talbewohner angewidert an die Steinmauer zurück, und das Eisen seiner Ketten rasselte, als er abwehrend die Hände hob.

»Bleib draußen, kleiness Kerlchen!« keuchte Stythys nun ziemlich wütend und richtete den geschuppten Körper bedrohlich auf.

Doch der Gnomenwärter war bereits bei Jair angelangt und stand gebückt und stumm vor dem Talbewohner. Langsam hob sich der von der Kapuze verhüllte Kopf.

Jair machte große Augen. Der Gnom in dem zerfetzten Umhang und der Kapuze war nicht der Wärter!

»Brauchst du eine kleine Hilfe, Junge?« flüsterte Spinkser.

Dann sprang eine schwarzgekleidete Gestalt aus dem finsteren Korridor draußen, die schlanke Klinge eines langen Schwerts drückte sich an die Kehle eines erstaunten Stythys und drängte ihn an die Zellenwand zurück.

»Keinen Laut!« warnte Garet Jax. »Und nicht die kleinste Bewegung. Eins von beidem, und du bist tot, ehe du damit fertig bist.«

»Garet, Ihr seid am Leben!« rief Jair ungläubig aus.

»Am Leben und wohlauf«, erwiderte der andere, doch die harten, grauen Augen ließen keinen Blick von dem Mwellret. »Schnell, lös die Fesseln des Talbewohners, Gnom!«

»Nun habt mal einen Augenblick Geduld!« Spinkser hatte einen großen Bund eiserner Schlüssel unter dem Umhang hervorgezogen und probierte sie nacheinander an den Fesseln aus, die den Talbewohner gefangenhielten. »Die verdammten Dinger passen nicht in das Schloß... ah, da haben wir ihn ja!«

Die Schließen an Hand- und Fußfesseln klickten laut, und die Ketten fielen zu Boden. »Spinkser!« Jair faßte nach dem Arm des Gnomen, als der den zerfetzten Umhang des Wärters auszog und von sich warf. »Wie um alles in der Welt hast du es geschafft, mich zu finden?«

»Das ist doch wahrhaftig keine Kunst, Junge«, schnaubte der Gnom und rieb die Gelenke des anderen, um die Durchblutung wieder anzuregen. »Ich sagte dir doch, daß ich der beste Fährtensucher bin, der dir jemals über den Weg laufen würde! Das Wetter war natürlich nicht gerade eine Hilfe — hat die Hälfte aller Spuren verwischt und das ganze Waldland in Schlamm verwandelt. Aber direkt vor den unterirdischen Gängen stießen wir auf die Spuren der Echse und wußten, daß sie dich hierher bringen würde, in welcher Absicht auch immer. Zellen in Dun Fee Aran sind zum rechten Preis für jedermann zu haben, ohne daß einer große Fragen stellt. Und die inhaftierten Menschen sind ebenfalls zu kaufen. Die sperren dich hier ein, bis nur noch Knochen von dir übrig sind, wenn nicht...«

»Erzähl das später, Gnom!« schnitt Garet Jax ihm das Wort ab. »Du!« Er deutete mit spitzem Finger auf den Mwellret. »Du gehst voran und hältst uns alle vom Leib. Niemand darf uns aufhalten, niemand soll uns Fragen stellen. Wenn aber doch...«

»Lassst mich hier, kleine Leutchen!« zischte das Geschöpf.

»Ja, laßt ihn hier«, unterstützte ihn Spinkser mit vor Abscheu verzogenem Gesicht. »Den Echsen kann man nicht trauen.«

Aber Garet Jax schüttelte den Kopf. »Er kommt mit. Foraker glaubt, wir könnten ihn noch brauchen.«

Jair fuhr hoch. »Foraker ist auch hier?«

Aber Spinkser schob ihn bereits zur Zellentür und spie demonstrativ aus, als er an dem Mwellret vorüberkam. »Er wird uns nur Ärger bringen, Waffenmeister«, erklärte er hartnäckig. »Vergeßt nicht, ich habe Euch gewarnt.«

Dann standen sie im Gang hinter der Tür, duckten sich in Schatten und Stille, und Spinkser hielt sich dicht neben dem Talbewohner, als Garet Jax Stythys hindurchschob. Der Waffenmeister blieb einen Augenblick stehen, lauschte und stieß dann Stythys vor sich her, um den Rückweg über den verdunkelten Korridor einzuschlagen. In einer Wandhalterung vor ihnen brannte eine Fackel; als sie daran vorüberkamen, fischte Spinkser sie heraus und übernahm die Führung.

