Es war zehn Minuten vor drei Uhr morgens, als Borowski an die Empfangstheke der >Auberge du Coin< trat, während Marie direkt zum Eingang hinsteuerte. Zu Jasons Erleichterung lagen keine Zeitungen auf der Theke, aber der Nachtpförtner, der dahinter saß, war derselbe wie der andere in dem Hotel im Zentrum von Paris; ein untersetzter Mann mit spärlichem Haarwuchs, der sich mit halbgeschlossenen Augen in seinen Sessel zurücklehnte, die Arme über der Brust verschränkt, benommen von der drückenden Schwere dieser endlos scheinenden Nacht. Aber an diese Nacht dachte Borowski, würde er sich wohl noch lange erinnern — weit über den Schaden in dem Zimmer im Obergeschoß hinaus, den man erst am Morgen entdecken würde.
«Ich habe gerade Rouen angerufen«, sagte Jason und stützte sich mit beiden Händen auf die Theke. Er war verärgert und wütend darüber, daß es in seiner persönlichen Welt Dinge gab, die er nicht unter Kontrolle hatte.»Ich muß hier sofort weg und mir einen Wagen mieten.«
«Warum nicht?«knurrte der Mann und erhob sich.»Was würden Sie denn vorziehen, Monsieur? Einen goldenen Streitwagen oder einen fliegenden Teppich?«
«Wie bitte?«
«Wir vermieten hier Zimmer, keine Automobile.«
«Ich muß in aller Herrgottsfrühe in Rouen sein.«
«Unmöglich. Es sei denn, Sie finden ein Taxi, das verrückt genug ist, Sie um diese Stunde dorthin zu bringen.«
«Ich glaube, Sie verstehen mich nicht. Wenn ich bis acht Uhr nicht in meinem Büro bin, ist es eine Katastrophe, ich bin ruiniert. Ich zahle gut…
«Das ist Ihr Problem, Monsieur.«
«Aber es gibt doch sicherlich jemanden, der bereit wäre, mir seinen Wagen für, sagen wir… tausend, fünfzehnhundert Franc zu leihen?«
«Tausend… fünfzehnhundert, Monsieur?«Die halbgeschlossenen Augen des Mannes weiteten sich. Heiser fragte er:»In bar, Monsieur.«
«Natürlich. Meine Begleiterin würde ihn morgen Abend zurückbringen.«
«Das pressiert nicht.«
«Wie bitte? Es gibt natürlich keinen Grund, nicht auch ein Taxi zu mieten. Diskretion muß schließlich bezahlt werden.«
«Ich wußte nicht, wo ich eines erreichen sollte«, unterbrach ihn der Mann erregt. Man sah ihm an, daß er bemüht war, ihn von dieser Absicht abzubringen.»Andererseits, mein Renault ist nicht gerade neu, und vielleicht auch nicht der schnellste, aber er fährt.«
Das Chamäleon hatte wieder seine Farben geändert und war als jemand akzeptiert worden, der es nicht war. Aber er wußte jetzt, wer er war und er begriff.
Der Tag brach an. Aber da war kein warmes Zimmer in einem Dorfgasthof, keine Tapete, auf die das Licht der Morgensonne durchs Fenster seine Muster zeichnete, weich und von den Blättern draußen gefiltert. Vielmehr brachen die ersten Sonnenstrahlen aus dem noch verhangenen Himmel hervor und ließen die Felder und Hügel von Saint-Germain-en-Laye rosarot aufleuchten. Sie saßen in dem kleinen Wagen, den sie am Rand einer Seitenstraße abgestellt hatten, und der Rauch ihrer Zigaretten kräuselte sich durch die halbgeöffneten Fenster.
Er hatte jenen ersten Bericht in der Schweiz mit den Worten begonnen: Mein Leben begann vor sechs Monaten auf einer kleinen Insel im Mittelmeer, die sich Ile de Port Noir nennt…
Er hatte alles erzählt, nichts ausgelassen, woran er sich erinnern konnte, auch die schrecklichen Bilder nicht, die vor seinen Augen aufgezogen waren, als er die Worte hörte, die Jacqueline Lavier in dem von Kandelabern beleuchteten Restaurant in Argenteuil sprach. Namen, Ereignisse, Städte… Morde.
