Wie ein schwerfälliges Tier, das sich verzweifelt aus einem tiefen Sumpf zu befreien versucht, schlingerte der Trawler in den feindlichen Wellen der finsteren, tobenden See. Die Brecher türmten sich zu gigantischen Höhen auf und krachten mit der vollen Wucht ihrer Wassermassen gegen den Rumpf; weiße Gischt, die der Nachthimmel erhellte, ging in Kaskaden unter der Wut des nächtlichen Windes über das Deck nieder. Überall waren Laute seelenlosen Schmerzes zu hören: Holz, das sich gegen Holz bäumte, Taue, die sich verdrehten, bis zum Zerreißen angespannt. Das Tier lag im Todeskampf.
Da übertönten zwei Explosionen die Laute der See und des Windes und des Schmerzes, den das Schiff empfand. Sie drangen aus der schwach erleuchteten Kabine. Ein Mann stürzte aus der Tür, klammerte sich mit einer Hand an die Reling und hielt sich mit der anderen den Bauch.
Ein zweiter Mann folgte ihm. Er stützte sich an der Kabinentür ab, bevor er seine Pistole hob und erneut feuerte. Und dann noch einmal.
Der Mann an der Reling riß beide Hände an den Kopf, als die vierte Kugel ihn nach hinten warf. Der Bug des Trawlers tauchte plötzlich in das Tal zwischen zwei mächtigen Wogen und hob den Verwundeten hoch; der drehte sich nach links, außerstande, die Hände vom Kopf wegzunehmen. Wieder bäumte sich das Boot auf, so daß Bug und Mittschiff fast gänzlich aus dem Wasser ragten und die Gestalt in der Tür in die Kabine zurückfiel. Ein fünfter Schuß peitschte. Der Verwundete schrie auf. Seine Arme schlugen jetzt wild um sich, die Augen von Blut und Gischt geblendet. Seine Hände griffen ins Leere. Da war nichts, was er greifen konnte. Die Beine knickten ein, als sein Körper nach vorne taumelte. Das Boot stampfte wild leewärts, und der Mann, dessen Schädel aufgerissen war, wurde über die Reling geschleudert, hinab in den Wahnsinn der Finsternis unter ihm.
Er spürte, wie das wilde, kalte Wasser ihn umhüllte, ihn in die Tiefe sog, ihn herumwirbelte und wieder nach oben trieb. Ein einziger Atemzug, und erneut zog es ihn in die Fluten.
Plötzlich spürte er eine Hitze, eine feuchte Hitze an seiner Schläfe, die stärker war als das eisige Wasser, das fortfuhr, ihn zu verschlingen. Ein Feuer brannte, wo kein Feuer brennen durfte; und ein eisiges Pulsieren strömte durch seinen Leib, seine Beine, seine Brust, seltsam von der kalten See gewärmt, die ihn umgab. Er konnte verfolgen, wie sein eigener Körper sich drehte, sich verkrampfte, wie Arme und Füße sich verzweifelt aus dem Strudel befreien wollten. Er konnte fühlen und denken, Panik und Kampf wahrnehmen — und doch war da Frieden in ihm. Es war die Ruhe des unbeteiligten Betrachters, der, losgelöst von den Ereignissen, zwar von ihnen weiß, aber nicht von ihnen betroffen ist.
Dann durchfuhr ihn eine andere Art von Panik, wallte auf durch die Hitze und das Eis, verdrängte die Distanz. Er konnte sich nicht einfach dem Frieden hingeben! Noch nicht! Jeden Augenblick würde es geschehen; er war nicht sicher, was es war, aber es würde geschehen. Wie wild kämpfte er gegen die tonnenschweren Wasserwände über ihm an, und in seiner Brust brannte es. Schließlich brach er durch die Wasseroberfläche, ruderte wild mit Armen und Beinen, um sich auf der schwarzen Woge zu halten. Steig höher! Höher!
Eine mächtige Welle half ihm; er trieb auf ihrem Kamm, umgeben von Schaum und Finsternis. Nichts. Umdrehen! Umdrehen!
Da geschah es. Die Explosion war gewaltig; er konnte sie durch das Krachen der Wellen und das Brüllen des Windes hören, und irgendwie war der Anblick und das, was an sein Ohr drang, seine Tür zum Frieden. Der Himmel leuchtete auf wie ein feuriges Diadem, und in der aufstiebenden Feuerkrone wurden Gegenstände aller Formen und Größen durch das Licht in die äußere Welt der Schatten geschleudert.
Er hatte gewonnen! Was auch immer es war, er hatte gewonnen.
Plötzlich stürzte er wieder in die Tiefe, in den Abgrund. Er spürte, wie die Wellen über seinen Schultern zusammenschlugen und die glühende Hitze an seinen Schläfen kühlten.
Seine Brust schmerzte. Etwas hatte ihn getroffen: der
Schlag, der plötzliche Aufprall. Es war wieder geschehen! Laßt mich allein! Gebt mir Frieden!
Und er schlug erneut um sich, trat zu… bis er ihn spürte, den dicken, öligen Gegenstand, der sich nur mit den
Bewegungen der See bewegte. Er konnte nicht sagen, was das für ein Gegenstand war, aber er war da, und er konnte ihn fühlen, ihn festhalten. Ihn festhalten! Er wird dich in den Frieden führen… in das Schweigen der Finsternis….
Die Strahlen der frühen Morgensonne durchbrachen im Osten den dunstigen Schleier am Himmel und ließen die ruhigen Wasser des Mittelmeers glitzern. Der Kapitän des kleinen Fischerboots saß mit blutunterlaufenen Augen am Heck, die Hände rissig von den Tauen. Er rauchte eine Gauloise und war froh, daß die See so ruhig war. Er sah zu dem offenen Steuerhäuschen hinüber; sein jüngerer Bruder schob den Gashebel vor, um die Fahrt zu beschleunigen, während der einzige andere Angehörige seiner Crew ein paar Meter von ihm entfernt ein Netz prüfte. Sie lachten über irgend etwas, und das war gut so; denn letzte Nacht hatten sie wahrhaftig nichts zu lachen gehabt. Wo war der Sturm bloß hergekommen? Die Wetterberichte aus Marseille hatten ihn nicht angekündigt; sonst wären sie im Schutz der Küste geblieben. Er wollte bis Tagesanbruch die Fischgründe achtzig Kilometer südlich von La Seyne-sur-Mer erreichen, aber nicht um den Preis kostspieliger Reparaturen, und welche Reparaturen waren heutzutage nicht kostspielig?
Auch nicht um den Preis seines Lebens, und während der vergangenen Nacht hatte es Augenblicke gegeben, wo solche Befürchtungen durchaus gerechtfertigt waren.
«Du bist müde, nicht wahr?«rief sein Bruder und grinste ihm zu.»Geh jetzt schlafen. Laß mich weitermachen.«
«Okay«, antwortete der Bruder und warf die Zigarette über Bord.»Ein wenig Schlaf schadet bestimmt nicht.«
Es war gut, einen Bruder am Steuer zu wissen. Am besten sollte immer einer aus der Familie das Schiff lenken; der paßt wirklich auf. Selbst ein Bruder, der die gewandte Sprache eines Gebildeten sprach, im Gegensatz zu seinen eigenen grobschlächtigen Worten. Verrückt! Ein Jahr auf der Universität — und schon wollte sein Bruder eine Gesellschaft gründen. Mit einem einzigen Boot, das vor vielen Jahren bereits bessere Tage gesehen hatte. Verrückt. Was hatten ihm denn seine gescheiten Bücher letzte Nacht genützt, als seine Compagnie beinahe gekentert wäre?
Er schloß die Augen und kühlte seine Hände in den Wasserpfützen auf Deck. Das Salz der See würde gut für die
Verbrennungen sein, die er sich zugezogen hatte, als er Geräte festzurrte, die im Sturm nicht an ihrem Platz bleiben wollten.
«Schau! Dort drüben!«Sein Bruder wollte ihm offenbar mit seinen scharfen Augen den Schlaf neiden.
«Was ist denn?«schrie er.
«Dort treibt ein Mann im Wasser! Er hält sich an etwas fest. An einer Planke oder etwas Ähnlichem.«
Der Skipper nahm das Steuer und lenkte das Boot rechts neben die Gestalt im Wasser und drosselte die Motoren, um die Kielwelle zu verringern. Der Mann sah aus, als würde ihn die geringste Erschütterung von dem Stück Holz rutschen lassen, an das er sich klammerte.
Seine Hände waren weiß. Wie Klauen hatten sich seine Finger um die Planke gelegt; aber aus seinem übrigen Körper war alle Energie gewichen, wie bei einem Ertrunkenen, wie bei jemandem, der von dieser Welt bereits Abschied genommen hat.
«Macht eine Schlinge in die Taue!«schrie der Skipper seinem Bruder und dem Matrosen zu.»Legt sie um seine Beine. Ganz vorsichtig! Jetzt zieht sie hoch bis zu seinen Hüften. Vorsichtig! hab' ich gesagt.«
«Seine Hände lassen die Planke nicht los!«
«Ihr müßt sie öffnen! Vielleicht ist das die Totenstarre.«
«Nein. Er lebt noch, wie mir scheint. Seine Lippen bewegen sich, doch es kommt kein Ton heraus. Seine Augen auch; aber ich bezweifle, daß er uns sieht.«
«Die Hände sind frei!«
«Hebt ihn hoch. Packt seine Schultern und zieht ihn herüber. Vorsichtig!«
«Mutter Gottes, seht nur seinen Kopf!«schrie der Matrose.»Er ist aufgeplatzt.«
«Er muß im Sturm gegen die Planke geschlagen sein«, sagte der Bruder.
«Nein«, widersprach der Skipper und starrte die Wunde an.»Das ist ein sauberer Schnitt, wie von einer Rasierklinge. Eine Kugel hat ihn getroffen; man hat auf ihn geschossen.«
«Das kannst du nicht sicher sagen.«
«Er hat noch mehr Schußwunden«, fügte der Skipper hinzu, dessen Augen den Körper absuchten.»Wir fahren zur Ile de Port Noir; das ist die nächste Insel. Dort gibt es einen Arzt.«
«Den Engländer?«
«Er wird ihn versorgen.«
«Wenn er kann«, sagte der Bruder des Skippers,»falls er nicht besoffen ist. Mit den Tieren seiner Patienten hat er jedenfalls mehr Erfolg als mit Kranken.«
«Das macht nichts. Bis wir da sind, ist der hier ohnehin eine Leiche. Sollte er zufällig doch überleben, stelle ich ihm das zusätzliche Benzin und den Fang, der uns entgeht, in Rechnung. Hol den Sanitätskasten; wir verbinden ihm den Kopf, auch wenn es nichts nützt.«
«Schau!«rief der Matrose.»Seine Augen!«
«Was ist mit ihnen?«fragte der Bruder.
«Gerade noch waren sie grau — grau wie Stahlkabel. Jetzt sind sie blau!«
«Die Sonne ist heller geworden«, sagte der Skipper und zuckte die Schultern.»Oder du hast dich getäuscht. Aber das ist egal, im Grab gibt's ohnehin keine Farben.«
Das gleichmäßige Tuckern der Fischerboote mischte sich in das unablässige Kreischen der Möwen; gemeinsam bildeten sie die typischen Geräusche an der Küste. Es war später Nachmittag, die Sonne stand wie ein Feuerball im Westen, die Luft war still, feucht und heiß. Über den Piers am Hafen verlief eine Straße mit Kopfsteinpflaster, an ein paar heruntergekommenen weißen Häusern vorbei, zwischen denen Unkraut aus ausgetrockneter Erde in die Höhe schoß. Das hölzerne Gitterwerk der Veranden war beschädigt und die zerbröckelnden Stuckdecken wurden von hastig eingefügten Stützen getragen. Die Villen hatten vor ein paar Jahrzehnten bessere Tage gesehen, damals, als die Bewohner irrtümlich glaubten, Ile de Port Noir könnte ein weiteres Eldorado des Mittelmeeres werden. Doch das wurde es nie.
Von allen Häusern führten schmale Wege zur Straße, aber der Pfad des letzten Hauses in der Reihe wurde offensichtlich häufiger begangen als die anderen. Dort lebte ein Engländer, der vor acht Jahren nach Port Noir gekommen war, unter Umständen, die niemand begriff oder begreifen wollte; er war Arzt, und das Dorf brauchte einen, Nadel und Skalpell waren ebenso Werkzeuge, die dem Lebensunterhalt dienten, wie Instrumente, an denen man sich verletzen konnte. Wenn le docteur seinen guten Tag hatte, waren seine Nähte gar nicht übel. Wenn allerdings der Gestank von Wein oder Whisky zu penetrant war, ging man als Patient eben ein Risiko ein.
Aber besser er als gar kein Arzt.
Heute jedoch hatte noch niemand den Pfad benutzt. Es war Sonntag, und jeder wußte, daß der Doktor sich jeden Samstagabend im Dorf betrank und die Nacht dann mit irgendeiner Hure verbrachte. Natürlich war auch bekannt, daß sich an den letzten paar Samstagen die Gewohnheit des Arztes geändert hatte; er hatte sich nicht mehr im Dorf blicken lassen. Aber so groß war die Änderung nicht; Flaschen mit Scotch wurden regelmäßig in sein Haus geschickt. Er blieb einfach daheim; das tat er, seit das Fischerboot aus La Ciotat den unbekannten Mann gebracht hatte, der dem Tod näher gewesen war als dem Leben.
Dr. Geoffrey Washburn erwachte und zuckte zusammen, das Kinn gegen das Schlüsselbein gedrückt, so daß ihm der eigene Mundgeruch in die Nase strömte; das war nicht angenehm. Er rieb sich die Augen, orientierte sich und blickte zur offenen Schlafzimmertür. Hatte ihn wieder ein zusammenhangloser Monolog seines Patienten aus dem Schlaf gerissen? Nein, nebenan war Stille. Selbst die Möwen draußen waren ruhig. Es war der heilige Tag von Ile de Port Noir. Heute würden keine Fischerboote in den Hafen tuckern und die Vögel mit ihrem Fang locken.
Washburn sah auf das leere Glas und die halbleere Flasche Whisky auf dem Tisch neben seinem Sessel. Man merkte den Fortschritt. An einem normalen Sonntag würde sie jetzt längst ausgetrunken sein und der Scotch den Schmerz der vergangenen Nacht ertränkt haben. Er lächelte und dachte an seine ältere Schwester in Coventry, die den Scotch mit ihrer monatlichen Zuwendung möglich machte. Bess war ein gutes Mädchen, und sie hätte ihm weiß Gott viel mehr schicken können, aber trotzdem war er ihr dankbar für die Unterstützung. Und eines Tages würde sie aufhören, ihm Geld zu überweisen, und dann würde er mit dem billigsten Wein seine Erinnerung betäuben, bis überhaupt kein Schmerz mehr da war.
Er hatte sich schon lange mit diesem Leben abgefunden… bis ein paar Fischer, die sich nicht zu erkennen geben wollten, vor drei Wochen und fünf Tagen den halbtoten Fremden an seine Tür geschleppt hatten. Aus ihrer Sicht war das reine Barmherzigkeit, sie hatten mit dem Mann nichts weiter zu tun. Gott würde verstehen, warum der Mann angeschossen worden war.
Der Doktor stemmte seinen hageren Körper aus dem Sessel und trat schwankend ans Fenster, von wo aus er den Hafen überblicken konnte. Er zog die Gardinen zu, um das helle Sonnenlicht auszusperren, und spähte zwischen den Falten des Vorhangs hinaus, um zu sehen, was sich weiter unten auf der Straße tat, insbesondere, woher das Klappern kam. Es war ein Pferdewagen, eine Fischerfamilie auf Sonntagsausfahrt. Wo, zum Teufel, konnte man so etwas sonst noch erleben? Und dann erinnerte er sich an die Kutschen und die gestriegelten Wallache, die sich in den Sommermonaten mit Touristen durch den Londoner Regent Park bewegten; er mußte bei dem Vergleich laut lachen. Aber sein Lachen dauerte nur kurz, denn es wurde rasch von einem Gedanken verdrängt, der ihm noch vor drei Wochen undenkbar gewesen wäre. Er hatte alle Hoffnung aufgegeben, England je wiederzusehen. Doch jetzt war es bereits durchaus möglich, daß sich das ändern würde — durch den Fremden.
Wenn seine Prognose nicht falsch war, konnte es jeden Tag geschehen, jede Stunde, jede Minute. Die Wunden an den Beinen und auf der Brust waren tief und wären möglicherweise sogar tödlich gewesen, wenn die Kugeln nicht da geblieben wären, wo sie sich eingenistet hatten, vom salzigen Meerwasser gesäubert. Sie herauszuholen war bei weitem nicht so gefährlich, wie es hätte sein können, denn das Gewebe drum herum war aufgeweicht und ohne Infekt. Das eigentliche Problem war die Kopfwunde; nicht nur, weil die Kugel in den Schädel gedrungen war, sondern weil sie allem Anschein nach den Thalamus und das Ammonshorn des Gehirns verletzt hatte. Wäre das Projektil auch nur wenige Millimeter weiter links oder rechts eingedrungen, hätte das den sofortigen Tod bedeutet. So aber waren alle wichtigen Lebensfunktionen unversehrt geblieben, Washburn hatte seine Entscheidung getroffen. Er blieb sechsunddreißig Stunden trocken, aß so viel Stärke und trank so viel Wasser, wie nur menschenmöglich war. Dann wagte er sich an den heikelsten Eingriff, den er seit seiner Entlassung aus dem Macleans Hospital in London durchgeführt hatte. Millimeter für Millimeter wusch er mit einem Pinsel die Gewebepartien aus, spannte dann die Haut und nähte sie über der Kopfwunde zusammen. Dabei war er sich bewußt, daß der geringste Fehler, sei es nun mit dem Pinsel, der Nadel oder der Klammer, den Tod des Patienten verursachen würde.
Er hatte aus den verschiedensten Gründen nicht gewollt, daß dieser Unbekannte starb, besonders aus einem nicht.
Als nach dem Eingriff die Lebenszeichen konstant blieben, widmete sich Dr. Geoffrey Washburn wieder seiner chemischen und psychischen Lebensstütze, dem Alkohol. Er hatte sich vollaufen lassen und soff auch weiterhin, hatte aber vor dem absoluten Blackout haltgemacht. Er wußte die ganze Zeit genau, wo er war und was er tat. Das war ganz entschieden ein Fortschritt.
Jeden Tag, jede Stunde, konnten die Augen des Fremden wieder klar werden und verständliche Worte über seine Lippen kommen.
Jeden Augenblick vielleicht.
Die Worte kamen zuerst. Sie schwebten in der Luft, als die frühe Morgenbrise, die von der See hereinwehte, das Zimmer abkühlte.
«Wer ist da? Wer ist in diesem Zimmer?«
Washburn setzte sich auf, schwang die Beine lautlos über den Bettrand und erhob sich langsam. Es war jetzt wichtig, den Patienten nicht zu erschrecken, kein plötzliches Geräusch zu erzeugen oder eine Bewegung, die den Patienten verängstigen könnte. Die nächsten paar Minuten würden ebenso delikat sein wie vorher der chirurgische Eingriff. Der Arzt in ihm war auf diesen Augenblick vorbereitet.
«Ein Freund«, sagte er mit weicher Stimme.
«Freund?«
«Sie sprechen englisch. Das hatte ich angenommen. Amerikaner oder Kanadier, hatte ich vermutet. Die Technik Ihrer Zahnversorgung kommt nicht aus England oder Paris. Wie fühlen Sie sich?«
«Ich weiß nicht genau.«
«Das wird eine Weile dauern. Müssen Sie Ihren Darm erleichtern?«
«Was?«
«Ich habe gefragt, ob Sie kacken müssen, alter Junge. Dafür ist die Schüssel neben Ihnen. Die weiße, links von Ihnen. Wenn wir es rechtzeitig schaffen, natürlich.«
«Tut mir leid.«
«Nicht nötig. Eine ganz normale Funktion. Ich bin Arzt, Ihr Arzt. Ich heiße Geoffrey Washburn. Und Sie?«
«Was?«
«Ich habe Sie gefragt, wie Sie heißen.«
Der Fremde bewegte den Kopf und starrte die weiße Wand an, auf der sich Strahlen des Morgenlichts abzeichneten. Dann wandte er sich wieder um, und seine blauen Augen blickten den Arzt an.»Ich weiß nicht.«
«Oh, mein Gott!«
«Ich habe es Ihnen immer wieder gesagt. Es dauert eine Weile. Je mehr Sie dagegen ankämpfen, desto schwerer machen Sie es sich, desto schlimmer wird es.«
«Sie sind betrunken.«
«Ja, im allgemeinen schon. Aber das tut hier nichts zur Sache. Nur wenn Sie mir zuhören, kann ich Ihnen Ratschläge geben.«
«Ich habe zugehört.«
«Nein, das tun Sie nicht; Sie wenden sich ab. Sie liegen in Ihrem Kokon da und kapseln sich ab.«
«Also, ich höre.«
«Während Ihres langen Komas redeten Sie in drei verschiedenen Sprachen: in englisch, französisch und in irgendeiner gottverdammten Singsangsprache, die ich für orientalisch halte. Das bedeutet, daß Sie in verschiedenen Teilen der Welt zu Hause sind. Welche Sprache fällt Ihnen am leichtesten?«
«Offensichtlich Englisch.«
«Darauf haben wir uns ja geeinigt. Und welche ist demnach die schwierigste für Sie?«
«Ich weiß nicht.«
«Ihre Augen sind rund, nicht oval. Ich würde also sagen, die orientalische Sprache.«
«Offensichtlich.«
«Warum sprechen Sie sie dann? Versuchen Sie jetzt einmal bei folgenden Worten zu assoziieren. Ich werde sie phonetisch aussprechen: Ma-kwa, Tam-kwan, Kee-sah. Sagen Sie das erste, was Ihnen in den Sinn kommt.«
«Nichts.«
«Eine gute Show.«
«Was, zum Teufel, wollen Sie?«
«Irgend etwas.«
«Sie sind betrunken.«
«Das hatten wir bereits festgestellt. Das bin ich immer. Ich hab' Ihnen auch Ihr verdammtes Leben gerettet. Betrunken oder nicht — ich bin Arzt. Früher war ich sogar ein sehr guter.«
«Was ist passiert?«
«Der Patient befragt den Arzt?«
«Warum nicht?«
Washburn hielt inne, überlegte und blickte zum Fenster hinaus aufs Meer.»Man hat mich beschuldigt«, sagte er schließlich,»ich hätte zwei Patienten auf dem Operationstisch getötet, weil ich betrunken war. Mit einem hätte ich durchkommen können. Nicht mit zweien. Die schließen sehr schnell von einem Fall auf den anderen. Gott sei ihnen gnädig. Geben Sie einem Mann wie mir nie ein Messer.«
«Mußte das sein?«
«Was?«
«Die Flasche.«
«Ja, verdammt«, sagte Washburn leise und wandte sich vom Fenster ab.»So war es und so ist es. Und der Patient ist nicht befugt, über den Arzt ein Urteil abzugeben.«
«Verzeihung.«
«Sie haben auch eine penetrante Art, sich zu entschuldigen. In Wirklichkeit ist das nur überdrehter Protest und keineswegs natürlich. Ich glaube keinen Augenblick, daß Sie der Typ sind, der sich für irgend etwas entschuldigt.«
«Dann wissen Sie mehr, als ich weiß.«
«Über Sie, ja. Eine ganze Menge sogar. Und nur sehr wenig davon reimt sich zusammen.«
Der Mann im Stuhl rutschte nach vorn. Sein offenes Hemd löste sich, und man konnte die Bandagen auf der Brust sehen. Er faltete die Hände, und die Venen an seinen schlanken, muskulösen Armen traten hervor.»Meinen Sie Dinge, über die wir noch nicht gesprochen haben?«
«Ja.«
«Dinge, die ich sagte, als ich im Koma lag?«
«Nein, eigentlich nicht. Den größten Teil von dem Quatsch haben wir schon erörtert: die verschiedenen Sprachen, Ihre geographischen Kenntnisse — Städte, die ich nicht kenne; von manchen habe ich kaum je gehört —, Ihre fixe Idee, keine Namen zu nennen; Namen, die Sie sagen möchten, aber dann doch nicht aussprechen; Ihre Neigung zur Konfrontation: Angriff, Rückzug, Flucht — alles ziemlich gewalttätig, darf ich vielleicht hinzufügen. Ich habe Ihnen die Arme häufig festgeschnallt, um die Wunden zu schützen. Aber all das haben wir ja beredet. Es gibt da andere Dinge.«
«Welche anderen Dinge? Warum haben Sie nichts davon erwähnt?«
«Weil sie physischer Natur sind. Die äußere Schale sozusagen. Ich war nicht sicher, ob Sie schon soweit waren, sich das anzuhören. Ich habe auch jetzt noch Zweifel.«
Der Mann lehnte sich im Stuhl zurück. Die dunklen Augenbrauen unter dem dunkelbraunen Haar schoben sich in der Mitte zusammen.»Jetzt ist das Urteil des Arztes nicht gefragt. Ich bin bereit. Wovon sprechen Sie?«
«Wollen wir mit diesem ziemlich akzeptabel aussehenden Kopf anfangen, den Sie haben? Insbesondere Ihrem Gesicht?«
«Was ist damit?«
«Es ist nicht das Gesicht, mit dem Sie auf die Welt gekommen sind.«
«Was soll das heißen?«
«Gesichtschirurgische Operationen hinterlassen immer Spuren. Man hat Sie verändert, alter Junge.«
«Verändert?«
«Sie haben ein ausgeprägtes Kinn; ich würde sagen, daß es einmal gespalten war. Man hat das Grübchen entfernt. Ihr linker oberer Backenknochen — Ihre Backenknochen sind auch ausgeprägt, wahrscheinlich slawischen Ursprungs — hat winzige Spuren einer chirurgischen Narbe. Vermutlich hat man dort einen Leberfleck entfernt. Ihre Nase war früher einmal länger als heute. Und dann hat man sie schlanker gemacht und Ihre scharfen Gesichtszüge weicher. So hat man Ihren Ausdruck völlig verändert. Verstehen Sie, was ich sage?«
«Nein.«
«Sie sind ein einigermaßen attraktiver Mann, aber Ihr Gesicht wird durch die Kategorie, in die es fällt, mehr hervorgehoben als durch seine Eigenarten selbst.«
«Kategorie?«
«Ja. Sie sind der Prototyp des weißen Angelsachsen, den die Leute jeden Tag beim Cricket oder auf dem Tennisplatz beobachten können. Diese Gesichter lassen sich kaum voneinander unterscheiden, nicht wahr? Die Zähne sind gerade, die Ohren liegen flach am Kopf an. Nichts ist aus dem Gleichgewicht, alles ist am richtigen Platz, und die Züge sind ein wenig weich.«
«Weich?«
«Nun, >verwöhnt< wäre vielleicht ein besseres Wort.
Jedenfalls verraten sie Selbstbewußtsein, sogar Arroganz. Wer so aussieht, ist gewohnt, daß alles so läuft, wie er es wünscht.«
«Ich glaube, ich weiß immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen.«
«Dann wollen wir es anders herum versuchen. Wenn Sie Ihr Haar färben, verändern Sie damit das Gesicht. Eine Brille oder ein Bart bewirkt das gleiche. Ich schätze, daß Sie Mitte bis Ende Dreißig sind, aber Sie könnten auch zehn Jahre älter oder fünf jünger sein.«
Washburn hielt inne und beobachtete die Reaktionen des Mannes, so als überlegte er, ob er fortfahren solle oder nicht.»Und weil wir gerade von der Brille sprechen, erinnern Sie sich an die Übungen, die Proben, die wir vor einer Woche machten?«
«Natürlich.«
«Ihre Sehkraft ist völlig normal, sie brauchen keine Brille.«
«Das hatte ich auch nicht angenommen.«
«Warum geben dann Ihre Netzhaut und Ihre Lider Hinweise darauf, daß Sie längere Zeit Kontaktlinsen getragen haben?«
«Keine Ahnung. Mir leuchtet das nicht ein.«
«Darf ich eine mögliche Erklärung vorschlagen?«
«Ich würde sie gerne hören.«
«Vielleicht auch nicht. «Der Arzt ging zum Fenster und blickte hinaus.»Bestimmte Kontaktlinsen sind so beschaffen, daß sie die Augenfarbe verändern. Und gewisse Arten von Augen eignen sich besser als andere dafür: gewöhnlich solche von grauer oder bläulicher Farbe. Die Ihren liegen dazwischen. Einmal sind sie braun-grau, ein anderes Mal wirken sie blaugrau. Die Natur hat Sie in dieser Hinsicht begünstigt; es war weder möglich noch notwendig, eine Änderung vorzunehmen.«
«Wofür notwendig?«
«Um Ihr Aussehen zu verändern. Sehr professionell, würde ich sagen. Visum, Paß, Führerschein — alles beliebig austauschbar. Haar: braun, blond, brünett. Augen — an denen kann man nichts ändern — grün, grau, blau. Ziemlich weitreichende Möglichkeiten, finden Sie nicht auch? Und alles innerhalb jener erkennbaren Kategorie, in der die Gesichter sich so häufig wiederholen.«
Der Mann erhob sich mit einiger Mühe aus dem Stuhl, er mußte sich dazu mit den Armen auf die Stuhllehne stützen und hielt beim Aufstehen den Atem an.»Es ist auch möglich, daß
Sie sich da etwas einbilden. Sie könnten sich irren.«
«Die Spuren sind da, die Narben. Das reicht als Beweis.«
«Von Ihnen so gedeutet, und zwar mit ziemlich viel Zynismus. Angenommen, ich hätte einen Unfall gehabt und wäre zusammengeflickt worden — das würde es auch erklären.«
«Nicht die Art der Behandlung, die Sie hinter sich haben. Dazu braucht man weder das Haar zu färben, noch Leberflecken oder Grübchen im Kinn zu entfernen.«
«Das wissen Sie doch nicht«, sagte der Mann ärgerlich.»Es gibt verschiedene Arten von Unfällen, verschiedene Behandlungsmethoden. Sie waren nicht dabei, Sie können das nicht mit Sicherheit behaupten.«
«Gut! Werden Sie ruhig wütend auf mich. Sie tun das ohnehin nicht oft genug. Und während Sie wütend sind, denken Sie. Was waren Sie? Was sind Sie?«
«Handelsvertreter… Leitender Angestellter einer internationalen Firma, der sich auf den Fernen Osten spezialisiert hatte. Das könnte es sein. Oder Lehrer… Sprachen. Irgendwo an einer Universität. Das ist auch möglich.«
«Schön. Wählen Sie. Jetzt!«
«Ich… das kann ich nicht. «Die Augen des Mannes wirkten etwas hilflos.
«Weil Sie es selbst nicht glauben.«
Der Mann schüttelte den Kopf.»Nein. Glauben Sie es?«
«Auch nicht«, sagte Washburn.»Aus einem ganz bestimmten Grund. Diese Berufe sind in der Regel an einen festen Standort gebunden. Sie aber haben den Körper eines Mannes, den man physischem Streß ausgesetzt hat. Oh, ich meine nicht einen trainierten Athleten oder so etwas; das sind Sie nicht. Aber Ihre Arme und Hände sind Anstrengung gewöhnt und recht kräftig. Unter anderen Gegebenheiten würde ich Sie für einen Arbeiter halten, der schwere Gegenstände zu tragen hat, oder für einen Fischer, der Tag für Tag Netze einzieht. Aber Ihre Bildung und Ihr Intellekt schließen das mit Sicherheit aus.«
«Warum denke ich, daß Sie auf etwas anderes hinauswollen?«
«Weil wir unter gewissem Druck eng miteinander gearbeitet haben, und das seit einigen Wochen. Sie haben meine Methode erkannt.«
«Dann habe ich also recht?«
«Ja. Ich mußte sehen, wie Sie das, was ich Ihnen gerade gesagt habe, aufnehmen würden: die chirurgische Behandlung, das Haar, die Kontaktlinsen.«
«Und habe ich Ihren Test bestanden?«
«Mit einem Gleichmut, der einen wahnsinnig machen kann. Die Zeit ist jetzt da; es hat keinen Sinn, es länger hinauszuschieben. Offen gestanden fehlt mir dazu auch die Geduld. Kommen Sie mit. «Washburn ging voraus durchs Wohnzimmer, zu der Türe an der hinteren Wand, die in seinen Praxisraum führte. Dort holte er aus einer Ecke einen uralten Projektor heraus, dessen Objektivfassung verrostet und zerbeult war.»Ich habe mir den Apparat mit den Lebensmitteln aus Marseille bringen lassen«, sagte er, während er das Gerät auf den kleinen Tisch stellte und es anschloß.»Nicht gerade der beste Apparat, aber seinen Zweck erfüllt er. Ziehen Sie bitte die Vorhänge zu.«
Der Mann ohne Namen und ohne Gedächtnis trat ans Fenster und zog die Gardinen zu. Jetzt war es dunkel im Raum. Washburn knipste die Lampe des Projektors an; an der weißen Wand erschien ein helles Quadrat. Dann schob er ein kleines Stück Zelluloid hinter die Linse.
Plötzlich tauchten in dem beleuchteten Quadrat Buchstaben auf.
GEMEINSCHAFTSBANK
BAHNHOFSTRASSE ZÜRICH. NULL-
SIEBEN-SIEBZEHN-ZWÖLF-NULL-
VIERZEHN-SECHSUNDZWANZIG-NULL.
«Was ist das?«fragte der namenlose Mann.
«Sehen Sie es sich genau an. Denken Sie.«
«Das ist irgendein Bankkonto.«
«Genau. Der gedruckte Briefkopf und die Adresse — das ist die Bank; die handgeschriebenen Ziffern stehen hier anstelle eines Namens, aber da sie ausgeschrieben sind, stellen sie die Unterschrift des Kontobesitzers dar. Die übliche Vorgehensweise.«
«Woher haben Sie das?«
«Von Ihnen. Das ist ein sehr kleines Negativ. Es war unter der Haut über Ihrer rechten Hüfte eingesetzt — chirurgisch implantiert. Die Nummern sind in Ihrer Handschrift geschrieben; das ist Ihre Unterschrift. Damit können Sie einen Safe in Zürich öffnen.«
Sie wählten den Namen Jean-Pierre. Er war so geläufig in Port Noir wie jeder andere.
Und dann wurden Bücher aus Marseille ins Haus geschickt, sechs an der Zahl, die sich in der Größe unterschieden. Vier waren in englischer Sprache, zwei in französischer. Es handelte sich um medizinische Fachbücher, die sich mit Kopf-und Hirnverletzungen befaßten und mit Querschnitten durch das menschliche Gehirn illustriert waren. Hunderte von unbekannten Fachausdrücken mußten aufgenommen und in ihrer Bedeutung verstanden werden.
Die Bände enthielten auch psychologische Studien von emotioneilen Streßsituationen, die zu Hysterie und zum Verlust der Sprechfähigkeit führen, Zustände, die auch partiellen oder völligen Gedächtnisschwund zur Folge haben können, medizinisch Amnesie genannt.
«Es gibt keine Regeln«, sagte der dunkelhaarige Mann und rieb sich die Augen in dem zu schwachen Licht der Tischlampe.»Das ist wie ein geometrisches Puzzle; Amnesie kann in einer Vielzahl von Kombinationen entstehen, mit physischen oder psychischen Reaktionen — oder ein klein wenig von beidem. Sie tritt permanent oder temporär in Erscheinung. Wie gesagt, man kann keine festen Regeln aufstellen.«
«Richtig!«sagte Washburn und nippte an seinem Whisky.»Ich glaube, wir kommen der Sache jetzt langsam näher. So wie ich denke, daß sie sich abgespielt hat.«
«Nämlich wie?«fragte der Mann interessiert.
«Sie sagten es gerade selbst: >ein klein wenig von beidem<. Nur sollte die Formulierung >ein klein wenig< besser in >massiv< geändert werden. Durch massive Schocks.«
«Massive Schocks?«
«In physischer und psychischer Hinsicht. Die Schocks hatten einen direkten Zusammenhang, waren ineinander verwoben — zwei Erlebnisketten oder Stimuli, die zusammenschmolzen.«
«Wieviel haben Sie getrunken?«
«Weniger als Sie glauben; unbedeutend. «Der Arzt griff nach einem Block.»Das hier ist Ihre Geschichte — Ihre neue Geschichte —, angefangen mit dem Tag, an dem man Sie hierher gebracht hat. Lassen Sie mich zusammenfassen: Die physischen Wunden lassen erkennen, daß die Situation, in der Sie sich befanden, mit größtem Streß für Sie verbunden war. Die Hysterie, die sich dann entwickelte, wurde dadurch verursacht, daß Sie mindestens neun Stunden im Wasser trieben, was natürlich die psychische Belastung verstärkte. Die Finsternis, die heftigen Bewegungen, wobei die Lungen kaum genug Luft bekamen — all dies hat die Hysterie gefördert. Was ihr vorausging, mußte aus der Erinnerung gelöscht werden, damit Sie mit dem Trauma fertig werden und überleben konnten. Sind Sie in der Lage, mir zu folgen?«
«Ich glaube schon. Der Kopf hat sich geschützt.«
«Nicht der Kopf, das Bewußtsein! Die Unterscheidung ist wichtig. Wir kommen später auf den Kopf zurück, aber nennen wir ihn lieber >das Gehirn<.«
Washburn blätterte in seinen Papieren.»Ich habe hier ein paar hundert Beobachtungen festgehalten, unter anderem die üblichen medizinischen Anmerkungen — Medikamente, Dosis, Zeitpunkt, Reaktion —, aber im wesentlichen befassen sich diese Aufzeichnungen mit Ihnen, dem Menschen selbst. Hier sind die Worte notiert, die Sie benutzen; die Worte, auf die Sie reagieren; die Sätze, die Sie gebrauchen, sowohl im Schlaf, als auch während Sie im Koma lagen. Selbst die Art und Weise, wie Sie gehen, wie Sie sprechen, wie Sie Ihren Körper anspannen, wenn Sie erschreckt werden oder etwas sehen, das Sie interessiert, habe ich beschrieben. Sie scheinen ein einziger Widerspruch zu sein. Unter der Oberfläche brodelt etwas Gewalttätiges, das Sie meistens unter Kontrolle haben, sich aber nicht zur Ruhe bringen läßt. Und dann ist da eine Nachdenklichkeit, die schmerzhaft für Sie zu sein scheint, und doch geben Sie dem Ärger, den jener Schmerz provozieren muß, nur selten freien Lauf.«
«Sie provozieren ihn jetzt«, sagte der Mann.»Wir sind die Worte und Sätze immer wieder durchgegangen.«
«Und wir werden damit fortfahren«, unterbrach ihn Washburn,»solange wir Fortschritte dabei erzielen.«
«Mir war nicht bewußt, daß irgendwelche Fortschritte zu verzeichnen sind.«
«Nicht in bezug auf Ihre Identität oder Ihren Beruf. Aber wir sind im Begriff herauszufinden, was für Sie am bequemsten ist, womit Sie am besten zurecht kommen. Das ist fast etwas beängstigend.«
«In welcher Hinsicht?«
«Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. «Der Arzt legte den Block weg und erhob sich. Er trat an einen Schrank, öffnete eine Schublade und entnahm ihr eine große Automaticpistole. Der Mann ohne Erinnerung erstarrte in seinem Stuhl; Washburn bemerkte die Reaktion.
«Ich habe sie noch nie benutzt und bin nicht einmal sicher, ob ich dazu imstande wäre, aber immerhin lebe ich hier am Wasser. «Er lächelte und warf die Waffe dem Mann plötzlich und ohne Vorwarnung zu. Er fing sie geschickt in der Luft auf, ohne einen Moment gezögert zu haben.»Zerlegen Sie sie; so nennt man das doch, glaube ich.«
«Was?«
«Zerlegen sollen Sie das Ding. Jetzt.«
Der Mann sah die Pistole prüfend an. Und dann huschten seine Hände und Finger lautlos und fachmännisch über die Waffe. In weniger als dreißig Sekunden war sie in ihre Bestandteile zerlegt. Er blickte auf.