»Das ist vielleicht ein dunkles Loch!« knurrte er leise, als er sich den Weg durch die Finsternis bahnte.

»Spinkser!« murmelte Jair drängend. »Ist Elb Foraker auch hier?«

Der Gnom warf ihm einen raschen Blick zu und nickte. »Der Zwerg und der Elf und der Grenzländer ebenfalls. Sagten, wir hätten diese Reise gemeinsam angetreten und würden -sie so auch zu Ende bringen.« Er schüttelte wehmütig den Kopf. »Wahrscheinlich haben wir alle den Verstand verloren.«

Sie huschten zurück durch das Labyrinth der Gefängnisgänge; der Gnom und der Talbewohner gingen vorweg, der Waffenmeister folgte ihnen mit einem Schritt Abstand und drückte dem Mwellret das Schwert ins Kreuz. Sie hasteten durch Dunkelheit, Stille und den Gestank von Tod und Fäulnis, kamen an den geschlossenen, verrosteten Zellentüren vorüber und nahmen ihren Weg zurück nach draußen. Allmählich ließ die Finsternis nach, als graue, verwaschene Streifen Tageslicht die Gänge vor ihnen erhellten. Das Plätschern von Regen drang an ihre Ohren, und ein zarter, süßer Hauch frischer Luft wehte ihnen entgegen.

Dann tauchten wieder die riesenhaften, eisenbeschlagenen Tore des Gebäudeeingangs verschlossen und verriegelt vor ihnen auf. Wind und Regen peitschten in heftigen Böen dagegen und trommelten aufs Holz. Spinkser warf die Fackel von sich und huschte voraus, um durch den Beobachtungsschlitz zu prüfen, was sie draußen erwartete. Jair trat neben ihn und atmete dankbar die frische Luft, die herein wehte.

»Ich hätte nie gedacht, daß ich dich noch einmal wiedersehen würde«, flüsterte er dem Gnomen zu. »Keinen von euch.«

Spinkser hielt sein Auge an den Schlitz gepreßt. »Du hast eben Glück.«

»Ich dachte nicht, daß noch einer da wäre, der mich hier herausholen könnte. Ich glaubte, Ihr wärt alle tot.«

»Wohl kaum«, knurrte der Gnom. »Nachdem ich dich in den Tunnels verloren hatte und nicht herausfinden konnte, was aus dir geworden war, stieg ich weiter in die Felswände nördlich über Capaal. Dort endet der Tunnel. Ich wußte, wenn die anderen überlebt hätten, mußten sie ebenso wie ich dort herauskommen, denn so war es nach dem Plan des Waffenmeisters vorgesehen. Also wartete ich. Und natürlich fanden sie einander wieder und stießen schließlich auch auf mich. Und dann machten wir uns auf die Suche nach dir.«

Jair starrte den Gnomen an. »Spinkser, du hättest mich einfach im Stich lassen können — und die anderen auch. Keiner hätte es jemals erfahren. Du warst frei.«

Der Gnom zuckte mit den Achseln, Unbehagen spiegelte sich auf seinem derben Gesicht. »Tatsächlich?« Er schüttelte verächtlich den Kopf. »Habe mir niemals die Zeit genommen, darüber nachzudenken.«

Inzwischen stand Garet Jax neben ihnen und stieß Stythys vor sich her. »Regnet es noch?« fragte er Spinkser.

Der Gnom nickte. »Es regnet noch.«

Der Waffenmeister steckte mit einer geschmeidigen Bewegung das Schwert wieder in die Scheide und zog statt dessen ein langes Messer. Er drängte Stythys an die Korridorwand; sein mageres Gesicht wirkte hart. War Stythys noch einen Kopf größer als Garet Jax gewesen, als der ihn in Jairs Zelle überwältigt hatte, so war er inzwischen wieder geschrumpft und hatte sich wie eine Schlange in seine Kleider gerollt. Grüne Augen funkelten böse, kalt und ohne Wimpernzucken nach dem Südländer.