«Alles paßt. Es gab nichts, das ich nicht wußte, nichts, das nicht irgendwo in meinem Hirn lauerte und versuchte, Gestalt Einzunehmen. Es war die Wahrheit.«
«Es war die Wahrheit«, wiederholte Marie.
Er sah sie scharf an.»Wir hatten unrecht, begreifst du nicht?«
«Mag sein. Aber wir hatten trotzdem recht. Du und ich.«
«Worin?«
«Was dich betrifft. Ich muß es noch einmal sagen, ruhig und logisch. Du hast mir dein Leben opfern wollen, ehe du mich kanntest; das war nicht die Entscheidung eines Mannes, so wie du ihn mir beschrieben hattest. Wenn es jenen Mann tatsächlich einmal gegeben hat, dann gibt es ihn jetzt nicht mehr. «Maries Augen flehten. Ihre Stimme jedoch blieb ruhig und kontrolliert.»Du hast es selbst gesagt, Jason. >Das, woran ein Mann sich nicht erinnern kann, existiert nicht. Für ihn.< Vielleicht mußt du dem ins Auge sehen. Geh, bitte, geh weg.«
Borowski nickte; der Moment, den er befürchtet hatte, war eingetreten.»Ja«, sagte er.»Aber alleine. Nicht mit dir.«
Marie inhalierte den Rauch ihrer Zigarette und musterte ihn ängstlich. Ihre Hand zitterte.»Ich verstehe. Das ist dann also deine Entscheidung?«
«Das muß sie sein.«
«Du wirst verschwinden wie ein Held, damit ich nicht mit hineingezogen werde.«
«Das muß ich.«
«Vielen Dank. Und wer, zum Teufel, bildest du dir eigentlich ein, daß du bist?«
«Was?«
«Wer, zum Teufel, bildest du dir eigentlich ein, daß du bistl«
«Ich bin ein Mann, den sie Cain nennen. Ich werde von Regierungen — von der Polizei — von Asien bis Europa gesucht. Männer in Washington wollen mich töten aufgrund dessen, was sie glauben, das ich über dieses Medusa weiß; ein Terrorist namens Carlos möchte, daß ich eine Kugel in den Hals bekomme, als Rache für das, was ich ihm einmal angetan habe. Denk einen Augenblick darüber nach. Wie lange glaubst du eigentlich, daß ich meine Flucht fortsetzen kann, ehe mich jemand von diesen Jägern, die mich durch die ganze Welt hetzen, findet, mich in eine Falle lockt, mich tötet? Willst du, daß dein Leben so endet?«
«Du lieber Gott, nein!«schrie Marie.»Ich sehne mich danach, den Rest meines Lebens in einem Schweizer Gefängnis zu verbringen oder wegen Dingen gehängt zu werden, mit denen ich nicht das geringste zu tun habe, die ich nie tat!«
«Es gibt eine Möglichkeit, dir zu helfen.«
«Wie?«Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus.
«Um Himmels willen, was nützt das schon? Ein Geständnis. Vielleicht stelle ich mich auch, ich weiß noch nicht, aber ich kann es jedenfalls tun! Ich kann dein Leben wieder in Ordnung bringen. Ich muß es!«
«Aber nicht so.«
«Warum nicht?«
Marie streichelte sein Gesicht und ihre Stimme war weich.»Weil ich gerade wieder bewiesen habe, worauf ich hinauswill. Der Mann namens Cain würde nie das tun, was du gerade angeboten hast. Für niemanden.«
«Ich bin Cain!«
«Selbst wenn man mich zwingen würde, zuzugeben, daß du es warst, bist du es jetzt nicht.«
«Die allerletzte Rehabilitierung? Eine selbst zugefügte Lobotomie? Totaler Gedächtnisverlust? Das entspricht zufälligerweise der Wahrheit, wird aber niemanden aufhalten, der nach mir sucht. Und es wird ihn — oder sie — nicht daran hindern, einen Abzug zu betätigen.«
«Das ist eine Lösung, die ich ablehne.«
«Dann siehst du die Fakten nicht.«
«Ich sehe wohl Fakten, zwei, die du anscheinend außer acht gelassen hast, und die mein Leben veränderten, weil ich schuld daran bin. Zwei Männer sind auf brutale Art getötet worden, weil sie zwischen dir und einer Botschaft standen, die jemand versuchte dir zukommen zu lassen. Durch mich.«