«Verstehen Sie, was ich meine?«sagte Washburn.»Zu Ihren Fertigkeiten gehört eine ungewöhnliche Kenntnis von Feuerwaffen.«
«Durchs Militär?«fragte der Mann mit eindringlicher Stimme.
«Höchst unwahrscheinlich«, erwiderte der Arzt.»Als Sie zum ersten Mal aus dem Koma erwachten, erwähnte ich Ihre Zähne. Ich kann Ihnen versichern, daß Ihre Zahnreparaturen nicht von Militärärzten vorgenommen wurden. Und dann natürlich die chirurgische Behandlung; die schließt praktisch jede Beziehung zum Militär mit größter Wahrscheinlichkeit aus.«
«Was dann?«
«Wir wollen uns jetzt nicht damit beschäftigen; kümmern wir uns lieber um das, was geschehen ist. Wir waren mit dem Bewußtsein befaßt, erinnern Sie sich? Mit dem Streß, der Hysterie. Drücke ich mich klar genug aus?«
«Weiter.«
«In dem Maße, wie der Schock nachläßt, tut das auch der psychische Druck, bis kein fundamentales Bedürfnis mehr besteht, die Psyche zu schützen. Und während dieses Prozesses werden Ihnen Ihre Fertigkeiten und Talente wieder zurückfließen. Sie werden sich an gewisse Verhaltensmuster erinnern; es kann sein, daß Sie sie auf ganz natürlichem Wege erleben und instinktiv reagieren. Aber es gibt da eine Lücke, und alles, was auf diesen Seiten hier steht, bestätigt mir, daß diese Lücke nie mehr zu schließen sein wird. «Washburn hielt inne und ging zu seinem Stuhl zurück.
«Weiter!«flüsterte der Mann.
Der Arzt sah seinem Patienten fest in die Augen.»Kommen wir zurück zum Kopf, den wir mit dem Etikett >Gehirn< versehen haben. Das physische Gehirn besitzt Millionen und Abermillionen von Zellen. Sie haben die Fachbücher gelesen. Der geringste Eingriff kann dramatische Folgen mit sich bringen. Und das ist Ihnen widerfahren. Der Schaden war physischer Natur. Es ist gerade so, als wären Blöcke neu angeordnet worden, als wäre die physische Struktur verändert worden. «Wieder hielt Washburn inne.
«Und?«drängte der Mann.
«Der geringer werdende psychische Druck wird zulassen — läßt bereits zu —, daß Ihnen Ihre Fertigkeiten und Talente zurückgegeben werden. Aber ich glaube nicht, daß Sie jemals imstande sein werden, sie mit irgend etwas in Ihrer Vergangenheit in Verbindung zu bringen.«
«Warum nicht?«
«Weil die Zellen im Gehirn, die jene Erinnerungen ermöglichen, verändert worden sind. Sie sind jetzt in dem Maße neu angeordnet, daß sie nicht mehr so funktionieren können, wie sie das einmal taten. Sie sind praktisch zerstört worden.«
Der Mann saß wie gelähmt da.»Die Antwort liegt in Zürich«, sagte er.
«Noch nicht. Sie sind noch nicht soweit. Noch sind Sie nicht stark genug.«
«Das werde ich aber sein.«
«Ja, das werden Sie.«
Die Wochen verstrichen; die Wortübungen dauerten an, die Zahl der beschriebenen Seiten auf dem Block des Arztes wurde immer größer, und schließlich kehrten die Kräfte des Mannes zurück. Es war an einem Morgen der neunzehnten Woche, der Tag war freundlich, und das Mittelmeer lag ruhig da und glänzte. Der Mann war die letzte Stunde, so wie er sich das angewöhnt hatte, am Wasser entlanggelaufen und dann die Hügel hinauf. Er hatte die Strecke inzwischen auf über zwölf Meilen pro Tag ausgedehnt, sein Tempo täglich gesteigert und immer seltener Ruhepausen eingelegt. Jetzt saß er auf dem Stuhl am Schlafzimmerfenster und atmete schwer. Schweiß tränkte sein Unterhemd. Er war durch die Hintertür hereingekommen und durch den finsteren Gang, der am Wohnzimmer vorbeiführte, ins Schlafzimmer gelangt. Es war einfach bequemer so; das Wohnzimmer diente Washburn als Wartezimmer, und da saßen noch ein paar Patienten, die versorgt werden mußten. Sie wirkten verstört und dachten wohl darüber nach, wie der Zustand von le docteur an diesem Morgen sein mochte. Tatsächlich war es nicht so schlimm. Geoffrey Washburn trank zwar immer noch wie ein wilder Kosak, aber in diesen Tagen hatte er sich immerhin einigermaßen unter Kontrolle. Es war, als hätte sich in den Tiefen seines eigenen zerstörerischen Fatalismus ein Rest an Hoffnung gefunden. Und der Mann ohne Gedächtnis begriff: jene Hoffnung hing mit einer Bank in der Züricher Bahnhofstraße zusammen. Warum erinnerte er sich eigentlich so leicht an diese Straße?
Die Schlafzimmertür öffnete sich, und der Arzt platzte herein, sein weißer Kittel mit Blut beschmiert.
«Ich hab' es geschafft!«sagte er grinsend, und in seinen Worten klang Triumph.»Ich sollte eine Agentur für Arbeitsvermittlung aufmachen und von den Provisionen leben. Das wäre ein regelmäßigeres Einkommen.«
«Wovon reden Sie eigentlich?«
«Wir waren uns doch einig; es ist genau das, was Sie brauchen. Sie müssen nach außen hin in Erscheinung treten, und seit zwei Minuten ist Monsieur Jean-Pierre Namenlos gegen Bezahlung angestellt! Zumindest auf eine Woche.«
«Wie haben Sie das fertiggebracht? Ich dachte, es gäbe keine freien Stellen.«
«Als ich gerade eben Lamouches infiziertes Bein behandelte, erklärte ich ihm, daß mein Vorrat an lokalen Betäubungsmitteln verdammt gering sei. Wir feilschten; Sie waren das Handelsobjekt.«
«Eine Woche?«
«Wenn Sie gut sind, behält er Sie vielleicht. «Washburn hielt inne.»Obwohl das eigentlich gar nicht so schrecklich wichtig ist, oder?«
«Ich bezweifle, ob überhaupt irgend etwas davon wichtig ist. Vor einem Monat vielleicht, aber jetzt nicht mehr. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich bereit bin, von hier wegzugehen. Ich hätte gedacht, daß Sie das auch wollen. Ich habe eine Verabredung in Zürich.«
«Und ich würde es vorziehen, wenn Sie bei dieser Verabredung so fit wären wie nur irgend möglich. Meine Interessen sind höchst egoistisch. Ich kann nicht zulassen, daß Sie einen Rückfall erleiden.«
«Ich bin bereit.«
«Oberflächlich vielleicht. Aber glauben Sie mir, es ist für Sie lebenswichtig, daß Sie längere Zeit auf dem Wasser verbringen, auch nachts. Nicht unter komfortablen Umständen wie ein Passagier, sondern harten Bedingungen ausgesetzt — je härter, desto besser.«
«Wieder ein Test?«
«Jeder Test, den ich in Port Noir arrangieren kann, ist mir recht. Wenn ich hier einen Sturm und einen kleinen Schiffbruch heraufbeschwören könnte, würde ich das für Sie tun. Andererseits ist Lamouche selbst so etwas wie ein Sturm; er ist ein schwieriger Mann. Sobald die Schwellung an seinem Bein zurückgegangen ist, wird er über Ihre Anwesenheit verärgert sein. Andere werden auch so reagieren. Sie müssen für jemanden einspringen.«
«Danke für Ihre Bemühung.«
«Gern geschehen. Wir kombinieren hier zwei StreßSituationen. Wenigstens ein oder zwei Nächte auf dem Wasser, wenn Lamouche seinen Zeitplan einhält — das ist die feindliche Umgebung, die zu Ihrer Hysterie beigetragen hat —, und schließlich werden Sie der Ablehnung und dem Argwohn Ihrer Umgebung ausgesetzt sein — symbolisch für die ursprüngliche Streß-Situation.«
«Noch einmal vielen Dank. Angenommen, die beschließen, mich über Bord zu werfen?«
«Oh, dazu wird es nicht kommen«, sagte Washburn und runzelte die Stirn.
«Ich bin froh, daß Sie so zuversichtlich sind. Ich wünschte, ich wäre es auch.«
«Das können Sie sein. Sie genießen den Schutz meiner Anwesenheit. Ich bin zwar weder Christiaan Barnard noch Michael De Bakey, aber diese Leute brauchen mich; die riskieren nicht, mich zu verlieren.«
«Sie wollen doch hier weg, denke ich, und ich bin Ihr Reisepaß.«
«Auf eine Art und Weise, die niemand durchschaut, mein lieber Patient. Los jetzt! Lamouche möchte, daß Sie zum Hafen hinuntergehen, damit Sie sich mit seinen Geräten vertraut machen können. Sie beginnen morgen früh um vier Uhr. Denken Sie immer daran, wie nützlich eine Woche auf See sein wird. Betrachten Sie es als Kreuzfahrt.«
Eine Kreuzfahrt wie diese hatte es noch nie gegeben. Der Skipper des schmutzigen, öldurchtränkten Fischerboots war die übellaunige Kopie eines unbedeutenden Captain Bligh; die Mannschaft ein Quartett von Tunichtguten — ohne Zweifel die einzigen Männer in ganz Port Noir, die bereit waren, Claude Lamouche zu ertragen. Eigentlich gehörte noch ein fünftes Mitglied zur Mannschaft, der Bruder des zweiten Mannes an Bord. Diese Tatsache wurde dem Mann, den man Jean-Pierre nannte, binnen weniger Minuten nach Verlassen des Hafens um vier Uhr morgens klargemacht.
«Du nimmst meinem Bruder die Arbeit weg!«fauchte der Fischer ärgerlich, während er an seiner Zigarette paffte, die unbeweglich in seinem Mundwinkel hing.
«Es ist ja nur für eine Woche«, entgegnete Jean-Pierre. Es wäre leichter gewesen — viel leichter — anzubieten, den jetzt arbeitslos gewordenen Bruder mit Washburns monatlichem Taschengeld zu entschädigen, aber der Arzt und sein Patient waren übereingekommen, solche Kompromisse zu unterlassen.
«Hoffentlich kannst du wenigstens mit den Netzen umgehen.«
Er verstand nichts davon.
In den nächsten 72 Stunden gab es Augenblicke, in denen der Mann namens Jean-Pierre dachte, er müsse doch auf die letzte Alternative zurückgreifen und sich mit Geld Ruhe verschaffen. Unablässig hackte man auf ihm herum, selbst während der Nacht — besonders dann. Als er an Deck auf der schmutzigen Matratze lag, hatte er das Gefühl, als wären Augen auf ihn gerichtet, die nur darauf warteten, daß er einschlief.
«Du! Übernimm die Wache! Der Maat ist krank. Du mußt ihn vertreten.«
«Steh auf! Philippe schreibt seine Memoiren. Er darf nicht gestört werden.«
«Aufstehen! Du hast heute nachmittag ein Netz zerrissen. Wir zahlen nicht für deine Dummheit. Darüber sind wir uns einig. Flicke es jetzt.«
Die Netze: Wenn für eine Seite zwei Männer benötigt wurden, so nahmen seine zwei Arme die Stelle von vier ein. Wenn er neben einem Mann arbeitete, dann ließ der die Last plötzlich los, und das ganze Gewicht ruhte auf ihm. Oder jemand stieß ihn mit der Schulter so an, daß er gegen die Schiffswand prallte und beinahe über Bord gefallen wäre.
Und Lamouche: ein hinkender Wahnsinniger, der jede
Seemeile an der Zahl der Fische maß, die er verloren hatte. Seine Stimme klang wie ein schnarrendes Nebelhorn. Er sprach nie jemanden an, ohne irgendeinen obszönen Ausdruck vor den Namen zu setzen, eine Angewohnheit, die den Patienten in zunehmendem Maße wütender machte. Aber Lamouche rührte Washburns Patienten nicht an; er schickte dem Arzt nur auf seine Weise seine Botschaft: Tu mir das nie wieder an. Nicht, wenn es um mein Boot und meinen Fang geht. Lamouche wollte bei Sonnenuntergang des dritten Tages zurück in Port Noir sein. Nach dem Ausladen der Fische sollte die Mannschaft bis vier Uhr am nächsten Morgen Zeit bekommen, um auszuschlafen, herumzuhuren, sich zu betrinken oder mit etwas Glück die drei Beschäftigungen gleichzeitig auszuüben. Als sie Land sichteten, geschah es. Die Netze wurden vom Netzmann und seinem ersten Helfer mittschiffs eingezogen und zusammengefaltet. Das unwillkommene Mannschaftsmitglied, das sie» Jean-Pierre Sangsue«(»Blutsauger«) beschimpften, scheuerte das Deck mit einem langstieligen Schrubber. Die zwei übrigen Crewmitglieder schwappten Eimer mit Seewasser vor den Schrubber, wobei sie häufiger den Blutsauger als die Deckplanken trafen.
Ein voller Eimer wurde hoch geworfen und blendete Washburns Patienten einen Augenblick lang, so daß er das Gleichgewicht verlor. Der schwere Schrubber mit den metallähnlichen Borsten rutschte ihm aus der Hand und traf mit seinen scharfen Borsten den Schenkel des knienden Netzmannes.
«Verdammte Scheiße!«
«Tut mir leid«, sagte der Übeltäter und wischte sich das Wasser aus den Augen.
«Der Teufel soll dich holen!«schrie der andere.
«Ich habe gesagt, daß es mir leid tut«, erwiderte der Mann namens Jean-Pierre.»Sag deinen Freunden, sie sollen das Deck naß machen, nicht mich.«
Der Netzmann stand auf, packte den Schrubberstiel und hielt ihn wie ein Bajonett vor sich.»Willst du spielen, Blutsauger?«
«Komm, gib her.«
«Mit Vergnügen, Blutsauger. Hier!«Der Netzmann stieß mit dem Schrubber zu, so daß die Borsten über Brust und Bauch des Patienten fuhren und sein Hemd durchdrangen.
Ob es nun die Berührung mit den Narben war, die seine Wunden bedeckten, oder die Wut nach drei Tagen Quälerei, würde der Mann nie erfahren. Er wußte nur, daß er reagieren mußte. Und seine Reaktion erschreckte ihn mehr, als er sich hätte vorstellen können.
Er packte den Schrubberstiel mit der rechten Hand und trieb ihn dem Mann in den Leib. In dem Augenblick, da der andere nach vorne taumelte, trat er mit dem linken Fuß zu und traf den Mann an der Kehle.
«Tao!« Der gutturale Laut kam unwillkürlich über seine Lippen; er wußte nicht, was es bedeutete.
Und ehe er begriff, war er herumgewirbelt, und jetzt schoß sein rechter Fuß vor und bohrte sich in die linke Niere des Seemanns.
«Che-sah!« keuchte er.
Sein Gegner fuhr zurück und warf sich, von Schmerz und Wut getrieben, nach vorne, die Hände wie Klauen ausgestreckt.»Du Schwein!«
Der Patient duckte sich; seine rechte Hand packte den anderen am linken Unterarm und riß ihn herunter. Dann schoß er in die Höhe und drückte dabei den Arm seines Opfers nach oben und drehte ihn herum. Als er ihn losließ, jagte er ihm den Absatz ins Kreuz. Der Franzose brach über dem Netz zusammen, sein Kopf prallte gegen die Reling.
«Mee-sah!« Wieder wußte er nicht, was sein halblauter Schrei bedeutete.
Ein Matrose umklammerte von hinten seinen Hals, worauf der Patient seinen rechten Ellbogen in den Leib seines Angreifers rammte. Jean-Pierre beugte sich vor, packte den Ellbogen rechts von seiner Kehle und duckte sich. Der Angreifer wurde in die Höhe gehoben; seine Beine strampelten in der Luft, als er über das Deck geschleudert wurde. Schließlich blieb sein Kopf neben den Zahnrädern einer Winde liegen.
Jetzt waren die zwei übriggebliebenen Männer über ihm. Fäuste trommelten auf ihn ein. Der Patient griff nach dem Handgelenk eines Mannes, bog es nach unten und drehte es mit einer ruckartigen Bewegung nach links. Der Mann schrie auf— das Handgelenk war gebrochen.
Washburns Patient verschränkte die Finger beider Hände ineinander, schwang die Arme wie einen Vorschlaghammer in die Höhe und traf den Matrosen mit dem gebrochenen Handgelenk am Kinn. Der Mann wurde nach hinten geschleudert und brach auf dem Deck zusammen.
«Kwa-sah!« Das Flüstern hallte in den Ohren des Patienten nach.
Der vierte Mann schlich sich nach rückwärts davon.
Es war vorbei. Drei Angehörige von Lamouches Mannschaft waren besinnungslos, schwer für das bestraft, was sie getan hatten. Es war zweifelhaft, daß auch nur einer von ihnen um vier Uhr früh imstande sein würde, ans Dock zu kommen.
Als Lamouche jetzt sprach, klang gleichermaßen Erstaunen und Verachtung in seinen Worten.»Ich weiß nicht, woher Sie kommen, aber Sie werden dieses Boot verlassen.«
Der Mann ohne Gedächtnis begriff die ungewollte Ironie in den Worten des Kapitäns. Ich weiß auch nicht, woher ich komme.
«Sie können nicht länger hier bleiben«, sagte Geoffrey Washburn, als er in das abgedunkelte Schlafzimmer trat.»Ich hatte ehrlich geglaubt, ich könnte verhindern, daß Sie ernsthaft angegriffen werden. Aber jetzt, wo Sie den Schaden angerichtet haben, bin ich nicht mehr in der Lage, Sie zu schützen.«
«Man hat mich provoziert.«
«In dem Maße? Ein Mann hat ein gebrochenes Handgelenk und Platzwunden am Hals und im Gesicht, die ich nähen muß. Ein anderer hat Platzwunden am Kopf, dazu eine schwere Gehirnerschütterung und eine Nierenverletzung, deren Ausmaß ich noch nicht kenne. Ganz zu schweigen von einem Tritt in den Unterleib, von dem die Hoden angeschwollen sind! Ich glaube, man nennt das Overkill.«
«Wenn es anders gelaufen wäre, dann wäre es nur ein >Kill< gewesen und ich ein toter Mann. «Der Patient hielt inne, fuhr aber fort, ehe der Arzt das Wort ergreifen konnte.»Ich glaube, wir sollten miteinander reden. Es sind einige Dinge geschehen; mir sind andere Worte in den Sinn gekommen. Darüber sollten wir sprechen.«
«Das sollten wir, aber das können wir jetzt nicht. Es ist keine Zeit. Sie müssen sofort gehen. Ich habe Vorbereitungen getroffen.«
«Gleich?«
«Ja. Ich habe denen gesagt, daß Sie ins Dorf gegangen sind, wahrscheinlich um sich zu betrinken. Die Familien werden Sie jetzt suchen — jeder Bruder, Vetter und Schwager. Sie werden Messer mitbringen und Bootshaken, vielleicht auch Pistolen. Und wenn sie Sie nicht finden, werden sie hierher zurückkommen. Die werden nicht eher ruhen, bis sie Sie aufgespürt haben.«
«Wegen eines Kampfes, den ich nicht angefangen habe?«
«Weil Sie drei Männer verletzt haben, die zusammen wenigstens einen Monat Lohn verlieren werden. Und dann noch aus einem anderen Grund, der viel wichtiger ist.«
«Und welcher ist das?«
«Die Demütigung. Ein Fremder hat sich nicht nur einem, sondern gleich drei hochgeachteten Fischern von Port Noir überlegen gezeigt.«
«Hochgeachteten?«
«Was ihre körperliche Kraft anbetrifft. Lamouches Mannschaft gilt als die schlagkräftigste im ganzen Dorf.«
«Das ist lächerlich.«
«Für die nicht. Das ist ihr Ehrgefühl… Jetzt beeilen Sie sich! Packen Sie Ihre Sachen. Ein Boot aus Marseille liegt im Hafen; der Kapitän hat sich bereit erklärt, Sie mitzunehmen und Sie eine halbe Meile nördlich von La Ciotat abzusetzen.«
Der Mann ohne Gedächtnis hielt den Atem an.»Dann ist es Zeit«, sagte er leise.
«Allerdings«, erwiderte Washburn.»Ich ahne, was Sie jetzt verspüren: Ein Gefühl der Hilflosigkeit, ein Gefühl, im Meer zu treiben, ohne Ruder, das Sie auf Kurs bringt. Ich war Ihr Ruder, und ich werde nicht bei Ihnen sein; daran kann ich nichts ändern. Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß Sie nicht hilflos sind. Sie werden Ihren Weg finden.«
«Nach Zürich«, fügte der Patient hinzu.
«Nach Zürich«, pflichtete der Arzt ihm bei.»Hier, ich habe Ihnen in diesem Öltuch ein paar Dinge eingewickelt. Schnallen Sie es sich um die Hüfte.«
«Was ist da drin?«
«Sämtliches Geld, das ich habe; etwa zweitausend Franc. Es ist nicht viel, aber immerhin können Sie damit was anfangen. Und mein Paß, falls er Ihnen nützt. Wir haben etwa das gleiche Alter. Er ist bereits vor acht Jahren ausgestellt worden. Lassen Sie ihn von niemandem genau ansehen. Es ist nur ein offizielles Papier.«
«Und was werden Sie tun?«
«Falls ich nichts mehr von Ihnen hören sollte, werde ich ihn schon nicht mehr brauchen.«
«Sie sind ein anständiger Mann.«,
«Ich glaube, das sind Sie auch… so wie ich Sie kennengelernt habe, aber ich habe Sie natürlich vorher nicht gekannt. Für jenen Mann kann ich mich also nicht verbürgen. Ich wünschte, ich könnte das, aber es geht einfach nicht.«
Der Mann lehnte an der Reling und verfolgte, wie die Lichter von Ile de Port Noir in der Ferne verblaßten. Das Fischerboot steuerte in die Dunkelheit hinein, so wie er vor fast fünf Monaten in die Finsternis gestürzt war… und jetzt in eine neue Finsternis fiel.
An der Küste Frankreichs waren keine Lichter zu sehen. Der fahle Schein des sterbenden Mondes beleuchtete das felsige Ufer nur in seinen Umrissen. Sie waren zweihundert Meter vom Land entfernt, und das Boot tanzte leicht in der schwachen Strömung der Bucht. Der Kapitän deutete über die Reling.
«Dort, zwischen den beiden Felsvorsprüngen, ist ein kleiner Uferstreifen. Nicht sehr breit. Sie erreichen ihn, wenn Sie rechts hinüberschwimmen. Wir können nur noch ein Stückchen weiter landeinwärts treiben, nicht mehr. In ein, zwei Minuten haben wir die Stelle erreicht.«
«Sie tun mehr, als ich erwarten durfte. Dafür danke ich Ihnen.«
«Nicht nötig. Ich bezahle meine Schulden.«
«Und dazu diene ich Ihnen?«
«Ja. Der Arzt in Port Noir hat nach diesem wahnsinnigen Sturm vor fünf Monaten drei von meiner Mannschaft zusammengeflickt. Sie waren nicht der einzige, den man damals hereingebracht hat, wissen Sie.«
«Sie kennen mich?«
«Sie lagen kalkweiß auf dem Tisch, aber ich kenne Sie nicht und will Sie auch nicht kennen. Ich hatte damals kein Geld, keinen Fang; der Arzt meinte, ich könnte bezahlen, wenn die Umstände besser wären. Mit Ihnen begleiche ich nur meine Schulden.«
«Ich brauche Papiere«, sagte der Mann, der eine Chance auf Hilfe witterte,»eine Änderung in einem Paß.«
«Warum erzählen Sie das mir?«fragte der Kapitän.»Ich habe versprochen, nördlich von La Ciotat ein Paket abzuladen. Nicht mehr.«
«Das hätten Sie nicht gesagt, wenn Sie nicht auch zu anderen Dingen imstande wären.«
«Ich werde Sie nicht nach Marseille bringen. Das Risiko, von einem Streifenboot erwischt zu werden, werde ich nicht eingehen. Die Sürete hat überall im Hafen ihre Leute; die Rauschgiftfahnder sind wie die Wilden. Entweder besticht man sie, oder man verbringt zwanzig Jahre in einer Zelle.«
«Das bedeutet, daß ich in Marseille Papiere bekommen kann. Und Sie können mir helfen.«
«Das habe ich nicht gesagt.«
«Doch, das haben Sie. Ich brauche Hilfe, und die finde ich an einem Ort, an den Sie mich nicht bringen wollen — aber es gibt dort jemanden, der helfen kann. Das haben Sie angedeutet.«
«Was?«
«Daß Sie in Marseille mit mir reden würden, wenn ich ohne Sie dorthin komme. Nennen Sie mir den Ort.«
Der Kapitän des Fischerboots studierte das Gesicht des Patienten; die Entscheidung fiel ihm nicht leicht, aber er traf sie.»Es gibt ein Cafe an der Rue Sarrasin, südlich des alten Hafens: >Le Bouc de Mer<. Ich werde heute Abend zwischen neun und elf dort sein. Sie werden Geld benötigen. Einen Teil der geforderten Summe wird man im voraus verlangen.«
«Wieviel?«
«Das liegt bei Ihnen und dem Mann, mit dem Sie verhandeln.«
«Ich brauche einen Anhaltspunkt.«
«Es ist billiger, wenn Sie einen Paß haben, den man fälschen kann; andernfalls muß man einen stehlen.«
«Ich sagte Ihnen, daß ich einen habe.«
Der Kapitän zuckte die Achseln.»Fünfzehnhundert, zweitausend Franc.«
Der Patient dachte an das in Öltuch gewickelte Päckchen, das er bei sich trug. In Marseille wurde er womöglich von der Polizei aufgegriffen, dafür hatte er aber auch die Chance, einen geänderten Paß zu bekommen, mit dem er nach Zürich reisen konnte.»Wird gemacht«, sagte er, ohne zu wissen, weshalb es so zuversichtlich klang.»Heute Abend also.«
Der Kapitän spähte zu dem schwach beleuchteten Küstenstreifen hinüber.»So, weiter können wir jetzt nicht mehr ans Ufer treiben. Sie sind jetzt auf sich gestellt. Vergessen Sie nicht: Sollten wir uns nicht in Marseille treffen, sind wir uns niemals begegnet, klar? Und aus meiner Mannschaft hat Sie auch keiner gesehen.«
«Ich werde dort sein. >Le Bouc de Mer<, Rue Sarrasin, südlich vom alten Hafen.«
«In Gottes Hand«, sagte der Skipper und gab dem Matrosen am Steuer ein Zeichen. Die Maschinen unter den Bootsplanken heulten kurz auf.»Übrigens, die Kunden im >Le Bouc< sind den Pariser Dialekt nicht gewöhnt. Ich würde an Ihrer Stelle daran denken.«
«Danke für den Rat«, sagte der Patient, als er die Beine über die Bordwand schwang und sich ins Wasser hinabließ. Er hielt den Beutel in die Höhe und strampelte mit den Beinen, um nicht abzusinken.»Bis heute abend«, fügte er mit lauterer Stimme hinzu und blickte an dem schwarzen Rumpf des Fischerboots hinauf.
Aber da war niemand mehr; der Kapitän hatte die Reling verlassen. Nur das Klatschen der Wellen gegen das Holz und das gedämpfte Brummen der Motoren waren zu hören.
Sie sind jetzt auf sich gestellt.
Er schauderte und drehte sich in dem kalten Wasser herum. Er nahm Kurs auf das Ufer, auf eine Gruppe von Felsen zu. Wenn der Kapitän ihn richtig beraten hatte, würde die Strömung ihn zu dem noch unsichtbaren Uferstreifen tragen.
Das tat sie; er spürte, wie der Sog seine nackten Füße in den Sand zog, was die letzten dreißig Meter nicht gerade erleichterte. Aber der Segeltuchsack war relativ trocken geblieben.
Minuten später saß er auf einer Düne, die mit wildem Gras bewachsen war; die langen Halme beugten sich in der Brise, und das erste Licht der Morgendämmerung drang in den Nachthimmel ein. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen; dann mußte er weiter.
Er öffnete den Sack und entnahm ihm ein Paar Stiefel und Socken sowie eine zusammengerollte Hose und ein grobgewebtes Baumwollhemd. Irgendwann in seiner Vergangenheit hatte er gelernt, wie man platzsparend packte; der Sack enthielt viel mehr, als man vermutete. Woher hatte er diese Fertigkeit? Die Fragen hörten nie auf.
Er erhob sich, zog die Shorts aus, die Washburn ihm gegeben hatte, und legte sie zum Trocknen aus; er durfte hier nichts liegenlassen. Dann schlüpfte er aus seinem Unterhemd und breitete es ebenfalls aus.
Nackt auf der Düne stehend, empfand er ein seltsames Glücksgefühl, in das sich ein hohler Schmerz in der Magengrube mischte. Dieser Schmerz war Angst, das wußte er. Und den Grund für sein Glücksgefühl begriff er auch:
Er hatte seine erste Prüfung bestanden. Er hatte einem
Instinkt vertraut, der ihm genau gesagt hatte, wie er sich verhalten mußte. Vor einer Stunde hatte er kein unmittelbares Ziel gehabt, nur den Drang verspürt, nach Zürich zu gelangen. Gleichzeitig aber war ihm auch klar, daß er dazu Grenzen überqueren und prüfende Blicke über sich ergehen lassen mußte. Der acht Jahre alte Paß war so offensichtlich nicht der seine, daß sogar der dümmste Zollbeamte das feststellen würde. Und selbst wenn es ihm gelang, damit die Schweiz zu betreten, irgendwann wollte er sie auch wieder verlassen; und bei jedem Schritt wuchs die Gefahr, daß man ihn entdeckte und verhaftete. Das durfte er nicht zulassen. Jetzt nicht, solange er nicht mehr wußte. Die Antworten auf die vielen Fragen lagen in Zürich. An sie zu gelangen, war nur möglich, wenn er sich frei bewegen konnte.
Und jetzt hatte er den Kapitän eines Fischerbootes dazu veranlaßt, ihm dabei zu helfen.
Sie sind nicht hilflos. Sie werden schon einen Weg finden.
Ehe der Tag vorüber war, würde er dafür gesorgt haben, daß Washburns Paß von einem Profi geändert wurde. Das war der erste konkrete Schritt, aber zuvor war da noch das Geldproblem zu lösen. Die zweitausend Franc, die der Arzt ihm gegeben hatte, reichten nicht; vielleicht würden sie nicht einmal genügen, um damit den Paß fälschen zu lassen. Was nützte ihm aber ein brauchbarer Paß, wenn er die finanziellen Mittel zum Reisen nicht besaß? Er mußte sich also Geld beschaffen. Nur wie?
Er schüttelte die Kleider aus, die er dem Sack entnommen hatte, zog sie an und stieg in die Stiefel. Dann legte er sich auf den Sand und starrte zum Himmel empor, der immer heller wurde.
Er schlenderte durch die engen, gepflasterten Straßen von La Ciotat, ging in Läden und redete mit den Verkäufern. Es war ein seltsames Gefühl, wieder unter Menschen zu sein, nicht mehr ein körperliches Wrack, das man aus dem Meer gefischt hatte. Er erinnerte sich an den Rat, den der Kapitän ihm gegeben hatte, und vermied den Pariser Dialekt. So war er ein nicht besonders auffälliger Fremder, der zufällig durch die Stadt kam.
Geld!
Es gab ein. Viertel in La Ciotat, wo offenbar eine etwas wohlhabendere Kundschaft einkaufte. Die Geschäfte waren sauberer, die Waren teurer und die Fische frischer; das Fleisch sah abgehangen aus und das Gemüse glänzte; darunter viele exotische Sorten, die aus Nordafrika und dem Mittleren Osten importiert waren. Ein wenig wirkte die Gegend wie ein Stück Paris oder Nizza, das man an den Rand einer Küstenstadt verpflanzt hatte. Ein kleines Cafe, zu dessen Eingang ein schmaler gepflasterter Weg führte, war zu beiden Seiten von gepflegten Rasenflächen umsäumt.
Geld!
Er betrat einen Fleischerladen und bemerkte, daß der Besitzer ihn unfreundlich musterte, so als wäre er nicht willkommen. Der Mann bediente gerade ein Ehepaar in mittleren Jahren, die ihrer Sprache und ihrem Auftreten nach Hausangestellte eines Landsitzes außerhalb der Stadt waren.
«Das Kalbfleisch letzte Woche war kaum zu genießen«, sagte die Frau.»Ich will diesmal besseres Fleisch haben, sonst muß ich in Zukunft in Marseille bestellen.«
«Und neulich«, fügte der Mann hinzu,»äußerte der Marquis mir gegenüber, daß die Lammkoteletts viel zu dünn waren. Ich wiederhole: drei Zentimeter.«
Der Schlachter seufzte und zuckte die Achseln. Höflich murmelte er eine Entschuldigung und versprach zugleich, sich heute mehr Mühe zu geben. Die Frau wandte sich ihrem Begleiter zu, wobei ihre Stimme keine Spur weniger befehlsgewohnt klang als bei ihrem Dialog mit dem Fleischer.
«Warte auf die Pakete und leg sie in den Wagen. Ich gehe inzwischen zum Lebensmittelhändler, wir treffen uns dort.«
«Natürlich, meine Liebe.«
Die Frau ging hinaus, wie eine Taube, die neue Körner suchte, auf denen sie herumpicken konnte. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als der Mann sich dem Ladenbesitzer zuwandte, wobei sich sein Verhalten völlig änderte. Die Arroganz war wie weggewischt, und er grinste.
«Der übliche Tag für dich, nicht wahr, Marcel?«sagte er und holte ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche.
«Es geht. Waren die Koteletts wirklich zu dünn?«
«Mein Gott, nein. Wann hat der das schon unterscheiden können? Aber sie fühlt sich wohler, wenn ich mich beklage, das weißt du ja.«
«Wo ist der Marquis, dieser Mistkerl, jetzt?«
«Betrunken nebenan; er wartet auf die Hure aus Toulon. Ich hole ihn heute nachmittag wieder ab und schmuggle ihn an der
Marquise vorbei in den Stall. Er benutzt Jean-Pierres Zimmer über der Küche, wie dir bekannt ist.«
«Ich habe es gehört.«
Als Washburns Patient den Namen Jean-Pierre hörte, wandte er sich von dem Schaukasten mit Geflügel ab. Das war ein automatischer Reflex, aber die Bewegung erinnerte den Fleischer an seine Anwesenheit.
«Was ist? Was wollen Sie?«
Das war der Augenblick, den gutturalen Akzent abzulegen.»Freunde in Nizza haben Sie mir empfohlen«, sagte der Patient im Pariser Französisch.
«Oh?«Der Ladenbesitzer schien seine Haltung sofort zu ändern. Unter seiner Kundschaft, besonders unter den jüngeren Leuten, gab es welche, die es vorzogen, sich nicht statusgemäß zu kleiden. Heutzutage galt das gewöhnliche Baskenhemd sogar als modisch.»Sind Sie neu hier, mein Herr?«
«Mein Boot wird gerade repariert; wir schaffen es heute nachmittag nicht mehr bis Marseille.«
«Kann ich etwas für Sie tun?«
Der Patient lachte.»Für meinen Koch vielleicht; ich möchte ihm aber nichts vorschreiben. Er kommt später vorbei. Ich habe schon einigen Einfluß auf ihn.«
Der Fleischer und sein Freund lachten.»Das kann ich mir denken, mein Herr«, sagte der Ladenbesitzer.
«Ich brauche ein Dutzend Enten und… achtzehn Chateau-briands.«
«Wird erledigt.«
«Gut. Ich werde den großen Meister der Kombüse direkt zu Ihnen schicken. «Der Patient wandte sich dem Mann in mittleren Jahren zu.»Übrigens, ich habe unwillkürlich mit zugehört… Nein, bitte, seien Sie unbesorgt. Der Marquis ist doch nicht etwa dieser Esel d'Ambois, oder? Ich glaube, jemand hat erwähnt, daß er hier lebt.«
«Oh, nein, mein Herr«, erwiderte der Angestellte.»Ich kenne den Marquis d'Ambois nicht. Ich meinte den Marquis de Chamford. Ein sehr feiner Herr, aber er hat Probleme: eine schwierige Ehe, mein Herr — eine sehr schwierige; das ist allgemein bekannt.«
«Chamford? Ja, ich glaube, wir sind uns schon begegnet. Ziemlich klein, nicht wahr?«
«Nein, Sir. Eigentlich sogar recht groß. Etwa Ihre Größe, würde ich sagen.«
«Wirklich?«
Mit den verschiedenen Eingängen und Innentreppen des zweistöckigen Cafes machte der Patient sich schnell vertraut — als Lebensmittellieferant aus Roquevaire, der seine neue Tour noch nicht richtig kannte. Es gab zwei Treppen, die ins Obergeschoß führten, eine von der Küche aus, die andere gleich hinter dem Eingang von dem kleinen Vorraum; das war die Treppe, die von den Gästen benutzt wurde, die zur Toilette in der obersten Etage wollten. Diese Treppe konnte man durch ein Fenster von außen beobachten, und der Patient war sicher, daß er, wenn er nur lange genug wartete, zwei Leute beim Gang nach oben sehen würde. Sie würden ohne Zweifel getrennt hinaufgehen, und zwar keiner von beiden zur Toilette, sondern zu einem Schlafzimmer über der Küche. Der Patient fragte sich, welches der teuren Autos, die auf der stillen Straße parkten, dem Marquis de Chamford gehörte. Aber welches auch immer es sein mochte, der Bedienstete in dem Fleischerladen brauchte sich keine Sorgen zu machen; sein Brotgeber würde es bestimmt nicht steuern.
Geld!
Die Frau traf kurz vor ein Uhr ein. Es war eine vom Wind zerzauste Blondine, deren großen Brüste die blaue Seide der Bluse spannten. Sie hatte lange, gebräunte Beine und einen eleganten Gang. Ihre Schuhe hatten hohe Absätze. Unter dem eng anliegenden weißen Rock zeichneten sich ihre Schenkel und Hüften deutlich ab. Chamford mochte Probleme haben, aber jedenfalls hatte er Geschmack.
Zwanzig Minuten später konnte der Patient den weißen Rock durch das Fenster sehen; das Mädchen ging nach oben. Kaum sechzig Sekunden danach füllte eine andere Gestalt den Fensterrahmen aus; sie trug dunkle Hosen und einen Blazer und tappte vorsichtig die Treppe hinauf. Er zählte die Minuten; hoffentlich besaß der Marquis de Chamford eine Uhr.
Seinen Seesack so unauffällig wie möglich an den Gurten tragend, betrat der Patient über den gepflasterten Weg das Restaurant. Drinnen bog er im Vorraum nach links, schob sich an einem älteren Mann vorbei, der mit ihm die Treppe hinaufging, erreichte das Obergeschoß und bog wieder nach links. Er lief einen langen Korridor hinunter, der zum hinteren Teil des Gebäudes führte, der über der Küche lag, passierte die Waschräume und stieß schließlich am Ende des schmalen Flurs eine geschlossene Tür auf. Dort blieb er reglos stehen, den Rücken gegen die Wand gedrückt. Er drehte den Kopf und wartete darauf, bis der ältere Mann die Toilette erreicht hatte und die Tür öffnete, während er sich den Reißverschluß an der Hose aufzog.
Der Patient nahm seinen Seesack und legte ihn — instinktiv, ohne darüber nachzudenken — gegen die Türfüllung. Er hielt ihn mit ausgestreckten Armen fest und schmetterte mit einer einzigen schnellen Bewegung die linke Schulter dagegen. Die Tür sprang auf. Niemand unten im Restaurant konnte etwas gehört haben.