»Lassst mich hier, kleine Leutchen!« jammerte er noch einmal.

Garet Jax schüttelte den Kopf. »Halte dich dicht an mich, wenn wir draußen sind, Mwellret. Versuch nicht, zu entwischen. Und keine Tricks! Mit unseren Umhängen und Kapuzen dürfte man uns nicht erkennen. Der Regen wird uns die meisten vom Leibe halten, aber wenn uns doch jemand anspricht, wirst du ihn abwimmeln. Vergiß nicht, es braucht nicht viel Argumente, mich dazu zu bringen, dir die Kehle durchzuschneiden.«

Er sagte es leise, fast freundlich, und eisige Stille trat daraufhin ein. Der Mwellret kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.

»Habt doch die Zauberssachen«, zischte er wütend. »Braucht mich doch gar nicht. Lassst mich hier!«

Garet Jax führte die Spitze seines langen Messers dicht an den schuppigen Hals des anderen. »Du kommst mit!«

Mit eng um sich geschlungenen Umhängen zogen sie die schweren Holztüren des finsteren Gefängnisses auf und traten hinaus ins Licht. Regen fiel in dichten Schleiern von einem grauen, wolkenverhangenen Himmel und wurde vom Wind gegen die Mauern der Festung gedrückt. Mit eingezogenen Köpfen liefen die vier über den verschlammten Innenhof auf die Wehrgänge zu, die sich unmittelbar nordwärts erstreckten. Vereinzelte Gruppen von Gnomen-Jägern liefen ihnen über den Weg, ohne ihr Tempo zu verlangsamen; sie hatten es nur eilig, aus dem Wetter herauszukommen. Auf den Wachtürmen kauerten sich die Posten in den Schutz von Winkeln und Nischen im Mauerwerk und litten jämmerlich unter Kälte und Feuchtigkeit. Keiner kümmerte sich nur im geringsten um die kleine Gruppe, die unten den Hof überquerte. Keiner warf ihnen auch nur einen zweiten Blick hinterher.

Als die nördlichen Wehrgänge näherrückten, setzte Spinkser sich an die Spitze und führte sie an riesigen Pfützen und Schlammlöchern vorüber zu einer Stelle, wo hinter zwei schmiedeeisernen Gittertoren ein kleiner Innenhof lag. Sie traten durch die Tore und eilten auf einen überdachten Eingang zu, der in einen gedrungenen Fachwerkwachturm führte. Wortlos entriegelte der Gnom das im Dunkeln liegende Holztor und geleitete sie hinein.

Drinnen dehnte sich ein Vorraum, der von Fackeln in Wandhaltern zu beiden Seiten der Tür erhellt wurde. Sie strichen das Wasser von ihren Mänteln und hielten einen Augenblick lang inne, während Spinkser auf den finsteren Korridor trat, der nach links unter der Brustwehr entlangführte. Der Gnom spähte in die Dunkelheit und winkte ihnen dann, ihm zu folgen. Garet Jax schnappte eine der Fackeln aus ihrem Halter, reichte sie Jair und gab ihm Zeichen, er sollte hinter Spinkser hergehen.

Vor ihnen führte ein schmaler Gang, von dem rechts und links Türen abgingen, in die Finsternis.

»Lagerräume«, informierte Spinkser Jair mit einem Zwinkern.

Sie traten in den Gang. Spinkser huschte vorsichtig weiter; an der dritten Tür blieb er stehen und klopfte leise.

Der Riegel schnappte laut, die Tür schwang weit auf, und Elb Foraker, Helt und Edain Elessedil standen vor ihnen. Breites Grinsen verzog ihre übel zugerichteten Gesichter, als sie Jair umringten und ihm herzlich die Hand schüttelten.