«Du hast ja Corbeliers Botschaft gesehen. Wie viele Kugellöcher waren es denn? Zehn, fünfzehn?«
«Dann hat man ihn mißbraucht! Du hast ihn am Telefon gehört und ich auch. Er hat nicht gelogen; er hat versucht, uns zu helfen. Wenn nicht dir, dann ganz sicher mir.«
«Das ist… möglich.«
«Alles ist möglich. Ich habe auch keine Antwort, Jason. Es sind Dinge, die sich nicht erklären lassen — die aber erklärt werden müssen. Du hast nie Sehnsucht verspürt nach demjenigen, wie du sagst, der du vielleicht einmal gewesen sein könntest. Und das paßt nicht in das Bild jenes Mannes. Oder du bist nicht jener Mann.«
«Ich bin es aber.«
«Hör mir zu. Du bist mir sehr lieb, mein Schatz, und das könnte mich blenden, das weiß ich. Aber ich kenne mich. Ich bin kein Blumenkind mit großen, verträumten Augen; ich habe ein Stück von dieser Welt gesehen, und ich schau mir die Leute, die mir gefallen, sehr genau an. Vielleicht, um mich immer wieder davon zu überzeugen, daß mein Instinkt mich nicht getrogen hat…«Sie hielt einen Augenblick inne und trat einen Schritt zurück.»Ich habe zugesehen, wie ein Mann gequält wurde — und sich selbst gequält hat — und nicht bereit war, sich aufzulehnen. Mag sein, daß du es in deinem Inneren tust, aber du läßt nicht zu, daß es jemanden gibt, der mit dir teilen möchte. Statt dessen bohrst und gräbst du in dir und versuchst zu begreifen. Und das, mein Freund, ist eben nicht das Wesen eines kaltblütigen Killers; ganz und gar nicht. Ich weiß nicht, was du vorher warst und welcher Verbrechen du dich damals schuldig gemacht hast, aber sie spielen jetzt keine Rolle. Ich kenne mich da genau. Ich könnte den Mann nicht lieben, von dem du sagst, daß du es bist. Ich liebe den Mann, von dem ich weiß, daß du es bist. Das hast du mir gerade wieder bestätigt. Ein Killer würde mir das Angebot nicht machen, das du gerade gemacht hast. Und dieses Angebot, Sir, ist mit allem Respekt abgelehnt.«
«Eine Närrin bist du, eine gottverdammte Närrin!«platzte Jason los.»Ich kann dir helfen, du kannst mir nicht helfen! Um Himmels willen, gib mir doch die Chance!«
«Nein! Nicht so…«Plötzlich verstummte Marie, nur ihre Lippen bewegten sich.»Ich glaube, ich habe sie uns gerade gegeben«, sagte sie im Flüsterton.
«Was uns gegeben?«fragte Borowski ärgerlich.
«Ich habe uns beiden die Chance gegeben. «Sie wandte sich ihm wieder zu.»Ich wollte es schon seit einiger Zeit.«
«Was, zum Teufel, soll das heißen? Ich versteh' dich diesmal wirklich nicht.«
«Deine Verbrechen… wir werden die anderen täuschen und so tun, als kämen sie tatsächlich auf dein Konto.«
«Es sind meine Verbrechen.«
«Moment mal. Angenommen, sie existieren, aber nicht du hast sie begangen? Angenommen, die Beweise sind fabriziert worden — ebenso raffiniert und professionell, wie man gegen mich in Zürich Beweise fabriziert hat — aber die Tat hat ein anderer begangen. Jason — du weißt nicht, wann du dein Gedächtnis verloren hast.«
«Port Noir.«
«Da war es nicht, im Gegenteil, da begannst du, dich bruchstückhaft zu erinnern. Es war vor Port Noir; da liegt das Geheimnis begraben. Es zu lüften, bedeutet dir gerecht zu werden, den Widerspruch zwischen dir und dem Mann, für den die Leute dich halten, zu erklären.«
«Das stimmt nicht. Die Erinnerung hilft mir nicht weiter, es sind nur Bilder, die wie ein Film an mir vorüberziehen.«