«O Gott, wer ist da?«
«Ruhe!«
Der Marquis de Chamford löste sich von dem nackten Körper der blonden Frau und taumelte über den Bettrand auf den Boden. Er wirkte wie ein Bild aus einer Operette: Immer noch trug er sein gestärktes Hemd, eine gutsitzende Krawatte und seidene, bis zum Knie reichende schwarze Socken; aber das war alles. Die Frau griff nach der Decke und bemühte sich, dem Augenblick die Peinlichkeit zu nehmen.
Der Patient erteilte rasch seine Befehle:»Keinen Laut! Wenn Sie genau tun, was ich sage, passiert niemandem etwas.«
«Meine Frau hat Sie angestellt!«schrie Chamford mit lallender Stimme und wirrem Blick.»Ich bezahle Ihnen mehr.«
«Das fängt gut an«, antwortete Dr. Washburns Patient.»Ziehen Sie Ihr Hemd und die Krawatte aus. Die Socken auch. «Da sah er das glänzende Goldband am Handgelenk des Marquis.»Und die Uhr.«
Ein paar Minuten später war die Verwandlung perfekt. Die Kleider des Marquis paßten zwar nicht nach Maß, aber niemand würde leugnen können, daß es sich um erstklassiges Tuch und einen hervorragenden Schnitt handelte. Die Uhr war im übrigen eine Girard Perregaux, und Chamfords Brieftasche enthielt über dreizehntausend Franc. Auch die Wagenschlüssel waren eindrucksvoll: Sie hatten Anhänger aus Sterling-Silber, die sein Monogramm trugen.
«Um Himmels willen, geben Sie mir meine Kleider!«sagte der Marquis, bei dem die Lächerlichkeit seiner Situation langsam den Alkoholdunst hatte durchdringen können.
«Tut mir leid, aber das kann ich nicht«, erwiderte der Eindringling und sammelte seine eigenen Kleider und die der Blondine auf.
«Aber meine können Sie doch nicht nehmen!«schrie sie.
«Ich hab' Ihnen gesagt, daß Sie ruhig sein sollen.«
«Schon gut, schon gut«, fuhr sie fort,»aber Sie können nicht… «
«Doch, ich kann. «Der Patient sah sich im Zimmer um; auf einem niedrigen Tisch am Fenster stand ein Telefon. Er ging darauf zu und riß das Kabel aus der Wand.»Jetzt wird Sie niemand stören«, sagte er und griff nach seinem Sack.
«Damit kommen Sie nicht durch, das wissen Sie doch«, herrschte Chamford ihn an,»Die Polizei wird Sie finden!«
«Die Polizei?«fragte er.»Glauben Sie wirklich, daß Sie die Polizei rufen sollten? Dann wird ein ausführlicher Bericht geschrieben, und Sie werden alle Einzelheiten schildern müssen. Ich bin nicht so sicher, daß das eine besonders gute Idee ist. Sie wären wohl besser dran, wenn Sie auf den Burschen warteten, der Sie heute nachmittag abholen soll. Ich hörte, daß er Sie an der Marquise vorbei in den Stall schmuggeln will. Wenn man alles bedenkt, finde ich, wäre dies das beste für Sie. Ich bin überzeugt, daß Ihnen eine gute Geschichte für das einfällt, was Ihnen passiert ist. Ich werde Ihnen nicht widersprechen.«
Der unbekannte Dieb verließ das Zimmer und schloß die beschädigte Tür hinter sich.
Sie sind nicht hilflos. Sie werden schon einen Weg finden.
Bis jetzt hatte er es geschafft, und das machte ihm fast ein wenig angst. Was hatte Washburn gesagt? Daß seine Fertigkeiten und Talente zurückkehren würden… aber ich glaube nicht, daß Sie jemals imstande sein werden, sie mit irgend etwas in Ihrer Vergangenheit in Verbindung zu bringen.
Was für eine Art von Vergangenheit war es, in der er sich die Fertigkeiten angeeignet hatte, die er in den letzten vierundzwanzig Stunden an den Tag gelegt hatte? Wo hatte er gelernt, seinen Gegner mit gezielten Fußtritten zum Krüppel zu schlagen? Woher kannte er genau die Körperstellen, die seine Hiebe treffen mußten? Wer hatte ihm beigebracht, wie man mit Leuten auf der anderen Seite des Gesetzes umging und sie dazu provozierte, etwas Illegales zu tun? Wie kam es; daß er so schnell auf bloße Andeutungen reagieren konnte und doch zweifelsfrei überzeugt war, daß seine Instinkte richtig waren? Woher hatte er das Gespür, in einem beiläufigen Gespräch, das er zufällig in einem Fleischerladen mit anhörte, die Chance zur Erpressung zu wittern? Aber noch viel bedeutender war vermutlich die einfache Entscheidung, das Verbrechen durchzuführen. Mein Gott, wie konnte er nur?
Je mehr Sie dagegen ankämpfen, desto mehr quälen Sie sich, desto schlimmer wird es sein.
Als er im Jaguar des Marquis de Chamford saß, konzentrierte er sich auf den Verkehr und das mahagonigetäfelte Armaturenbrett vor sich. Die Instrumentenanordnung war ihm nicht vertraut; in seiner Vergangenheit war er also offenbar nicht in solchen Wagen gefahren. Wahrscheinlich sagte ihm das etwas.
In weniger als einer Stunde überquerte er eine Brücke über einem breiten Kanal und wußte, daß er Marseille erreicht hatte. Kleine rechteckige Häuser, die wie Bausteine die Straßen vom Wasser heraufsäumten; schmale Gassen und überall Mauern — die Randbezirke des alten Hafens. Er kannte das alles und kannte es doch nicht. In der Ferne zeichnete sich auf einem der umliegenden Hügel die Silhouette einer Kathedrale ab, auf dem Dach konnte man ganz deutlich eine Statue der Jungfrau Maria erkennen. Notre-Dame-de-la-Garde — der Name drängte sich ihm auf; er hatte die Kirche schon einmal gesehen — und doch wiederum nicht.
Herrgott! Hör auf!
Binnen weniger Minuten befand er sich im pulsierenden Stadtzentrum und fuhr über die überfüllte Canebiere mit ihren teuren Geschäften. Die Strahlen der Nachmittagssonne spiegelten sich zu beiden Seiten im eingefärbten Glas der Schaufenster. Er bog nach links auf den Hafen zu, vorbei an Lagerhäusern und kleinen Fabriken und umzäunten
Freiflächen, auf denen Autos parkten, die für den Transport nach Norden in die Verkaufsräume von Saint-Etienne, Lyon und Paris bestimmt waren. Und für Bestimmungsorte auf der anderen Seite des Mittelmeers.
Instinkt. Du mußt deinem Instinkt folgen. Er durfte nichts außer acht lassen. All seine Fähigkeiten hatten einen unmittelbaren Nutzen; ein Stein war wertvoll, wenn man ihn werfen konnte, ein Fahrzeug, wenn jemand es kaufen wallte. Vor einem Platz, wo sowohl neue als auch gebrauchte Luxuslimousinen aufgereiht waren, parkte er am Randstein und stieg aus. Auf der anderen Seite des Zauns stand eine kleine Garage, Mechaniker in Overalls liefen mit Werkzeugen herum.
Er schlenderte über das Gelände, bis er einen Mann in einem Nadelstreifenanzug entdeckte, bei dem ihm sein Instinkt sagte, daß er der richtige Verhandlungspartner war.
Es dauerte weniger als zehn Minuten, und seine Erklärungen beschränkten sich auf das Notwendigste, dann war das Verschwinden des Jaguar nach Nordafrika durch Abfeilen der Motornummer garantiert und die mit Silbermonogramm versehenen Autoschlüssel wechselten für sechstausend Franc die Besitzer, was etwa einem Fünftel des Wertes von Chamfords Auto entsprach.
Daraufhin ließ sich Dr. Washburns Patient mit einem Taxi zu einem Pfandleiher bringen, der nicht zu viele Fragen stellte. Eine halbe Stunde später zierte die goldene Girard Perregaux nicht länger sein Handgelenk; er hatte sie gegen eine Seiko-Uhr und achthundert Franc eingetauscht. Alles hatte seinen Wert in Beziehung zu seinem praktischen Nutzen: Der Chronograph war stoßfest.
Die nächste Station war ein mittelgroßes Warenhaus an der Canebiere. Er wählte Kleider von der Stange, bezahlte sie und ließ einen schlecht sitzenden dunklen Blazer und Hosen in der Kabine zurück.
Im Erdgeschoß kaufte er sich einen weichen Lederkoffer und etwas Unterwäsche, die er gemeinsam mit dem Seesack im Koffer verstaute. Der Patient sah auf seine neue Uhr; es war beinahe fünf Uhr, Zeit, sich ein komfortables Hotel zu suchen. Er hatte ein paar Tage nicht geschlafen und brauchte Ruhe vor seiner Verabredung in der Rue Sarrasin, in einem Cafe, das sich >Le Bouc de Mer< nannte. Dort würden die Arrangements für eine wichtigere Verabredung in Zürich getroffen werden.
Er lag auf dem Bett und starrte zur Decke; der Lichtschein der Straßenlampen ließ unregelmäßige Reflexe über die weißen Wände tanzen. Die Nacht hatte sich schnell über Marseille gesenkt, und mit ihr hatte den Patienten ein Gefühl der Freiheit erfaßt. Es war, als hätte die Dunkelheit den grellen Schein des Tageslichts verschluckt, das ihm zu viel Eindrücke zu schnell offenbart hatte. Er war dabei, wieder etwas Neues über sich zu lernen: Er fühlte sich nachts sicherer. Wie eine halb verhungerte Katze konnte er in der Finsternis besser auf Raubzug gehen. Und doch regte sich in ihm ein Widerstand, und er spürte ihn auch. Während der Monate in Ile de Port Noir hatte er sich nach dem Sonnenlicht gesehnt, jeden
Morgen darauf gewartet und sich nichts sehnlicher gewünscht, als daß die Finsternis sich löse. Dinge widerfuhren ihm. Er war dabei, sich zu ändern.
Dinge waren ihm widerfahren. Ereignisse, die die Vorstellung, des Nachts erfolgreiche Streifzüge machen zu können, Lügen straften. Vor zwölf Stunden hatte er sich noch auf einem Fischerboot im Mittelmeer befunden, hatte ein Ziel vor Augen und zweitausend Franc in einem Päckchen an der Hüfte gehabt. Zweitausend Franc — das war nach dem augenblicklichen Wechselkurs etwas weniger als fünfhundert amerikanische Dollar. Jetzt verfügte er über akzeptable Kleidung, hatte sich in einem teuren Hotel eingemietet und besaß knapp über dreiundzwanzigtausend Franc, die er in einer Louis-Vuitton-Brieftasche aus dem Besitz des Marquis de Chamford aufbewahrte. Dreiundzwanzigtausend Franc… beinahe sechstausend amerikanische Dollar!
Woher kam er, daß er zu solchen Dingen imstande war?
Hör auf!
Die Häuser in der Rue Sarrasin waren so alt, daß sie in einer anderen Stadt vielleicht unter Denkmalschutz gestanden hätten. Die breite Gasse verband Straßen, die erst Jahrhunderte später entstanden sind. Aber dies war typisch für Marseille; Architektonik berührte sich hier mit mittelalterlichen Bauwerken, und beide arrangierten sich nur auf höchst unbequeme Weise mit der Neuzeit.
Die Rue Sarrasin war insgesamt höchstens sechzig Meter lang und schien mit der Zeit zwischen den Steinmauern der Gebäude erstarrt zu sein. Keine Straßenlaternen erhellten das gespenstische Dunkel, wenn die Nebel vom Hafen heraufwallten — der ideale Ort für Männer, die keinen Wert darauf legten, daß man sie beobachtete oder ihre Gespräche belauschte.
Das einzige Licht und die einzigen Geräusche drangen aus dem >Le Bouc de Mer<. Das Cafe lag ziemlich genau in der Mitte der breiten Gasse; im 19. Jahrhundert waren in dem Haus Büros untergebracht. Später hatte man mehrere Zwischenwände niedergerissen, um eine große Bar und Platz für Tische zu schaffen, die zum Teil in Nischen standen, um den Gästen, die das wünschten, einen ungestörten Aufenthalt zu bieten. Das war das Äquivalent des Hafenviertels für jene Privaträume in Restaurants an der Canebiere, und ihrem Status entsprechend gab es Vorhänge, aber keine Türen.
Der Patient bahnte sich einen Weg zwischen den überfüllten Tischen hindurch, wobei er sich entschuldigte, wenn er Fischer und betrunkene Soldaten beiseite schieben mußte oder grell geschminkte Huren, die nach Kundschaft Ausschau hielten. Er spähte in etliche Nischen, bis er schließlich den Kapitän des Fischerboots fand. Ein weiterer Mann saß bei ihm am Tisch. Er war hager und bleichgesichtig, und seine eng nebeneinander liegenden Augen musterten ihn wie die eines neugierigen Frettchens.
«Setzen Sie sich«, sagte der Skipper mürrisch.»Ich hatte Sie früher erwartet.«
«Sie sagten, zwischen neun und elf. Jetzt ist es Viertel vor elf.«
«Wenn Sie es so lange hinziehen, können Sie auch den Whisky bezahlen.«
«Gerne. Bestellen Sie etwas Anständiges, wenn die hier so was haben.«
Der bleichgesichtige Mann lächelte. Die Dinge werden sich richtig entwickeln, dachte der Patient.
Das taten sie auch. Der Paß gehörte ausgerechnet zu der Sorte, die am allerschwierigsten zu fälschen war, aber wenn man sich große Mühe gab, über die richtigen Hilfsmittel verfügte und ein Meister seines Faches war, würde es gehen.
«Wieviel?«
«Nun, die Sache ist mit viel Arbeit verbunden, die dazu verdammt knifflig sein wird. Das kostet natürlich sein Geld. Also zweitausendfünfhundert Franc.«
«Wann kann ich ihn haben?«
«Nicht vor drei oder vier Tagen. Bei der Frist muß ich den Künstler mächtig unter Druck setzen; er wird wütend sein.«
«Wenn ich ihn schon morgen bekomme, zahle ich tausend Franc mehr.«
«Um zehn Uhr früh«, sagte der hagere Mann schnell.»Dann wird er mich eben beschimpfen, das nehme ich in Kauf.«
«Und den Tausender mehr«, unterbrach ihn der Kapitän mit mürrischer Miene.»Was haben Sie aus Port Noir mitgenommen? Diamanten?«
«Talent«, antwortete der Patient.
«Ich brauche ein Foto«, sagte der Mann im
Nadelstreifenanzug.
«Ich hab' mir eines machen lassen«, erwiderte der Patient und holte ein kleines rechteckiges Foto aus der Hemdtasche.
«Guter Anzug«, sagte der Kapitän und schob die Aufnahme dem bleichgesichtigen Mann hin.
«Gut geschnitten«, ergänzte der Patient.
Man vereinbarte den Ort für das Zusammentreffen am nächsten Morgen. Die Getränke wurden bezahlt und dem Kapitän fünfhundert Franc unter dem Tisch hingeschoben. Die Konferenz war beendet; der >Kunde< verließ die Nische und drängte sich durch den überfüllten, lärmenden, mit Rauch gefüllten Raum zum Ausgang.
Es geschah so schnell, so plötzlich, so völlig unerwartet, daß keine Zeit zum Denken war. Nur zum Reagieren.
Zwei Augen starrten ihn an, schienen förmlich aus ihren Höhlen zu treten, weiteten sich ungläubig, am Rande der Hysterie.
«Nein! O mein Gott, nein! Das kann nicht sein!« Der Mann wirbelte herum. Der Patient trat einen Schritt vor und packte ihn an der Schulter.
«Augenblick!«
Der Mann schob mit gespreiztem Daumen und Zeigefinger die Hand des Patienten weg. »»Sie! Sie sind tot! Sie können unmöglich überlebt haben!«
«Habe ich aber. Was wissen Sie?«
Das Gesicht war jetzt verzerrt, wuterfüllt, die Augen zusammengekniffen, der Mund offen, er sog die Luft ein und zeigte dabei seine gelben Zähne, die wie die eines Tieres wirkten. Plötzlich zog der Mann ein Klappmesser hervor. Das Schnappen der Klinge hallte laut durch den herrschenden Lärm. Der Arm schoß vor. Die Klinge war wie eine Verlängerung der Hand, die das Heft des Messers umklammert hielt, und beide schossen auf den Körper des Patienten zu.»Das wird Ihr Ende sein!«raunte der Mann ihm zu.
Der rechte Arm des Patienten fuhr herum wie ein Pendel, das alle Gegenstände, die ihm im Wege sind, beiseite fegte. Blitzschnell drehte er sich auf dem Absatz herum, sein linker Fuß schoß in die Höhe, und seine Ferse bohrte sich dem Angreifer in den Unterleib.
«Che-sah«! Das Echo in seinen Ohren war betäubend.
Der Mann taumelte zurück, prallte gegen drei Gäste, und das Messer entglitt seiner Hand. Man sah die Waffe; Rufe ertönten, Menschen liefen zusammen, Fäuste und Hände trennten die Kämpfenden.
«Hinaus!«
«Streitet euch woanders!«
«Wir wollen hier keine Polizei, ihr betrunkenen Schweine!«
Der Patient sah sich umringt; er verfolgte, wie der Mann, der ihn angegriffen hatte, sich seinen Weg durch die Menge bahnte, wobei er sich den Bauch hielt. Die schwere Eingangstür öffnete sich, und der Mann rannte in die Finsternis der Rue Sarrasin hinaus.
Jemand, der geglaubt hatte, ja gewünscht hatte, er wäre tot, wußte nun, daß er am Leben war.
Die Touristenklasse der Air-France-Maschine nach Zürich war völlig ausgebucht, und die Turbulenzen, die das Flugzeug durchschüttelten, machten die schmalen Sitze noch unbequemer. Ein Baby schrie in den Armen seiner Mutter, andere Kinder jammerten und verschluckten Schreie der Angst, während ihre Eltern sie zu beruhigen versuchten, obwohl ihnen selbst der Schreck in den Gliedern saß. Die meisten übrigen Passagiere verhielten sich gefaßt; einige tranken ihren Whisky schneller, als sie es offenbar gewohnt waren. Eine noch kleinere Zahl zwang sich zu gespielter Heiterkeit, was ihre Unsicherheit eher betonte, als sie verbarg. Niemand vermag den Gefühlen der Angst zu entkommen. Wenn der Mensch 8000 Meter über der Erde in eine Röhre aus Aluminium eingesperrt ist, reagiert er besonders anfällig. Ein heulender Sturz in die Tiefe ist für jeden das Ende. Welche Gedanken würden einem in einem solchen Augenblick wohl durch den Kopf gehen? Wie würde man sich verhalten?
Der Patient versuchte das herauszufinden; es war wichtig für ihn. Er saß am Fenster, die Augen auf die Tragfläche der Maschine gerichtet, und beobachtete, wie der breite Flügel unter dem brutalen Aufprall der Winde vibrierte und sich bog. Die Luftströmungen wirbelten ineinander und prügelten die von Menschenhand gefertigte Röhre. Sie schienen seine Insassen warnen zu wollen, daß ihre Maschine unberechenbaren Gewalten der Natur nicht gewachsen war. Ein paar Gramm Druck über die Toleranzen hinaus — und die Tragflächen würden aus ihrer Verankerung gerissen, von den Winden zerfetzt werden. Wenn eine Reihe von Nieten sich löste, würde es eine Explosion geben, würde der heulende Sturz in die Tiefe folgen.
Wie würde er reagieren? Würde, abgesehen von der unkontrollierbaren Angst vor dem Tode, da noch etwas sein? Das war es, worauf er sich konzentrieren mußte; das war die Projektion, auf die Washburn ihn in Port Noir immer wieder hingewiesen hatte. Er erinnerte sich jetzt der Worte, die der Arzt gesprochen hatte:
«Immer, wenn Sie eine Streßsituation beobachten — und Zeit dazu haben — bemühen Sie sich so gut Sie können, sich in den Zustand zu versetzen. Und dann lassen Sie zu, daß Ihr Bewußtsein sich mit Worten und Bildern füllt. Vielleicht finden Sie darin Hinweise.«
Der Patient fuhr fort, durchs Fenster hinauszustarren, und strengte sich bewußt an, zu seinem Unterbewußtsein vorzustoßen. Er fixierte die Augen auf die Naturgewalt auf der anderen Seite des Glases und ließ seinen Assoziationen freien Lauf — langsam drängten Worte und Bilder in sein Bewußtsein.
Da war wieder die Finsternis und das Rauschen des Windes, ohrenbetäubend, andauernd, an Lautstärke zunehmend, bis er glaubte, sein Kopf müsse zerplatzen. Sein Kopf… Die Winde peitschten seine linke Gesichtshälfte, brannten auf der Haut, zwangen ihn, die linke Schulter zu heben, um sich zu schützen. Er hatte den Arm hochgehoben, die behandschuhten Finger seiner linken Hand hatten sich an einer Metallkante festgeklammert, seine rechte hielt einen… einen Riemen; er hielt sich an einem Riemen fest, wartete auf etwas. Ein Signal… ein blitzendes Licht oder ein Klopfen auf die Schulter oder beides. Das Signal! Er sprang. In die Finsternis, in den Abgrund. Sein Körper überschlug sich, taumelte, wurde in den Nachthimmel hinausgeschleudert. Er… mit dem Fallschirm abgesprungen!
«Fühlen Sie sich nicht gut?«
Sein wahnsinniger Traum wurde unterbrochen; der nervöse Passagier neben ihm hatte ihn am linken Arm berührt — dem Arm, den er in die Höhe hielt, die Finger gespreizt, als wehrten sie einen Angriff ab. Sein rechter Unterarm lag über seiner Brust und preßte sich gegen seine Jacke, seine rechte Hand hielt das Revers gepackt, knüllte den Stoff zusammen. Und auf seiner Stirn standen dicke Schweißtropfen; es war geschehen. Das andere war kurz — in seinem Wahnsinn — aufgetaucht und hatte sich verdichtet.
«Pardon«, sagte er und ließ die Arme sinken.»Ich hatte einen schlechten Traum.«
Das Wetter klarte auf, der Flug der Caravelle wurde ruhiger. Das Lächeln in den gehetzten Gesichtern der Stewardessen wurde wieder natürlich.
Der Patient schloß die Augen. Die Bilder und Geräusche, die sich in seiner Phantasie so klar abgezeichnet hatten, verzehrten ihn. Er hatte sich aus einem Flugzeug gestürzt… nachts… Er war mit dem Fallschirm abgesprungen.
Wo? Warum?
Hören Sie auf, sich ans Kreuz zu schlagen!
Er griff, wenn auch zu keinem anderen Zweck, als seine Gedanken von dem Wahnsinn loszureißen, in die Brusttasche, holte den gefälschten Paß heraus und schlug ihn auf. Wie nicht anders zu erwarten, war der Name Washburn beibehalten worden; er war nicht ungewöhnlich, und sein Besitzer hatte erklärt, daß er nicht gesucht würde. Das Geoffrey R. freilich war in George P. geändert worden, so fachmännisch, daß man bei bloßem Augenschein die Fälschung nicht erkennen konnte. Auch das Foto war mit aller Sorgfalt eingeklebt worden.
Die Registriernummer war natürlich vollständig geändert. Das bot die Gewähr, daß sie nicht im Computer einer Grenzpolizei Alarm auslösen würde. Man zahlte ebensoviel für diese Garantie wie für die handwerkliche Kunst; denn sie erforderte Beziehungen zu Interpol und den Einwanderungsbehörden.
Überall an den Grenzen Europas wurden Zollbeamte regelmäßig dafür bestochen; sie machten nur selten Fehler. Wenn das doch einmal passierte, war es durchaus nicht ungewöhnlich, daß der Betreffende ein Auge oder einen Arm verlor — so arbeiteten die Makler für falsche Papiere.
George P. Washburn — er fühlte sich mit dem Namen nicht unwohl; George P. war ein anderer als Geoffrey R., als der Mann, der unter dem Zwang stand, dauernd auf der Flucht vor seiner Identität zu sein. Das war das letzte, was der Patient sich wünschte; alles drängte ihn danach zu erfahren, wer er war.
Aber wollte er das wirklich wissen?
Gleichgültig. Die Antwort lag in Zürich.
«Meine Damen und Herren, wir landen in wenigen Minuten in Zürich.«
Er kannte den Namen des Hotels: >Carillon du Lac<. Er hatte es dem Taxifahrer ohne nachzudenken genannt. Hatte er ihn irgendwo gelesen? War dieses Hotel vielleicht im >Willkommen in Zürich<-Prospekt verzeichnet, der in der Sitztasche im Flugzeug gesteckt hatte?
Nein. Die Hotelhalle mit ihrer dunklen, polierten Holztäfelung war ihm vertraut. Irgendwie. Ebenso die dicken
Glasfenster, die einen Ausblick über den Zürichsee boten. Er war schon einmal hier gewesen. Irgendwann hatte er schon einmal vor dem Tresen mit der Marmorabdeckung gestanden — aber das lag lange zurück.
Die Worte des Angestellten am Empfang wirkten wie eine Explosion auf ihn.
«Schön, Sie wiederzusehen, Sir. Ist eine ganze Weile her, daß Sie das letzte Mal hier waren.«
Ja? Wie lange? Warum sprechen Sie mich nicht mit Namen an? Um Gottes willen! Ich kenne Sie nicht! Ich kenne mich nicht! Helft mir doch! Bitte, helft mir!
«Ja, das denke ich auch«, sagte er.»Tun Sie mir einen Gefallen? Ich habe mir die Hand verstaucht; das Schreiben fällt mir schwer. Könnten Sie für mich das Anmeldeformular ausfüllen? Dann versuche ich, es zu unterschreiben!«Der Patient hielt den Atem an. Wenn der höfliche Mann hinter dem Tresen ihn jetzt aufforderte, seinen Namen zu wiederholen oder fragte, wie er geschrieben würde?
«Natürlich. «Der Angestellte drehte das Formular herum und schrieb.»Sollen wir einen Arzt rufen?«
«Später vielleicht. Nicht jetzt. «Sekunden später hielt ihm der Mann das ausgefüllte Formular zur Unterschrift hin.
Mr. J. Borowski. New York, N.Y., U.S.A.
Er starrte gebannt auf den Namen, von den Buchstaben förmlich hypnotisiert. Er hatte einen Namen, wenigstens den Teil eines Namens. Und ein Land und eine Stadt als Wohnsitz.
J. Borowski — Was hatte die Abkürzung J. zu bedeuten? John? James? Joseph?
«Ist etwas nicht in Ordnung, Herr Borowski?«fragte der Angestellte.
«Nicht in Ordnung? Nein, schon gut. «Er griff nach dem Kugelschreiber. Ob man von ihm erwartete, daß er einen Vornamen hinschrieb? Nein: er würde wiederholen, was der Angestellte in Blockbuchstaben eingetragen hatte.
Mr. J. Borowski.
Er schrieb den Namen, so natürlich er konnte, ließ dabei seinen Assoziationen freien Lauf und war darauf bedacht, daß alle Bilder und Gedanken, die vielleicht ausgelöst wurden, ins Bewußtsein drangen. Aber nichts rührte sich. Er unterzeichnete mit einem Namen, der ihm fremd war. Er empfand nichts.
«Einen Augenblick lang war ich beunruhigt, mein Herr«, sagte der Angestellte.»Ich dachte schon, ich hätte vielleicht einen Fehler gemacht. Es war viel zu tun, diese Woche, besonders heute. Aber dann war ich mir ganz sicher.«
Und wenn er sich nun geirrt hatte? Mr. J. Borowski aus New York City wollte über diese Möglichkeit gar nicht erst nachdenken.»Es ist mir nie in den Sinn gekommen, an Ihrem Gedächtnis zu zweifeln… Herr Stössel«, erwiderte der Patient und blickte auf das Namensschild links von der Theke. Der Mann hinter dem Tresen war der stellvertretende Empfangschef des >Carillon du Lac<.
«Sie sind sehr freundlich. «Der Mann beugte sich vor.»Ich nehme an, Sie möchten, daß Ihr Aufenthalt hier bei uns wie üblich geregelt wird?«
«Einiges könnte sich geändert haben«, sagte J. Borowski.»Wie hatten Sie das früher notiert?«
«Wenn jemand anruft oder sich hier nach Ihnen erkundigt, wird ihm gesagt, daß Sie nicht im Hotel sind, und anschließend sind Sie sofort zu informieren. Die einzige Ausnahme ist Ihre Firma in New York. Die Treadstone Seventy-One Corporation, wenn ich mich richtig erinnere.«
Wieder ein Name! Einer, den er mit einem Überseegespräch leicht überprüfen konnte. Fragmentarische Umrisse begannen sich abzuzeichnen. Das Hochgefühl kehrte wieder zurück.
«Ja, das ist gut so. Sie sind hier wirklich sehr tüchtig.«
«Das ist Zürich«, erwiderte der höfliche Mann und zuckte die Achseln.»Sie sind immer außergewöhnlich großzügig gewesen, Herr Borowski. Page — hierher bitte!«
Als der Patient dem Pagen in die Liftkabine folgte, wurden ihm einige Dinge klarer. Er hatte einen Namen und begriff auch, warum dieser Name dem steilvertretenden Empfangschef des >Carillon du Lac< so schnell eingefallen war. Er hatte ein Land und eine Stadt und eine Firma, die ihn beschäftigte — die ihn zumindest beschäftigt hatte. Und jedesmal, wenn er nach Zürich kam, wurden gewisse Vorsichtsmaßregeln getroffen, um ihn vor unerwarteten oder unerwünschten Besuchern zu schützen. Aber warum nur? Man schützte sich entweder gründlich oder versuchte gar nicht erst, sich zu schützen. Welchen echten Vorteil bot denn eine Maßnahme, die derart leicht zu umgehen war? Sie kam ihm so sinnlos vor, wie die Geste eines kleinen Kindes, das sich die Hände vor die Augen hält und ruft:»Wo bin ich? Versucht mich zu finden. Ich zähle laut bis zehn.«
Das war geradezu dilettantisch, und wenn er in den letzten 48 Stunden etwas über sich selbst gelernt hatte, dann die Tatsache, daß er ein Profi war. Nur auf welchem Gebiet, wußte er nicht.
Die Stimme der Frau der Vermittlung in New York erstarb immer wieder, aber ihre Auskunft war unmißverständlich und definitiv.
«Eine solche Firma ist hier nicht eingetragen, Sir. Ich habe die letzten Telefonbücher und auch die Geheimnummern überprüft. Es gibt keine >Treadstone Corporation<.«
«Vielleicht hat man den Eintrag gelöscht, um…«
«Wir haben keine Firma oder Gesellschaft mit diesem Namen, Sir. Ich wiederhole, wenn Sie mir einen Zusatznamen oder die Branche nennen, in der dieses Unternehmen tätig ist, könnte ich Ihnen vielleicht weiterhelfen.«
«Bedaure, nichts dergleichen. Treadstone Seventy-One, New York City — mehr ist mir nicht bekannt.«
«Das ist ein seltsamer Name, Sir. Ich bin sicher, wenn es eine solche Eintragung gäbe, hätte ich sie leicht gefunden. Es tut mir wirklich leid.«
«Vielen Dank für Ihre Mühe«, sagte J. Borowski und legte den Hörer auf die Gabel. Es war sinnlos, weiterzubohren; der Name war irgendein Code. Die Worte verschafften Zugang zu einem Hotelgast, der sich sonst verleugnen ließ. Und jeder konnte diese Worte benutzen, gleichgültig, von wo aus er anrief; deshalb war es durchaus möglich, daß die Ortsangabe New York völlig bedeutungslos war.
Der Patient ging zu dem Sekretär, auf den er die Louis-Vuitton-Brieftasche und die Seiko-Uhr gelegt hatte. Er steckte die Geldbörse ein und streifte sich die Armbanduhr über; dann sah er in den Spiegel und sagte mit leiser Stimme:»Du bist J. Borowski, Bürger der Vereinigten Staaten, Bewohner von New York City, und es ist durchaus möglich, daß die Zahlen >Null — Sieben — Siebzehn — Zwölf — Null — Vierzehn — Sechsundzwanzig
— Null< das Wichtigste in deinem Leben sind.«
Die Sonne schien hell, und ihre Strahlen wurden vom Laub der Bäume entlang der eleganten Bahnhofstraße gefiltert. Sie spiegelten sich in den Schaufenstern der Geschäfte und warfen breite Schattenflächen, wo die mächtigen Paläste der Banken standen. Es war eine Straße, in der Solidität und Sicherheit,
Arroganz und ein Hauch von Frivolität gemeinsam das Fluidum prägten. Und Dr. Washburns Patient durchlief sie nicht das erste Mal.
Er schlenderte zum Bürkliplatz, von wo aus man den Zürichsee mit seinen Landungsstegen und den herrlichen Parks, deren Blütenpracht alle Sinne gefangennahm, überblicken konnte. Er vermochte sich die Anlagen vor seinem geistigen Auge gut vorzustellen; Bilder tauchten auf. Aber keine Gedanken, keine Erinnerungen.
Er kehrte zur Bahnhofstraße zurück und wußte instinktiv, daß die Gemeinschaftsbank ein ganz in der Nähe liegendes Gebäude aus Steinen in gebrochenem Weiß war; sie lag auf der gegenüberliegenden. Straßenseite. Er war bereits an ihr vorbeigegangen; das hatte er absichtlich getan. Er trat auf die schweren Glastüren zu, zog sie auf und schritt auf braunem Marmorboden durch das Foyer. Das war nicht das erste Mal, aber das Bild war nicht so kräftig wie andere. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß er die Gemeinschaftsbank meiden mußte.
Aber jetzt wollte er nicht mehr zurück.
«Bonjour, Monsieur. Was wünschen Sie?«Der Mann, der die Frage gestellt hatte, trug einen Cutaway. Daß er französisch sprach, lag an der Kleidung seines Klienten; selbst die subalternen Gnome von Zürich hatten dafür einen Bück.
«Ich habe über persönliche und vertrauliche Geschäfte zu sprechen«, erwiderte J. Borowski auf Englisch und staunte leicht über die Worte, die ihm so natürlich über die Lippen kamen. Daß er englisch redete, hatte zwei Gründe: Einmal wollte er den Gesichtsausdruck des Gnoms beobachten, wenn dieser seinen Fehler bemerkte, zum anderen wollte er vermeiden, daß ihm irgendein Wort während der nächsten Stunde falsch ausgelegt werden könnte.
«Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Mann in englischer Sprache und zog die Augenbrauen etwas zusammen, während er den Mantel des Besuchers musterte.»Der Lift ist links, man wird Ihnen behilflich sein.«
>Man< war ein Mann in mittleren Jahren mit kurzgestutztem Haar und einer Schildpattbrille; sein Ausdruck wirkte undurchdringlich, die Augen fixierten Borowski starr und wißbegierig.»Haben Sie denn im Augenblick persönliche und vertrauliche Geschäfte mit uns, Sir?«fragte er und wiederholte damit die Worte des Besuchers.
«Ja.«
«Ihre Unterschrift, bitte«, sagte der Bankangestellte und hielt ihm ein bedrucktes Blatt mit zwei gepunkteten Zeilen in der Mitte hin.
Der Kunde begriff; ein Name war nicht nötig. Die handgeschriebenen Ziffern gelten anstelle eines Namens… sie stellen die Unterschrift des Kontobesitzers dar.
Der Patient entspannte seine Hand, um frei schreiben zu können, und schrieb die Ziffern hin. Er reichte dem Angestellten das Blatt, worauf dieser sich nach einem prüfenden Blick erhob und auf eine Reihe schmaler Türen mit Milchglasscheiben wies.»Wenn Sie bitte im vierten Zimmer warten wollen; es wird gleich jemand zu Ihnen kommen.«
«Das vierte Zimmer?«
«Die vierte Tür von links. Sie schließt automatisch.«
«Ist das notwendig?«
Der Angestellte sah ihn verblüfft an.»Das entspricht Ihrem eigenen Wunsch, Sir«, sagte er mit einem leichten Unterton der Überraschung.»Es handelt sich um ein Drei-Null-Konto. Bei unserem Institut ist es üblich, daß die Besitzer solcher Konten vorher anrufen, damit sie durch den Sondereingang hereingelassen werden.«
«Das weiß ich«, log Washburns Patient mit einer Leichtigkeit, die er nicht spürte.»Ich habe es nur eilig.«
«Ich werde das überprüfen lassen, Sir.«
«Überprüfen?«Mr. J. Borowski aus New York City konnte nicht umhin, leichte Unruhe zu empfinden.
«Ihre Unterschrift, Sir. «Der Mann schob sich die Brille zurecht; damit kaschierte er den Schritt, den er auf seinen Schreibtisch zutat. Seine Hand war nur wenige Zoll von einer Konsole entfernt.»Ich schlage vor, daß Sie in Zimmer vier warten, Sir. «Das war keine Bitte, sondern ein Befehl.
«Warum nicht? Sagen Sie denen nur, daß sie sich beeilen sollen, ja?«Der Patient ging auf die vierte Tür zu, öffnete sie und trat ein. Die Türe schloß sich automatisch; man konnte das Klicken des Schlosses hören. J. Borowski sah die Milchglasscheibe an; es war keine gewöhnliche Glasscheibe, denn unter der Oberfläche war deutlich ein Netz dünner Drähte zu erkennen. Ohne Zweifel würde ein Alarm ausgelöst werden, wenn man die Scheibe einschlug; er befand sich in einer Zelle und wartete darauf, gerufen zu werden.
Das kleine Zimmer war vertäfelt und geschmackvoll möbliert mit zwei Ledersesseln und einem kleinen Sofa, das zu beiden Seiten von antiken Tischchen eingerahmt war. Auf der anderen Schmalseite des Raumes war eine zweite Tür eingelassen, die in verblüffendem Kontrast zur Einrichtung des Zimmers stand; sie war aus grauem Stahl. Auf den Tischchen lagen Magazine und Zeitungen in drei verschiedenen Sprachen. Der Patient setzte sich und griff nach der Pariser Ausgabe der Herald Tribüne. Er las einen Artikel, ohne den Inhalt in sich aufzunehmen. Man würde ihn jetzt jeden Augenblick rufen. In Gedanken war er voll und ganz damit beschäftigt, welcher Schritt als nächster zu ergreifen war.
Schließlich öffnete sich die Stahltür und ein hochgewachsener schlanker Mann mit scharfgeschnittenen Zügen und sorgfältig gepflegtem grauem Haar trat ein. Er hatte das Gesicht eines Adligen, und man sah ihm an, daß er bereit war, einem Gleichgestellten zu dienen, der seine Erfahrung benötigte. Er streckte ihm die Hand hin.
«Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. «Sein Englisch hatte einen kaum merkbaren Schweizer Akzent und klang sehr gepflegt.»Entschuldigen Sie die Verzögerung. Eigentlich war das sogar sehr spaßig.«
«In welcher Hinsicht?«
«Ich fürchte, Sie haben Herrn Koenig ziemlich erschreckt. Es passiert nicht oft, daß ein Drei-Null-Konto unangekündigt eintrifft. Er ist da ziemlich unbeweglich, müssen Sie wissen. Ungewöhnliches bringt ihn rasch aus der Fassung. Mir hingegen ist so etwas angenehm. Übrigens, heiße Walther Apfel. «Der Bankbeamte deutete auf die Stahltür.»Treten Sie ein. «Der Raum dahinter war eine V-förmige Verlängerung der Zelle. Dunkle Wandvertäfelung, schweres, bequemes Mobiliar und ein breiter Schreibtisch vor einem noch breiteren Fenster mit Blick auf die Bahnhofstraße.