»Bist du wohlauf, Jair?« erkundigte sich sogleich der Elfenprinz, dessen eigenes Gesicht so schlimm von Prellungen und Schnittwunden entstellt war, daß der Talbewohner schier Angst um ihm bekam. Der Elf sah seine Besorgnis und tat sie mit einem Achselzucken ab. »Bloß ein paar Kratzer. Ich fand einen Fluchttunnel, doch der mündete in eine Dornenhecke. Das wird alles schnell verheilen. Aber was ist mit dir — fehlt dir wirklich nichts?«

»Jetzt geht es mir wieder hervorragend, Edain.« Jair drückte ihn spontan an sich.

Helt und Foraker waren an Händen und in den Gesichtern auch böse verschrammt, nach Jairs Vermutungen die Folge davon, daß sie den größeren Teil der herabstürzenden Brustwehrmauern abbekommen hatten. »Ich kann gar nicht glauben, daß ihr alle hier seid!« Der Talbewohner schluckte schwer, um den Knoten zu lösen, der sich in seiner Kehle gebildet hatte.

»Wir konnten dich ja nicht einfach sitzenlassen, Jair, oder?« Der Grenzländer Helt umfaßte Jairs Arm herzlich mit einer seiner riesigen Pranken. »Du hast schließlich die Zauberkraft, die wir brauchen, um den Silberfluß zu retten.«

Jair grinste glücklich, und Foraker trat mit auf den Mwellret geheftetem Blick hinzu. »Wie ich sehe, habt ihr ihn mitbringen können.«

Garet Jax nickte ohne weiteren Kommentar. Während die anderen Jair begrüßt hatten, war er mit auf die Kehle des Mwellrets gerichteter Messerspitze neben Stythys stehengeblieben.

»Kleinen Leutchen wird ess noch leid tun, dass ssie mich mitgenommen haben«, zischte die Kreatur giftig. »Werde einen Weg finden, dass ess ihnen leid tut!«

Spinkser spie verächtlich zu Boden. Foraker wies mit dem Finger auf den Mwellret. »Du allein bist dafür verantwortlich, was von nun an aus dir wird, Stythys. Hättest du nicht den Talbewohner entführt, hätte sich kein Mensch um dich gekümmert. Aber da du ihn mitgeschleppt hast, mußt du auch dafür geradestehen. Du wirst uns sicher aus dieser Festung geleiten und uns von hier den Weg nordwärts ins Rabenhorn weisen. Führ uns ein einziges Mal in die Irre, und ich werde Spinkser machen lassen, wozu er von Anfang an Lust gehabt hätte.« Er schaute zu dem Gnomen. »Und vergiß nicht, Stythys, er kennt den Weg auch, also überleg es dir gut, ehe du uns zu täuschen versuchst.«

»Machen wir, daß wir fortkommen!« knurrte Spinkser nervös.

Unter Führung des Gnomen schlich die kleine Gruppe den schmalen Gang entlang und durch eine Reihe noch engerer Korridore, und sie gelangten schließlich an den Fuß einer Wendeltreppe. Spinkser legte mahnend einen Finger an die Lippen. Im Gänsemarsch machten sie sich an den Aufstieg. Von irgendwo oben, schwach und noch weit entfernt, klangen die gutturalen Töne von Gnomenstimmen an ihre Ohren. Am Ende der Treppe befand sich eine kleine Holztür. Spinkser blieb kurz stehen, lauschte, öffnete sie einen Spaltbreit und spähte hinein. Sobald er sich überzeugt hatte, winkte er sie hindurch.

Sie standen in einer gut bestückten Waffenkammer, auf deren Boden sich Waffen, Rüstungen und Proviant stapelte. Graues Licht sickerte durch die hohen, vergitterten Fenster. Der Raum war menschenleer, und Spinkser führte sie rasch zu einer Tür an der gegenüberliegenden Wand.

Er hatte sie schon fast erreicht, als sie plötzlich von der anderen Seite aufgestoßen wurde und er sich einer ganzen Schwadron Gnomen-Jäger gegenübersah.

Die Gnomen zögerten, sahen zuerst Spinkser und dann die merkwürdigen Gesichter der Leute, die ihm folgten. Und erst als sie Foraker erblickten, fuhren ihre Hände nach ihren Waffen.