«Vielleicht haben sie eine Gehirnwäsche mit dir gemacht«, meinte Marie.»So lange, bis da nichts anderes mehr war. Fotografien, Tonaufzeichnungen, visuelle und akustische Reize.«
«Du beschreibst da so etwas wie einen gut funktionierenden Roboter, der gehen kann, und dem man ein Gedächtnis eingepflanzt hat. Das bin nicht ich.«
Sie sah ihn an, und ihre Stimme klang weich:»Ich beschreibe einen intelligenten, sehr kranken Mann, dessen Vergangenheit einigen Männern sehr gelegen kam. Weißt du, wo man einen solchen Mann mit Leichtigkeit finden kann? In Krankenhäusern, in Privatsanatorien, in militärischen Krankenstationen. «Sie hielt inne, um dann hastig weiterzusprechen.»Jener Zeitungsartikel hat noch etwas Wahres berichtet. Ich kenne mich einigermaßen gut mit Computern aus; wie jeder in meinem Beruf. Wenn ich ein Kurvenbeispiel suchen würde, das einzelne voneinander isolierte Faktoren verbindet, wüßte ich wie. Umgekehrt könnte jemand, der einen Menschen sucht, der sich wegen Amnesie im Krankenhaus befindet, einen Mann, der über gewisse Fähigkeiten, Sprachkenntnisse und äußerliche Merkmale verfügt, in den medizinischen Datenbanken geeignete Kandidaten finden. Weiß Gott, sicher nicht viele in deinem Fall; vielleicht nur ein paar. Vielleicht sogar nur einen.«
Borowski blickte auf die Landschaft hinaus und versuchte, das Labyrinth seiner Gedanken zu durchdringen, versuchte, sich an den Hoffnungsschimmer zu klammern, den sie in ihm verursachte.»Du behauptest also, ich sei eine reproduzierte Illusion.«
«Darauf läuft es hinaus, aber das meine ich nicht. Ich sage, daß es möglich ist, daß man dich einer Gehirnwäsche unterzogen hat. Das würde vieles erklären. «Sie berührte seine Hand.»Du sagst, es gibt Zeiten, wo die Vergangenheit aus dir herausplatzen — deinen Kopf sprengen will.«.
«Worte — Namen — Orte — lösen Dinge aus.«
«Jason, ist es nicht möglich, daß sie die falschen Dinge auslösen? Die Dinge, die man dir immer wieder eingetrichtert hat, die du aber nicht nachempfinden kannst, weil sie nicht du sind.«
«Das bezweifle ich. Ich habe gesehen, was ich tun kann. Und das war nicht das erste Mal.«
«Da gibt es andere Gründe!.. Verdammt, ich kämpfe um mein Leben — um unser Leben!.. Schön! Du kannst denken, du kannst fühlen. Dann denke jetzt, fühle jetzt! Sieh mich an und sag mir, daß du in dich hineingesehen hast, in deine Gedanken und Gefühle, und daß du weißt, daß du ein Mörder namens Cain bist. Daß kein Zweifel darüber besteht! Wenn du das tun kannst — wirklich tun kannst — dann bring mich nach Zürich zurück, nimm alle Schuld auf dich und verschwinde aus meinem Leben! Aber wenn du es nicht kannst, dann bleibe bei mir und laß mich dir helfen. Und liebe mich, um Gottes willen. Liebe mich, Jason.«
Borowski nahm ihre Hand, hielt sie fest, so wie man die Hand eines zitternden, verwirrten Kindes nimmt.»So einfach geht das nicht. Ich habe das Konto auf der Gemeinschaftsbank gesehen; die Eintragungen reichen weit zurück. Sie stimmen mit all den Dingen überein, die ich erfahren habe.«
«Aber dieses Konto, diese Eintragungen — die hätten gestern oder letzte Woche oder vor sechs Monaten geschehen können. Alles, was du über dich gehört oder gelesen hast, kann Teil eines teuflischen Plans sein, den die ausgeheckt haben. Die wollen, daß du Cains Platz einnimmst. Du bist nicht Cain, aber sie wollen, daß du das glaubst, wollen, daß andere glauben, daß du Cain bist. Aber es gibt jemanden, der weiß, daß du nicht Cain bist, und der versucht, dir das zu sagen. Ich habe auch meine Beweise, mein Geliebter lebt, aber zwei Freunde sind tot, weil sie sich zwischen dich und denjenigen stellten, der dir die Nachricht sandte, der versuchte, dein Leben zu retten. Sie sind von denselben Leuten getötet worden, die dich anstelle von Cain Carlos in die Hände treiben wollen. Du hast vorher gesagt, alles paßte zusammen. Das hat es nicht, Jason. Aber das jetzt paßt! Es erklärt dich.«