«Es tut mir leid, wenn ich Ihren Kollegen erschreckt habe, «sagte J. Borowski.»Ich habe nur sehr wenig Zeit.«
«Ja, das hat er mir mitgeteilt, «erwiderte Apfel und schloß die Stahltür hinter sich. Dann ging er um den Schreibtisch herum und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Ledersessel davor.»Setzen Sie sich doch, bitte. Nur noch ein oder zwei Formalitäten, dann können wir zur Sache kommen.«
Die beiden Männer setzten sich. Der Bankbeamte griff nach einer Mappe, lehnte sich über den Schreibtisch und reichte sie dem Kunden.
Als der Patient sie aufschlug, sah er wieder ein Blatt Papier, aber statt zwei gepunkteter Zeilen waren es diesmal zehn. Sie fingen unter dem gedruckten Firmennamen an und führten fast bis zum unteren Ende des Blattes.»Ihre Unterschrift bitte. Fünf genügen.«
«Ich verstehe nicht. Das habe ich doch gerade gemacht.«
«Ja, die Prüfung hat die Echtheit auch bestätigt.«
«Warum dann noch einmal?«
«Man kann eine Unterschrift so gut einüben, daß sie akzeptabel ist. Aber einige Wiederholungen führen unweigerlich zu Fehlern, wenn sie nicht authentisch ist. Ein graphologisches Gutachten entdeckt das sofort; aber ich bin ganz sicher, daß das Sie nicht betrifft. «Apfel lächelte und reichte seinem Besucher einen Kugelschreiber.»Ich hätte darauf verzichtet, um es ganz offen zu sagen, aber Koenig besteht darauf.«
«Er ist ein vorsichtiger Mann«, sagte der Patient, griff nach dem Kugelschreiber und fing an zu schreiben. Er hatte gerade mit der vierten Zeilenreihe begonnen, als der Bankier ihn bremste.
«Das genügt; mehr wäre wirklich Zeitvergeudung. «Apfel streckte die Hand nach der Mappe aus.»Die Prüfung hat mir gezeigt, daß Sie nicht einmal ein Grenzfall sind. Sofort nach Übergabe dieses Blattes wird die Kontoakte geliefert. «Er schob das Blatt in den Schlitz eines kleinen Kästchens auf der rechten Seite seines Schreibtisches und drückte einen Knopf; ein greller Lichtstrahl flammte kurz auf.»Damit wird die Unterschrift direkt an das Prüfgerät weitergeleitet«, fuhr der Bankier fort.»Offen gestanden ist das alles etwas albern. Niemand, der über unsere Vorsichtsmaßregeln informiert ist, würde sich auf die zusätzlichen Unterschriften einlassen, wenn er ein Betrüger wäre.«
«Warum nicht? Wenn er schon so weit gegangen ist, warum sollte er dann nicht auch dieses Risiko in Kauf nehmen.«
«Es gibt nur einen Eingang für dieses Büro und dementsprechend auch nur einen Ausgang. Ich bin sicher, Sie haben gehört, wie das Schloß im Warteraum eingerastet ist.«
«Ich habe auch das Drahtgitter im Türglas gesehen«, fügte der Patient hinzu.
«Dann verstehen Sie. Ein Betrüger würde in der Falle sitzen.«
«Und wenn er eine Waffe hätte?«
«Sie haben keine.«
«Niemand hat mich durchsucht.«
«Das hat der Lift getan. Aus vier unterschiedlichen Winkeln. Wenn Sie bewaffnet gewesen wären, wäre die Kabine zwischen dem Erdgeschoß und dem ersten Stock zum Stillstand gekommen.«
«Sie sind alle sehr vorsichtig.«
«Wir versuchen, unserer Kundschaft zu dienen. «Das Telefon klingelte. Apfel nahm den Hörer ab.»Ja?… Bitte treten Sie ein. «Der Bankier sah seinen Klienten an.»Ihre Kontoakte ist hier.«
«Das ist aber schnell gegangen.«
«Herr Koenig hat seine Unterschrift schon vor einigen Minuten geleistet; er wartete nur auf die Freigabe. «Apfel zog eine Schublade auf und entnahm ihr einen Schlüsselring.»Ich bin sicher, daß er enttäuscht ist. Er war überzeugt, daß irgend etwas nicht stimmte.«
Die Stahltür öffnete sich, und Koenig trat ein. Er trug einen schwarzen Behälter aus Metall, den er neben ein Tablett mit einer Flasche Perrier und zwei Gläsern auf den Tisch stellte.
«Haben Sie einen angenehmen Aufenthalt in Zürich?«fragte der Bankier, um das Schweigen zu durchbrechen.
«Ja, sehr. Ich habe ein Hotelzimmer mit Blick auf den See. Eine wunderschöne Aussicht und das Hotel liegt ruhig.«
«Ausgezeichnet«, sagte Apfel und schenkte seinem Klienten ein Glas Perrier ein. Herr Koenig ging; die Türe wurde geschlossen und der Bankier wandte sich wieder den Geschäften zu.
«Ihr Konto, Sir«, sagte er und wählte einen Schlüssel von dem Ring.»Darf ich den Kasten aufschließen, oder würden Sie das lieber selbst tun?«
«Nur zu. Öffnen Sie.«
Der Bankier sah auf.»Ich sagte, aufsperren, nicht öffnen. Dazu bin ich nicht berechtigt, und ich möchte auch die Verantwortung dafür nicht tragen.«
«Warum nicht?«
«Falls Ihr Name darin verzeichnet ist, steht es mir nicht zu, ihn zu kennen.«
«Und wenn ich nur eine geschäftliche Transaktion wünschte? Eine Geldüberweisung an jemand anderen?«
«Dann würde das mit Ihrer Nummerunterschrift auf einem Auszahlungsformular geschehen.«
«Was ist, wenn ich einen Betrag auf ein anderes Bankkonto von mir außerhalb der Schweiz transferieren will?«
«Dazu wäre ein Name erforderlich. Unter solchen Umständen würde ich eine Identität benötigen.«
«Öffnen Sie.«
Das tat der Bankbeamte. Dr. Washburns Patient hielt den Atem an; er empfand einen stechenden Schmerz in der Magengrube. Apfel entnahm der Kassette einen Stapel Kontoauszüge, die von einer überdimensionalen Büroklammer zusammengehalten wurden. Während sein Blick zur rechten Seite auf der obersten Spalte wanderte, blieb seine Miene beinahe unverändert. Seine Unterlippe streckte sich leicht, seine Mundwinkel verzogen sich; er beugte sich vor und reichte die Papiere ihrem Besitzer.
Unter dem Briefkopf der Gemeinschaftsbank standen in Schreibmaschinenschrift Worte in englischer Sprache:
Konto: Null — Sieben — Siebzehn — Zwölf- Null — Vierzehn — Sechsundzwanzig — Null
Art des Kontos: nur den Anweisungen des Kontoinhabers und den gesetzlichen Bestimmungen unterworfen Kontozugang: siehe beiliegenden versiegelten Umschlag Augenblickliches Guthaben: 7.500.000 Franc
Der Patient atmete langsam aus und starrte die Zahlen an. Worauf auch immer er sich vorbereitet zu haben glaubte, damit hätte er nicht im Traum gerechnet. Es war ebenso beängstigend wie alles andere, was er in den letzten fünf Monaten erlebt hatte. Grob gerechnet waren das über fünf Millionen US-Dollar!
Wie? Warum?
Er spürte, daß seine Hand zu zittern anfing, bekam sie aber wieder unter Kontrolle und durchblätterte die Kontoauszüge. Die gebuchten Summen waren ungewöhnlich hoch, kein Betrag lag unter 300.000 Franken. Die Einzahlungen waren in Abständen von fünf bis acht Wochen eingetragen, die erste vor knapp zwei Jahren. Schließlich erreichte er das unterste Kontoblatt, das erste. Darauf war eine Überweisung von einer Bank in Singapur gutgeschrieben. Es handelte sich zugleich um die größte Einzeleinzahlung: 2.700.000 malaysische
Dollar; das waren umgerechnet 5.175.000 Schweizer Franken.
Unter dem Kontoauszug lag ein schwarz umrandeter
Umschlag. Er trug die Aufschrift:
Identität: Eigentümerlegitimation
Zugang: registrierter Bevollmächtigter der Treadstone
Seventy-One Corporation; Überbringer liefert schriftliche Instruktionen des Besitzers; vorbehaltlich einer Beglaubigung
«Ich würde das gerne überprüfen«, sagte der Klient.»Es gehört Ihnen«, erwiderte Apfel.»Ich kann Ihnen versichern, daß niemand das Kouvert geöffnet hat.«
Der Patient nahm den Umschlag und drehte ihn herum. Das Siegel der Gemeinschaftsbank war auf der Rückseite angebracht. Es war unbeschädigt. Er riß den Umschlag auf, entnahm ihm die Karte und las:
Besitzer: Jason Charles Borowski
Adresse: Nicht angegeben Staatsbürgerschaft: USA
Jason Charles Borowski.
Jason.
Das J stand für Jason! Sein Name war Jason Borowski. Das Borowski hatte nichts weiter bedeutet, aber die Worte Jason und Borowski verzahnten sich auf rätselhafte Weise ineinander. Er konnte es akzeptieren: er war Jason Charles Borowski, Amerikaner. Und doch spürte er, wie es in seiner Brust pochte; das Vibrieren in seinen Ohren war betäubend, der Schmerz in der Magengegend noch heftiger. Was war das? Warum hatte er das Gefühl, wieder in die Finsternis zu stürzen, wieder ins schwarze Wasser zu sinken?
«Stimmt etwas nicht?«fragte Walther Apfel.
Stimmt etwas nicht, Herr Borowski?
«Nein. Alles in Ordnung. Mein Name ist Borowski. Jason Borowski.«
Schrie er? Flüsterte er? Er konnte es nicht sagen.
«Eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. Borowski. Ihre Identität wird vertraulich bleiben. Sie haben das Wort eines Bevollmächtigten der Gemeinschaftsbank.«
«Danke. Jetzt muß ich, fürchte ich, einen großen Teil dieses Geldes überweisen und brauche dazu Ihre Hilfe.«
«Gerne. Ich freue mich, Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können.«
Borowski griff nach dem Glas Perrier.
Die Stahltür von Apfels Büro schloß sich; binnen weniger Sekunden würde der Patient die geschmackvoll eingerichtete Zelle, die das Vorzimmer war, verlassen, in die Empfangshalle hinaustreten und zu den Lifts hinübergehen. Binnen Minuten würde er wieder auf der Bahnhofstraße stehen, mit einem Namen, einem riesigen Batzen Geld, immer noch ein wenig ängstlich und verwirrt sein.
Er hatte es getan. Dr. Geoffrey Washburn hatte eine Summe erhalten, die weit über den Wert des Lebens hinausging, das er gerettet hatte. Eine Telexüberweisung in Höhe von 1.500.000 Schweizer Franken war an eine Bank in Marseille adressiert worden, zugunsten eines Kennwort-Kontos. Und schließlich würde das Geld in die Hände des Arztes von Ile de Port Noir gelangen, ohne daß Washburns Name auch nur ein einziges Mal benutzt wurde. Washburn brauchte nur nach Marseille zu reisen, das Kennwort zu nennen, und das Guthaben würde ihm gehören. Borowski lächelte und versuchte sich Washburns Gesichtsausdruck auszumalen, wenn ihm das Kontoblatt übergeben wurde. Der exzentrische Alkoholiker wäre schon mit zehn- oder fünfzehntausend Pfund überglücklich gewesen; nun erhielt er fast eine Million Dollar. Das würde entweder seine Heilung oder seine Vernichtung garantieren; aber das war seine Entscheidung, sein Problem.
Eine zweite Überweisung in Höhe von 4.500.000 Franc wurde an eine Bank in Paris an der Rue Madeleine vorgenommen und dort für Jason C. Borowski gutgeschrieben. Der Betrag würde von dem Kurier der Gemeinschaftsbank, der zweimal die Woche nach Frankreich reiste, überbracht werden, dazu mehrere Unterschriftsproben des Kunden. Herr Koenig hatte seinen Vorgesetzten und dem Klienten versichert, daß die Papiere in drei Tagen in Paris sein würden.
Die letzte Transaktion war vergleichsweise bescheiden. Apfel ließ einhunderttausend Franc in großen Scheinen in sein Büro bringen. Der Auszahlungsbeleg wurde mit der Nummernunterschrift des Kontobesitzers quittiert.
Auf dem Konto bei der Gemeinschaftsbank blieben
1.400.000 Schweizer Franken, keineswegs eine geringe Summe.
Der ganze Vorgang hatte eine Stunde und zwanzig Minuten in Anspruch genommen, und die ansonsten reibungslose Prozedur war nur von einem Mißklang beeinträchtigt worden, den Koenig verursacht hatte. Er hatte Apfel angerufen, war eingelassen worden und hatte seinem Vorgesetzten einen kleinen, schwarz geränderten Umschlag gebracht.
«Une fiche«, hatte er in französischer Sprache gesagt.
Der Bankier hatte den Umschlag geöffnet, ihm eine Karte entnommen, den Inhalt studiert und beides Koenig mit dem Kommentar zurückgegeben:»Wird vorschriftsmäßig erledigt.«
Daraufhin war Koenig hinausgegangen.
«Betraf das mich?«hatte Borowski gefragt.
«Nur wenn so große Beträge freigegeben werden. Vorschrift unseres Hauses. «Der Bankier hatte beruhigend gelächelt.
Das Schloß klickte. Borowski öffnete die Tür mit der Milchglasscheibe und trat in Herrn Koenigs persönliches Reich hinaus. Zwei weitere Männer waren eingetroffen; sie saßen auf gegenüberstehenden Sesseln in der Empfangshalle. Da sie sich nicht in separaten Zellen hinter Milchglasfenstern befanden, vermutete Borowski, daß keiner der beiden Männer ein DreiNull-Konto besaß. Er fragte sich, ob sie wohl Namen geschrieben oder Nummernreihen angegeben hatten, hörte aber auf, darüber nachzudenken, als er den Lift erreichte und den Knopf drückte.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung. Koenig hatte den Kopf etwas zur Seite gelegt und beiden Männern zugenickt. Sie erhoben sich, als die Lifttür sich öffnete. Borowski drehte sich herum; der Mann zur Rechten hatte ein kleines Sprechfunkgerät aus der Manteltasche genommen und murmelte kurze Sätze in das eingebaute Mikrophon.
Der Mann zur Linken hielt die rechte Hand unter dem Stoff seines Trenchcoats verborgen. Als er sie herauszog, hatte sie eine schwarze Automaticpistole umklammert, auf deren Lauf ein durchlöcherter Zylinder gesteckt war: ein Schalldämpfer.
Die beiden Männer gingen auf Borowski zu, als er sich rückwärts in den Lift schob.
Der Wahnsinn begann.
Der Mann mit dem tragbaren Sprechfunkgerät befand sich bereits in der Kabine, als sich sein bewaffneter Begleiter mit den Schultern zwischen die sich schließenden Lifttüren zwängte, wobei die Waffe auf Borowskis Kopf zielte. Jason duckte sich nach rechts und schleuderte ohne Vorwarnung den linken Fuß vom Boden hoch, drehte sich gleichzeitig blitzschnell, so daß sein Absatz gegen die Hand des Schützen prallte. Die Pistole schoß in die Höhe und der Mann fiel zurück in den Flur. Zwei gedämpfte Schüsse fielen, bevor sich die Lifttüren zusammenschoben. Die Kugeln bohrten sich in das dicke Holz der Kabinendecke. Borowski vollendete seine Kreiselbewegung und trieb dem zweiten Mann die Schulter in den Leib. Er quetschte den Mann brutal gegen die Wand. Das Funkgerät flog polternd zu Boden. Worte drangen aus dem Lautsprechergitter:»Henri? Was ist passiert?«
Plötzlich kam Jason das Bild eines anderen Franzosen in den Sinn: Ein Mann am Rande der Hysterie, die Augen vor Entsetzen geweitet, ein verhinderter Killer, der vor weniger als vierundzwanzig Stunden aus dem >Le Bouc de Mer< hinausgerannt war, in die Dunkelheit der Rue Sarrasin. Jener Mann hatte keine Zeit vergeudet, seine Nachricht nach Zürich zu schicken: Der von ihnen Totgeglaubte lebte! Und wie er lebte. Tötet ihn!
Borowski packte den Franzosen und drückte den linken Arm gegen die Kehle des Mannes, während seine rechte Hand an dessen linkem Ohr zerrte.»Wie viele?«fragte er auf Französisch.»Wie viele sind dort unten? Wo sind sie?«
«Schau doch nach, du Schwein!«
Die Liftkabine befand sich auf halbem Weg zur Empfangshalle im Erdgeschoß.
Jason drückte das Gesicht des Mannes nach unten, riß ihm dabei fast das Ohr ab und schmetterte seinen Kopf gegen die Wand. Der Franzose schrie auf und sank zu Boden. Borowski rammte ihm das Knie gegen die Brust; er konnte das Halfter fühlen. Er riß den Mantel auf, griff hinein und holte einen kurzläufigen Revolver heraus. Der Besitz der. Waffe gab ihm das Gefühl der Sicherheit. Kurz überlegte er: Koenig. Er würde sich erinnern; soweit es Herrn Koenig betraf, gab es für ihn keine Amnesie. Er rammte dem Franzosen den Lauf der Waffe in den offenen Mund.
«Raus damit, oder ich blase dir den Schädel weg!«Der Mann stieß ein halbersticktes Geräusch aus; Borowski zog die Waffe zurück und richtete den Lauf auf die Wange.
«Zwei. Einer bei den Lifts, einer draußen auf dem Bürgersteig beim Wagen.«
«Was für ein Auto?«
«Peugeot.«
Die Liftkabine verlangsamte jetzt ihre Fahrt.
«Farbe?«
«Braun.«
«Der Mann in der Halle, was trägt er?«
«Ich weiß nicht… «
Jason hieb dem Mann den Revolver gegen die Schläfe.»Sie sollten sich erinnern!«
«Einen schwarzen Mantel.«
Die Liftkabine kam zum Stillstand. Borowski zog den Franzosen in die Höhe; die Türen öffneten sich. Zur Linken trat ein Mann in einem dunklen Regenmantel nach vorne auf sie zu, der eine seltsame, goldgeränderte Brille trug. Die Augen hinter den Brillengläsern begriffen; dem Franzosen tropfte Blut von der Wange. Er hob die unsichtbare Hand, die die Tasche seines Regenmantels verbarg, und eine Automaticpistole mit Schalldämpfer richtete sich auf Borowski.
Jason stieß den Franzosen vor sich her durch die Tür. Drei schnelle, spuckende Laute waren zu hören; der Franzose schrie, die Arme erhoben. Dann krümmte sich sein Rücken und er fiel auf den Marmorboden. Eine Frau schrie, und dann riefen ein paar Männerstimmen:»Hilfe«—»Polizei!«
Borowski wußte, daß er den Revolver, den er dem Franzosen abgenommen hatte, nicht benutzen konnte. Er besaß keinen Schalldämpfer; ein Schuß würde ihn verraten. Er schob die Waffe in die Manteltasche, trat seitlich an der schreienden Frau vorbei und packte den Uniformierten, der die Liftanlage überwachte, an der Schulter. Er riß den verwirrten Mann herum und stieß ihn gegen den Killer in dem dunklen Regenmantel.
Die Panik in der Halle nahm zu, während Jason auf die
Glastüren des Eingangsportals zu rannte. Der Empfangschef, der ihn vor eineinhalb Stunden begrüßt hatte, schrie in ein Wandtelefon. Er hatte einen uniformierten Wächter neben sich. Der Mann hatte die Waffe gezogen und verbarrikadierte den Ausgang, die Augen wie gebannt auf ihn gerichtet. Plötzlich war es ein Problem, hier rauszukommen. Borowski wich den Augen des Wachmanns aus und rief dem Empfangschef zu:»Der Mann mit der goldgeränderten Brille, der ist es! Ich habe es gesehen.«
«Was? Wer sind Sie?«
«Ich bin ein Freund von Walther Apfel. Hören Sie mir zu! Der Mann mit der goldgeränderten Brille im schwarzen Regenmantel. Dort drüben?«
Die Erwähnung eines Vorgesetzten wirkte Wunder.
«Herr Apfel!«Der Mann vom Empfang wandte sich dem Uniformierten zu.»Los, der Mann mit der Brille, einer goldgeränderten Brille!«
«Jawohl!«Der Wachmann rannte los.
Jason lief auf die Glastüre zu. Er öffnete den rechten Flügel, sah sich um und zögerte; denn er wußte nicht, ob der Mann, der draußen neben einem braunen Peugeot wartete, ihn erkennen und eine Kugel auf ihn abfeuern würde.
Der Wachposten war an einem Mann im schwarzen Regenmantel vorbeigerannt, der langsamer ging als die von Panik erfüllten Gestalten rings um ihn und keine Brille trug. Kurz vor dem Ausgang beschleunigte er sein Tempo und strebte auf Borowski zu.
Das zunehmende Chaos auf dem Bürgersteig war Jasons Schutz. Irgend jemand hatte Alarm geschlagen; mit heulenden Sirenen rasten die Polizeiautos die Bahnhofstraße herauf. Er ging ein paar Meter nach rechts, von Fußgängern flankiert, und rannte plötzlich los, zwängte sich in eine neugierige Menschenmenge, suchte in einer Ladennische Schutz, von wo aus er die Wagen am Straßenrand beobachtete. Er sah den Peugeot, sah den Mann, der neben dem Peugeot stand, die rechte Hand in der Manteltasche. In weniger als fünfzehn Sekunden hatte der Mann im schwarzen Regenmantel den Fahrer des Wagens erreicht. Die beiden besprachen sich schnell und suchten dann die Bahnhofstraße ab.
Borowski begriff ihre Verwirrung. Er war ohne jede Panik aus dem Eingangsportal der Gemeinschaftsbank gekommen und in der Menge untergetaucht. Er war auf alle Fälle darauf vorbereitet gewesen, zu rennen, aber er war dann doch nicht gerannt, einfach aus Angst, sonst den Verdacht auf sich zu lenken. So hatte der Fahrer des Peugeot die Verbindung nicht herstellen können. Er hatte die Zielperson nicht erkannt, die man in Marseille identifiziert und zur Exekution freigegeben hatte.
Der erste Polizeiwagen hielt vor der Bank, als der Mann mit der goldgeränderten Brille gerade den Mantel auszog und ihn durch das offene Fenster des Peugeot schob. Er nickte dem Fahrer zu, der sich hinter das Lenkrad setzte und den Motor anließ. Und dann tat der Mann etwas, womit Jason am allerwenigsten gerechnet hatte. Er eilte auf die Glastüren der Bank zu und schloß sich den Polizeibeamten an, die hineinrannten.
Borowski verfolgte, wie der Peugeot vom Randstein wegschoß und die Bahnhofstraße hinunterjagte. Menschentrauben umlagerten das gläserne Eingangsportal der Bank. Schaulustige streckten die Hälse und spähten hinein. Ein Polizeibeamter kam heraus und winkte die Neugierigen zurück. Jetzt jagte ein Krankenwagen um die Ecke, die Sirene heulte, warnte alle, Platz zu machen; der Fahrer stoppte sein Fahrzeug an der Stelle, wo der Peugeot geparkt hatte. Jason konnte nicht länger zusehen. Er mußte zurück zum >Carillon du Lac<, seine Sachen packen und schleunigst aus der Schweiz verschwinden. Sein Ziel hieß Paris.
Weshalb Paris? Warum hatte er darauf bestanden, daß das Geld ausgerechnet nach Paris überwiesen wurde? Die Idee war ihm erst in den Sinn gekommen, als er in Apfels Büro saß, von den gigantischen Summen wie benommen. Sie hatten alles weit überstiegen, was er sich ausgemalt hatte. Es war so viel, daß er nur instinktiv reagieren konnte. Und sein Instinkt hatte ihn nach Paris gewiesen, so als ob das irgendwie lebenswichtig wäre. Aber weshalb?
Doch darüber nachzugrübeln war jetzt nicht die Zeit. Er sah, wie zwei Sanitäter mit einer Bahre aus der Bank kamen. Eine reglose Gestalt lag darauf. Man hatte ihr den Kopf bedeckt; das bedeutete, daß es sich um einen Toten handelte. Borowski begriff sehr wohl, daß er, wenn er nicht gewisse Fertigkeiten besessen hätte, der tote Mann auf der Bahre gewesen wäre.
Er sah ein leeres Taxi an der Straßenecke und rannte darauf zu. Er mußte Zürich sofort verlassen; eine Nachricht war aus
Marseille eingegangen, aber der tote Mann lebte. Jason Borowski lebte! Tötet ihn! Tötet Jason Borowski!
Um Himmels willen, warum?
Er hoffte, den stellvertretenden Empfangschef des >Carillon du Lac< hinter dem Tresen vorzufinden, aber er war nicht da. Dann fiel ihm ein, daß eine kurze schriftliche Nachricht an den Mann — wie hieß er doch? Stössel? Ja, Stössel — ausreichen würde. Eine Erklärung für seine plötzliche Abreise war nicht mehr erforderlich, und fünfhundert Franken würden spielend für ein paar Stunden ausreichen — und für die Gefälligkeit, die er von Herrn Stössel erbitten würde.
In seinem Zimmer warf er sein Rasierzeug in den Koffer, überprüfte die Pistole, die er dem Franzosen abgenommen hatte, schob sie wieder in die Manteltasche und setzte sich an den Sekretär, um die Notiz für Herrn Stössel zu schreiben. Er fügte einen Satz hinzu, der ihm leicht aus der Feder floß — fast zu leicht:»Ich werde mich vielleicht mit Ihnen bezüglich der Post in Verbindung setzen, die man mir wahrscheinlich ins Hotel geschickt hat. Ich hoffe, es ist Ihnen möglich, darauf zu achten und die Briefe für mich in Empfang zu nehmen.«
Sollte irgendeine Mitteilung von der geheimnisvollen Treadstone Seventy-One kommen, wollte er davon erfahren. Bei einem Schweizer Hotel konnte er sicher sein, daß das Personal zuverlässig war.
Er legte eine Fünfhundert-Franken-Note mit der Notiz in den Umschlag und klebte ihn zu. Dann nahm er seinen Koffer, verließ das Zimmer und ging den Korridor hinunter auf die Fahrstühle zu. Es waren vier an der Zahl; er drückte einen Knopf und blickte sich um. Niemand war zu sehen; eine Glocke ertönte, und das rote Licht über dem dritten Liftschacht leuchtete auf. Die beiden Metalltüren schoben sich zur Seite. Zwei Männer standen neben einer Frau mit kastanienbraunem Haar; sie unterbrachen ihre Unterhaltung, nickten Borowski zu und machten Platz, als sie den Koffer bemerkten. Als die Türen sich schlossen, setzten sie ihr Gespräch fort. Sie sprachen französisch, schnell und mit weichem Akzent. Die Frau sah zwischen den beiden Männern hin und her, lächelte und blickte dann wieder nachdenklich.»Sie reisen also morgen nach der Schlußsitzung ab?«fragte der Mann zur Linken.
«Ich weiß noch nicht. Ich warte auf Bescheid aus Ottawa«, erwiderte die Frau.»Ich habe Verwandte in Lyon, die ich gerne besuchen würde.«
«Der Exekutivausschuß findet unmöglich zehn Leute, die bereit sind, das Schlußergebnis dieser gottverdammten Konferenz in einem Tag zu formulieren«, sagte der Mann zur Rechten.»Wir werden alle noch eine Woche hier sein.«
«Brüssel wird nicht damit einverstanden sein«, sagte der erste und grinste.»Das Hotel ist zu teuer.«
«Dann ziehen Sie doch in ein anderes«, sagte der zweite und kniff ein Auge zu.»Wir warten ja schon die ganze Zeit darauf, daß Sie das tun, oder?«
«Sie sind verrückt«, sagte die Frau.»Sie sind beide verrückt
— das ist mein Schlußergebnis.«
«Sie sind das nicht, Marie«, warf der erste ein.»Verrückt, meine ich. Ihr Vortrag gestern war brillant.«
«Das war er keineswegs«, sagte sie.»Das war reine Routine und furchtbar langweilig.«
«Nein, nein!«wandte der zweite ein.»Er war erstklassig; das muß er gewesen sein; denn ich habe kein Wort verstanden. Aber dafür habe ich andere Talente.«
«Verrückt… «
Die Liftkabine kam zum Stillstand; jetzt redete wieder der erste Mann.»Setzen wir uns doch in die letzte Reihe. Wir kommen ohnehin zu spät, und Bertinelli spricht. Ich glaube nicht, daß er uns was Neues erzählen wird. Seine Theorie von erzwungenen zyklischen Fluktuationen ist längst überholt.«
«Seit Cäsar«, meinte die Frau mit dem kastanienfarbenen Haar und lachte. Sie hielt inne und fügte hinzu:»Wenn nicht schon seit den Punischen Kriegen.«
«Also in die letzte Reihe«, sagte der zweite Mann und bot der Frau den Arm.»Da können wir ungestört schlafen. Er hat einen Diaprojektor; es wird dunkel sein.«
«Nein, gehen Sie nur voraus. Ich komme in ein paar Minuten nach. Ich muß erst ein paar Telegramme absenden, und zur Telefonvermittlung habe ich kein Vertrauen, daß die sie richtig durchgibt.«
Die Türen öffneten sich, und die drei verließen die Liftkabine. Die beiden Männer durchquerten gemeinsam die Hotelhalle, während die Frau auf den Empfangstresen zustrebte. Borowski folgte ihr und las geistesabwesend die Ankündigungen auf einer Hinweistafel, die ein paar Meter von ihm entfernt auf einem kleinen Sockel stand.
Willkommen:
Mitglieder der sechsten Weltwirtschaftskonferenz Sitzungskalender:
13.00 Uhr: The Hon. James Frazier, M.P., Großbritannien
Saal 12
18.00 Uhr: Dr. Eugenio Bertinelli, Universität Mailand,
Italien Saal 7
21.00 Uhr: Abschiedsessen des Vorsitzenden; Grüner Salon
«Zimmer 507. Die Vermittlung hat gesagt, für mich wäre ein Telegramm angekommen.«
Die Frau mit dem kastanienfarbenen Haar, die jetzt neben ihm am Tresen stand, sprach englisch. Sie hatte gesagt, sie erwarte Nachricht aus Ottawa: eine Kanadierin also.
Der Angestellte sah im Fach nach und brachte das Telegramm.»Doktor St. Jacques?«fragte er und hielt ihr den Umschlag hin.
«Ja, vielen Dank.«
Die Frau drehte sich um und riß das Couvert auf, während der Angestellte auf Borowski zuging.»Bitte, Sir?«
«Ich möchte das für Herrn Stössel hinterlegen. «Er legte den Umschlag mit dem Geld und der Notiz auf den Tresen.
«Herr Stössel wird erst morgen früh um sechs Uhr zurückkommen, Sir. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
«Nein, danke. Sorgen Sie nur dafür, daß er es bekommt. Es ist nichts Dringendes«, fügte er hinzu,»aber ich benötige Antwort. Ich werde mich morgen telefonisch an ihn wenden.«
«Selbstverständlich, Sir.«
Borowski griff nach seinem Koffer und trat durch eine breite Glastür, die zu einer kreisförmigen Auffahrt führte. Unter den Tiefstrahlern des Vordaches warteten einige Taxis. Die Sonne war untergegangen; es war Nacht in Zürich.
Er blieb stehen und hielt den Atem an. Eine Art Lähmung hatte ihn befallen. Seine Augen wollten nicht wahrhaben, was er draußen sah. Ein brauner Peugeot hielt vor dem ersten Taxi an. Die Beifahrertür öffnete sich, und ein Mann entstieg dem Wagen — ein Killer in einem schwarzen Regenmantel mit einer dünnen, goldgeränderten Brille. Kurz darauf stieg eine weitere Gestalt aus dem Auto; aber das war nicht der Fahrer, der an der Bahnhofstraße gestanden und ihn nicht erkannt hatte. Statt dessen war es ein anderer Killer mit einem anderen
Regenmantel, in dessen weiten Taschen man Waffen gut verbergen konnte. Es war derselbe Kerl, der in der Empfangshalle im ersten Stock der Gemeinschaftsbank gesessen hatte und eine Pistole mit Schalldämpfer gezogen hatte.
Wie hatten sie ihn gefunden?… Dann erinnerte er sich, und ihm wurde übel. Eine beiläufige Bemerkung von ihm hatte ihnen den Hinweis auf sein Hotel geliefert.
«Haben Sie einen angenehmen Aufenthalt in Zürich?«hatte Walther Apfel gefragt, während sie darauf warteten, daß sie wieder alleine im Zimmer waren.
«Ja, sehr. Ich habe ein Zimmer mit Blick auf den See. Die Aussicht ist wunderschön. Das Hotel liegt sehr ruhig.«
Koenig! Koenig war dabei, wie er das sagte. Die Hotels am See, zumal die, die von Leuten mit Drei-Null-Konten frequentiert wurden, waren schnell genannt und abzuzählen. >Carillon du Lac<, >Baur au Lac<, >Eden au Lac<. Ihre Namen fielen ihm rasch ein. Doch woher kannte er sie? Wie leicht war es also für seine Verfolger gewesen, ihn aufzustöbern!
Zu spät! Der zweite Mann hatte ihn nach einem suchenden Blick durch die Glastür entdeckt. Worte wurden über die Motorhaube des Peugeot gewechselt, Hände tauchten in übergroße Tasche, griffen nach unsichtbaren Waffen. Die beiden Männer strebten auf den Eingang zu, trennten sich im letzten Augenblick und postierten sich links und rechts vom Eingang. Die Flanken waren gesichert, er saß in der Falle.
Glaubten sie, sie konnten in eine überfüllte Hotelhalle eindringen und einfach einen Menschen töten?
Natürlich! Die vielen Menschen und der Lärm waren ihr Schutz.
Zwei, drei gedämpfte Schüsse, aus kurzer Distanz abgefeuert, würden ebenso wirksam sein wie ein Überfall auf einem überfüllten öffentlichen Platz bei hellichtem Tag; und in dem anschließenden Chaos würde die Flucht spielend leicht gelingen.
Empörung mischte sich in seine Gedanken. Wie konnten sie es wagen? Was brachte sie auf die Idee, daß er nicht davonrennen, Schutz suchen, nach der Polizei schreien würde? Und dann war die Antwort ebenso klar und niederschmetternd. Die Killer wußten mit Sicherheit den Grund, der ihn davon abhielt. Er konnte nicht zur Polizei gehen. Jason Borowski mußte sämtliche Behörden meiden… Warum? Suchten sie ihn?
Herrgott, warum?
Die beiden gegenüberliegenden Türen wurden von zwei ausgestreckten Händen aufgestoßen, die anderen blieben verborgen, umklammerten Waffen. Borowski drehte sich um; da waren Aufzüge, Gänge, Korridore. Es mußte ein Dutzend Wege geben, die aus dem Hotel herausführten.
Aber womöglich kannten die Killer, die sich jetzt durch die Menge drängten, die örtlichen Verhältnisse besser als er. Vielleicht hatte das >Carillon du Lac< nur zwei oder drei Ausgänge, die leicht von draußen bewacht werden konnten.
Ein einzelner Mann war ein auffälliges Ziel. Aber wenn er nicht allein wäre? Wenn jemand bei ihm wäre, der ihm als Deckung und Tarnung zugleich dienen konnte? Entschlossene Killer vermieden es, die falsche Person zu töten, nicht aus Mitgefühl, sondern weil die Gefahr bestand, daß das eigentliche Opfer entkam, wenn nach den tödlichen Schüssen eine Panik ausbrach.
Er spürte den Revolver in der Tasche, aber die Tatsache, daß er bewaffnet war, beruhigte ihn keineswegs. Ebenso wie in der Bank würde er sich verraten, wenn er sie benutzte, ja, sie nur zeigte. Aber sie war da. Er ging auf die Mitte der Hotelhalle zu und bog dann nach rechts, wo mehr Leute standen. Es war die frühe Abendstunde während einer internationalen Konferenz. Tausend Pläne für den Abend und die Nacht wurden geschmiedet, werbende Blicke wanderten zwischen hochrangigen Gästen und Kurtisanen hin und her. Gruppen bildeten sich.
Vor einer Wand hinter einem Marmortresen war ein Angestellter damit beschäftigt, gelbe Blätter mit einem Bleistift zu markieren, den er wie einen Pinsel hielt. Telegramme. Vor dem Tresen standen zwei Leute, ein beleibter alterer Mann und eine Frau in einem dunkelroten Seidenkleid. Ihr langes Haar war kastanienbraun. Es war die Frau aus dem Fahrstuhl, die sich vorhin nach dem Telegramm erkundigt hatte, das für sie bereitlag.
Borowski sah sich um. Die Killer arbeiteten sich langsam auf ihn zu, der eine rechts, der andere links, in einer Zangenbewegung. Solange sie ihn im Blick behielten, konnten sie ihn zwingen fortzurennen — ziellos, ohne zu wissen, ob der Fluchtweg, den er einschlug, in eine Sackgasse führte. Und dann würden gedämpfte Schüsse fallen, und ihre Manteltaschen würden vom Pulver geschwärzt werden.
Ihn im Auge behalten? Die letzte Reihe also… Da können wir ungestört schlafen. Er benutzt einen Diaprojektor; es wird dunkel sein.
Jason drehte sich wieder um und blickte zu der Frau mit dem kastanienfarbenen Haar hinüber. Sie hatte jetzt ihr Telegramm aufgegeben, nahm ihre Brille mit den getönten Gläsern ab und steckte sie in die Handtasche. Sie war höchstens drei Meter von ihm entfernt.
Bertinelli spricht. Ich glaube nicht, daß er was Neues zu sagen hat.
Borowski nahm den Koffer in die linke Hand, ging schnell auf die Frau an dem Marmortresen zu und tippte sie am Ellbogen an, ganz leicht, um sie nicht zu erschrecken.»Doktor?«
«Wie bitte?«
«Sie sind doch Doktor?…«Er ließ sie los, gab sich den Anschein der Verwirrung.
«St. Jacques«, sagte sie und sprach das St. französisch aus.
«Sie sind der Mann aus dem Lift, oui?«
«Mir war nicht klar, daß Sie es sind«, sagte er.»Sie wissen sicherlich, wo dieser Bertinelli spricht.«
«Das steht auf der Hinweistafel. Suite sieben.«
«Ich fürchte, ich weiß nicht, wo das ist. Würde es Ihnen etwas ausmachen, es mir zu zeigen? Ich habe mich verspätet, und ich muß mir Notizen über seine Rede machen.«
«Über Bertinelli? Warum? Arbeiten Sie für eine marxistische Zeitung?«
«Für eine neutrale Gruppe«, sagte Jason und fragte sich, woher die Sätze wohl kommen mochten.»Ich bin für eine Anzahl Leute tätig. Die sind nicht der Ansicht, daß er es wert ist, erwähnt zu werden.«
«Wahrscheinlich nicht, aber man sollte ihn sich anhören. In dem, was er sagt, sind ein paar brutale Wahrheiten.«
«Also muß ich ihn finden. Vielleicht können Sie ihn mir zeigen.«
«Ich fürchte, das geht nicht. Ich zeige Ihnen den Saal, aber dann muß ich ein Telefonat führen. «Sie klappte ihre Handtasche zu.
«Bitte. Schnell!«»Was?«Sie sah ihn unfreundlich an.
«Tut mir leid, aber ich habe es eilig. «Er blickte nach rechts; die beiden Männer waren höchstens noch sechs Meter entfernt.
«Sie sind ziemlich unhöflich«, sagte Dr. St. Jacques kühl.
«Bitte!« Er unterdrückte seine Regung, sie einfach vor sich her zu stoßen, weg von der Falle, die im Begriffe war, zuzuschnappen.
«Diese Richtung. «Sie ging durch die Halle auf einen breiten Korridor zu, wo weniger Menschen standen. Bald erreichten sie einen mit Samt ausgeschlagenen Gang, den zu beiden Seiten rote Türen säumten. Leuchttafeln wiesen auf die Konferenzräume eins und zwei hin. Am Ende des Flurs war eine Doppeltür, und eine goldene Schrift zur Rechten verkündete, daß es sich um den Eingang zum Saal sieben handelte.