»Diesmal hast du kein Glück, Junge«, heulte Spinkser auf und warf sich schützend vor Jair.

Die Gnomen-Jäger stürmten auf sie zu, doch die dunkle Gestalt von Garet Jax hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und das schlanke Schwert gezückt. Der vorderste der Angreifer ging zu Boden, dann befand sich Foraker an der Seite des Waffenmeisters, und seine doppelköpfige Axt schlug die übrigen zurück. Stythys hinter ihm drehte sich um und schoß auf die Tür zu, durch die sie gekommen waren, aber Helt setzte ihm mit einem katzenhaften Sprung nach und riß ihn zu Boden. Sie schlitterten in einen Stapel Lanzen, der mit lautem Poltern von Holz und Eisen über ihnen zusammenbrach.

Die Gnomen-Jäger blieben noch einen Augenblick stehen und kämpften an der offenen Tür weiter, als Garet Jax und Foraker sie massiv bedrängten. Dann wichen sie mit einem wütenden Aufschrei aus und ergriffen die Flucht. Der Waffenmeister und der Zwerg verfolgten sie bis zur Tür; doch da sie sahen, daß eine Verfolgung sinnlos war, machten sie schnell kehrt und halfen dem kämpfenden Helt. Gemeinsam zerrten sie Stythys wieder auf die Beine, wobei der Mwellret unheilvoll zischte und seinen geschuppten Körper anschwellen ließ, bis er sogar den hühnenhaften Grenzbewohner überragte. Sie hielten den Echsenmenschen fest und zerrten ihn dorthin, wo Spinkser und Jair standen und in den Korridor spähten.

Von beiden Seiten des Ganges erklangen Alarmschreie zur Antwort auf das Gebrüll der flüchtenden Gnomen-Jäger.

»Wohin laufen wir?« fuhr Garet Jax Spinkser an.

Wortlos drehte der Gnom sich nach rechts, in Gegenrichtung der flüchtenden Jäger, trabte rasch den Korridor hinab und winkte den anderen, ihm zu folgen. Sie rannten dicht zusammengedrängt hinterher, wobei Stythys durch das lange Messer, das Garet Jax ihm in die Rippen preßte, angetrieben wurde.

»Törichte kleine Kerlchen!« keuchte der Mwellret wütend. »Dass hier ssind die Gefängnisse!«

Der Korridor verzweigte sich vor ihnen. Zu ihrer Linken erblickte sie eine Gnomenschar und kam mit gezückten Waffen angerannt. Spinkser wirbelte herum und führte die kleine Gesellschaft nach rechts. Vor ihnen sprang ein Gnomen-Jäger aus einer Türöffnung, doch Foraker schlug ihn, ohne auch nur den Schritt zu verlangsamen, nieder, indem er den behelmten Kopf des anderen kräftig gegen die Steinquadermauer schmetterte. Rings um sie her erhoben sich Schreie von Verfolgern.

Zu spät. Der Gnom war mitten in eine Schar bewaffneter Jäger gestolpert, die unvermutet aus einem angrenzenden Gang gestürmt kamen. Er ging in einem Gewirr von Armen und Beinen unter und schrie auf. Garet Jax stieß Stythys zu Helt und eilte ihm, dicht gefolgt von Foraker und Edain Elessedil, zu Hilfe. Waffen funkelten grell im grauen Schummerlicht, und Schmerz- und Wutschreie erfüllten die Halle. Die Retter stürzten sich in das Gnomengewimmel und drängten die Angreifer von dem gestürzten Spinkser zurück. Garet Jax glich mit seinen flüssigen, schnellen Bewegungen einer jagenden Katze, wie er mit seinem schlanken Schwert parierte und zustieß. Die Gnomen wichen zurück. Edain Elessedil half Spinkser wieder auf die Beine.

»Spinkser! Führt uns hier heraus!« brüllte Elb Foraker, während er die riesige Doppelaxt vor sich schwenkte.

»Vorwärts!« hustete Spinkser und taumelte weiter.