«Eine leere Schale, die sich an nichts erinnert? Die von Dämonen heimgesucht wird, Dämonen, die in seinem Inneren herumlaufen und gegen die Wände schlagen? Keine angenehme Aussicht.«
«Das sind keine Dämonen, Darling. Das bist du — Bruchstücke deiner Erinnerung, die wütend, ärgerlich sind, schreien und hinaus wollen, weil sie nicht in die Schale gehören, die du ihnen gegeben hast.«
«Und wenn ich diese Schale kaputtmache, was finde ich dann?«
«Wahrheit. Manches wird dir gut vorkommen, manches schlecht, und viele Wunden werden dich schmerzen. Aber Cain wird nicht da sein, das verspreche ich dir. Ich glaube an dich, Darling. Bitte, gib nicht auf.«
Er verlor nicht die Fassung. Zwischen ihnen war etwas wie eine gläserne Wand.»Und wenn wir uns irren? Endgültig! Was dann?«
«Dann verlaß mich sofort. Oder töte mich. Mir ist es gleichgültig.«
«Ich liebe dich.«
«Ich weiß. Deshalb habe ich keine Angst.«
«Ich habe im Büro der Lavier zwei Telefonnummern gefunden. Die erste in Zürich, die andere hier in Paris. Mit etwas Glück führen mich diese Nummern auf die richtige Spur.«
«New York? Treadstone?«
«Ja. Dort liegt die Antwort. Wenn ich nicht Cain bin, dann weiß derjenige, dem diese Nummer gehört, wer ich bin.«
Sie fuhren nach Paris zurück, weil sie der Meinung waren, innerhalb der Menschenmassen weniger aufzufallen, als in einem einsam gelegenen Landgasthof. Ein blonder Mann mit einer Schildpattbrille und eine Frau, deren herbe, aparte Schönheit etwas streng wirkte und die das Haar wie eine Studentin der Sorbonne in einem Knoten im Nacken trug, würden in Montmartre nicht auffallen. Sie nahmen ein Zimmer im >Terrasse< an der Rue de Maistre und trugen sich als Ehepaar aus Brüssel ein.
Als man ihnen ihr Zimmer zugewiesen hatte, verharrten sie eine Weile. Sie schwiegen, weil ihnen Worte überflüssig erschienen. Sie sahen sich an und umarmten sich. Die Welt, die ihnen keinen Frieden gönnte, die sie dazu zwang, sich außerhalb der menschlichen Gemeinschaft zu bewegen, versank um sie herum. In diesem Augenblick mußte Borowski Borowski sein.»Wir wollen schlafen«, sagte er.»Schlafen. Es wird ein langer Tag werden.«
Sie liebten sich, sanft und zärtlich. In der Geborgenheit des Bettes gaben sie sich einander vorbehaltlos hin. Plötzlich mußten sie beide kichern. Es war ein verlegenes Kichern, das bald einem hemmungslosen Lachen Platz machte. Es brach aus ihnen hervor wie eine Flut, der sie nicht Einhalt gebieten konnten. Es half ihnen, die schrecklichen Visionen einer entmenschlichten Welt zu vergessen. Blühende Gärten,
Sonnenlicht und blaues Wasser ersetzte die Finsternis.
Erschöpft schliefen sie ein, wie Kinder hielten sie sich die Hände.
Borowski erwachte als erster, hörte das Hupen der Autos weit unten auf den Straßen. Er sah auf die Uhr; es war zehn Minuten nach ein Uhr nachmittags. Sie hatten fast fünf Stunden geschlafen. Der Tag versprach lang zu werden. Er wußte noch nicht, was sie tun würden; er wußte nur, daß es zwei Telefonnummern gab, die ihn zu einer dritten führen mußten. In New York.