«Da wären wir«, sagte Marie St. Jacques.»Seien Sie vorsichtig, wenn Sie hineingehen. Drinnen ist es dunkel. Bertinelli hält seinen Vortrag mit Dias.«
«Wie im Kino«, meinte Borowski und sah sich um. Am anderen Ende des Korridors tauchte der Mann mit der goldgeränderten Brille auf, dicht gefolgt von seinem Begleiter.
«Gibt es hier einen Ausgang? Eine weitere Tür?«fragte Borowski hastig.
«Ich habe keine Ahnung. Jetzt muß ich wirklich telefonieren. Viel Spaß beim Professor. «Sie wandte sich ab.
Er stellte den Koffer ab und ergriff ihren Arm. Sie funkelte ihn zornig an.»Nehmen Sie die Hand weg, bitte.«
«Ich will Sie nicht erschrecken, aber ich habe keine Wahl. «Er sprach ganz leise. Die Killer gingen jetzt langsamer, gleich würde sich die Falle schließen.
«Sie müssen mitkommen.«
«Machen Sie sich nicht lächerlich!«
Er verstärkte den Griff um ihren Arm und schob sie vor sich her. Dann zog er die Pistole aus der Tasche und hielt sie so, daß ihr Körper sie vor den Männern verbarg.»Ich will das nicht benutzen. Ich will Ihnen nicht weh tun, aber wenn ich muß, tue ich es.«
«Mein Gott… «
«Seien Sie still! Wenn Sie tun, was ich sage, wird Ihnen nichts passieren. Ich muß aus diesem Hotel heraus, und Sie werden mir dabei helfen. Sobald ich draußen bin, lasse ich Sie frei. Aber vorher nicht. Kommen Sie. Wir gehen da hinein.«
«Sie können nicht… «
«Doch, ich kann. «Er drückte ihr den Lauf der Pistole in den Leib. Sie war so verängstigt, daß sie keinen Laut hervorbrachte, sich in das Unvermeidliche schickte.»Gehen wir.«
Er trat an ihre linke Seite, wobei er immer noch ihren Arm festhielt, die Pistole in der Hand, wenige Zentimeter von ihrer Brust entfernt. Ihre Augen starrten wie gebannt auf die Waffe, ihr Mund stand offen, ihr Atem ging unregelmäßig, Borowski öffnete die Saaltür und schob sie vor sich hinein. Er hörte, wie draußen im Flur jemand ein einzelnes Wort schrie.
«Schnell!«
Sie befanden sich jetzt in völliger Dunkelheit, aber das dauerte nur kurze Zeit. Ein weißer Lichtstrahl schoß durch den Raum über die Stuhlreihen, beleuchtete die Köpfe der Zuhörer. Auf die Leinwand, die die ganze Bühne einnahm, wurde eine Grafik projiziert; die einzelnen Balken waren numeriert. Eine dicke schwarze Linie bewegte sich von links oben auf einem zackigen Weg über die einzelnen Balken hinweg nach rechts. Eine Männerstimme mit einem ausgeprägten Akzent war zu hören, verstärkt von einem Lautsprecher.
«Sie werden feststellen, daß in den Jahren Siebzig und Einundsiebzig die wirtschaftliche Rezession viel weniger ausgeprägt war. Das nächste Bild bitte. «Der Projektor schien einen Defekt zu haben; diesmal zuckte kein Lichtbalken durch den Raum.
«Bild zwölf, bitte!«
Jason dirigierte die Frau hinter die letzte Stuhlreihe. Er versuchte, die Größe des Vortragsraumes abzuschätzen und hielt nach einem roten Licht Ausschau, das den Fluchtweg markieren würde. Da sah er es. Ein schwaches rötliches Glühen in der Ferne, auf der Buhne hinter der Leinwand. Er mußte den Ausgang erreichen. Mit ihr.
«Marie — hierher!«Das Flüstern kam von links, von einem Stuhl in der letzten Reihe.
«Nein, Cherie. Bleib bei mir. «Das war die Stimme eines Mannes, der unmittelbar vor Marie St. Jacques stand. Er hatte sich von der Wand gelöst und hielt sie auf.»Man hat uns getrennt. Es gibt keine Stühle mehr.«
Borowski drückte der Frau die Waffe in den Rücken, eine Botschaft, die nicht mißzuverstehen war. Sie flüsterte, ohne zu atmen, und Jason war froh, daß man ihr Gesicht nicht deutlich erkennen konnte.»Bitte, lassen Sie uns vorbei«, sagte sie in französischer Sprache.»Bitte!«
«Was ist? Ist er Ihr Telegramm, meine Liebe?«
«Ein alter Freund«, raunte Borowski.
Ein Ruf übertönte das immer lauter werdende Zischen aus der Zuhörerschaft.»Darf ich endlich Bild zwölf haben. Per favore!«
«Wir müssen jemanden am Ende der Reihe sehen«, fuhr Jason fort und sah sich um. Der rechte Türflügel des Eingangs öffnete sich; inmitten eines von Schatten bedeckten Gesichts reflektierte eine goldgeränderte Brille das schwache Licht des Korridors. Borowski schob die Frau an ihrem verwirrten Freund vorbei und flüsterte eine Entschuldigung.
«Pardon, aber wir haben es eilig.«
«Schlechte Manieren haben Sie auch!«
«Ja, ich weiß.«
«Bild zwölf! Ma che infamia!«
Der Lichtstrahl schoß aus dem Projektor; er vibrierte unter der nervösen Hand des Vorführers. Eine weitere Grafik erschien auf der Leinwand, als Jason und die Frau die andere Wand erreichten, dort, wo der schmale Gang nach unten zur Bühne führte. Er drückte sie in die Ecke und preßte sich ganz dicht an sie.
«Ich schreie!«flüsterte sie.
«Dann schieße ich«, war seine Antwort. Er spähte um die Gestalten herum, die an der Wand lehnten; die Killer waren jetzt beide im Saal, kniffen die Augen zusammen, drehten die Köpfe wie erschreckte Nagetiere und versuchten, ihr Opfer zwischen all den Gesichtern zu entdecken.
Die Stimme des Redners klang jetzt scharf und eindringlich.
«Für die Skeptiker, zu denen ich heute Abend hier spreche
— und das sind die meisten von Ihnen — habe ich hier statistische Beweise! In der Substanz sind sie mit hundert anderen Analysen, die ich vorbereitet habe, identisch. Man soll den Markt denen überlassen, die sich in ihm auskennen. Kleinere Exzesse wird es immer geben. Sie sind nur ein geringer Preis für den allgemeinen Wohlstand.«
Einige klatschten. Bertinelli deutete mit seinem langen Zeigestab auf die Leinwand, hob das Offensichtliche hervor — das für ihn Offensichtliche. Jason lehnte sich wieder zurück; die goldgeränderte Brille glänzte im gleißenden Schein des Projektors. Der Killer mit der Brille berührte den Arm seines Begleiters, deutete mit einer Kopfbewegung nach links und befahl seinem Untergebenen, die Suche auf der linken Saalseite fortzusetzen; er würde die rechte übernehmen. Das vergoldete Brillengestell blitzte auf, als er sich seitlich an den stehenden Zuhörern vorbeischob und jedes Gesicht studierte. In wenigen Sekunden würde er die Ecke erreichen, sie erreichen. Ihm blieb nur noch, den Killer mit einem Schuß aufzuhalten: Wenn aber jemand in der Reihe vor ihm sich bewegte oder die Frau, die er gegen die Wand gedrückt hatte, in Panik geriet und ihn anstieß, so daß die Kugel den Killer verfehlte, dann steckte er in der Falle. Und selbst wenn er den Mann traf, lauerte noch ein Killer auf der anderen Saalseite, ohne Zweifel ein geübter Schütze.
«Bild dreizehn, bitte.«
Das war der Augenblick.
Das Licht verlosch. Borowski zerrte die Frau von der Wand weg, drehte sie herum und flüsterte ihr zu:»Wenn Sie einen Laut von sich geben, töte ich Sie!«
«Ich glaube Ihnen«, erwiderte sie erschreckt.»Sie sind wahnsinnig!«
«Los!«Er drängte sie den schmalen Gang hinunter, der zu der zwölf Meter entfernten Bühne führte. Das Licht des Projektors leuchtete wieder auf. Er packte die Frau am Hals, drückte sie auf die Knie und kauerte sich neben ihr nieder. Die Reihe der Sitzenden verbarg sie vor den Verfolgern. Er stieß sie an; das war sein Signal für sie, sich weiterzubewegen, zu kriechen… Langsam, geduckt. Sie begriff; sie rutschte zitternd auf Knien weiter.
«Die daraus zu ziehenden Schlüsse sind eindeutig«, rief Bertinelli.»Das Gewinnmotiv läßt sich nicht von den Produktivitätsanreizen trennen, aber die Rollen können nie gleich sein. Schon Sokrates hat erkannt, daß die Ungleichheit der Werte ein unumstößliches Faktum ist. Gold ist eben nicht Messing oder Eisen. Wer unter Ihnen könnte das leugnen? Bild vierzehn, bitte!«
Wieder Dunkelheit. Jetzt!
Er riß die Frau in die Höhe, stieß sie nach vorn auf die Bühne zu. Sie waren noch einen Meter vom Rand entfernt.
«Was ist los, bitte? Bild vierzehn!«
Das Diagerät klemmte erneut. Wieder herrschte Dunkelheit. Und dort auf der Bühne vor ihnen leuchtete rot die Schrift NOTAUSGANG. Jason umklammerte den Arm der Frau.»Auf die Bühne hinauf und zum Ausgang! Ich bin dicht hinter Ihnen; wenn Sie stehenbleiben oder schreien, schieße ich.«
«Um Gottes willen, lassen Sie mich los!«
«Noch nicht. Los!«
Das blendende Licht des Projektors flammte auf, überflutete die Leinwand und die Bühne. Aus dem Saal ertönten überraschte und spöttische Rufe, als die beiden Gestalten sichtbar wurden, und über alles erhob sich die Stimme des verärgerten Bertinelli.
Und dann waren noch andere Geräusche zu hören — das dumpfe Krachen von schallgedämpften Waffen. Holz splitterte. Jason drückte die Frau hinunter und sprang mit einem Satz auf den schützenden Schatten des Seitenflügels zu, zog sie hinter sich her.
«Da ist er! Da oben!«
«Schnell! Der Projektor!«
Ein Schrei hallte aus dem Mittelgang, als das Licht des Projektors nach rechts schoß und den Rand der Bühne erfaßte— aber nicht ganz. Der Kegel wurde von den Brettern teilweise abgedeckt, die den Seitengang verdeckten. Am hinteren Ende der Bühne war der Notausgang: eine hohe, breite Türe aus Metall mit einer Stange davor.
Glas splitterte; die rote Leuchttafel erlosch. Die Kugel eines Meisterschützen hatte sie getroffen.
In dem Vortragssaal war der Teufel los. Borowski packte die Frau an der Bluse und zerrte sie an den Brettern vorbei auf die Tür zu. Einen Augenblick lang leistete sie Widerstand; er ohrfeigte sie und zog sie neben sich, bis die Stange über ihren Köpfen war.
Kugeln klatschten rechts von ihnen gegen die Wand; die Killer rannten die Gänge herunter, um besser zielen zu können. Binnen Sekunden würden sie sie eingeholt haben, und dann würden andere Kugeln — eine einzige vielleicht nur — ihr Ziel finden. Sie hatten noch genügend Patronen, das wußte er. Er hatte keine Ahnung, wie es kam, daß er das wußte, aber er wußte es. Er konnte sich nach dem Geräusch die Waffen vorstellen, ihre Magazine und wieviel Schuß sie hatten.
Er löste die Stange und schlug mit dem Arm die Klinke nach unten. Die Türe flog auf und er warf sich hinaus, zerrte die um sich schlagende Frau mit sich.
«Hören Sie auf!«schrie sie.»Ich komme nicht weiter mit! Sie sind verrückt! Das waren Schüsse!«
Jason stieß die Metalltür mit dem Fuß zu.
«Stehen Sie auf!«
«Nein!«
Er schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht.»Tut mir leid, aber Sie kommen mit. Sobald wir draußen sind, haben Sie mein Wort, daß ich Sie gehen lasse.«
Die Türe! Er mußte die Tür blockieren! Im Halbdunkel entdeckte er Ziegelsteine. Mit der linken Hand hielt er Marie St. Jacques fest, mit der rechten türmte er hastig Stein auf Stein. Sein Ziel war es, die Türklinke zu blockieren. Wenn man sie von der Saalseite aus nicht niederdrücken konnte, war die Tür nicht zu öffnen.
Er hatte Glück; der oberste Stein paßte genau unter die Klinke.
Plötzlich wirbelte die Frau herum und versuchte sich seinem Griff zu entwinden; er glitt mit der Hand an ihrem Arm herunter, packte ihr Handgelenk und bog es nach innen. Sie schrie, Tränen standen in ihren Augen, ihre Lippen zitterten. Er zog sie neben sich und fing zu rennen an, schlug die Richtung ein, von der er glaubte, daß sie zum hinteren Ende des >Carillon du Lac< führte. Dort würde er die Frau vielleicht brauchen; ein paar Sekunden nur, in denen ein Paar das Hotel verließ, kein einzelner Mann, der auffällig davonlief.
Ein lautes Krachen ertönte, dann noch einmal; die Killer versuchten, die Bühnentüre zu öffnen, aber die Steine hielten und das Metall war nicht zu durchbrechen.
Die Frau versuchte erneut, sich loszureißen. Sie war am Rande der Hysterie. Er hatte keine andere Wahl; er packte ihren Ellbogen und drückte mit dem Daumen, so hart er nur konnte, gegen die Innenseite. Sie stöhnte auf, der Schmerz durchfuhr sie ganz plötzlich und war unerträglich. Schluchzend ließ sie sich von ihm mitreißen.
Schließlich erreichten sie eine Betontreppe, die zu einer Metalltür hinunterführte. Dahinter war der rückwärtige Parkplatz des >Carillon du Lac<. Er war fast da, wo er sein wollte. Jetzt kam es nur darauf an, daß sie sich unauffällig verhielten.
«Hören Sie mir zu«, sagte er zu der vor Angst erstarrten Frau.»Wollen Sie, daß ich Sie frei lasse?«
«O Gott, ja! Bitte!«
«Dann tun Sie genau, was ich Ihnen sage. Wir werden jetzt diese Stufen hinuntergehen und zur Tür hinaustreten — wie zwei völlig normale Leute am Ende eines ganz gewöhnlichen Arbeitstages. Sie hängen sich bei mir ein, und wir werden draußen leise miteinander sprechen. Wir werden beide lachen, so als redeten wir über komische Dinge, die während des Tages passiert sind. Haben Sie das verstanden?«
«In den letzten fünfzehn Minuten ist überhaupt nichts Komisches geschehen«, antwortete sie mit kaum hörbarer monotoner Stimme.
«Dann stellen Sie sich eben was Lustiges vor. Also, reißen Sie sich jetzt zusammen.«
«Ich glaube, mein Handgelenk ist gebrochen.«
«Nein, bestimmt nicht.«
«Mein linker Arm, meine Schulter — ich kann sie nicht bewegen.«
«Ich habe nur auf einen Nerv gedrückt; das geht in ein paar Minuten vorbei. Alles ist in Ordnung. Kommen Sie. Denken Sie daran: Wenn ich die Tür öffne, sehen Sie mich an und lächeln.«
Sie schob die verletzte Hand unter seinen Arm, und sie stiegen die kurze Treppe zur Tür hinunter. Er öffnete sie, und sie traten hinaus. Seine Hand in der Manteltasche hielt die Pistole des Franzosen umklammert, während seine Augen die Laderampe suchten. Über der Tür brannte eine einzelne Glühbirne hinter einem Schutzgitter. Ihr Licht beleuchtete die Betonstufen zur Linken, die aufs Pflaster hinunterführten. Als sie die Treppen hinuntergingen, war ihr Gesicht dem seinen zugewandt, ihre verängstigten Züge von dem fahlen
Lichtschein erhellt. Ihre vollen Lippen hatten sich zu einem starren Lächeln über den weißen Zähnen gespannt; ihre großen Augen waren zwei dunkle Höhlen und spiegelten elementare Angst. Die von Tränen benetzten Wangen waren blaß, mit roten Flecken, wo seine Hand sie getroffen hatte. Er betrachtete eine Maske, eingerahmt von dunkelrotem, schulterlangem Haar, in dem die Nachtbrise spielte — das einzig Lebende der Maske.
Ein ersticktes Lachen kam aus ihrer Kehle, die Adern an ihrem langen Hals traten wie Stränge hervor. Sie war kurz vor dem Zusammenbruch, aber daran durfte er jetzt nicht denken. Er mußte sich auf die Umgebung konzentrieren, auf jede geringste Bewegung. Es war offensichtlich, daß dieser dunkle, unbeleuchtete Parkplatz von den Angestellten des >Carillon du Lac< benutzt wurde; es war fast halb sieben, die Nachtschicht hatte ihren Dienst bereits angetreten. Alles war still. Die aufgereihten Fahrzeuge wirkten wie riesige Insekten, die ins Nichts starrten. Da, ein kratzendes Geräusch! Metall, das auf
Metall scharrte. Es kam von rechts, aus einem der Wagen. Er drehte den Kopf etwas zur Seite, als reagierte er auf eine witzige Bemerkung seiner Begleiterin. Dabei ließ er seinen Blick über die Fenster der Autos gleiten. Nichts.
War da etwas? Es war kaum sichtbar… ein winziger grüner Kreis, ein schwaches Glühen von grünem Licht. Es bewegte sich… während sie sich bewegten.
Grün. Klein… Licht? Plötzlich drängte sich ihm aus irgendeiner vergessenen Vergangenheit das Bild eines Fadenkreuzes auf. Seine Augen blickten in zwei dünne gekreuzte Linien! Fadenkreuz! Ein Teleskop… das Infrarotteleskop eines Karabiners!
Wie waren die Killer auf sie aufmerksam geworden? Darauf gab es eine ganze Anzahl von Antworten. Das tragbare Funkgerät in der Gemeinschaftsbank; vielleicht war jetzt auch eines im Einsatz. Er trug einen Mantel; seine Geisel nur ein dünnes Seidenkleid, und die Nacht war kühl. Keine Frau würde so ins Freie gehen.
Er beugte sich nach links, duckte sich und stieß Marie St. Jacques seine Schulter in den Leib. Sie taumelte zur Treppe zurück. Das gedämpfte Knacken wiederholte sich in immer wilderem Stakkato. Steine und Asphalt explodierten rings um sie. Er warf sich in Deckung. Hinter einem Mauervorsprung zog er die Pistole aus der Manteltasche. Er stützte das rechte Handgelenk mit der linken Hand und zielte mit der Waffe auf das Autofenster, hinter dem jemand einen Karabiner auf ihn richtete. Er feuerte drei Schüsse ab. Das alles geschah in Sekundenschnelle.
Aus der finsteren Silhouette der parkenden Limousine drang ein Schrei; er ging in ein Jammern, dann in ein Stöhnen über, bis er schließlich verstummte. Borowski lag reglos da, wartete, lauschte, beobachtete und war bereit, wieder zu schießen. Stille. Als er sich erheben wollte, konnte er sich kaum bewegen. Der Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, das Pochen war jetzt so heftig, daß er sich nach vorne beugen mußte. Er versuchte klar zu sehen, den Schmerz abzuschütteln. Er hatte sich beim Hinwerfen seine linke Schulter verletzt, Sehnen und Muskeln überdehnt, die noch nicht ganz geheilt waren. Aber er mußte aufstehen, den Wagen des Killers erreichen, den Mann herausziehen und mit dem Auto entkommen.
Er blickte zu Marie St. Jacques hinüber. Sie arbeitete sich langsam in die Höhe, kniete und stützte sich an der Außenwand des Hotels ab. Im nächsten Augenblick würde sie stehen und weglaufen.
Er durfte sie nicht fortlassen! Sie würde schreiend ins >Carillon du Lac< rennen; Männer würden kommen: einige, um ihn festzunehmen, andere, um ihn zu töten. Er mußte sie aufhalten!
Er rollte sich auf sie zu, bis er nur noch einen Meter von ihr entfernt war. Dann hob er die Waffe und zielte auf ihren Kopf.
«Helfen Sie mir hoch«, sagte er und hörte, wie nervös seine Stimme klang.
«Was?«
«Sie sollen mir auf die Beine helfen.«
«Sie haben gesagt, ich könnte gehen. Ihr Wort haben Sie mir gegeben!«
«Das muß ich zurücknehmen.«
«Nein, bitte!«
«Diese Waffe zielt genau auf Ihr Gesicht. Sie kommen jetzt her oder ich schieße.«
Er zog den Toten aus dem Wagen und befahl ihr, sich hinter das Steuer zu setzen. Dann öffnete er die hintere Tür und kroch auf die Sitzbank, so daß man ihn von draußen nicht sehen konnte.»Los!«sagte er,»fahren Sie, wohin ich sage.«
Immer wenn Sie selbst in einer Streßsituation sind — vorausgesetzt natürlich, Sie haben Zeit dazu —, verhalten Sie sich genauso, wie Sie reagieren würden, wenn Sie sich in eine Situation hineinversetzen, die Sie als Beobachter erleben. Lassen Sie Ihren Assoziationen freien Lauf, geben Sie den Gedanken und Bildern, die ins Bewußtsein drängen, so viel Raum wie möglich. Versuchen Sie nicht, irgendeine geistige Disziplin auszuüben. Konzentrieren Sie sich auf alles und nichts. Vielleicht kommen Ihnen dann Erkenntnisse über gewisse Dinge, zu denen Sie bislang keinen Zugang haben.
Borowski dachte an Washburns Worte, als er sich auf die Sitzbank zwängte und versuchte, seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Er massierte seine Brust und die geprellten Muskeln. Der Schmerz war noch da, aber nicht mehr so stechend wie zuvor.
Jason hatte der Frau gesagt, sie solle langsam die Bellerive-Straße entlangfahren; es war dunkel, und er brauchte Zeit zum Nachdenken.
«Die Leute werden mich suchen«, rief sie aus.
«Mich auch«, erwiderte er.
«Sie haben mich gegen meinen Willen entführt. Sie haben mich wiederholt geschlagen. «Sie sprach jetzt mit weicherer Stimme, gefaßter.»Das ist Entführung, Körperverletzung… Sie sind jetzt aus dem Hotel heraus; Sie haben erreicht, was Sie wollten. Wenn Sie mich gehen lassen, sage ich nichts. Das verspreche ich Ihnen.«
«Sie geben mir Ihr Wort?«
«Ja.«
«Sie wissen, ich habe meines zurückgenommen. Das könnten Sie auch.«
«Sie sind anders. Ich tue das nicht. Niemand versucht, mich zu töten! O Gott! Bitte!«
«Fahren Sie weiter.«
Eines war ihm klar: Die Killer hatten gesehen, wie er seinen Koffer hatte fallen lassen. Sein Gepäck würde ihnen verraten, daß er im Begriff war, die Schweiz zu verlassen. Der
Flughafen und der Bahnhof würden beobachtet werden. Und das Verschwinden des Wagen, in dem er saß, würde eine Suchaktion auslösen. Er mußte also das Auto loswerden und ein anderes finden. Aber er war nicht mittellos. Er trug 100.000 Schweizer Franken und mehr als 16.000 französische Franc bei sich. Das war mehr als genug, um unerkannt nach Paris zu gelangen.
Warum Paris? Es war, als hätte die Stadt geradezu eine magnetische Anziehung auf ihn.
Sie sind nicht hilflos. Sie werden sich zurechtfinden… Folgen Sie Ihren Instinkten, besonnen natürlich.
Nach Paris.
«Waren Sie vorher schon einmal in Zürich?«fragte er seine Geisel.
«Nein.«
«Sie belügen mich doch nicht etwa, oder?«
«Warum sollte ich das? Bitte, lassen Sie mich anhalten! Lassen Sie mich gehen.«
«Seit wann sind Sie hier?«
«Seit einer Woche.«
«Dann haben Sie Zeit gehabt, sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt anzusehen.«
«Ich habe kaum das Hotel verlassen. Dazu war keine Zeit.«
«Der Tagungsplan, den ich auf der Tafel sah, schien mir nicht gedrängt zu sein. Nur zwei Vorträge für den ganzen Tag.«
«Das waren Gastredner. Der größte Teil unserer Arbeit erfolgte in kleinen Konferenzen, bei denen zehn bis fünfzehn Leute aus verschiedenen Ländern debattierten.«
«Sie sind aus Kanada?«
«Ich arbeite für das Schatzministerium der kanadischen Regierung, in der Finanzverwaltung.«
«Ihr >Doktor< hat also nichts mit Medizin zu tun.«
«Nein, ich habe Volkswirtschaft studiert.«
«Ich bin beeindruckt.«
Plötzlich fügte sie mit eindringlicher Stimme hinzu:»Meine Vorgesetzten erwarten, daß ich mit ihnen Verbindung aufnehme, heute abend. Wenn sie nicht von mir hören, werden sie beunruhigt sein. Sie werden Nachforschungen anstellen und die Züricher Polizei verständigen.«
«Ich verstehe«, sagte er.»Darüber muß man nachdenken, nicht wahr?«Borowski fiel plötzlich auf, daß die Frau während des Schocks, den sie erlitten hatte, und all der Gewalttätigkeiten der letzten halben Stunde nie die Tasche losgelassen hatte. Er lehnte sich vor und zuckte zusammen, als der Schmerz in seiner Brust sich plötzlich wieder regte.
«Geben Sie mir Ihre Tasche.«
«Was?«Sie nahm die Hand vom Steuer und griff nach ihr.
Aber er war schneller. Seine Finger umkrallten bereits das Leder.
«Fahren Sie nur weiter, Doktor«, sagte er, nahm die Tasche vom Sitz und lehnte sich wieder zurück.
«Sie haben kein Recht…«Sie hielt inne, als ihr bewußt wurde, wie überflüssig ihre Bemerkung war.
«Das weiß ich«, erwiderte er und knipste die Leselampe des Wagens an, öffnete die Tasche und hielt sie so, daß man den Inhalt sehen konnte. Wie es ihrer adretten Besitzerin entsprach, war sie sehr gut aufgeräumt. Paß, Brieftasche, Geldbörse, Schlüssel und ein paar Zettel steckten in den Seitentaschen. Er suchte eine spezielle Nachricht; sie befand sich in einem gelben Umschlag, den ihr der Angestellte im >Carillon du Lac< gegeben hatte. Schließlich fand er das Couvert, öffnete es und zog das zusammengefaltete Papier heraus. Es war ein Telegramm aus Ottawa.
TAGESBERICHTE ERSTKLASSIG! URLAUB
GENEHMIGT. HOLE DICH MITTWOCH, DEN 26. AM FLUGHAFEN AB. KABLE FLUGNUMMER! IN LYON UNTER KEINEN UMSTÄNDEN MISS BELLE NEUNIERE VERPASSEN. KÜCHE HERVORRAGEND! ALLES LIEBE, PETER.
Als Jason das Telegramm in die Handtasche zurücklegte, fiel ihm ein kleines Zündholzbriefchen in glänzendem Weiß auf. Er nahm das Briefchen und las die Anschrift: >Kronenhalle<. Ein Restaurant… Irgend etwas irritierte ihn; aber er wußte nicht, was es war. Er behielt die Streichhölzer, klappte die Tasche zu, beugte sich vor und ließ sie auf den Beifahrersitz fallen.»Das ist alles, was ich sehen wollte«, sagte er, lehnte sich wieder zurück und starrte die Streichhölzer an.»Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie etwas über >Nachrichten aus Ottawa< sagten. Die haben Sie bekommen; bis zum sechsundzwanzigsten ist es noch über eine Woche.«
«Bitte…«
Das war ein Hilferuf; er begriff sehr wohl, konnte aber nicht reagieren. Er brauchte diese Frau in der nächsten Stunde, so wie ein Lahmer eine Krücke braucht, oder richtiger: wie jemand, der nicht steuern konnte, einen Fahrer benötigt.
«Drehen Sie um«, befahl er.»Fahren Sie zurück zum >Carillon<.«
«Zum… Hotel?«
«Ja«, sagte er und blickte dabei die Streichhölzer an, drehte sie im Licht der Leselampe in den Fingern hin und her.»Wir brauchen einen anderen Wagen.«
«Wir? Nein, das können Sie nicht! Ich weigere mich…«Sie hielt inne, ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte. Ihr war offensichtlich ein anderer Gedanke gekommen; sie war plötzlich stumm, bog links in eine Seitenstraße ein und fuhr dann auf die Seefeld-Straße.
Schon waren sie in Gegenrichtung. Plötzlich drückte die Frau das Gaspedal so abrupt nieder, daß das Fahrzeug einen Satz machte und die Reifen durchdrehten. Sofort nahm sie den Fuß vom Gaspedal, packte das Steuer fester und versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen.
Borowski blickte von den Streichhölzern auf und sah auf ihren Hinterkopf. Das lange dunkelrote Haar glänzte im Licht. Er zog die Pistole aus der Tasche und lehnte sich wieder nach vorn. Er hob die Waffe, schob die Hand über ihre Schulter und drehte den Lauf herum, so daß die Mündung auf ihre Wange wies.
«Hören Sie genau zu! Sie werden jetzt genau das tun, was ich Ihnen sage. Sie werden dicht neben mir sein, und diese Waffe wird in meiner Tasche stecken. Sie wird auf Ihren Bauch gerichtet sein, so wie sie im Augenblick auf Ihren Kopf zielt. Wie Sie wohl inzwischen bemerkt haben, geht es um mein Leben, und ich werde nicht zögern abzudrücken. Ich möchte, daß Sie das kapieren.«
«Ich habe verstanden. «Ihre Antwort war nur ein Flüstern. Sie atmete durch halb geöffnete Lippen, so verängstigt war sie. Jason zog die Pistole zurück; er war zufrieden und angewidert.
Lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf… Die Streichhölzer. Was war nur mit ihnen? Aber es waren nicht die Streichhölzer, es war das Restaurant — nicht die >Kronenhalle<, sondern irgendein anderes. Schwere Balken, Kerzenlicht, schwarze…
Dreiecke draußen. Weißer Stein und schwarze Dreiecke. Drei?… Drei schwarze Dreiecke.
Jemand war dort… in einem Restaurant mit drei Dreiecken vor dem Eingang. Das Bild war so klar, so deutlich… so beunruhigend. Warum nur? Gab es überhaupt einen solchen Ort?
Die Lichter des >Carillon du Lac< tauchten einige hundert Meter vor ihnen auf. Er hatte sich seine nächsten Schritte noch nicht genau überlegt, ging aber davon aus, daß seine Verfolger nicht mehr auf dem Hotelgelände waren. Aber er kannte nur zwei der Killer; falls andere zurückgeblieben waren, würde er sie nicht erkennen.
Der Hauptparkplatz lag hinter der kreisförmigen Auffahrt, an der linken Seite des Hotels.»Langsamer«, befahl Jason.»Biegen Sie nach links ein.«
«Das ist eine Ausfahrt«, protestierte die Frau, und ihre Stimme klang nervös.»Wir fahren in die falsche Richtung.«
«Es kommt niemand heraus. Weiter!«
Die Szene vor dem überdachten Eingang des Hotels erklärte, weshalb niemand auf sie achtete. Dort standen hintereinander vier Polizeifahrzeuge mit kreisenden Blaulichtern. Jason sah uniformierte Polizeibeamte und neben ihnen befrackte Hotelangestellte inmitten der aufgeregten Hotelgäste.
Marie St. Jacques fuhr quer über den Parkplatz an den Tiefstrahlern vorbei auf einen freien Platz. Sie schaltete den Motor ab und saß regungslos da, den Blick nach vorne gerichtet.
«Seien Sie sehr vorsichtig«, sagte Borowski und kurbelte seine Scheibe herunter,»und bewegen Sie sich langsam. Öffnen Sie Ihre Tür und steigen Sie aus. Dann helfen Sie mir, herauszukommen. Denken Sie daran, daß das Fenster geöffnet ist und ich die Pistole in der Hand halte. Sie sind nur einen Meter von mir entfernt. Sollte ich schießen müssen, werde ich Sie bestimmt nicht verfehlen.«
Völlig verschreckt tat sie, wie er befohlen hatte. Jason stützte sich auf den Fensterrahmen und zog sich hinaus. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen; langsam konnte er sich wieder fortbewegen — nur hinkend zwar, aber immerhin ein Fortschritt.
«Was werden Sie tun?«fragte die Frau, als hätte sie Angst davor, seine Antwort zu hören.
«Warten. Über kurz oder lang wird jemand sein Auto hier abstellen.«
«Und wenn ein Wagen kommt, wie werden Sie ihn stehlen?«Sie hielt inne und beantwortete sich dann die Frage selbst.»Oh, mein Gott, Sie werden den Fahrer töten!«
Er packte ihren Arm. Ihr kalkweißes Gesicht war nur wenige Zoll von dem seinen entfernt. Er mußte sie durch Furcht unter Kontrolle halten, aber die Furcht durfte nicht in Hysterie umschlagen.»Wenn mir nichts anderes übrigbleibt, werde ich das tun, aber ich glaube nicht, daß es notwendig sein wird. Die Fahrzeuge werden von Hoteldienern hierher gebracht. Die Schlüssel läßt man gewöhnlich stecken oder legt sie unter die Sitze. Das ist einfacher.«
Da erleuchteten zwei Autoscheinwerfer den Parkplatz; ein kleines Coupe näherte sich ihnen, beschleunigte dabei scharf— typisch für einen Pagen. Der Zweisitzer schoß direkt auf sie zu und erschreckte Borowski. Sie waren von den Lichtstrahlen erfaßt worden; man hatte sie gesehen.
Eine Reservierung für den Speisesaal… Ein Restaurant. Jason traf seine Entscheidung; er würde den Augenblick nutzen.
Ein junger Mann stieg aus dem Wagen und legte die Schlüssel unter den Sitz. Als er an ihnen vorbeilief, nickte er ihnen zu. Borowski sprach ihn in französischer Sprache an.
«He, junger Mann! Vielleicht können Sie uns behilflich sein.«
«Monsieur?«Der Page kam zögernd auf sie zu. Offenbar dachte er an die Ereignisse im Hotel.
«Ich fühle mich nicht besonders gut, hab' zu viel von Ihrem ausgezeichneten >Schweizer Wein< getrunken?«
«Das passiert, Monsieur. «Der junge Mann lächelte, er war erleichtert.
«Meine Frau meinte, es wäre gut, etwas frische Luft zu schnappen, ehe wir in die Stadt zurückfahren.«
«Eine gute Idee.«
«Spielen die da drinnen immer noch verrückt? Ich dachte schon, der Polizeibeamte würde uns überhaupt nicht mehr hinauslassen, bis er sah, daß mir vielleicht übel werden würde… und ich seine Uniform…«
«Verrückt! Sie sind überall… Man hat uns gesagt, wir sollten nicht darüber sprechen.«
«Natürlich. Aber wir haben ein Problem. Ein Bekannter ist heute nachmittag mit dem Flugzeug angekommen, und wir wollten uns in einem Restaurant treffen. Nun habe ich leider den Namen vergessen. Ich war schon einmal dort, aber ich kann mich nicht erinnern, wo es ist und wie es heißt. Ich erinnere mich nur, daß drei seltsame Gebilde davor waren… irgendein Muster, denke ich. Dreiecke vielleicht.«
«Das sind die >Drei Alpenhäuser<. Das Lokal liegt in der Nähe der Falkenstraße.«
«Ja, natürlich, das ist es! Wie war bloß noch der Weg dahin?«
«Biegen Sie bei der Hotelausfahrt nach links ab. Nach der Brücke dann wieder links auf den Uto-Quai. Etwa 300 Meter geradeaus, links geht dann die Falkenstraße ab. An der nächsten Seitenstraße finden Sie ein Hinweisschild. Sie können das Restaurant also nicht verfehlen.«
«Vielen Dank. Sind Sie in ein paar Stunden noch hier, wenn wir zurückkommen?«
«Ich habe bis zwei Uhr morgens Dienst, Monsieur.«
«Gut. Ich werde mich nach Ihnen umsehen und meinen Dank etwas konkreter ausdrücken.«
«Vielen Dank, Monsieur. Kann ich Ihnen Ihren Wagen holen?«
«Sie haben schon genug getan. Ich muß noch ein paar Schritte zu Fuß gehen. «Der Page machte eine Verbeugung und ging zum Hotel zurück. Jason führte Marie St. Jacques zu dem Coupe.»Schnell! Die Schlüssel sind unter dem Sitz.«
«Wenn sie uns aufhalten, was tun Sie dann? Der junge Mann wird das Auto hinausfahren sehen; er wird wissen, daß Sie ihn gestohlen haben.«
«Wir warten, bis er sich wieder unter die Menge gemischt hat.«
«Und wenn er uns doch bemerkt?«
«Dann hoffe ich, daß Sie eine flotte Fahrerin sind«, entgegnete Borowski und zeigte auf die Tür.»Steigen Sie ein. «Der Page beschleunigte plötzlich seine Schritte, bevor er um die Ecke bog. Jason zog die Waffe aus der Tasche und hinkte schnell um die Motorhaube des Coupes herum, stützte sich darauf, während er die Pistole auf die Windschutzscheibe gerichtet hielt. Er öffnete die Beifahrertür und stieg ein.»Verdammt, ich habe gesagt, Sie sollen die Schlüssel hervorholen!«
«Schon gut… ich kann nicht denken.«
«Dann geben Sie sich Mühe!«
«O Gott!.. «Sie griff unter den Sitz, tastete auf dem Boden herum, bis sie das kleine Lederetui fand.
«Lassen Sie den Motor an, aber warten Sie, bis ich sage, daß Sie losfahren sollen. «Er sah sich um, ob irgendwo Scheinwerfer von der Einfahrt in den Parkplatz hereinleuchteten; das wäre eine Erklärung dafür gewesen, warum der Page plötzlich zu laufen begonnen hatte, nämlich um einen Wagen zu parken. Aber da war nichts; es mußte also einen anderen Grund gegeben haben. Zwei unbekannte Leute auf dem Parkplatz…
«Fahren Sie jetzt, schnell. Ich will hier weg.«
Sie legte den Rückwärtsgang ein, und Sekunden später näherten sie sich der Ausfahrt zum General-Guisan-Quai.
«Langsam!«befahl er. Ein Taxi bog vor ihnen in die Einfahrt.
Borowski hielt den Atem an und blickte durch das gegenüberliegende Fenster auf den Eingang des >Carillon du Lac<; die Szene unter dem Vordach erklärte, weshalb der Page sich plötzlich beeilt hatte. Zwischen der Polizei und einer Gruppe von Hotelgästen war es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Eine Schlange hatte sich gebildet, die Namen der Leute, die das Hotel verließen, wurden notiert, was natürlich zu Verzögerungen führte, die nicht jedem paßten.
«Weiter«, sagte Jason und zuckte wieder zusammen, als erneut ein stechender Schmerz durch seine Brust schoß.
Es war ein eigenartiges Gefühl, gespenstisch und unheimlich. Die drei Dreiecke waren so, wie er sie sich ausgemalt hatte: dickes dunkles Holz im Halbrelief vor weißem Stein. Drei gleichgroße Dreiecke: abstrakte Nachbildungen von
Chaletdächern in einem Tal, das so tief mit Schnee bedeckt war, daß die unteren Geschosse verdeckt waren. Über den drei Spitzen war der Name des Restaurants in gotischen Buchstaben zu lesen: >Drei Alpenhäuser <. Unter der Grundlinie des mittleren Dreiecks war der Eingang. Die Doppeltüren bildeten gemeinsam den Bogen einer Kathedrale. Anstelle von Türklinken waren massive eiserne Ringe angebracht.