Die kleine Gruppe zwängte sich durch die Gnomen, die ihnen noch immer den Weg versperren wollten, raste den Korridor entlang und zerrte den widerwilligen Stythys mit sich. Von überall her fielen Gnomen-Jäger sie an, doch sie schlugen die Angreifer in wilder Entschlossenheit zurück. Spinkser fiel noch einmal über den Schaft eines kurzen Speers, der ihm in den Weg gestreckt wurde. Sogleich war Foraker bei ihm, hämmerte mit der Breitaxt auf den Gegner ein und zerrte Spinkser mit einer Hand wieder in die Höhe. Die Schreie hinter ihm wurden zu lautem Gebrüll, als Hunderte von Gnomen sich durch die Tür der Waffenkammer in den Gang ergossen und ihre Verfolgung aufnahmen.

Als der Weg einen Augenblick frei vor ihnen lag, waren sie mit wenigen Sätzen eine Treppenflucht hinabgesprungen und liefen im unteren Stockwerk den Gang zurück. Vor ihnen tat sich ein Rundbau mit Fenstern und Türen ringsum auf, die zum Schutz gegen das Wetter verriegelt und mit Läden verschlossen waren. Ohne zu Zaudern riß Spinkser die nächstbeste Tür auf und führte die kleine Gruppe wieder hinaus in den Regen.

Sie befanden sich in einem weiteren, von Mauern und Toren eingegrenzten Hof. Der Regen peitschte ihnen heftig in die Gesichter, Donner grollte über die Hochwarte hinweg. Spinkser verlangsamte seinen Schritt, als er sie über den Hof führte, die Tore aufstieß und hinaustrat. Draußen zog sich eine Wendeltreppe zu einer Reihe Wehrgänge und Wachtürme hinab. Dahinter schob sich der finstere Schatten des Waldes dicht an die Mauern heran.

Kühn geleitete Spinkser die Gesellschaft die Treppe hinab auf die Brustwehren. Inzwischen drängten sich Gnomen um die Wachtürme, nachdem sie besorgt mitbekommen hatten, daß in der Festung etwas vorgefallen war. Spinkser beachtete sie gar nicht. Mit gesenktem Kopf und dicht um sich geschlungenen Umhang scheuchte er die anderen in den Gang unter den Wehrgängen. Im Schutz der Dunkelheit scharte er die Gruppe um sich.

»Wir werden geradewegs durchs Tor ziehen«, verkündete er, und sein Atem ging noch stoßweise. »Keiner spricht ein Wort außer mir. Behaltet die Kapuzen auf und die Köpfe gesenkt. Was auch geschehen mag, bleibt nicht stehen. Schnell jetzt!«

Es kam kein Widerspruch, nicht einmal von Garet Jax. Mit eng um sich gezogenen Umhängen und tiefgezogenen Kapuzen schlichen sie sich wieder aus dem Halbdunkel. Sie folgten Spinkser an der Brustwehrmauer entlang unter dem Wachturm hindurch zu zwei eisernen Gittertoren. Davor stand eine Schar Gnomen-Jäger, die Köpfe zum Schutz gegen das Wetter geduckt, und unterhielt sich bei einer Flasche Bier. Als sie näher kamen, schauten ein, zwei hoch, worauf Spinkser winkte und ihnen etwas in der Gnomensprache zurief, das Jair nicht verstehen konnte. Einer der Jäger löste sich aus der Gruppe seiner Kameraden und trat ihnen entgegen.

»Geht weiter«, wisperte Spinkser ihnen über die Schulter hinweg zu.

Ein paar vereinzelte Schreie, die hinter ihnen erklangen, drangen an die Ohren der Gnomen-Jäger. Erschreckt drehten sie sich zur Festung um, um herauszufinden, was geschehen war.