Die umliegenden Gebäude zu beiden Seiten der Gasse waren restaurierte Bauten aus längst vergangenen Zeiten. Alte Gaslampen verbreiteten schummriges Licht. Man konnte sich prunkvolle Kaleschen vorstellen, die hier von Pferden übers Pflaster gezogen wurden, die Kutscher eingehüllt in Schals, mit Zylindern auf dem Kopf. Gaslampen. Eine Straße, angefüllt mit Bildern und Geräuschen vergessener Erinnerungen, dachte der Mann, der keine Erinnerung besaß, die er vergessen konnte.
Und doch hatte er eine besessen, deutlich und beunruhigend. Drei dunkle Dreiecke, schwere Balken und Kerzenlicht… Er hatte recht gehabt; es war eine Erinnerung an Zürich. Aber in einem anderen Leben.
«Wir sind da«, sagte die Frau.
«Ich weiß.«
«Sagen Sie mir, was ich tun soll.«
«An der nächsten Ecke biegen Sie nach links. Fahren Sie um den Block herum und dann noch einmal hier durch.«
«Warum?«
«Wenn ich das wüßte…«
«Was?«
«Weil ich es gesagt habe.«Jemand war dort… in jenem Restaurant. Warum kamen jetzt keine anderen Bilder? Ein anderes Bild. Ein Gesicht.
Sie fuhren noch zweimal an dem Restaurant vorbei. Zwei Paare und eine Gruppe von vier Leuten gingen hinein; ein einzelner Mann kam heraus und lief in Richtung Falkenstraße. Den Autos nach zu schließen, die am Randstein parkten, war das Lokal gut besetzt. In den nächsten zwei Stunden würden noch mehr Gäste kommen, da man in Zürich das Abendessen etwas später einzunehmen pflegte. Es hatte keinen Sinn, länger zu warten; Borowski fiel nichts mehr ein. Er konnte nur dasitzen und das Restaurant beobachten und hoffen, daß irgend etwas passierte. Ein Streichholzbriefchen hatte ein Bild der Wirklichkeit in ihm hervorgerufen. Und in jener Wirklichkeit gab es eine Wahrheit, die er aufspüren mußte.
«Fahren Sie rechts ran, vor den letzten Wagen. Wir gehen zu Fuß zurück.«
Die Frau gehorchte ohne Widerrede. Jason sah sie prüfend an; ihre Reaktion war zu gehorsam, paßte nicht zu ihrem Verhalten vorher. Er begriff. Jetzt mußte eine Lektion erteilt werden. Unabhängig von dem, was im >Drei Alpenhäuser< geschehen würde, brauchte er sie noch ein letztes Mal. Sie mußte ihn aus Zürich hinausfahren.
Der Wagen kam zum Stillstand, die Reifen rieben sich am Randstein. Sie schaltete den Motor ab und begann die Schlüssel aus dem Zündschloß zu ziehen. Ihre Bewegungen waren langsan, zu langsam. Er griff hinüber und hielt ihr Handgelenk, sie starrte ihn an, ohne zu atmen. Er schob die Finger über ihre Hand, bis er das Schlüsseletui spürte.
«Die nehme ich«, sagte er,
«Natürlich«, erwiderte sie.
«Jetzt steigen Sie aus und stellen sich neben die Motorhaube«, fuhr er fort.»Machen Sie keine Dummheiten!«
«Warum sollte ich? Sie würden mich töten.«
«Gut. «Betont ungeschickt bemühte er sich, seine Tür zu öffnen, wobei er ihr den Hinterkopf zuwandte.
Das Rascheln von Stoff kam plötzlich und noch plötzlicher der Luftzug; ihre Tür flog auf, die Frau stieß sich vom Sitz ab und schwang ihre Beine nach draußen. Aber Borowski war bereit. Er fuhr herum. Sein linker Arm war wie eine gespannte Feder, die plötzlich freigegeben wird, seine Hand wie eine Klaue. Die Finger krallten sich in den Seidenstoff ihres Kleides zwischen den Schulterblättern und zerrten sie auf den Sitz zurück. Im nächsten Moment packte er sie am Haar und zog ihr den Kopf nach hinten, bis ihr Hals gespannt war.
«Ich tue es nicht wieder!«rief sie. Tränen traten ihr in die Augen.»Ich schwöre es!«
Er beugte sich über sie hinweg und zog die Türe zu. Dann musterte er sie scharf und versuchte, etwas in sich selbst zu verstehen. Vor dreißig Minuten hatte er in einem anderen Wagen so etwas wie Übelkeit empfunden, als er den Lauf seiner Pistole gegen ihre Wange gepreßt und gedroht hatte, sie zu erschießen, wenn sie seine Anweisungen nicht befolgen würde. Diesmal empfand er diesen Ekel nicht mehr. Sie war zum Feind geworden, eine Bedrohung für ihn. Er konnte sie umbringen, wenn er mußte, sie ohne Gefühl töten, weil es praktisch war.
«Sagen Sie etwas!«flüsterte er.
Ihr Körper spannte sich plötzlich krampfhaft, ihre Brüste drückten gegen den dunklen Seidenstoff, hoben und senkten sich. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme monoton.»Ich habe gesagt, daß ich es nicht mehr tun werde, und ich werde mein Wort halten.«
«Sie werden es wieder probieren, «erwiderte er leise.»Es wird der Augenblick kommen, wo Sie glauben, Sie könnten es schaffen, und dann werden Sie es riskieren. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, daß Sie es nicht schaffen. Beim nächsten Mal werde ich Sie töten müssen. Das will ich nicht.
Es gibt keinen Anlaß dafür. Es sei denn, Sie werden mir gefährlich. Und wenn Sie wegrennen, bevor ich sie gehen lasse, ist das äußerst bedrohlich für mich. Deshalb kann ich so etwas nicht dulden.«
Er hatte die Wahrheit gesprochen, so wie er die Wahrheit begriff. Die Einfachheit seiner Entscheidung erstaunte ihn ebenso wie die Entscheidung selbst. Töten war eine praktische Sache, sonst nichts.
«Sie sagten, Sie werden mich freilassen«, sagte sie.»Wann?«
«Sobald ich in Sicherheit bin«, antwortete er.»Wenn das, was Sie sagen oder tun, mir nichts mehr anhaben kann.«
«Und wann wird das sein?«
«Etwa in einer Stunde. Wenn wir Zürich verlassen haben und ich nach anderswo unterwegs bin.«
«Warum sollte ich Ihnen glauben?«
«Es ist mir gleichgültig, ob Sie mir vertrauen oder nicht. «Er ließ sie los.»Reißen Sie sich zusammen. Trocknen Sie sich die Augen, und kämmen Sie sich das Haar. Wir gehen jetzt ins Lokal.«
«Was ist dort drinnen?«
«Ich wollte, ich wüßte das«, sagte er und blickte durch das hintere Fenster auf den Eingang des Restaurants.
«Das haben Sie schon einmal gesagt.«
Er sah ihre großen braunen Augen, die ihn voll Angst und Verwirrung anblickten.»Ich weiß. Beeilen Sie sich.«
Dicke Balken führten unter der Decke entlang. Überall waren Tische und Stühle aus schwerem Holz, tiefe Nischen, und Kerzen verbreiteten gedämpftes Licht. Ein Akkordeonspieler schlenderte durch das Lokal und entlockte seinem Instrument alpenländische Volksweisen.
Er hatte den großen Saal schon einmal gesehen, die Balken und das Kerzenlicht waren irgendwo in sein Bewußtsein eingeprägt, ebenso wie die Geräusche. Er war in einem anderen Leben schon einmal hier gewesen. Sie standen in dem engen Foyer vor dem Pult des Saalkellners. Der befrackte Mann begrüßte sie.
«Haben Sie reserviert, mein Herr?«
«Leider nicht. Aber man hat Sie uns sehr empfohlen. Ich hoffe, Sie haben noch Platz für uns. Eine Nische, wenn es geht.«
«Ganz bestimmt, Sir. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«
Sie wurden zu einer Nische geführt. Auf dem Tisch stand eine flackernde Kerze. Borowskis mühsames Hinken und die Tatsache, daß er sich auf die Frau stützte, ließen dem
Oberkellner den nächsten passenden Ort geeignet erscheinen. Jason nickte Marie St. Jacques zu; sie setzte sich, und er schob sich ihr gegenüber in die Nische.
«Rutschen Sie zur Wand«, sagte er, nachdem der
Angestellte gegangen war.»Denken Sie daran, ich habe die Pistole in der Tasche und brauche bloß den Fuß zu heben, dann sitzen Sie in der Falle.«
«Ich habe gesagt, daß ich es nicht versuchen werde.«
«Hoffentlich stimmt das. Bestellen Sie sich etwas zu trinken; zum Essen ist keine Zeit.«
«Ich könnte ohnehin nichts runterkriegen. «Ihre Hände zitterten sichtbar.»Warum ist keine Zeit? Worauf warten Sie?«
«Ich weiß nicht.«
«Warum sagen Sie die ganze Zeit >Ich weiß nicht? Ich wünschte, ich wüßte es.< Warum sind Sie hierher gekommen?«
«Weil ich hier schon einmal war.«
«Das ist keine Antwort!«
«Ich habe keinen Anlaß, Ihnen Antwort zu geben.«
Ein Kellner trat an den Tisch. Die Frau bat um Wein; Borowski bestellte sich einen Scotch, er brauchte etwas Kräftiges. Er sah sich im Restaurant um und versuchte, sich auf alles und nichts zu konzentrieren. Aber da war nur nichts. Keine Bilder, keine Gedanken, die sich in sein Bewußtsein drängten. Nichts!
Und dann sah er das Gesicht auf der anderen Seite des Raums. Es war ein breites Gesicht über einem massigen Körper, der sich neben einer geschlossenen Tür in eine Nische gezwängt hatte. Der fettleibige Mann blieb im Schatten seines Beobachtungspunktes, als wäre sein unbeleuchteter Platz ein Zufluchtsort für ihn. Seine Augen hingen an Jason fest, und in seinem starren Blick mischten sich Furcht und Ungläubigkeit. Borowski kannte das Gesicht nicht, aber das Gesicht kannte ihn. Der Mann führte die Finger zu den Lippen und wischte sich die Mundwinkel, dann wanderten seine Augen, schienen jeden Gast an jedem Tisch abzutasten. Erst darauf erhob er sich und nahm einen ihm offenbar schmerzhaften Weg durch den Saal auf Borowskis Nische zu.
«Ein Mann kommt auf uns zu«, sagte Jason über die
Kerzenflamme hinweg,»ein dicker Mann, und er hat Angst. Gleichgültig, was er sagt, bleiben Sie stumm. Und schauen Sie ihn nicht an; heben Sie die Hand, stützen Sie den Kopf auf den Ellbogen. Sehen Sie die Wand an, nicht ihn.«
Die Frau runzelte die Stirn und hob die rechte Hand ans Kinn, ihre Finger zitterten. Ihre Lippen formten eine Frage, aber es kamen keine Worte. Jason antwortete ihr trotzdem.
«Zu Ihrem eigenen Nutzen«, sagte er.»Es bringt nichts, wenn er Sie identifizieren kann.«
Der fette Mann schob sich um den Nischenrand herum. Borowski blies die Kerze aus, so daß ziemliche Dunkelheit herrschte. Der Mann starrte ihn an und sagte dann mit leiser, bebender Stimme:
«Du lieber Gott! Warum sind Sie hierher gekommen? Was habe ich verbrochen, daß Sie mir das antun?«
«Das Essen hier schmeckt mir, wie Sie wissen.«
«Haben Sie denn gar kein Gefühl? Ich habe eine Familie, eine Frau und Kinder. Ich habe nur getan, was man von mir verlangt hat.
Ich habe Ihnen den Umschlag gegeben; ich habe nicht hineingesehen. Ich weiß nichts.«
«Aber man hat Sie bezahlt, nicht wahr?«fragte Jason instinktiv.
«Ja, aber ich habe nichts gesagt. Wir sind uns nie begegnet, ich habe Sie nie beschrieben; mit niemandem habe ich gesprochen.«
«Warum haben Sie dann Angst? Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Gast, der sich sein Abendessen bestellen will.«
«Ich bitte Sie, gehen Sie.«
«Jetzt bin ich verärgert. Sie sollten mir besser sagen, warum.«
Der dickleibige Mann fuhr mit der Hand übers Gesicht und wischte sich den Schweiß aus den Mundwinkeln. Er drehte den Kopf halb herum, blickte zum Ausgang und wandte sich dann wieder Borowski zu.»Vielleicht haben andere geredet, vielleicht wissen andere, wer Sie sind. Ich habe schon genügend Ärger mit der Polizei gehabt. Die kommen bestimmt direkt zu mir.«
Da verlor die Frau die Kontrolle über sich; sie sah Jason an und die Worte entkamen ihr:»Die Polizei… Das war Polizei!«
Borowski funkelte sie an und wandte sich wieder dem nervösen dicken Mann zu.»Wollen Sie sagen, daß die Polizei
Ihrer Frau und Ihren Kindern etwas zuleide tun würde?«
«Nicht sie selbst, wie Sie wohl wissen. Aber ihr Interesse würde andere zu mir führen, zu meiner Familie. Wie viele gibt es denn, die Sie suchen, mein Herr? Und was müssen Sie tun? Sie brauchen keine Antwort von mir; die machen vor nichts halt. Der Tod einer Frau oder eines Kindes ist für die belanglos. Bitte, ich schwöre es bei meinem Leben, ich habe nichts gesagt. Gehen Sie!«
«Sie übertreiben. «Jason führte sein Glas an die Lippen, er wollte, daß der Dicke verschwand.
«In Christi Namen, tun Sie das nicht!«Der Mann beugte sich vor und klammerte sich an den Tischrand.»Sie wollen einen Beweis meines Schweigens? Den will ich Ihnen liefern. In der Unterwelt hat sich herumgesprochen, daß jeder, der irgend etwas weiß, eine Nummer anrufen soll, die die Züricher Polizei eingerichtet hat. Jeder Hinweis soll streng vertraulich behandelt werden, darauf kann man sich verlassen. Die Belohnung ist großzügig. Die Polizeibehörden in einigen Ländern und Interpol stehen dahinter. «Der Komplize richtete sich auf, wischte sich wieder den Mund.»Ein Mann wie ich könnte Nutzen aus einer besseren Beziehung zur Polizei ziehen. Und doch habe ich nichts unternommen.«
«Hat sonst jemand gepfiffen? Sagen Sie die Wahrheit; ich merke es, wenn Sie lügen.«
«Ich kenne nur Chernak. Er ist der einzige, mit dem ich je gesprochen habe, der zugibt, daß er Sie einmal gesehen hat, aber das wissen Sie ja. Der Umschlag ist über ihn zu mir gelangt. Er würde nie etwas verraten.«
«Wo ist Chernak jetzt?«
«Wo er immer ist. In seiner Wohnung in der Löwenstraße.«
«Ich bin nie dort gewesen. Welche Hausnummer?«
«Sie sind nie…?«Der Dicke hielt inne, die Lippen zusammengepreßt, die Augen starr auf ihn gerichtet.»Prüfen Sie mich?«
«Beantworten Sie meine Frage.«
«Nummer siebenunddreißig. Das wissen Sie genausogut wie ich.«
«Dann prüfe ich Sie eben. Wer hat Chernak den Umschlag
gegeben?«
Der Mann stand reglos da.»Keine Ahnung. Ich würde so etwas nie fragen.«
«Sie waren nicht einmal neugierig?«
«Natürlich nicht. Eine Ziege betritt niemals freiwillig die Höhle des Wolfes.«
«Ziegen haben einen sicheren Gang, einen scharfen Geruchssinn.«
«Und Zicklein sind vorsichtig, mein Herr. Weil der Wolf schneller ist und viel aggressiver. Es würde nur eine einzige Jagd geben — und die wäre für die Ziege die letzte.«
«Was war in dem Umschlag?«
«Ich sagte Ihnen doch, daß ich ihn nicht geöffnet habe.«
«Aber Sie wissen, was in ihm war.«
«Geld, vermute ich.«
«Sie vermuten?«
«Also gut. Geld, viel Geld. Wenn es da einen Fehlbetrag gab, hat das nichts mit mir zu tun. Und jetzt — ich flehe Sie an — gehen Sie!«
«Eine letzte Frage. Wofür war das Geld?«
Der fettleibige Mann starrte auf Borowski hinunter, sein Atem ging jetzt hörbar, Schweiß glänzte auf seinem Kinn.»Sie quälen mich, mein Herr, aber ich werde mich nicht von Ihnen abwenden. Nennen Sie es den Mut einer unbedeutenden Ziege, die überlebt hat. Ich lese jeden Tag die Zeitungen. In drei verschiedenen Sprachen. Vor sechs Monaten ist ein Mann getötet worden. Über seinen Tod hat jede dieser Zeitungen auf der Titelseite berichtet.«
Sie fuhren um den Block herum, kamen auf die Falkenstraße und fuhren über die Theater-Straße auf den Limmat-Quai. Die Löwenstraße lag auf der anderen Flußseite. Ein Paar, das gerade im Begriff gewesen war, das >Drei Alpenhäuser< zu betreten, hatte ihnen erklärt, sie sollten am besten über die Bahnhof-Brücke fahren und vom Bahnhof-Platz in die Löwenstraße einbiegen.
Marie St. Jacques war stumm und hatte das Lenkrad umklammert, wie sie ihre Handtasche während des Wahnsinns im >Carillon< festgehalten hatte, als wäre sie ihre Verbindung zu allem, was normal und vernünftig war. Borowski blickte zu ihr hinüber und begriff.
… ein Mann ist getötet worden, und jede dieser Zeitungen hat seinen Tod auf der Titelseite gemeldet.
Jason Borowski war bezahlt worden, um zu töten, und die Polizei hatte Geldsummen ausgesetzt, um Informanten aus der Unterwelt zur Mitarbeit zu bewegen und ihn auf diese Weise leichter dingfest machen zu können. Und wiederum das bedeutete, daß andere Männer getötet worden waren…
Wie viele gibt es denn, die nach Ihnen Ausschau halten, mein Herr?… Die schrecken vor nichts zurück. Der Tod einer Frau oder eines Kindes ist für die belanglos.
Die zwei Türme des Großmünsters stachen in den nächtlichen Himmel; die Scheinwerfer, die sie beleuchteten, erzeugten gespenstische Schatten. Jason starrte den alten Bau an; ebenso wie so vieles andere erkannte er ihn wieder. Er hatte ihn schon früher gesehen, und doch sah er ihn jetzt das erste Mal.
Ich kenne nur Chernak… Der Umschlag ist über ihn zu mir gekommen… Löwenstraße. Nummer 37. Das wissen Sie ebensogut wie ich.
Sie fuhren über die Brücke, die Frau versuchte, sich auf den richtigen Weg zu konzentrieren. Es herrschte noch lebhafter Verkehr. Die roten und grünen Ampelsignale verwirrten Borowski. Er versuchte, sich auf nichts und auf alles zu konzentrieren. Immer deutlicher zeichneten sich die Umrisse der Wahrheit ab. Was er nach und nach erfuhr, verblüffte ihn jedesmal mehr.
«Halt! D ie Dame da! Sie fahren ohne Licht, und Sie haben links geblinkt. Das ist eine Einbahnstraße.«
Jason blickte auf, sein Magen verkrampfte sich. Ein Streifenwagen stand neben ihnen, und ein Polizist rief durch das heruntergelassene Fenster. Alles war plötzlich klar… erschreckend klar. Die Frau hatte das Polizeiauto im Rückspiegel gesehen und daraufhin die Scheinwerfer ausgeschaltet und den Richtungsweiser nach links betätigt, und das an einer Kreuzung, an der Richtungspfeile deutlich anzeigten, daß nur Geradeausfahren und Rechtsabbiegen zulässig waren. Ganz klar: Die Frau wollte auf sich aufmerksam machen und womöglich mit dem Streifenwagen einen Zusammenstoß inszenieren.
Borowski schaltete die Scheinwerfer ein und schob mit einer Hand den Hebel des Richtungsanzeigers zurück. Mit der anderen packte er ihren Arm, genau an der Stelle, wo er sie schon einmal höchst unsanft berührt hatte.
«Ich bringe Sie um, Doktor!«sagte er leise und rief dann durch das Fenster dem Polizeibeamten zu:»Entschuldigen Sie, wir sind ein wenig durcheinander. Touristen!«
Der Polizeibeamte war höchstens einen halben Meter von Marie St. Jacques entfernt. Seine Augen musterten sie, ihre stumme Reaktion schien ihn zu verwirren.
Die Ampel wechselte auf Grün.»Fahren Sie langsam weiter. Keine Dummheiten«, sagte Jason. Er winkte dem Polizeibeamten durch das Fenster zu.»Tut mir leid!«schrie er. Der Polizist zuckte die Achseln und wandte sich einem Kollegen zu, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen.
«Ich war durcheinander«, sagte die Frau, und ihre weiche Stimme zitterte.»Hier ist so viel Verkehr… O Gott, Sie haben mir den Arm gebrochen!.. Sie Bastard!«
Borowski ließ sie los. Ihr Ärger beunruhigte ihn; ihre Angst war ihm lieber gewesen.»Sie erwarten doch nicht etwa, daß ich das glaube, oder?«
«Das mit meinem Arm?«
«Daß Sie durcheinander waren.«
«Sie sagten, wir würden bald nach links abbiegen; das war alles, woran ich dachte.«
«Passen Sie das nächste Mal auf den Verkehr auf. «Er rutschte von ihr weg, wandte aber den Blick nicht von ihrem
Gesicht.
«Sie sind ein Tier«, flüsterte sie und schloß dabei für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, waren sie voller Angst.
Sie erreichten die Löwenstraße, eine Hauptverkehrsstraße, die sehr gut ausgeleuchtet war. Ein Geschäftshaus reihte sich an das andere. Fast nicht vorstellbar, daß hier auch noch Menschen wohnen sollten. Jason verfolgte die Hausnummern und versuchte, Bilder aus seiner Vergangenheit zurückzuholen. Er mußte ja schon einmal hier gewesen sein. Der Dicke in den >Drei Alpenhäusern< hatte es deutlich zu erkennen gegeben. Doch so sehr er sich auch das Gehirn zermarterte, keine Einzelheit kam zurück. Wie sah Chernak aus? In welcher Beziehung hatten sie beide zueinander gestanden?
Da tauchte vor seinem geistigen Auge eine andere Häuserzeile auf. Verschmutzte, verkommen wirkende Gebäude. Gebrochene Treppenstufen, verrostete Geländer, zerschlissene Vorhänge hinter ungeputzten Fenstern.»Brauerstraße«, sagte er zu sich selbst und konzentrierte sich sofort auf das Bild, das seine Erinnerung ihm zeigte. Er konnte eine Tür sehen, deren Farbe ein verblaßtes Rot war, so dunkel wie das rote Seidenkleid, das die Frau neben ihm trug.»Eine Pension in der Brauerstraße.«
«Was?«Marie St. Jacques war erschrocken. Seine Worte hatten sie beunruhigt; sie hatte sie offenbar auf sich bezogen und hatte Angst.
«Nichts. «Er löste seinen Blick von ihrem Kleid und sah zum Fenster hinaus.»Da ist Nummer siebenunddreißig«, sagte er und wies auf ein ganz in der Nähe stehendes Haus.»Halten Sie an.«
Er stieg als erster aus und befahl ihr, über den Sitz zu rutschen und ihm auf seiner Seite zu folgen. Er erprobte seine Beine und nahm ihr die Schlüssel weg.
«Sie können wieder laufen«, sagte sie.»Dann können Sie auch Auto fahren.«
«Ja, wahrscheinlich.«
«Dann lassen Sie mich endlich gehen! Ich habe alles getan, was Sie wollten.«
«Und noch einiges mehr«, fügte er hinzu.
«Ich werde nichts sagen, begreifen Sie das denn nicht? Sie sind der letzte Mensch auf der Welt, den ich je Wiedersehen möchte… oder mit dem ich noch einmal irgend etwas zu tun haben möchte. Ich renne bestimmt nicht zur Polizei. Ich habe Todesängste… Das ist Ihr Schutz, verstehen Sie denn nicht? Bitte; lassen Sie mich frei.«
«Das kann ich nicht.«
«Sie glauben mir nicht.«
«Das hat nichts zu sagen. Ich brauche Sie.«
«Warum noch?«
«Aus einem banalen Grund: Ich habe keinen Führerschein. Ohne Führerschein kann man keinen Wagen mieten. Ich brauche aber unbedingt ein anderes Fahrzeug.«
«Sie haben doch dieses Auto.«
«Das kann ich vielleicht noch eine Stunde benutzen. Der Besitzer wird aus dem >Carillon du Lac< kommen und ihn haben wollen. Die Beschreibung wird an alle Streifenwagen weitergeleitet werden.«
Sie sah ihn an, ihre Augen weiteten sich vor Todesangst.»Ich will nicht mit Ihnen dort hinaufgehen. Ich habe gehört, was dieser Mann im Restaurant gesagt hat. Wenn ich noch mehr erfahre, werden sie mich töten.«
«Was Sie gehört haben, sagt mir genausowenig wie Ihnen. Vielleicht noch weniger. Kommen Sie. «Er nahm ihren Arm und ging auf den Hauseingang zu.
Sie starrte ihn an. In ihrem Blick mischten sich Furcht und Bestürzung.
Unter einem der Briefkastenschlitze stand der Name M. Chernak, darunter war ein Klingelknopf. Doch statt ihn zu drücken, betätigte er die vier Knöpfe daneben. Ein Stimmengewirr hallte ihm aus dem kleinen Lautsprecher entgegen, mehrere fragten ihn auf Schweizerdeutsch, wer da wäre. Aber jemand sagte nichts, sondern löste nur den Summer aus, der das Schloß frei gab. Jason öffnete die Tür und schob Marie St. Jacques vor sich hinein. Er preßte sie gegen die Wand und wartete. Von unten konnte man hören, wie oben Türen geöffnet wurden, Schritte, die auf die Treppe zugingen.
«Wer ist da?«
«Johann?«
«Wo bist du denn?«
Schweigen. Dann verärgerte Stimmen, Schritte, Türen, die sich schlossen.
M. Chernak wohnte im ersten Stock, Wohnung 2 C. Borowski nahm den Arm der Frau, hinkte mit ihr zur Treppe und fing an hinaufzusteigen. Sie hatte natürlich recht. Es wäre viel besser, wenn er alleine wäre, aber er konnte nichts daran ändern; er brauchte sie.
In den Wochen, die er in Port Noir verbracht hatte, hatte er Straßenkarten studiert. Luzern war höchstens eine Stunde entfernt, Bern nicht mehr als eineinhalb. Er konnte in eine der beiden Städte fahren und sie unterwegs in irgendeinem verlassenen Ort absetzen und dann verschwinden. Es war einfach eine Frage der Zeit; er hatte genügend Geld, um sich hundert Verbindungen zu kaufen. Er brauchte nur jemanden, der ihn aus Zürich herausbrachte, und das war sie.
Aber ehe er Zürich verließ, mußte er mehr wissen; er mußte mit einem Mann sprechen, der…
M. Chernak. Der Name stand rechts von der Türklingel. Er trat neben die Tür und zog die Frau zu sich.
«Sprechen Sie Deutsch?«fragte Jason.
«Nein.«
«Lügen Sie nicht.«
«Ich lüge nicht.«
Borowski überlegte und sah sich in dem Gang um. Dann befahl er:
«Klingeln Sie. Wenn die Tür aufgemacht wird und jemand von drinnen fragt, was Sie wollen, sagen Sie, Sie hätten eine dringende Nachricht — von einem Freund im >Drei Alpenhäuser<.«
«Wenn er — oder sie — sagt, ich soll sie unter der Tür durchschieben?«
Jason sah sie an.»Sehr gut.«
«Ich will einfach keine Gewalttätigkeit mehr. Ich will nichts wissen oder sehen. Ich will einfach…«
«Ich weiß«, unterbrach er.»Damit wären wir wieder bei Cäsars Steuern und den Punischen Kriegen. Sollte er — oder sie — etwas dergleichen sagen, dann erklären Sie mit ein paar Worten, daß es sich um eine mündliche Nachricht handelt und nur dem Mann übermittelt werden darf, den man Ihnen beschrieben hat.«
«Und falls er die Beschreibung hören will?«fragte Marie St. Jacques eisig. Ihr analytisches Denkvermögen hatte einen Augenblick lang die Furcht in den Hintergrund gedrängt.
«Sie haben einen klaren Verstand, Doktor«, sagte er.
«Ich habe Angst; das wissen Sie. Was soll ich tun?«
«Dann sagen Sie ihm, zum Teufel mit denen, soll doch jemand anders die Nachricht überbringen, und gehen weg.«
Sie trat an die Tür und klingelte. Von drinnen war ein seltsames Geräusch zu hören. Ein Kratzen, das immer lauter wurde. Plötzlich verstummte es, und man konnte eine tiefe Stimme durch das Holz hören.
«Ja?«
«Ich spreche leider nicht Deutsch.«
«Reden Sie englisch weiter. Was ist? Wer sind Sie?«
«Ich habe eine dringende Nachricht von einem Freund im >Drei Alpenhäuser<.«
«Schieben Sie sie unter der Tür durch.«
«Das geht nicht. Sie ist nicht aufgeschrieben. Ich muß sie persönlich dem Mann übermitteln, den man mir beschrieben hat.«
«Nun, das sollte nicht schwierig sein«, sagte die Stimme. Das Schloß klickte, und die Tür wurde geöffnet.
Borowski löste sich von der Wand und trat vor den Eingang.
«Sie sind wahnsinnig!«schrie ein Mann mit zwei Stummeln statt Beinen, der in einem Rollstuhl saß.»Hinaus! Verschwinden Sie hier!«
«Ich bin es müde, das zu hören«, sagte Jason, zog die Frau hinein und schloß die Tür hinter sich.
Es bedurfte keines besonderen Nachdrucks, um Marie St. Jacques davon zu überzeugen, daß es besser war, sich in einem kleinen, noch abgedunkelten Schlafzimmer aufzuhalten, während sie redeten. Der beinlose Chernak war der Panik nahe, sein verwüstetes Gesicht war kalkweiß, und das ungekämmte graue Haar klebte ihm an Hals und Stirn.
«Was wollen Sie von mir?«fragte er.»Sie haben geschworen, daß die letzte Transaktion die allerletzte sein würde. Ich kann nicht mehr tun, ich kann das Risiko nicht eingehen. Boten sind hier gewesen. Gleichgültig, wie vorsichtig die auch waren, wie weit von den Quellen entfernt— sie kennen meine Anschrift. Wenn jemand eine Adresse in der falschen Umgebung hinterläßt, bin ich ein toter Mann!«
«Für die Risiken sind Sie gut bezahlt worden«, sagte Borowski, der vor dem Rollstuhl stand und sich fragte, ob es ein Wort oder einen Satz gab, der bei Chernak einen Redefluß auslösen würde. Dann erinnerte er sich an den Umschlag. Wenn da eine Diskrepanz war, hatte das nichts mit mir zu tun. Ein übergewichtiger Mann im >Drei Alpenhäuser<.
«Nicht wenn ich die Größe des Risikos bedenke. «Chernak schüttelte den Kopf; seine Brust hob und senkte sich; die Beinstummel, die über den Stuhlrand hingen, rutschten hin und her, die Bewegung wirkte seltsam obszön.»Ehe Sie in mein Leben traten, mein Herr, war ich zufrieden, denn ich war unbedeutend — ein ehemaliger Soldat, der sich nach Zürich durchgeschlagen hat — ein wertloser Krüppel, sah man von gewissen Fakten ab, die er sich angeeignet hatte und den ehemalige Kameraden kärglich dafür bezahlten, damit diese Fakten niemand erfuhr. Es war ein anständiges Leben, nicht üppig, aber ich hatte mein Auskommen. Dann fanden Sie mich… «
«Ich bin gerührt«, unterbrach ihn Jason.»Was ist mit dem Umschlag, den Sie unserem gemeinsamen Freund im >Drei Alpenhäuser< überreicht haben. Wer hat ihn Ihnen gegeben?«
«Ein Bote. Wer sonst?«
«Woher kam der Brief?«
«Woher soll ich das wissen? Er wurde mir in einer Schachtel zugesandt, wie die anderen. Ich habe die Schachtel ausgepackt und den Inhalt weitergeschickt. Sie wünschten es so. Sie sagten, Sie könnten nicht mehr hierher kommen.«
«Aber Sie haben das Couvert geöffnet.«
«Niemals!«
«Angenommen, ich würde sagen, daß Geld gefehlt hat.«
«Dann ist es nicht bezahlt worden; es war nicht in dem Umschlag. «Die Stimme des beinlosen Mannes wurde lauter.»Aber das glaube ich Ihnen nicht. Wenn das so gewesen wäre, hätten Sie den Auftrag nicht angenommen. Aber Sie haben den Auftrag akzeptiert. Warum sind Sie also hier?«
Weil ich es wissen muß. Weil ich sonst den Verstand verliere. Ich sehe und höre Dinge, die ich nicht begreife. Ich bin ein erfahrener, ausgebildeter… geistiger Krüppel! Helfen Sie mir!
Borowski entfernte sich von dem Rollstuhl; er ging, ohne ein besonderes Ziel zu haben, auf einen Bücherschrank zu, auf dem ein paar Fotos standen. Sie erklärten die Vergangenheit des Mannes, der hinter ihm saß. Auf ihnen waren deutsche Soldaten zu sehen, einige mit Schäferhunden, vor Baracken und Zäunen… und vor einem hohen Gittertor. Kein Zweifel. Die Fotos stammten aus einem der großen deutschen Vernichtungslager.
Auschwitz… Dachau…? Und auf zwei Aufnahmen war deutlich Chernak zu erkennen.
Der Mann hinter ihm bewegte sich. Jason drehte sich herum; der beinlose Chernak hatte die Hand in dem Segeltuchbeutel, der an seinem Stuhl hing; seine Augen brannten, sein verwüstetes Gesicht war verzerrt. Die Hand schnellte hervor und hielt einen kurzläufigen Revolver, und ehe Borowski die eigene Waffe ziehen konnte, feuerte Chernak. Die Schüsse kamen schnell hintereinander. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine linke Schulter, dann seinen Kopf. Er warf sich zu Boden, rollte über den Teppich und stieß eine schwere Stehlampe um, so daß sie auf den Krüppel fiel. Dann machte er einen Satz nach vorne und schmetterte die rechte Schulter gegen Chernaks Rücken. Der beinlose Mann wurde aus dem Stuhl geschleudert. Im selben Moment griff Jason in die Tasche, um den Revolver herauszuholen.
«Die werden für Ihre Leiche zahlen!«schrie der Krüppel, während er sich auf dem Boden wand und versuchte, seine Waffe auf Borowski zu richten.»Sie bringen mich nicht in den Sarg! Sie nicht! Carlos wird bezahlen! Bei Gott, er wird bezahlen!«
Jason sprang nach links und feuerte. Chernaks Kopf zuckte nach hinten, Blut schoß aus seinem Hals. Er war tot!
Da drang ein langgezogener Schrei aus dem Schlafzimmer. Der schrille Ton verriet Angst und Ekel. Der Schrei der Frau— seine Geisel! Er konnte nicht klar sehen. Seine Schläfen pochten.
Er weigerte sich, den Schmerz wahrzunehmen und eilte hinaus in den kleinen Korridor. Die Tür zum Badezimmer stand offen. Als er den Spiegelschrank sah, rannte er hinein und riß die Spiegeltür mit solcher Gewalt auf, daß sie aus den Scharnieren sprang, auf den Boden krachte und zersplitterte. In den Regalen lagen Mullbinden und Heftpflaster. Er raffte alles zusammen. Da fielen Schüsse; Schüsse bedeuteten Alarm. Er mußte hier weg, seine Geisel nehmen und verschwinden! Das Schlafzimmer — wo war es?
Er folgte dem Schrei, erreichte die Tür und trat sie auf. Die Frau — wie, zum Teufel, hieß sie? — drückte sich gegen die Wand, Tränen strömten ihr über das Gesicht. Ihr Mund stand offen. Er rannte hinein, packte sie am Handgelenk und zerrte sie heraus.
«Mein Gott, Sie haben ihn getötet!«schrie sie.»Einen alten Mann ohne…«
«Mund halten!«Er zog sie zur Korridortür, öffnete diese und schob die Frau in den Treppenflur hinaus. Er konnte verschwommene Gestalten am Geländer stehen sehen. Sie begannen zu rennen, er hörte, wie Türen zugeknallt wurden, wie Leute schrien. Er nahm den Arm der Frau mit der linken Hand; der Schmerz schoß ihm in die Schulter. Er stieß sie zur Treppe und zwang sie, mit ihm hinunterzugehen. Dabei stützte er sich auf sie, und die ganze Zeit hielt er mit der rechten Hand die Waffe.
Sie erreichten den Hauseingang. Dort ließ er sie kurz los, spähte auf die Straße hinaus, lauschte nach Polizeisirenen.»Kommen Sie!«sagte er und drängte sie auf die Straße. Als er in die Tasche griff, um die Autoschlüssel hervorzuholen, zuckte er zusammen.»Steigen Sie ein!«
Im Wagen rollte er die Mullbinde aus und drückte sie sich gegen den Kopf, um die Blutung zu stillen. Es handelte sich nur um einen Streifschuß; die Tatsache, daß sein Kopf getroffen war, hatte ihn in Panik versetzt, aber die Kugel war nicht in den Schädel eingedrungen. Die Agonie von Port Noir würde ihn nicht wieder befallen.
«Verdammt, lassen Sie den Wagen an! Weg hier!«
«Wohin?«Die Frau schrie nicht, sie war ganz ruhig, erstaunlich ruhig. Sie sah ihn an… Sah sie ihn wirklich an?
Er fühlte sich benommen, spürte, wie sein Blick sich verschleierte.»Brauerstraße…«Er hörte das Wort, als er es aussprach, war aber nicht sicher, daß das seine Stimme war. Aber er konnte sich die Tür ausmalen. Verblaßte, dunkelrote Farbe… zersprungenes Glas… verrostetes Eisen.»Brauerstraße«, wiederholte er.
Was stimmte nicht? Warum konnte er den Motor nicht hören? Warum stand der Wagen und bewegte sich nicht. Hörte sie ihn vielleicht nicht?
Seine Augen waren geschlossen; er schlug sie auf. Die Pistole! Sie lag auf seinem Schoß, er hatte sie hingelegt, um den Verband gegen seine Kopfwunde zu pressen. Sie schlug danach! Die Waffe fiel zu Boden. Als er sich bückte, stieß sie seinen Kopf gegen die Windschutzscheibe. Ihre Tür öffnete sich, sie sprang auf die Straße hinaus und begann zu rennen. Sie lief weg! Seine Geisel, seine Garantie für eine erfolgreiche Flucht aus Zürich hastete die Löwenstraße hinauf.
Er konnte nicht im Auto bleiben. Der Wagen war eine stählerne Falle. Er steckte die Waffe mit der Rolle Heftpflaster in die Tasche und hielt die Binde mit der linken Hand umklammert, bereit, sie sofort gegen die Schläfe zu pressen, wenn wieder Blut aus der Wunde quoll. Er stieg aus und hinkte so schnell er konnte davon. Spätestens vorne am Bahnhof würde er ein Taxi finden. Brauerstraße.
Marie St. Jacques rannte die breite Straße entlang und winkte mit beiden Armen den vorbeifahrenden Autos zu. Sie drehte sich um, hob die Hände, um auf sich aufmerksam zu machen; aber statt anzuhalten, beschleunigten die Wagen ihre Fahrt und schossen an ihr vorbei. Die Fahrer erkannten, daß hier etwas passiert war und wollten sich Schwierigkeiten ersparen.
Die beiden Männer in einem blauen Peugeot freilich nahmen sofort Notiz von ihr. Die Scheinwerfer hatten sie
ausgeschaltet, seitdem sie die Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen hatten. Der Fahrer sagte auf
Schwyzerdütsch zu seinem Begleiter:»Das könnte sie sein. Dieser Chernak wohnt ein Stückchen weiter unten.«
«Halt an und laß sie näher kommen. Sie soll ein rotes Seidenkleid… das ist sie!«
«Wir wollen uns vergewissern, ehe wir die anderen verständigen.«
Beide Männer stiegen aus dem Wagen. Sie trugen konservative Straßenanzüge. Ihre Gesichter wirkten freundlich, aber ernst, geschäftsmäßig. Die erschreckte Frau kam auf sie zu; sie traten schnell in die Straßenmitte. Der Fahrer rief:
«Was ist passiert, Fräulein?«
«Helfen Sie mir!«rief sie.»Ich… ich spreche nicht Deutsch. Rufen Sie die Polizei!«
Der Begleiter des Fahrers wirkte ganz ruhig, von seiner tiefen Stimme ging Autorität aus.»Wir gehören zur Polizei«, sagte er in englischer Sprache,»zur Zürcher Sicherheitspolizei. Wir waren nicht sicher, Miss. Sie sind doch die Frau aus dem >Carillon du Lac«
«Ja!«schrie sie.»Er ließ mich nicht gehen! Er schlug mich immer wieder, bedrohte mich ständig mit seiner Pistole! Es war einfach schrecklich!«
«Wo ist er jetzt?«
«Er ist verwundet. Er ist angeschossen worden. Ich bin weggerannt Er war im Wagen, als ich weglief. «Sie deutete die Löwenstraße hinunter.»Dort drüben, in der Mitte des
Häuserblocks, denke ich. Es ist ein graues Coupe. Er ist bewaffnet.«
«Wir auch, Miss«, sagte der Fahrer.»Kommen Sie, steigen Sie hinten ein. Dort sind Sie in Sicherheit; wir werden sehr vorsichtig sein. Schnell jetzt.«
Mit ausgeschalteten Scheinwerfern rollten sie auf das graue Coupe zu. In ihm saß niemand. Aber da standen Leute auf dem Bürgersteig, die aufgeregt miteinander redeten, auch vor dem Eingang zu Nr. 37. Der Beifahrer wandte sich an die verängstigte Frau, die sich hinten auf der Sitzbank in die Ecke gedrückt hatte.
«Dies ist die Wohnung eines Mannes namens Chernak. Hat er ihn erwähnt? Hat er gesagt, daß er zu ihm wolle?«
«Er war bei ihm, er hat mich gezwungen, ihn zu begleiten. Er hat ihn getötet! Er hat diesen verkrüppelten alten Mann umgebracht!«
«Der Sender — schnell!«sagte der Mann zu dem Fahrer und schnappte sich das Mikrophon vom Armaturenbrett. Der Wagen schoß nach vorn, die Frau hielt sich am Vordersitz fest.
«Was machen Sie?«
«Wir müssen den Mörder finden«, sagte der Fahrer.»Sie sagten ja, daß er verwundet worden ist; vielleicht ist er noch in der Nähe. Wir warten natürlich, um sicherzustellen, daß die Kollegen von der Mordkommission auch eintreffen; aber wir haben andere Aufgaben. «Der Peugeot verlangsamte seine Fahrt und rollte einige hundert Meter von Löwenstraße Nr. 37 entfernt an den Bürgersteig.
Der Begleiter hatte inzwischen in das Mikrophon gesprochen, während der Fahrer der Frau ihren Auftrag erklärt hatte. Aus dem Lautsprecher war ein Knacken zu hören, dann die Worte:»Wir sind in zwanzig Minuten da. Wartet.«
«Unser Vorgesetzter wird gleich hier sein«, sagte der Begleiter.»Er möchte mit Ihnen sprechen.«
Marie St. Jacques lehnte sich zurück, schloß die Augen und atmete tief aus.»O Gott, wenn ich nur einen Drink bekommen könnte!«
Der Fahrer lachte und nickte seinem Begleiter zu. Der holte eine kleine Flasche aus dem Handschuhkasten und hielt sie der Frau hin.»Wir können Ihnen kein Glas bieten, Miss, aber Brandy haben wir. Nur für Notfälle natürlich. Ich glaube, dies ist jetzt ein solcher Notfall. Bitte, wenn wir Sie einladen dürfen.«
«Sie sind beide sehr nett. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dankbar ich Ihnen bin. Wenn Sie je nach Kanada kommen sollten, koche ich Ihnen das beste französische Essen, das Sie in der ganzen Provinz Ontario kriegen.«
«Vielen Dank, Miss«, sagte der Fahrer.
Borowski prüfte den Verband an seiner Schulter und kniff die Augen zusammen, um sich an das schwache Licht in dem verwahrlosten Raum zu gewöhnen. Mit seiner Vorstellung von der Brauerstraße hatte er recht gehabt, in allen Einzelheiten. Die Tür mit der verblaßten roten Farbe gab es tatsächlich. Auch das Bild von den zersprungenen Fensterscheiben und dem verrosteten Geländer war zutreffend gewesen. Man hatte ihm keine Fragen gestellt, als er das Zimmer mietete, und dies trotz der Tatsache, daß er offensichtlich verletzt war. Aber als Borowski den Pensionsinhaber bezahlt hatte, hatte der gemeint:»Für eine etwas größere Summe ließe sich ein Arzt finden, der den Mund hält.«
«Ich sage Ihnen Bescheid«, hatte Jason zurückhaltend geantwortet.
Die Wunde war nicht besonders schlimm; der Verband würde halten, bis er einen Arzt fand, der etwas verläßlicher war als einer, der in der Brauerstraße praktizierte.
Führt eine Streßsituation zu Verletzungen, sollten Sie sich bewußt sein, daß der Schaden ebenso psychischer wie physischer Natur sein kann. Gehen Sie keine Risiken ein, aber wenn Zeit ist, geben Sie sich die Chance, sich den Umständen anzupassen. Geraten Sie nicht in Panik…
Er war in Panik geraten. Obwohl die Verletzungen an seiner Schulter und seiner Schläfe Schmerzen bereiteten, war keine ernsthaft genug, um ihn völlig außer Gefecht zu setzen. Er konnte sich nur nicht so schnell bewegen, wie er sich das vielleicht wünschte.
Wenn er ausgeruht war, würde es noch besser gehen. Er hatte jetzt niemanden mehr, der ihn aus Zürich herausbringen würde; jetzt mußte er lange vor Tagesanbruch aufstehen und einen anderen Weg finden. Der Hauswirt im Erdgeschoß tat für Geld alles.
Er ließ sich auf das durchgelegene Bett sinken und starrte die nackte Glühbirne an der Decke an. Er versuchte, die Worte nicht zu hören, die in seinem Kopf hämmerten. Aber sie waren stärker, füllten seine Ohren wie das Dröhnen einer Kesselpauke.
Ein Mann ist getötet worden…
Aber Sie haben den Auftrag angenommen…
Er drehte sich zur Wand, schloß die Augen, verdrängte die Worte. Dann kamen andere. Als er sich aufsetzte, war er schweißgebadet.
Die zahlen für Ihre Leiche!.. Carlos wird bezahlen! Bei Gott, er wird bezahlen.
Carlos!
Eine große Limousine rollte vor das Coupe und parkte am Bürgersteig. Vor dem Haus Löwenstraße 37 waren die Streifenwagen vor einer Viertelstunde eingetroffen; zehn Minuten später war die Ambulanz vorgefahren. Menschen aus den umliegenden Wohnungen und vorbeikommende Passanten drängten sich auf dem Bürgersteig, aber die Aufregung hatte sich inzwischen etwas gelegt. Ein Mann war ermordet worden, nachts, in einer Wohnung der Löwenstraße. Sie hatten Angst; denn das Verbrechen, das sich in ihrer Nachbarschaft ereignet hatte, konnte ebensogut ihnen widerfahren.
«Unser Vorgesetzter ist jetzt da, Miss. Dürfen wir Sie bitte zu ihm bringen?«Der Begleiter stieg aus dem Wagen und hielt Marie St. Jacques die Türe auf.
«Natürlich. «Sie trat hinaus und spürte die Hand des Mannes auf ihrem Arm; sie war viel weicher als der harte Griff des Tieres, das ihr einen Pistolenlauf gegen die Wange gehalten hatte. Sie schauderte bei der Erinnerung.
Sie näherten sich der Limousine von hinten, und sie stieg ein. Als sie sich im Sitz zurücklehnte, blickte sie den Mann an, der neben ihr saß. Sie stöhnte, war plötzlich wie gelähmt, konnte nicht atmen. Der Mann neben ihr erweckte Erinnerungen an Schreckliches.
Das Licht der Straßenlampen spiegelte sich im dünnen Goldrand seiner Brille.
«Sie… Sie waren in dem Hotel! Sie waren einer von ihnen!«
Der Mann nickte müde; seine Erschöpfung war offensichtlich.»Richtig. Wir gehören zu einer Sonderabteilung der Züricher Polizei. Und ehe wir weitersprechen, muß ich Ihnen erklären, daß Sie während der Ereignisse im >Carillon du Lac< zu keiner Zeit in Gefahr waren, von uns verletzt zu werden. Wir sind ausgebildete Scharfschützen; es ist kein Schuß abgefeuert worden, der Sie hätte treffen können. Einige Male haben wir nicht geschossen, weil Sie zu nahe bei dem Mann waren, auf den wir zielten.«
Ihr Schock schwächte sich ab. Die Ruhe, die von dem Mann ausging, griff auf sie über.»Vielen Dank dafür.«
«Das ist eine Fertigkeit, die wir besitzen«, sagte der Beamte.»Wie man mir berichtet hat, haben Sie ihn zuletzt auf dem Vordersitz des Coupes hinter uns gesehen.«
«Ja. Er war verwundet.«
«Wie ernsthaft?«
«Genug, um verwirrt zu sein. Er hielt sich einen Verband an den Kopf, und an seiner Schulter war Blut — auf seiner Jacke, meine ich. Wer ist er?«
«Namen sind ohne Bedeutung; er hat viele. Aber wie Sie gesehen haben, ist er ein Mörder, ein brutaler Mörder, und wir müssen ihn finden, ehe er wieder jemanden umbringt. Wir sind schon seit einigen Jahren hinter ihm her — nicht nur wir, sondern Polizeibehörden vieler Länder. Wir haben jetzt eine Chance, wie sie bisher noch keiner hatte. Wir wissen, daß er in Zürich ist, und wir wissen, daß er verwundet ist. Er wird sicher nicht in dieser Gegend bleiben, aber wie weit kann er mit seiner Verwundung schon kommen? Hat er eigentlich irgendwann erwähnt, auf welchem Wege er die Stadt verlassen will?«
«Er wollte einen Wagen mieten. Auf meinen Namen, vermute ich. Er hat keinen Führerschein.«
«Da hat er gelogen. Er reist mit einer Vielfalt von falschen Papieren. Sie waren für ihn eine entbehrliche Geisel. So, und jetzt erzählen Sie mir alles, was er zu Ihnen gesagt hat, von Anfang an. Wohin Sie gefahren sind, wen er traf, alles, was Ihnen einfällt. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein.«
«Da ist ein Restaurant, >Drei Alpenhäuser<, und ein fetter Mann, der schreckliche Angst hatte…«Marie St. Jacques berichtete alles, woran sie sich erinnern konnte. Von Zeit zu Zeit unterbrach sie der Polizeibeamte und fragte nach näheren Details. Hin und wieder nahm er die goldgeränderte Brille ab, wischte geistesabwesend über die Gläser, oder spielte nervös mit dem Gestell, als könne er damit seine Gereiztheit unter Kontrolle bringen. Das Verhör dauerte fast eine halbe Stunde, dann traf der Beamte plötzlich entschlossen seine Entscheidung.
«>Drei Alpenhäuser<. Schnell!«sagte er zu seinem Fahrer. Er wandte sich wieder zu Marie St. Jacques.»Wir werden diesen Mann mit seinen eigenen Worten konfrontieren. Er hat absichtlich so zusammenhanglos geredet. Er weiß viel mehr, als er vor Ihnen gesagt hat.«
«Zusammenhanglos…«Sie sprach das Wort ganz leise. Zusammenhanglos! Woran wurde sie dadurch erinnert?
«Was?«
«Eine Pension in der Brauerstraße — das hat er wörtlich gesagt. Und ehe ich aus dem Wagen sprang, sagte er noch einmal >Brauerstraße<.«
Der Fahrer mischte sich ein.»Ich kenne die Straße. Sie ist in der Nähe des Güterbahnhofs. Keine gute Adresse.«
«Ich verstehe nicht«, sagte Marie St. Jacques, weil der Mann deutsch gesprochen hatte.
«Das ist ein heruntergekommenes Viertel«, erwiderte der Beamte,»ein Zufluchtsort für weniger Wohlhabende… und andere. Los!«befahl er.
Sie brausten davon.
Plötzlich hörte Borowski einen Knall vor seinem Zimmer. In seinen Ohren klang es wie ein Peitschenschlag; ein kurzes Echo folgte, das sich in der Ferne verlor. Borowski schlug die Augen auf.
Die Holztreppe in dem schmutzigen Gang vor seinem Zimmer — jemand war die Stufen heraufgegangen und war stehengeblieben, als ihm der Lärm bewußt wurde, den sein Gewicht auf den ausgetretenen Bohlen verursachte. Ein normaler Logiergast in der Pension an der Steppdeckstraße hätte sich keine solchen Gedanken gemacht.
Da knackte es wieder. Jetzt war das Geräusch näher. Jason sprang vom Bett und ergriff die Pistole, die am Kopfende lag. Mit einem Satz war er an der Wand neben der Türe. Er duckte sich, hörte die Schritte — ein Mann. Jetzt schien ihm der Lärm nichts mehr auszumachen, er wollte nur noch sein Ziel erreichen.
Die Tür flog auf; Borowski schleuderte sie zurück und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Holz. Der Eindringling war zwischen Tür und Wandnische eingeklemmt. Blitzschnell zog Jason die Tür zurück und jagte dem Eindringling die rechte Fußspitze in den Hals. Der Kerl sank röchelnd zu Boden. Jason packte mit der linken Hand das blonde Haar des Mannes und zerrte ihn ins Zimmer. Die Hand des Mannes wurde schlaff, die Waffe entglitt ihm, ein langläufiger Revolver mit aufgeschraubtem Schalldämpfer.
Jason schloß die Tür und lauschte ins Treppenhaus hinaus. Nichts war zu hören. Er blickte auf den bewußtlosen Fremden hinunter. Ein Dieb? Ein Mörder? Was war er?
Polizei? Hatte der Geschäftsführer der Pension beschlossen, das ungeschriebene Gesetz der Brauerstraße zu übertreten, um sich eine Belohnung einzuhandeln? Borowski drehte den Eindringling auf den Rücken und holte seine Brieftasche hervor. Ein angeborener Instinkt ließ ihn das Geld herausnehmen, obwohl er wußte, daß dies eigentlich lächerlich war; schließlich hatte er ein kleines Vermögen bei sich. Er sah sich die verschiedenen Kreditkarten und den Führerschein an und lächelte. Aber dann verschwand sein Lächeln. Was er da gerade festgestellt hatte, war keineswegs komisch: Auf den Kreditkarten standen verschiedene Namen, und der auf dem Führerschein war wieder ein anderer. Der bewußtlose Mann war ganz sicher kein Polizeibeamter, sondern ein professioneller Killer, der gekommen war, um einen verwundeten Mann in der Brauerstraße zu töten. Jemand hatte ihn dafür bezahlt. Wer? Wer konnte wissen, daß er hier war?
Die Frau? Hatte er die Brauerstraße erwähnt, als er die Reihe der Geschäftshäuser gesehen und nach Nummer 37 Ausschau gehalten hatte? Nein, sie konnte es nicht sein; vielleicht hatte er etwas gesagt, aber sie würde die Bemerkung nicht verstanden haben. Und wenn doch, dann wäre jetzt die Pension von Polizei umstellt.
Plötzlich drängte sich Borowski das Bild eines großen, fettleibigen Mannes auf, der schwitzend über einen Tisch gebeugt dastand. Dieser Mann hatte sich den Schweiß von den wulstigen Lippen gewischt und vom Mut einer unbedeutenden Ziege gesprochen — einer Ziege, die überlebt hatte. War dies ein Beispiel, mit welcher Methode er für sein Überleben sorgte? Hatte er von der Brauerstraße gewußt? Kannte er die Gewohnheiten des Bewohners, dessen Anblick ihn erschreckte? War er etwa in der schmutzigen Pension gewesen, um dort einen Umschlag abzugeben?
Jason preßte die Hand gegen seine Stirn und schloß die Augen. Warum kann ich mich nicht erinnern? Wann wird sich der Nebel endlich lösen? Wird er das überhaupt je tun?
Sie dürfen sich nicht selbst ans Kreuz nageln…
Borowski schlug die Augen auf und musterte den blonden Mann. Einen Augenblick lang hätte er am liebsten laut aufgelacht; da lieferte man ihm sein Ausreisevisum aus Zürich, und statt das zu begreifen, vergeudete er Zeit damit, sich selbst zu quälen. Er steckte sich die Brieftasche ein, hob die Waffe auf und schob sie sich in den Gürtel. Dann zerrte er die reglose Gestalt zum Bett hinüber.
Wenige Augenblicke später war der Mann am Bettpfosten festgebunden und mit einem Lakenfetzen geknebelt. So würde er für eine ganze Weile liegenbleiben, und in wenigen Stunden würde Jason Zürich verlassen haben — dafür hatte er einem schwitzenden, fettleibigen Mann zu danken.
Er hatte in seinen Kleidern geschlafen. Außer seinem Mantel gab es nichts mitzunehmen. Er zog ihn an und verlegte versuchsweise sein Gewicht auf das andere Bein — etwas spät, überlegte er. In der Hitze der letzten paar Minuten hatte er den Schmerz nicht bemerkt; aber er war noch vorhanden. Aber wenigstens konnte er sich hinkend fortbewegen. Die Schulter war in viel schlechterem Zustand. Von ihr ging eine langsame Lähmung aus, er mußte einen Arzt aufsuchen. Sein Kopf… an seinen Kopf dachte er lieber gar nicht.
Er trat in den schwach beleuchteten Korridor hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Für einen Moment stand er regungslos und lauschte. Aus dem Stockwerk über ihm war ein Lachen zu hören; er drückte den Rücken gegen die Wand, die Waffe schußbereit. Das Lachen verstummte.
Er hinkte zur Treppe, hielt sich am Geländer fest und begann hinunterzuhumpeln. Er befand sich in der zweiten Etage des dreistöckigen Gebäudes, hatte darauf bestanden, ein Zimmer möglichst weit oben zu erhalten, weil ihm instinktiv der Begriff Übersicht in den Sinn gekommen war. Warum? Was bedeutete das, wo er sich doch nur ein schmutziges Zimmer für eine einzige Nacht gemietet hatte? Suche nach Schutz?
Hör auf!
Er erreichte den Treppenabsatz im ersten Stock, und bei jedem Schritt den er tat, war das Ächzen der hölzernen Stufen zu hören. Wenn der Hausmeister jetzt unten herauskam, um seine Neugierde zu befriedrigen, würde das für einige Stunden das letzte sein, was er befriedigte.
Da vernahm er ein Geräusch, ein Kratzen, als würde ein weicher Stoff kurz über eine rauhe Fläche gestrichen. Stoff auf Holz. Jemand hielt sich in dem kurzen Flurstück der Etage unter ihm verborgen. Ohne den Rhythmus seiner Schritte zu verändern, spähte er um sich. In der rechten Wand waren drei Türen eingelassen, genauso wie im Stockwerk darüber. Hinter einer dieser Türen…
Er trat einen Schritt näher. Der erste Raum war leer. Die letzte Tür konnte es auch nicht sein, denn ein Wandvorsprung bildete dort so etwas wie eine Sackgasse. Die zweite mußte es sein. Aus ihr konnte jemand herausrennen, nach links oder rechts, oder ein argloses Opfer anspringen, es über das Geländer schleudern, hinunter in die Tiefe.
Borowski schob sich nach rechts, nahm seine Waffe in die linke Hand und griff in den Gürtel, in den er den Revolver mit dem Schalldämpfer gesteckt hatte. Einen halben Meter von dem Eingang entfernt streckte er seinen Arm, der die Automaticpistole hielt, und preßte sich in die Nische.
«Was ist…?« Ein Arm tauchte auf. Jason feuerte einmal, zerschmetterte die Hand. »Ah!« Die Gestalt taumelte nach vorn, außerstande, die eigene Waffe abzufeuern. Borowski schoß erneut, diesmal traf er den Mann am Schenkel, worauf der auf dem Boden zusammenbrach, sich wand und jammerte. Jason trat einen Schritt vor und kniete nieder. Er drückte dem Mann das Knie in die Brust und hielt ihm die Pistole an den Kopf.
«Ist noch jemand unten?«
«Nein«, sagte der Mann und zuckte vor Schmerz zusammen.
«Wir sind nur zwei. Man hat uns bezahlt.«
«Wer?«
«Das wissen Sie selbst.«
«Ein Mann namens Carlos?«
«Das beantworte ich nicht. Lieber töten Sie mich.«
«Woher wußten Sie, daß ich hier bin?«
«Von Chernak.«
«Er ist tot.«
«Jetzt schon. Nicht gestern. Wir erhielten Nachricht, daß Sie leben. Daraufhin haben wir jeden überprüft… überall. Chernak wußte es.«
Borowski setzte alles auf eine Karte.»Sie lügen!«Er stieß dem Mann den Lauf seiner Waffe gegen den Hals.»Ich habe Chernak nie etwas von der Brauerstraße gesagt.«
Wieder zuckte der Mann zusammen, sein Hals krümmte sich.»Das mußten Sie vielleicht gar nicht. Das Nazischwein hatte überall seine Informanten. Warum nicht auch in der Brauerstraße? Er konnte Sie beschreiben. Wer konnte das sonst noch?«
«Ein Mann im >Drei Alpenhäuser<.«
«Wir haben nie von einem solchen Mann gehört.«
«Wer ist wir?«
Der Mann schluckte, die Lippen vor Schmerz verzerrt.»Geschäftsleute… nur Geschäftsleute.«
«Und Ihr Geschäft ist das Töten.«
«Sie sind ein seltsamer Mann. Aber nein, so ist es nicht. Sie sollten irgendwo hingebracht werden. Ich sollte Sie nicht umbringen.«
«Wohin?«
«Das sollten wir über Autofunk erfahren.«
«Großartig!«sagte Jason ausdruckslos.»Sie sind ja richtig hilfsbereit. Wo steht Ihr Wagen?«
«Vor dem Eingang.«
«Die Schlüssel. «Er würde ihn durch das Funkgerät identifizieren.
Der Mann versuchte Widerstand zu leisten; er drückte Borowskis Knie weg und fing an, sich zur Wand zu wälzen.»Nein!«
«Sie haben keine Wahl. «Jason schmetterte ihm den Pistolenkolben an den Kopf.
Der Mann brach zusammen.
Borowski fand die Schlüssel — es waren drei in einem ledernen Etui —, nahm dem Mann die Waffe weg und steckte sie sich in die Tasche. Sie war kleiner als die, die er in der Hand hielt, und hatte keinen Schalldämpfer, was die Behauptung bestätigte, daß er verschleppt, nicht getötet werden sollte. Der blonde Mann im Obergeschoß hatte als Vorhut gearbeitet und brauchte daher eine schallgedämpfte Waffe, um — falls nötig — die Zielperson zu verwunden. Aber ein ungedämpfter Schuß hätte zu Komplikationen geführt. Der Schweizer im ersten Stock sollte dem anderen Hilfe leisten, und seine Waffe als sichtbare Drohung eingesetzt werden.
Warum befand er sich dann aber im ersten Stock? Warum war er seinem Kollegen nicht gefolgt? Irgend etwas war hier seltsam, aber jetzt war einfach nicht die Zeit, über irgendwelche Taktiken nachzudenken. Draußen auf der Straße stand ein Auto, und er besaß die Schlüssel dafür.
Er durfte nichts außer acht lassen. Die dritte Waffe.
Er erhob sich unter Schmerzen und griff nach dem Revolver, den er dem Franzosen in dem Lift der Gemeinschaftsbank abgenommen hatte. Er zog sein linkes Hosenbein hoch und schob ihn in den elastischen Strumpf. Dort war die Waffe sicher.
Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. Dann ging er zur Treppe, wobei ihm sehr wohl bewußt war, daß der Schmerz an seiner linken Schulter plötzlich viel ausgeprägter war und die Lähmung sich schnell ausbreitete. Hoffentlich würde er fahren können.
Als er die fünfte Stufe erreichte, blieb er plötzlich stehen und lauschte. Da war nichts; der Verwundete mochte sich ungeschickt verhalten haben, aber er hatte die Wahrheit gesprochen. Jason eilte die Treppe hinunter. Er würde — irgendwie — Zürich verlassen und — irgendwo — einen Arzt finden.
Er hatte keine Schwierigkeiten, den Wagen zu entdecken. Die große, sehr gepflegte Limousine unterschied sich deutlich von den anderen schäbigen Fahrzeugen, und er konnte auch deutlich den mit dem Kofferraumdeckel verschraubten Antennensockel erkennen. Er trat an die Fahrerseite und fuhr mit der Hand unter den Kotflügel — da war keine Alarmanlage.
Er schloß die Tür auf, bereit, jeden Augenblick davonzurennen. Vielleicht war die Alarmanlage unter der Motorhaube installiert; aber das war nicht der Fall. Er stieg ein, setzte sich hinter das Steuer und rückte sich den Sitz zurecht, bis er so bequem wie möglich saß. Zum Glück war das Auto mit automatischem Getriebe ausgestattet. Die große Waffe, die in seinem Gürtel steckte, behinderte ihn. Er legte sie neben sich auf den Sitz und steckte den Schlüssel, mit dem er die Tür geöffnet hatte, ins Zündschloß. Er paßte nicht, ebensowenig der zweite. Schließlich probierte er den dritten Schlüssel aus. Aber der ließ sich gar nicht erst ins Schloß schieben. Noch einmal versuchte er es mit dem zweiten. Wieder vergeblich. Keiner der Schlüssel wollte passen. Oder waren die Befehle, die von seinem Gehirn zu den Fingern wanderten, unklar? Er wurde nervös. Verdammt noch mal! Er mußte es noch einmal versuchen.
Links von ihm flammte ein kräftiger Scheinwerfer auf, leuchtete ihm in die Augen und blendete ihn. Er griff nach der Waffe, aber jetzt schoß ein zweites Lichtbündel von rechts herüber. Die Tür wurde aufgerissen, und eine schwere Taschenlampe krachte auf seine Hand herunter, während eine zweite die Waffe vom Sitz an sich nahm.
«Aussteigen!«Jemand preßte ihm den Lauf einer Waffe gegen seinen Hals.
Er stieg aus, und in seinen Augen flimmerten tausend weiße Punkte. Als er langsam wieder sehen konnte, erkannte er als erstes die Umrisse von zwei Kreisen — goldenen Kreisen. Es war die Brille des Killers, der ihn schon die ganze Nacht jagte.
Der Mann sagte:»Die Physik lehrt, daß jede Aktion eine gleiche und eine entgegengerichtete Reaktion zur Folge hat. Das Verhalten gewisser Männer unter gewissen Umständen ist in ähnlicher Weise vorhersagbar. Für einen Typen wie Sie baut man so etwas wie Spießruten auf, und jeder unserer Leute bekommt eingeprägt, was er im Falle eines Versagens zu sagen hat. Arbeitet er erfolgreich, hat es Sie erwischt. Und sollte er scheitern, werden Sie in die Irre geführt und wiegen sich in einem falschen Gefühl von Sicherheit.«
«Das ist ein sehr hohes Risiko für Ihre Leute«, sagte Jason.
«Sie werden gut bezahlt. Und dann ist da noch etwas: Der rätselhafte Borowski tötet nicht willkürlich. Nicht aus Mitgefühl natürlich, sondern aus einem ganz praktischen Grunde. Menschen merken es sich, wenn man sie verschont, so infiltriert er die Armeen seiner Feinde. Das erinnert an subtile Guerillataktiken, die auf einem unübersichtlichen Schlachtfeld eingesetzt werden. Ich muß Sie bewundern.«
«Sie sind ein Arschloch!«Etwas anderes konnte Jason dazu nicht sagen.»Aber Ihre beiden Männer leben, wenn es das ist, was Sie wissen wollen.«
Eine weitere Gestalt tauchte auf. Sie wurde von einem kleinen, breit gebauten Mann aus den Schatten des Gebäudes geführt. Es war Marie St. Jacques.
«Das ist er«, sagte sie leise, ohne den Blick von ihm zu wenden.
«O mein Gott!«Borowski schüttelte ungläubig den Kopf.
«Wie haben Sie das fertiggebracht, Doktor?«fragte er sie und hob dabei die Stimme.»Hat jemand mein Zimmer im >Carillon< beobachtet? Oder war der Lift präpariert, die anderen abgeschaltet? Sie erstaunen mich. Und ich dachte, Sie wollten mit einem Polizeiwagen kollidieren.«
«Das war gar nicht nötig«, erwiderte sie.»Das hier ist die Polizei.«
Jason sah den Killer an, der vor ihm stand; der Mann schob sich die goldgeränderte Brille zurecht.»Ich bewundere Sie«, sagte er.
«Zu Ihrer Festnahme hat nicht viel Talent gehört«, antwortete der Killer.»Die Bedingungen waren ideal — und Sie haben sie geliefert.«
«Was geschieht jetzt? Der Mann drinnen hat gesagt, man würde mich an einen anderen Ort bringen, nicht töten.«
«Sie vergessen etwas. Er hatte Auftrag, genau das zu sagen. «Der Schweizer hielt inne.»So sehen Sie also. Viele von uns haben sich darüber in den letzten zwei, drei Jahren den Kopf zerbrochen. All die Spekulationen! Und so viele Widersprüche! Er ist sehr groß, wissen Sie; nein, eher von mittlerer Statur. Er ist blond; nein, er hat dunkles, fast schwarzes Haar. Seine Augen sind hellblau; nein, sie sind eindeutig braun. Seine Züge sind scharf; nein, eigentlich hat er ein ganz normales Gesicht, es fällt einem in einer Menge gar nicht auf. Aber gewöhnlich war nichts. Alles war außergewöhnlich.«
Man hat Ihre Züge weicher gemacht und so Ihre
ursprüngliche Ausstrahlung beseitigt. Wenn Sie Ihr Haar
anders schneiden lassen, bekommt Ihr Gesicht einen ganz
anderen Charakter… Es gibt bestimmte Kontaktlinsen, mit denen Sie Ihre Augenfarbe ändern können… Und wenn Sie dann noch eine Brille tragen, haben Sie sich total verwandelt
Da war der Plan wieder. Alles paßte. Nicht auf alles hatte er eine Antwort bekommen, aber immerhin hatte er mehr von der Wahrheit erfahren, als er hören wollte.
«Ich würde das gerne hinter mich bringen«, sagte Marie St. Jacques und trat vor.»Ich unterschreibe, was Sie mir vorlegen, in Ihrem Büro, vermute ich. Aber dann muß ich wirklich ins Hotel zurück. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was ich am letzten Abend alles durchgemacht habe.«
Der Schweizer sah sie durch seine goldgeränderte Brille an. Der breitschultrige kleine Mann, der sie zu ihnen geführt hatte, griff nach ihrem Arm. Sie starrte beide Männer an und dann die Hand, die sie hielt.
Schließlich Borowski. Ihr Atem stockte, plötzlich drängte sich ihr eine schreckliche Erkenntnis auf. Ihre Augen weiteten sich.
«Lassen Sie sie gehen«, sagte Jason.»Sie befindet sich schon auf dem Rückweg nach Kanada. Sie werden sie nie wiedersehen.«
«Seien Sie doch vernünftig, Borowski. Sie hat uns gesehen. Wir zwei sind Profis; es gibt Regein. «Der Mann schob seine Waffe unter Jasons Kinn und fuhr mit seiner linken Hand über die Kleider seines Opfers. Sofort spürte er die Waffe in Jasons Tasche und nahm sie heraus.»Hab' ich mir doch gedacht«, sagte er und wandte sich seinem Begleiter zu.»Nimm sie im anderen Wagen mit. Zum Strandbad.«
Borowski erstarrte. Marie St. Jacques sollte getötet werden, und anschließend würde man ihre Leiche wohl in den See werfen.
«Augenblick!«als Jason vortrat, bohrte sich die Waffe in seinen Nacken.»Sie sind dumm!«fuhr er fort.»Sie arbeitet für die kanadische Regierung. Die werden ganz Zürich auf den Kopf stellen.«
«Was kümmert Sie das? Sie werden nicht mehr dasein.«
«Weil es Verschwendung ist!«rief Borowski.»Wir sind Profis, vergessen Sie das nicht.«
«Sie langweilen mich. «Der Killer drehte sich zu dem breitschultrigen Mann herum.»Geh! Schnell! Mythen-Quai!«
«Schreien Sie, so laut Sie können!«rief Jason.»Los! Und hören Sie nicht auf!«
Sie versuchte es, aber ein lähmender Schlag gegen ihren Hals ließ sie jäh verstummen. Sie fiel aufs Pflaster, und ihr künftiger Henker zerrte sie auf einen kleinen, unauffälligen schwarzen Wagen zu.
«Das war dumm von Ihnen«, sagte der Killer und blickte Borowski durch seine goldgeränderte Brille an.»Sie beschleunigen nur das Unvermeidliche. Andererseits wird es jetzt einfacher sein. Ich kann einen Mann freistellen, der sich um unsere Verwundeten kümmert. Alles ist so militärisch, nicht wahr? In der Tat ein einziges Schlachtfeld. «Er wandte sich zu dem Mann mit der Taschenlampe.»Gib Johann das Signal; er soll hineingehen. Wir kommen dann nachher und holen sie ab.«
Die Taschenlampe wurde zweimal an- und ausgeknipst. Ein vierter Mann, der die Tür des kleinen Wagens für die zum Tode verurteilte Frau geöffnet hatte, nickte. Marie St. Jacques wurde auf den Rücksitz geworfen, dann knallte die Tür ins Schloß. Der Mann namens Johann ging auf die Betonstufen zu und nickte dem Henker zu.
Jason spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg, als der Motor der kleinen Limousine aufheulte und sie in die Brauerstraße hineinschoß. Im nächsten Augenblick war die verchromte Stoßstange von den Schatten der Straße verschluckt. Im Inneren jenes Wagens saß eine Frau, die er sein ganzes Leben noch nicht gesehen hatte… bis vor drei Stunden. Und er hatte sie getötet.»Sie haben genug Soldaten«, sagte er.
«Wenn es hundert Männer gäbe, denen ich vertrauen könnte, würde ich sie gerne bezahlen. Wie gesagt, Ihr Ruf geht Ihnen voraus.«
«Angenommen, ich würde Sie bezahlen. Sie waren auf der Bank; Sie wissen, daß ich Geld zur Verfügung habe.«
«Wahrscheinlich Millionen, aber ich würde keinen Franc davon anrühren.«
«Warum? Haben Sie Angst?«
«Richtig. Reichtum ist etwas Relatives — er hängt von der Zeit ab, die einem zur Verfügung steht, um ihn zu genießen. Ich hätte keine fünf Minuten übrig. «Der Killer wandte sich seinem Untergebenen zu.»Setz ihn hinein. Zieh ihn aus. Ich möchte Fotos, die ihn nackt zeigen — ehe er uns verläßt, und nachher. Du wirst eine Menge Geld bei ihm finden: Ich möchte, daß er es in der Hand hält. Ich fahre. «Er sah wieder Borowski an.»Carlos bekommt den ersten Abzug. Und ich habe keinen Zweifel, daß ich die anderen Abzüge recht gut verkaufen kann. Die Illustrierten zahlen Wahnsinnspreise.«
«Warum sollte Carlos Ihnen glauben oder irgend jemand sonst? Sie haben es ja selbst gesagt: Niemand weiß, wie ich aussehe.«
«Zwei Züricher Bankiers werden Sie als einen gewissen Jason Borowski identifizieren, als eben den Jason Borowski, der den äußerst strengen Vorschriften entsprach, die die Schweizer Gesetze für die Herausgabe eines Nummernkontos vorgesehen haben. Das wird genügen. «Er wandte sich an den Mann mit der Waffe.»Schnell! Ich muß einige Telegramme absenden. Schulden eintreiben.«
Ein kräftiger Arm schlang sich um Borowskis Hals und drückte seine Kehle zu. Der Lauf einer Pistole bohrte sich in seinen Rücken. Ein fast unerträglicher Schmerz breitete sich in seiner Brust aus, als man ihn ins Innere des Wagens zerrte. Der Mann, der ihn festhielt, war ein Fachmann auf seinem Gebiet; selbst ohne seine Verletzungen wäre es Jason nicht gelungen, sich aus der Umklammerung zu befreien. Aber dem bebrillten Anführer der Aktion genügte das rabiate Vorgehen des Mannes noch nicht. Er setzte sich hinter das Steuer und erteilte einen weiteren Befehl.
«Brech ihm die Finger«, sagte er.
Einen Augenblick lang drohte der Arm des anderen, Jason zu ersticken, als der Knauf der Waffe mehrere Male auf seine Hand niedersauste. Borowski hatte instinktiv die linke Hand über die rechte gehalten und sie geschützt. Als das Blut aus dem oberen Handrücken schoß, krümmte er die Finger, so daß es zwischen ihnen durchfloß und auch die untere besudelte. Als der Griff sich für einen Moment lockerte, schrie er:
«Meine Hände! Sie sind gebrochen!«
«Gut so.«
Aber sie waren nicht gebrochen; die Linke war so beschädigt, daß sie nicht zu gebrauchen war; nicht aber die Rechte. Er bewegte die Finger; seine Hand war intakt.
Der Wagen raste die Brauerstraße in südlicher Richtung hinunter und bog in eine Seitenstraße. Jason sackte stöhnend in seinem Sitz zusammen. Der Mann mit der Waffe zerrte an seinen Kleidern und riß ihm das Hemd auf. Binnen weniger Sekunden würde sein Oberkörper entblößt sein. Man würde ihm den Paß, die Papiere, die Kreditkarten und das Geld wegnehmen, das nicht ihm gehörte. Alle Dinge, die für seine Flucht aus Zürich notwendig waren, würden ihm abgenommen werden. Jetzt war seine letzte Chance zu handeln.
«Mein Bein! Mein verdammtes Bein!«schrie er und beugte sich nach vorn, während seine rechte Hand in der Dunkelheit fieberhaft nach der Pistole am Hosenbein tastete. Jetzt spürte er sie.
«Nein!«brüllte der Killer auf dem Vordersitz.»Paß auf ihn auf!«Er ahnte die Gefahr instinktiv.
Aber es war schon zu spät. Borowski hielt die Pistole auf den Boden gerichtet. Als der kräftige Soldat ihn zurückstieß, fiel er zurück, und die Waffe, die jetzt an seiner Hüfte lag, wies direkt auf die Brust des Angreifers.
Er feuerte zweimal; der Mann bäumte sich nach hinten. Wieder schoß Jason — er zielte genau — und sein Schuß durchbohrte das Herz des Mannes. Er sackte auf dem Sitz zusammen.»Fallen lassen!«schrie Borowski, schwang die Pistole über den abgerundeten Rand des Vordersitzes und preßte den Lauf gegen den Schädel des Fahrers.
Der Atem des Mannes ging unregelmäßig; er ließ die Waffe fallen.»Wir werden reden«, sagte er und hielt das Steuer fest umklammert.»Wir sind beide Profis. «Der schwere Wagen schoß nach vorn, wurde schneller, als der Fahrer kräftiger auf den Gashebel drückte.