Die kleine Gruppe marschierte, ohne zu zaudern, an ihnen vorüber. Instinktiv versuchte Jair, tiefer in seinen Umhang zu kriechen und verkrampfte sich so, daß er stolperte und hingefallen wäre, hätte Elb Foraker ihn nicht aufgefangen. Als sie an den Wachen vorbeikamen, löste Spinkser sich aus der Gruppe und versperrte somit dem Gnomen, der sie hatte aufhalten wollen, den Blick. Er unterhielt sich in ärgerlichem Ton mit dem Burschen, und Jair schnappte bei dem Gespräch das Wort »Mwellret« auf. Sie waren nun alle bis auf Spinkser an den Jägern vorüber, drängten unter den Wehrgängen weiter und durch das offene Tor. Keiner hielt sie auf. Als sie von Dun Fee Aran in die Finsternis des Waldes flüchteten, ging Jair langsamer und schaute sich besorgt um. Spinkser stand immer noch unter dem Torbogen und stritt mit dem Wachposten.

»Halt deinen Kopf unten!« mahnte ihn Foraker und schob ihn an sich vorbei.

So betrat er den regendurchnäßten Wald, folgte widerwillig den anderen, und hinter ihm verschwanden die Mauern und Türme der Festung. Sie marschierten unter Elb Forakers Führung noch ein paar Minuten weiter ihren Weg zwischen Sträuchern und Bäumen hindurch. Dann hielten sie an und versammelten sich unter einer riesigen Eiche, deren Blätter rings um den Stamm herabgefallen und mit dem Erdreich zu einem Teppich von schlammigem Gelb verfilzt waren. Garet Jax drückte Stythys mit dem Rücken an den knorrigen Stamm und hielt ihn dort fest. Sie warteten schweigend.

Die Minuten verstrichen. Spinkser kam nicht. Jair hockte geduckt am Rande der kleinen Lichtung um die Eiche und spähte ratlos in den Regen. Die anderen unterhielten sich hinter ihm in gedämpften Tönen. Der Regen fiel unablässig und plätscherte kräftig und rhythmisch auf Erde und Waldbäume. Von Spinkser war immer noch nichts zu sehen. Jair preßte entschlossen die Lippen aufeinander. Wenn er in den nächsten fünf Minuten nicht erschien, wollte der Talbewohner umkehren und ihn suchen. Er würde den Gnomen nicht im Stich lassen, nicht nach allem, was Spinkser für ihn getan hatte.

Fünf Minuten vergingen, und Spinkser blieb verschwunden. Jair stand auf und schaute die anderen fragend an, die als verhüllte Gestalten in Umhängen und Kapuzen in Dunkelheit und Regen hockten.

»Ich kehre um«, erklärte er ihnen. Dann ließ ein Rascheln ihn herumfahren, und Spinkser tauchte unter den Bäumen auf.

»Hat doch ein wenig mehr Geschwätz gekostet, als ich erwartet hatte«, verkündete der Gnom. »Sie werden ziemlich bald hinter uns her sein.« Dann sah er den erleichterten Ausdruck auf Jairs Gesicht und hielt inne. »Wolltest du gerade irgendwohin, Junge?« vermutete er richtig.

»Nun, ich... nein, jetzt wohl nicht mehr...«, stotterte Jair.

Ein erheiterter Ausdruck zog über das derbe Gesicht des Gnomen. »Nein? Hast wohl immer noch vor, deine Schwester zu suchen, wie?« Jair nickte. »Gut. Dann hast du wenigstens doch ein Ziel. Du begleitest uns nach Norden. Gehen wir!«

Er winkte den anderen und schlug den Weg in den Wald ein. »Wir werden den Fluß sechs Meilen stromaufwärts überqueren, um jede Verfolgung abzuschütteln, die so lange andauern könnte. Der Fluß ist dort tief, aber ich schätze, viel nässer können wir ohnehin nicht mehr werden.«

Jair gestattete sich ein knappes Lächeln und folgte dann den anderen. Vor ihnen erhoben sich zwischen den Bäumen nebelverhangen und grau die Gipfel der Hochwarte. Hinter ihnen, weiter im Norden und ihren Blicken verborgen, lag das Rabenhorn-Gebirge. Es mochte noch ein weiter Weg bis Graumark sein, dachte der Talbewohner, sog die kühle Herbstluft und den Geruch des Regens ein, aber zum ersten Mal seit Capaal fühlte er die Gewißheit in sich, daß sie die Festung erreichen würden.

Загрузка...