«Langsamer!«
«Ihre Antwort?«Der Wagen fuhr mit hohem Tempo. Vor ihnen zuckten die Lichter des nächtlichen Verkehrs; sie verließen das Viertel, in dem die Brauerstraße lag, und rollten auf die belebtere Innenstadt zu.»Sie wollen aus Zürich heraus; ich kann Sie hinausschaffen. Ohne mich gelingt Ihnen das nicht. Ich brauche bloß das Steuer herumzureißen und den Wagen gegen eine Mauer zu fahren. Ich habe überhaupt nichts zu verlieren, Herr Borowski. Überall vor uns ist Polizei. Ich glaube nicht, daß Sie mit der zu tun haben wollen.«
«Gut, wir werden reden«, log Jason. Jetzt kam alles auf den richtigen Zeitpunkt an. Und den würde er schon nicht versäumen.
«Bremsen Sie«, sagte Borowski.
«Lassen Sie Ihre Kanone auf den Sitz neben mir fallen.«
Jason ließ die Waffe los. Sie fiel direkt auf die des Killers.
Der Fahrer nahm den Fuß vom Gaspedal und trat auf die Bremse. Erst drückte er sie ganz langsam nieder und dann mehrere Male ruckartig, so daß der schwere Wagen vor und zurück schwankte. Borowski begriff, was sein Rivale vorhatte.
Die Tachometernadel senkte sich nach links: dreißig
Stundenkilometer, achtzehn, neun. Sie waren fast zum Stillstand gekommen; das war der Augenblick, auf den er gelauert hatte.
Jason packte den Mann am Hals, hob die blutige linke Hand und verschmierte ihm die Augen. Er ließ die Kehle des Killers los, und seine rechte Hand griff blitzschnell nach den Waffen, die auf dem Sitz lagen. Borowski bekam einen Kolben zu fassen, stieß die Hand des Killers weg; der Mann schrie, er konnte nichts sehen, die Waffe nicht erreichen. Jason warf sich über den Mann, drückte ihn gegen die Tür und faßte das Lenkrad mit seiner blutigen Rechten. Dann blickte er durch die Windschutzscheibe und riß das Steuer nach rechts, um den Wagen in einen Haufen Abfall auf dem Pflaster rollen zu lassen.
Der Kerl unter ihm bäumte sich auf. Borowski hielt die Pistole in der Hand, seine Finger suchten den Abzug. Sekunden später drückte er ab.
Der Mann, der ihn hatte töten wollen, wurde plötzlich schlaff; er hatte ein dunkelrotes Loch in der Stirn.
Auf der Straße kamen Menschen angerannt. Jason zog die Leiche über, den Sitz, kletterte nach vorne und setzte sich hinter das Steuer. Er legte den Rückwärtsgang ein, worauf sich der Wagen aus dem Abfallhaufen löste und wieder auf die Straße rollte. Bereits im Wegfahren kurbelte er sein Fenster herunter und rief den Passanten zu, die sich näherten:»Tut mir leid! Alles in Ordnung! Nur ein wenig zu viel getrunken. «Borowski atmete tief durch und versuchte, das Zittern unter Kontrolle zu bringen, das seinen ganzen Körper erfaßt hatte. Wenigstens wußte er ungefähr, wo er war — eine alte Erinnerung —, und was noch wichtiger war, er hatte ein ziemlich genaues Bild davon, wo sich am Mythen-Quai das
Strandbad befand.
Schnell! Mythen-Quai!
Marie St. Jacques sollte in dem zu dieser Zeit verlassenen Strandbad getötet und ihre Leiche anschließend in den See geworfen werden. Niemand würde etwas bemerken. Es gäbe keine Zeugen. Der kleine, breitschultrige Mann brauchte mit Marie St. Jacques nur in eine der vielen Kabinen zu gehen. Wer könnte dann die Hinrichtung beobachten? Vielleicht hatte er seine Pistole inzwischen schon abgefeuert oder ein Messer ins Opfer gebohrt. Was auch geschehen war, Jason wollte es unbedingt herausfinden. Wer auch immer er sein mochte, er konnte von hier nicht einfach verschwinden, ohne zu wissen, was mit der Frau geschah. Aber erst einmal mußte er die zwei Toten im Wagen loswerden. An der nächsten Kreuzung bog er in eine dunkle menschenleere Gasse.
Er hatte weniger als zwei Minuten gebraucht, um die Leichen aus dem Auto zu zerren. Er sah sie noch einmal an, als er um die Motorhaube herum zur Tür hinkte. Fast obszön wirkte es, wie die beiden eng aneinander geschmiegt an einer schmutzigen Steinmauer lehnten.
Er erreichte eine Kreuzung, die Verkehrsampel stand auf Rot. Im Osten konnte er Lichter sehen, die in sanftem Bogen zum Nachthimmel anstiegen — eine Brücke. Die Limmat! Die Ampel schaltete auf Grün, und er fuhr kreischend an.
Er war wieder am Bürkli-Platz; der General-Guisan-Quai schloß sich unmittelbar an. Die breite ausgebaute Straße zog sich am Ufer entlang. Borowski kam gut voran. Die Züricher schliefen noch; es waren kaum Autos auf der Straße. Schnell erreichte er den Mythen-Quai — und dann sah er bald auch im Dunkel das große Strandbad liegen. So bevölkert und überfüllt es an sonnigen, warmen Sommertagen war — jetzt wirkte es in seiner Verlassenheit fast trostlos. Oder gefährlich? Vorsichtig fuhr Borowski an dem Gelände vorbei, die Taschenlampe, die er dem Mann mit der goldgeränderten Brille weggenommen hatte, in der linken Hand und damit die Seitenränder ableuchtend. Zu seiner Rechten erblickte er Tennisplätze.
Doch er konnte nichts Verdächtiges bemerken. Aber er hatte es bestimmt gehört: Nimm sie in dem Wagen mit. Zum Strandbad. Kurz nach der Tennisanlage wendete Borowski und fuhr noch langsamer zurück, jeden Zentimeter links und rechts in den starken Strahl der Taschenlampe tauchend. Da — in einem links abgehenden kleinen Seitenweg sah er die Chromteile eines geparkten Wagens aufleuchten. Dieses Modell hätte er unter Tausenden sofort wiedererkannt.
Er fuhr noch etwa zwanzig Meter und ließ dann den Wagen ausrollen. Sofort schaltete er die Taschenlampe aus und ließ sie auf den Sitz fallen. Der Schmerz in seiner zerschlagenen linken Hand verschmolz plötzlich mit der Agonie in seiner Schulter und seinem Arm; er mußte allen Schmerz aus seinem Bewußtsein verdrängen, die Blutung, so gut er konnte, zum Stillstand bringen. Er griff unter sein Jackett und zerriß sein ohnehin zerfetztes Hemd noch weiter. Schließlich zog er einen Streifen Stoff heraus, den er sich um die linke Hand wickelte und anschließend mit Zähnen und Fingern verknotete. Jetzt war er bereit.
Er nahm die Waffe, die ihm den Tod hätte bringen sollen, und überprüfte das Magazin: Es war geladen. Er wartete, bis zwei Autos an ihm vorbeigefahren waren. Dann schaltete er die Scheinwerfer aus.
Borowski stieg lautlos aus dem Wagen, die Pistole in der rechten Hand, die Taschenlampe etwas ungeschickt in den blutigen Fingern seiner linken, und schlich auf den Seitenweg zu, in dem er den Wagen entdeckt hatte.
Nur der Wind, der vom See her wehte, war im Moment zu hören — und plötzlich ein Schrei, voller Angst ausgestoßen. Ein hartes Klatschen folgte, dann noch einmal. Und nach einer kurzen Pause drang erneut ein schriller Schrei an sein Ohr, der nach wenigen Sekunden abrupt abbrach.
Er humpelte schneller. Zuallererst sah er das schimmernde Metall der verchromten Stoßstange, die im nächtlichen Licht glänzte. Jetzt vernahm er deutlich vier Schläge, die schnell hintereinander ausgeteilt wurden; Fleisch prallte auf Fleisch. Halb erstickte Schreckensschreie kamen aus dem Innern des Wagens. Dann verstummten sie, und statt dessen war ein Stöhnen zu hören.
Jason duckte sich und schob sich um den Kofferraum herum auf das rechte Hinterfenster zu.
Langsam erhob er sich und schrie plötzlich laut los, während er die Taschenlampe einschaltete.
«Eine Bewegung — und Sie sind tot!«
Was er im Wageninneren sah, erfüllte ihn mit Ekel und Wut: Marie St. Jacques' Kleider waren zerrissen; Hände klammerten sich wie Klauen an ihrem halbnackten Körper fest, kneteten ihre Brüste, zwängten ihr die Beine auseinander. Der Penis des Killers stach aus dem Stoff seiner Hose hervor.
«Raus, du Schweinehund!«
Glas zersplitterte; der Mann, der Marie St. Jacques vergewaltigte, hatte erkannt, daß Borowski die Pistole nicht abfeuern konnte, weil er Gefahr lief, dabei die Frau zu töten. Der Kerl löste sich von ihr und trat mit dem Schuhabsatz gegen das Seitenfenster des kleinen Wagens. Die Scheibe zersplitterte, Glasscherben flogen heraus, einige davon Jason ins Gesicht. Er schloß die Augen und hinkte rückwärts.
Die Tür wurde aufgerissen, ein greller Lichtblitz begleitete den Knall. Ein heißer, brennender Schmerz breitete sich in Borowskis rechter Körperhälfte aus. Der Stoff seines Jacketts wurde zerfetzt, Blut durchtränkte sein zerrissenes Hemd. Als er undeutlich eine Gestalt sah, die über den Boden robbte, betätigte er den Abzug. Er feuerte erneut, und die Kugel sprengte den Boden auf. Der Killer war hinter das Auto gekrochen und davongerannt, in das Dunkel einer Parkanlage hinein.
Jason wußte, daß er nicht da bleiben konnte, wo er war; das hätte sein sicheres Todesurteil bedeutet. Sein Bein hinter sich herschleppend, humpelte er zur offenen Wagentür.
«Bleiben Sie drin!«herrschte er Marie St. Jacques an; die Frau hatte in ihrer Panik versucht, aus dem Fahrzeug zu gelangen.»Verdammt! Zurück!«
Ein Schuß; die Kugel bohrte sich in den Kotflügel. Offensichtlich war der Verbrecher zurückgekommen und kauerte nun im Schutz der Bäume. Borowski feuerte zweimal in der Richtung, in der er den Killer vermutete. Danach blieb es still. Jason hatte also nicht getroffen — war sein Gegner überhaupt noch da?
Borowski versuchte, sich langsam aufzurichten. Die Schmerzen, die ihm das bereitete, ließen ihn einen Augenblick unvorsichtig werden. Zwei Schüsse hallten aus der Dunkelheit, eine Kugel prallte von der Fenstereinfassung des Wagens ab. Stahl bohrte sich in seinen Hals; Blut spritzte.
Borowski hatte die Waffe über die Motorhaube gerichtet. Er war hilflos, die Kräfte verließen ihn.
Ein letzter Schuß ertönte, dann hörte Borowski, wie der Mann weglief, konnte ihm aber nicht folgen; der bohrende Schmerz hatte ihn endgültig außer Gefecht gesetzt. Er ließ sich resignierend auf den Boden sinken und war nun bereit aufzugeben.
Was auch immer er sein mochte, es sollte sein.
Die Frau kroch aus dem Wagen. Sie starrte Jason an, und in ihrem Blick mischten sich Unglauben, Furcht und Verwirrung.
«Gehen Sie«, flüsterte er und hoffte, daß sie ihn verstehen konnte.»Dort hinten ist ein Wagen, die Schlüssel stecken. Verschwinden Sie hier. Vielleicht holt er andere, ich weiß nicht.«
«Sie sind meinetwegen gekommen«, sagte sie.
«Hauen Sie ab! Nehmen Sie das Auto, Doktor. Wenn jemand versucht, Sie aufzuhalten, überfahren Sie ihn. Sie müssen zur Polizei… zu der echten, wo man Uniformen trägt. Sie Närrin. «Seine Kehle brannte, sein Magen war eisig kalt. Feuer und Eis
— das war nicht das erste Mal, daß er sie gleichzeitig fühlte. Wo war es nur gewesen?
«Meinetwegen sind Sie zurückgekommen und haben… mir das Leben gerettet«, fuhr sie mit der gleichen hohlen Stimme fort, und die Worte, die sie sprach, schwebten in der Luft.
«Sie irren sich. «Ein Reflex, ein Instinkt aus vergessenen Erinnerungen hat mich gesteuert. Sie sehen, ich weiß die Worte… mir ist inzwischen alles egal. Diese Schmerzen, o mein Gott, diese verdammten Schmerzen!
«Sie waren frei. Sie hätten Ihre Flucht fortsetzen können, aber Sie sind umgekehrt — meinetwegen.«
Er hörte ihre Stimme durch Nebelschwaden des Schmerzes. Sie kniete neben ihm, berührte sein Gesicht, seinen Kopf. Hören Sie auf! Fassen Sie meinen Kopf nicht an! Lassen Sie mich alleine.
«Warum haben Sie das getan?«Das war ihre Stimme. Sie stellte ihm eine Frage. Begriff sie nicht? Er konnte ihr nicht antworten.
Was machte sie? Sie hatte ein Stück Stoff abgerissen und schlang es um seinen Hals… und jetzt noch eines, diesmal größer, ein Stück von ihrem Kleid. Sie hatte seinen Gürtel gelockert und schob das weiche Tuch auf die glühend heiße Haut an seiner rechten Hüfte.
«Das waren nicht Sie.« Er fand wieder Worte und gebrauchte sie schnell. Er wollte den Frieden der Dunkelheit
— so wie er ihn schon einmal gewollt hatte, aber er konnte sich nicht erinnern, wann.
«Dieser Mann… er hatte mich gesehen. Er konnte mich identifizieren. Ihn wollte ich. Und jetzt verschwinden Sie!«
«Das hätten ein halbes Dutzend andere auch gekonnt«, erwiderte sie, und ihre Stimme klang verändert.»Ich glaube Ihnen nicht.«
«Glauben Sie mir!«
Sie stand jetzt über ihm. Dann war sie plötzlich nicht mehr da. Sie war verschwunden. Sie hatte ihn verlassen. Der Friede würde nun schnell kommen; die dunklen, tosenden Wellen würden ihn verschlingen und den Schmerz wegspülen, und ihn schließlich alles vergessen lassen.
Motorengeräusch durchdrang die Stille. Er wollte den Lärm nicht hören, denn er störte seine sehnsüchtigen Phantasien. Dann legte sich eine Hand auf seinen Arm. Dann noch eine. Jemand zog ihn sachte in die Höhe.
«Kommen Sie«, sagte die Stimme,»helfen Sie mir.«
«Lassen Sie mich los!«schrie er. Das war ein Befehl; aber man gehorchte ihm nicht. Das ärgerte ihn. Schließlich waren Befehle dazu da, daß man sie befolgte. Aber nicht immer; irgend etwas sagte ihm das. Da war wieder der Wind, ein Wind an einem anderen Ort, hoch am Nachthimmel. Ein Signal ertönte, ein Licht flammte auf, und er schreckte zusammen.
«Schon gut. Alles in Ordnung«, sagte die Stimme, die nicht auf seine Befehle hören wollte.»Heben Sie den Fuß. Heben Sie ihn…! So ist es gut. Jetzt haben Sie's geschafft. Und jetzt in den Wagen. Lehnen Sie sich zurück… ganz langsam. Fein so.«
Er fiel… fiel in einen pechschwarzen Himmel. Und als der Fall aufhörte, herrschte völlige Stille; er konnte seinen eigenen Atem hören. Und Schritte. Und das Geräusch einer sich schließenden Tür, gefolgt von einem rollenden, mahlenden Geräusch unter ihm, vor ihm, irgendwo.
Als plötzlich ein Lufthauch sein brennendes Gesicht kühlte, verlor er das Gleichgewicht und stürzte wieder, wurde erneut aufgefangen, von einem Körper, der sich gegen ihn stemmte.
Ferne Stimmen drangen an sein Ohr. Langsam zeichneten sich Umrisse ab, das Licht einer Tischlampe erhellte sie. Er befand sich in einem großen Raum und lag zugedeckt auf einem schmalen Bett. In dem Zimmer waren zwei Leute: ein Mann in einem Mantel und eine Frau… Sie trug eine weiße Blu se und einen dunkelroten Rock. Rot war auch ihr Haar…
Marie St. Jacques! Sie stand an der Tür und sprach mit einem Mann, der in der linken Hand eine lederne Tasche hielt. Sie sprachen französisch miteinander.
«In erster Linie braucht er Ruhe«, sagte der Mann.»Falls Sie mich nicht erreichen können, soll jemand anders die Fäden ziehen. In einer Woche kann man sie entfernen, denke ich.«
«Vielen Dank, Doktor.«
«Ich danke Ihnen. Sie sind sehr großzugig gewesen. Ich gehe jetzt. Vielleicht höre ich von Ihnen, vielleicht auch nicht.«
Als der Arzt die Tür hinter sich geschlossen hatte, schob die Frau einen Riegel vor. Sie drehte sich um und sah, daß Borowski sie musterte. Langsam trat sie an sein Bett.
«Können Sie mich hören?«fragte sie.
Er nickte.
«Sie sind verletzt, ziemlich schlimm sogar. Aber wenn Sie sich ruhig verhalten, brauchen Sie nicht in ein Krankenhaus zu gehen. Der Mann, der gerade gegangen ist, war der Arzt. Ich habe ihn mit dem Geld bezahlt, das ich bei Ihnen gefunden habe; wesentlich mehr als vielleicht üblich ist, aber man hat mir gesagt, daß man ihm vertrauen kann. Das war übrigens Ihre Idee. Während wir hierher fuhren, redeten Sie immer wieder davon, daß Sie einen Arzt finden müßten, einen, dessen Stillschweigen man sich erkaufen könne. Sie hatten recht, es war nicht schwer.«
«Wo sind wir?«fragte er mit matter Stimme.
«In einem Dorf namens Lenzburg, etwa dreißig Kilometer von Zürich entfernt. Der Arzt ist aus Wohlen, das ist eine Stadt in der Nähe. Er wird in einer Woche wiederkommen, wenn Sie dann noch da sind.«
«Wie?«Er versuchte, sich aufzurichten, aber seine Kräfte reichten dazu nicht aus.
«Ich will Ihnen sagen, was geschehen ist; das beantwortet vielleicht Ihre Fragen. «Sie stand reglos da und blickte auf ihn hinunter. Ihre Stimme war kontrolliert, als sie fortfuhr.»Eine Bestie hat mich vergewaltigt. Sie hatte Anweisung, mich zu töten. Ich durfte nicht am Leben bleiben. In der Brauerstraße hatten Sie versucht, die Kerle aufzuhalten, und als Ihnen das nicht gelang, riefen Sie mir zu, ich solle schreien, immer wieder schreien. Damit haben Sie riskiert, in diesem Augenblick selbst getötet zu werden. Später kamen Sie irgendwie frei; ich weiß nicht, wie, aber ich weiß, daß Sie dabei sehr schwer verletzt wurden — und dann haben Sie mich gesucht.«
«Ihn«, unterbrach sie Jason, »»ihn wollte ich.«
«Das haben Sie mir bereits gesagt, aber ich glaube Ihnen nicht. Nicht etwa, weil Sie ein schlechter Lügner sind, sondern weil die Tatsachen dagegen sprechen. Zum Beispiel könnte Sie auch der Besitzer des >Drei Alpenhäuser< identifizieren. Dies sind die Fakten. Nein, Sie sind gekommen, um mich zu finden, und haben mir das Leben gerettet.«
«Weiter«, sagte er, und seine Stimme begann langsam kräftiger zu werden.»Was geschah dann?«
«Ich traf eine Entscheidung, die schwierigste, die ich in meinem ganzen Leben zu fällen hatte. Ich glaube, zu solch einer Entscheidung ist man nur fähig, wenn man beinahe gewaltsam sein Leben verloren hat und jemand anderer dieses Leben gerettet hat. Ich entschied mich, Ihnen zu helfen.«
«Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?«
«Das hätte ich beinahe getan, und ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen erklären kann, warum ich es nicht tat. Vielleicht weil man mich vergewaltigt hatte, ich weiß es nicht. Ich bin ehrlich zu Ihnen. Man hat mir immer gesagt, es sei das Schrecklichste, was einer Frau zustoßen kann. Jetzt glaube ich es. Und ich habe die Wut, den Ekel in Ihrer Stimme gehört, als Sie ihn anschrien. Ich werde diesen Augenblick nie mehr vergessen, solange ich lebe.«
«Die Polizei?«wiederholte er.
«Dieser Mann im >Drei Alpenhäuser< hat gesagt, daß die Polizei Sie sucht. «Sie hielt inne.»Ich konnte Sie nicht an die Polizei ausliefern. Nicht nach dem, was Sie für mich getan haben.«
«Obwohl Sie wissen, was ich bin?«fragte er.
«Ich weiß nur, was ich gehört habe, und das paßt nicht zu dem verletzten Mann, der meinetwegen zurückkam und sein Leben aufs Spiel setzte, um mich zu retten.«
«Das ist nicht sehr klug.«
«Das ist das einzige, was ich bin, Mr. Borowski. Ich nehme an, Borowski ist richtig. So hat er Sie genannt. Sehr klug.«
«Ich habe Sie geschlagen. Ich habe gedroht, Sie zu töten.«
«Wenn ich Sie gewesen wäre und man versucht hätte, mich zu töten, hätte ich wahrscheinlich genauso gehandelt — wenn ich dazu imstande gewesen wäre.«
«Also sind Sie aus Zürich herausgefahren?«
«Nicht gleich. Erst mußte ich ruhig werden, mir die nächsten Schritte überlegen. Ich bin sehr methodisch.«
«Langsam merke ich das.«
«Ich war ein Wrack, völlig durcheinander. Ich brauchte neue Kleider, eine Haarbürste, Make-up. Aus einer Telefonzelle am Fluß rief ich jemanden im Hotel an…«
«Den Franzosen? Den Belgier?«unterbrach Jason.
«Nein. Die waren bei dem Bertinelli-Vortrag gewesen. Wenn sie mich auf der Bühne mit Ihnen erkannt hatten, hatten sie vermutlich der Polizei meinen Namen genannt. Nein, ich rief eine Frau an, die unserer Delegation angehörte; sie haßt Bertinelli und war in ihrem Zimmer. Wir haben ein paar Jahre zusammen gearbeitet und sind befreundet. Ich habe ihr gesagt, falls sie irgend etwas über mich gehört haben sollte, es fehlte mir nichts. Und falls sich jemand nach mir erkundigte, sollte sie sagen, ich hätte den Bertinelli-Vortrag vorzeitig verlassen und sei den Abend über bei einem Freund. Womöglich bleibe ich über Nacht.«
«Methodisch«, sagte Borowski.
«Ja. «Marie lächelte leicht.»Ich bat sie, auf mein Zimmer zu gehen — wir sind nur zwei Türen voneinander entfernt, und das Zimmermädchen weiß, daß wir befreundet sind, und wenn niemand dort wäre, Kleider und Make-up in meinen Koffer zu packen und wieder in ihr Zimmer zurückzukehren. Ich würde in fünf Minuten noch einmal anrufen.«
«Sie hat das einfach akzeptiert?«
«Ich sagte Ihnen doch, wir sind befreundet. «Marie hielt erneut inne.»Wahrscheinlich dachte sie, ich hätte die Wahrheit gesagt.«
«Weiter.«
«Als ich wieder anrief, hatte sie meine Sachen gepackt bei sich.«
«Was bedeutet, daß die beiden anderen Delegierten der Polizei Ihren Namen nicht genannt haben; sonst hätte man Ihr Zimmer beobachtet.«
«Ich weiß nicht, ob sie das inzwischen getan haben. Wenn ja, hat man meine Freundin sicher verhört. Dann hat sie bestimmt gesagt, was ich ihr aufgetragen habe.«
«Sie war im >Carillon<, und Sie waren unten am Fluß? Wie bekamen Sie Ihre Sachen?«
«Das war ganz einfach, nur ein wenig seltsam vielleicht. Sie sprach mit dem Zimmermädchen und sagte ihr, ich ginge einem Mann im Hotel aus dem Wege und hätte mich mit einem anderen draußen getroffen. Nun würde ich meinen Koffer brauchen, und ob sie vielleicht wüßte, wie man ihn zu mir bringen könnte. Zu einem Wagen… unten am Fluß. Ein Dienstbote hat ihn mir gebracht.«
«War er nicht überrascht darüber, wie Sie aussahen?«
«Er hatte nicht viel Gelegenheit, etwas zu sehen. Bevor er erschien, hatte ich den Kofferraum geöffnet und eine Zehnfrankennote auf das Reserverad gelegt. Ich blieb im Wagen und sagte ihm, er solle den Koffer hinten hineinlegen.«
«Sie sind nicht methodisch, Sie sind bemerkenswert!«
«Methodisch genügt.«
«Wie fanden Sie den Arzt?«
«Hier. Durch den Concierge, oder wie man das in der Schweiz nennt. Ich hatte Sie ja, so gut ich konnte, verbunden und die Blutung gestillt. Ich verstehe ein wenig von Erster Hilfe. Da ich Sie teilweise entkleiden mußte, fand ich das Geld. Und dann begriff ich, was Sie meinten, als Sie sagten, ich solle einen Arzt finden, der für Geld schweigt. Sie haben viele Tausende von Dollars bei sich. Ich kenne die Wechselkurse.«
«Das ist nur der Anfang.«
«Was?«
«Schon gut. «Wieder versuchte er, sich zu erheben; es war zu schwierig.»Haben Sie keine Angst vor mir? Angst vor dem, was Sie getan haben?«
«Natürlich habe ich Angst. Aber ich weiß auch, was Sie für mich getan haben.«
«Sie sind vertrauensvoller, als ich das unter den gegebenen Umständen wäre.«
«Dann kennen Sie vielleicht die Umstände nicht. Sie sind noch sehr schwach, und ich habe die Pistole. Außerdem haben Sie keine Kleider.«
«Keine?«
«Nicht einmal eine Unterhose. Ich habe alles weggeworfen. Sie würden ziemlich komisch aussehen, wenn Sie mit einem Geldgurt aus Plastik bekleidet über die Straße liefen.«
Borowski lachte trotz seiner Schmerzen und mußte an La Ciotat und den Marquis de Chamford denken.»Methodisch«, sagte er.
«Sehr.«
«Und was passiert jetzt?«
«Ich habe den Namen des Arztes aufgeschrieben und eine Wochenmiete für das Zimmer bezahlt. Der Concierge bringt Ihnen heute mittag ein warmes Essen. Ich bleibe bis zum späten Vormittag hier. Es ist fast sechs Uhr, es sollte bald hell werden. Dann fahre ich ins Hotel zurück, hole mir meine restlichen Sachen und meine Flugtickets und werde mir große Mühe geben, Sie nicht zu erwähnen.«
«Und wenn Sie das nicht können? Wenn man Sie im Vortragssaal erkannt hat?«
«Dann werde ich es ableugnen. Es war finster. Das ganze Hotel war in Panik.«
«Jetzt sind Sie nicht methodisch. Zumindest nicht so methodisch, wie das die Züricher Polizei wäre. Ich weiß einen besseren Weg. Rufen Sie Ihre Freundin an und sagen Sie, sie soll Ihre restlichen Kleider einpacken und Ihre Rechnung bezahlen. Nehmen Sie sich von mir soviel Geld Sie wollen und fliegen Sie mit der nächsten Maschine zurück nach Kanada. Aus der Entfernung lügt es sich besser.«
Sie sah ihn eine Weile schweigend an und nickte dann.»Das klingt sehr verlockend.«
«Das ist sehr logisch.«
Sie ließ ihren Blick nicht von ihm, und ihre Augen verrieten, wie die Spannung in ihr wuchs. Schließlich wandte sie sich ab, trat ans Fenster und schaute hinaus auf die ersten Strahlen der Morgensonne. Er beobachtete, wie sich ihr Gesicht im bleichen, rosafarbenen Schein der Morgendämmerung immer mehr versteinerte. Er kannte den tieferen Grund: Sie hatte getan, was sie geglaubt hatte, tun zu müssen, weil er sie vor Schrecklichem bewahrt hatte. Aber etwas in ihr hatte gegen diesen Entschluß rebelliert. Ihr Kopf fuhr zu ihm herum, und ihre Augen funkelten.
«Wer sind Sie?«
«Sie haben gehört, was die gesagt haben.«
«Ich weiß, was ich gesehen habe, was ich spüre!«
«Versuchen Sie nicht, Ihr Verhalten zu rechtfertigen. Sie haben es einfach getan, das ist alles. Lassen Sie es sein.«
Lassen Sie es sein! O Gott, hätten Sie mich nur in Ruhe gelassen! Dann wäre Frieden gewesen. Aber jetzt haben Sie mir einen Teil meines Lebens zurückgegeben, und ich muß erneut kämpfen, mich wieder der Welt stellen.
Plötzlich stand sie am Fußende des Bettes, die Waffe in der Hand. Sie richtete sie auf ihn, und ihre Stimme zitterte.»Soll ich es also ungeschehen machen? Soll ich die Polizei anrufen, damit sie kommen und Sie holen?«
«Vor ein paar Stunden hätte ich gesagt: Nur zu, tun Sie es. Jetzt bringe ich es nicht mehr über mich.«
«Wer sind Sie dann?«
«Man sagt, mein Name wäre Borowski, Jason Charles Borowski.«
«Was soll das heißen? >Man sagt«
Er starrte die Pistole an, den dunklen Kreis ihrer Mündung. Ihm blieb nichts als die Wahrheit — so wie er die Wahrheit kannte.
«Was das bedeutet?«wiederholte er.»Sie wissen fast genausoviel wie ich, Doktor.«
«Was?«
«Sie sollen es hören. Vielleicht fühlen Sie sich dann besser— oder schlimmer. Aber meinetwegen, ich weiß ohnehin nicht, was ich Ihnen sonst sagen sollte.«
Sie ließ die Waffe sinken.
«Mein Leben begann vor fünf Monaten auf einer kleinen Insel im Mittelmeer, die Ile de Port Noir heißt… «
Die aufgehende Sonne hatte die Höhe der Baumwipfel vor dem Haus erklommen. Ihre Strahlen wurden von den windzerzausten Ästen gefiltert, drangen durch die Fenster und besprenkelten die Wände mit unregelmäßigen Lichtflecken. Borowski lag erschöpft auf dem Kissen. Er hatte seine Erzählung beendet.
Marie saß auf der anderen Seite des Zimmers in einem Ledersessel, Zigaretten und Pistole auf einem Tischchen zu ihrer Linken. Sie hatte sich kaum bewegt, sein Gesicht nicht aus den Augen gelassen; selbst wenn sie rauchte, behielt sie den Blick auf ihn gerichtet.
«Zwei Sätze haben Sie auffallend häufig gesprochen«, sagte sie mit weicher Stimme und ließ dann lange Pausen zwischen den Worten:»>Ich weiß nicht<… >Ich wollte, ich wüßte das<. Und als Sie längere Zeit etwas Imaginäres anstarrten, habe ich gefragt: Was ist denn? Was tun Sie jetzt? Und dann haben Sie es wieder gesagt: >Ich wollte, ich wüßte es.< Mein Gott, was Sie durchgemacht haben… Was Sie jetzt noch durchmachen.«
«Nach all dem, was ich Ihnen angetan habe, wie können Sie da überhaupt an das denken, was mir widerfahren ist?
«Wundern Sie sich nun«, sagte sie geistesabwesend und runzelte die Stirn. Nach einer Weile fuhr sie fort:»Auf der Löwenstraße, ehe wir zu Chernaks Wohnung hinaufgingen, habe ich Sie gebeten, mich nicht zu zwingen mitzukommen. Ich war überzeugt, daß Sie mich töten würden, wenn ich noch mehr erfahre. Und da haben Sie etwas sehr Seltsames gesagt: >Was Sie gehört haben, gibt für mich ebensowenig Sinn ab wie für Sie. Vielleicht noch weniger…< Da dachte ich, Sie wären verrückt.«
«Was ich habe, ist auch eine Art der Verrücktheit. Eine geistig gesunde Person kann sich erinnern — ich nicht.«
«Warum haben Sie mir nicht erzählt, daß Chernak versucht hat, Sie zu töten?«
«Dafür war keine Zeit. Außerdem hielt ich es nicht für wichtig.«
«Das war es in diesem Augenblick für Sie auch nicht. Für mich aber schon.«
«Warum?«
«Weil ich mich an der unsinnigen Hoffnung festklammerte, daß Sie nur auf jemanden schießen würden, der bereits versucht hatte, Sie zu töten.«
«Aber das hat er doch. Ich bin verwundet worden.«
«Ich kannte die Reihenfolge nicht; das hatten Sie mir nicht gesagt.«
«Das verstehe ich nicht.«
Marie zündete sich eine Zigarette an.»Das ist schwer zu erklären. In der ganzen Zeit, in der Sie mich als Geisel festhielten, selbst als Sie mich schlugen und mich gewaltsam mitzerrten und mir die Pistole an den Kopf hielten — weiß Gott, ich hatte Angst —, dachte ich immer, ich sähe etwas in Ihren Augen. Nennen Sie es Widerwillen; mir fällt nichts Besseres ein.«
«Das reicht schon. Worauf wollen Sie hinaus?«
«Ich weiß nicht genau. Vielleicht bezieht es sich auf etwas, was Sie in der Nische im >Drei Alpenhäuser< sagten. Als der dicke Mann zu uns herüberkam, gaben Sie mir den Rat, ich solle mich an die Wand lehnen und mein Gesicht beschirmen. >Zu Ihrem Nutzem, sagten Sie. >Er braucht Sie nicht unbedingt wiederzuerkennen<.«
«Das brauchte er auch nicht.«
«>Zu Ihren Nutzem — so denkt kein skrupelloser Mörder. Ich glaube, an dieser Vorstellung hielt ich mich fest — vielleicht um den Verstand zu behalten — und an dem Ausdruck Ihrer Augen.«
«Ich begreife immer noch nicht.«
«Der Mann mit der goldgeränderten Brille, der mich überzeugt hat, daß er Polizist wäre, sagte, Sie wären ein brutaler Mörder, den man fassen müsse, ehe er wieder mordete. Wenn Chernak nicht gewesen wäre, hätte ich ihm kein Wort geglaubt. Die Polizei, die ich bisher gekannt hatte, verhält sich nicht so; sie hätte sicher nicht so hemmungslos herumgeballert. Und Sie waren ein Mann, der um sein Leben rannte, der immer noch um sein Leben rennt — aber Sie sind kein Mörder.«
Borowski hob die Hand,»Entschuldigen Sie, das kommt mir wie ein Urteil vor, das auf falscher Dankbarkeit basiert. Sie sagen, Sie würden sich an Fakten halten — dann schauen Sie sich sie auch an. Ich wiederhole: Sie haben gehört, was die gesagt haben — unabhängig von dem, was Sie glauben, gefühlt oder gesehen zu haben. Man hat Umschläge mit Geld gefüllt und sie mir ausgehändigt, damit ich gewisse Pflichten erfülle.
Ich würde sagen, daß diese Pflichten ziemlich klar waren und ich sie angenommen habe. Ich hatte ein Nummernkonto bei der Gemeinschaftsbank, auf dem etwa fünf Millionen Dollar gutgeschrieben waren. Woher habe ich sie? Woher bekommt ein Mann wie ich — mit meinen Talenten — so viel Geld?«Jason starrte zur Decke. Jetzt kam der Schmerz wieder und gleichzeitig das Gefühl der Nutzlosigkeit.»Das sind die Fakten, Doktor St. Jacques. Es ist Zeit, daß Sie gehen.«
Marie erhob sich aus ihrem Stuhl und drückte die Zigarette aus.
Dann nahm sie die Pistole und trat an das Bett.»Sie sind sehr darauf erpicht, sich selbst zu verurteilen, nicht wahr?«
«Ich respektiere Fakten.«
«Wenn das stimmt, was Sie sagen, habe ich auch eine Verpflichtung. Als gesetzestreues Mitglied unserer Gesellschaft muß ich die Züricher Polizei anrufen und ihr sagen, wo Sie sind.«
Borowski sah sie an.»Ich dachte…«
«Warum nicht?«unterbrach sie ihn.»Sie sind ein verurteilter Mann, der es hinter sich bringen will, nicht wahr? Sie sprechen mit solcher Endgültigkeit und, verzeihen Sie mir, mit einer hübschen Portion Selbstmitleid, mit der Sie wahrscheinlich an meine — wie haben Sie das genannt? — falsche Dankbarkeit appellieren wollen. Nun, ich glaube, Sie sollten besser begreifen, daß ich nicht dumm bin. Wenn ich nur einen Augenblick überzeugt wäre, Sie wären ein abgefeimter Killer, dann wäre ich nicht hier und Sie auch nicht. Tatsachen, die nicht belegt werden können, sind keine Tatsachen. Sie aber haben keine Fakten genannt, sondern Sie haben Schlüsse gezogen, die auf Aussagen von Männern beruhen, von denen Sie wissen, daß sie nichts taugen.«
«Und ein ominöses Bankkonto mit fünf Millionen Dollar. Vergessen Sie das nicht.«
«Wie könnte ich? Geld ist schließlich mein Beruf. Vielleicht läßt sich dieses Konto nicht auf für Sie angenehme Art erklären, aber immerhin ist mit dem Konto eine Vorschrift verbunden, die es einigermaßen legitim erscheinen läßt. Jedermann, der sich als Direktor einer Firma ausweisen kann, die Soundso Seventy-One heißt, hat das Recht, Einsicht zu nehmen und Geld abzuheben. Das läßt noch lange nicht auf einen gedungenen Mörder schließen.«
«Erst muß die Firma genannt werden; sie ist aber nirgendwo
verzeichnet.«
«In einem Telefonbuch? Sie sind naiv. Kommen wir nun schnell zum Ausgangspunkt. Soll ich wirklich die Polizei anrufen?«
«Sie kennen meine Antwort. Ich kann Sie nicht hindern, aber ich will nicht, daß Sie das tun.«
Marie senkte die Waffe.»Keine Angst, ich habe es mir längst anders überlegt: Aus dem gleichen Grund, aus dem Sie es nicht wollen. Ich glaube Ihren Worten nämlich ebensowenig wie Sie.«
«Und wenn Sie unrecht haben?«
«Dann mache ich einen schrecklichen Fehler.«
«Danke. Wo ist das Geld?«
«Auf der Kommode. In Ihrem Paß und in Ihrer Brieftasche. Dort liegt auch der Zettel mit dem Namen des Arztes und die Quittung für das Zimmer.«
«Kann ich bitte den Paß haben? Da hatte ich die Schweizer Banknoten reingelegt.«
«Ich weiß. «Marie holte den Paß.»Ich habe dem Concierge dreihundert Franken für das Zimmer und zweihundert für die Adresse des Arztes gegeben. Der Arzt hat vierhundertfünfzig Franken verlangt, und ich habe dann noch hundertfünfzig daraufgelegt. Insgesamt habe ich elfhundert Franken ausgegeben.«
«Sie brauchen nicht abzurechnen«, sagte er.
«Sie sollten es aber wissen. Was werden Sie tun?«
«Ihnen Geld geben, damit Sie nach Kanada zurückfliegen können.«
«Ich meine, nachher.«
«Sehen, wie ich mich fühle. Vielleicht bezahle ich den Conderge dafür, daß er mir Kleider kauft. Ich komme schon zurecht. «Er holte ein paar große Scheine heraus und hielt sie ihr hin.
«Das sind mehr als fünfzigtausend Franken. Sie haben meinetwegen eine Menge durchgemacht.«
Marie St. Jacques sah das Geld an, dann die Pistole, die sie in der linken Hand hielt.»Ich will Ihr Geld nicht«, sagte sie und legte die Waffe auf das Tischchen neben dem Bett.
«Was soll das heißen?«
Sie wandte sich ab und ging zu dem Sessel zurück, drehte sich um und sah ihn an, während sie sich setzte.
«Daß ich Ihnen helfen will.«
«Jetzt warten Sie…«
«Bitte«, unterbrach sie ihn.»Bitte, stellen Sie mir keine Fragen. Sagen Sie eine Weile gar nichts.«