Er wandte sich Marie zu, die tief atmend neben ihm lag, das Gesicht — ihr schönes, liebliches Gesicht — halb vom Kissen verdeckt, die Lippen geöffnet, nur wenige Zoll von den seinen. Er küßte sie, und sie legte mit immer noch geschlossenen Augen die Arme um seinen Hals.
«Du bist ein Frosch, und ich mache dich zum Prinzen«, sagte sie schlaftrunken.»Oder geht das anders herum?«
«Ich weiß es nicht, Liebes.«
«Dann wirst du ein Frosch bleiben müssen. Hüpf herum, kleiner Frosch, zeig, was du kannst.«
«Führe mich nicht in Versuchung. Ich hüpfe nur, wenn man mir Fliegen zu fressen gibt.«
«Frösche fressen Fliegen? Ja, das tun sie wahrscheinlich. Puh, das ist schrecklich.«
«Komm schon, mach die Augen auf. Wir müssen beide hüpfen. Wir müssen anfangen zu jagen.«
Sie blinzelte und sah ihn an.»Wonach jagen?«
«Nach mir«, sagte er.
Von einer Telefonzelle in der Rue Lafayette wurde von einem Mr. Briggs ein R-Gespräch mit einer Nummer in Zürich geführt. Borowski nahm an, daß Jacqueline Lavier keine Zeit verloren hatte, Alarm zu schlagen.
Als die Verbindung hergestellt war, gab Jason Marie den Hörer. Sie wußte, was sie sagen mußte.
Doch sie bekam keine Gelegenheit dazu. Die Vermittlung in Zürich schaltete sich ein.
«Die Nummer, die Sie rufen, ist leider nicht mehr in Betrieb.«
«Vor kurzem war sie das aber noch«, unterbrach Marie,»es ist sehr wichtig. Nennen Sie die neue Nummer.«
«Das Telefon ist nicht mehr in Betrieb, Madame. Es gibt keine neue Nummer.«
«Vielleicht hat man mir die falsche gegeben. Es ist wirklich sehr dringend. Könnten Sie mir den Namen des Teilnehmers sagen, der diese Nummer hatte?«
«Das ist leider nicht möglich.«
«Ich sagte Ihnen doch, es ist sehr wichtig! Kann ich bitte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen?«
«Der kann Ihnen auch nicht helfen. Wir dürfen darüber keine Auskunft geben. Guten Tag, Madame.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.»Aufgelegt«, sagte sie.
«Es wird Zeit«, drängte Borowski und blickte die Straße hinunter.»Laß uns hier verschwinden.«
«Du meinst, sie könnten das Gesprach belauscht haben? In Paris? In einer öffentlichen Telefonzelle?«
«Man kann binnen drei Minuten eine Vermittlung ausfindig machen und einen Bezirk eingrenzen.«
«Woher weißt du das?«
«Ich wollte, ich könnte dir das sagen. Gehen wir.«
«Jason. Warum verstecken wir uns nicht und warten?«
«Worauf? Daß sie uns schnappen? Die haben eine Fotografie und können überall Leute aufstellen.«
«Ich sehe ganz anders aus als in den Zeitungen.«
«Aber ich nicht. Gehen wir!«
Sie schoben sich durch die dichte Menschenmenge, bis sie zehn Blocks weiter den Boulevard Malesherbes und wieder eine Telefonzelle erreichten, die aber an ein anderes Amt angeschlossen war. Diesmal ging es ohne Vermittlung. Marie trat in die Zelle, Münzen in der Hand und wählte.
Die Worte, die durch die Leitung kamen, versetzten sie allerdings in Erstaunen:
«Hier ist das Haus von General Villiers. Guten Tag… Hallo? Hallo?«
Einen Augenblick lang brachte Marie kein Wort heraus. Sie starrte bloß das Telefon an.»Pardon«, flüsterte sie.»Falsch verbunden. «Sie legte auf.
«Was ist denn?«fragte Borowski und öffnete die Glastür.»Was ist passiert? Wer war das?«
«Das gibt keinen Sinn«, sagte sie.»Ich sprach gerade mit dem Hauspersonal eines der geachtetsten und mächtigsten Männer von Frankreich.«
«Andre Francois Villiers«, wiederholte Marie und zündete sich eine Zigarette an. Sie waren ins Hotel >Terrasse< zurückgekehrt, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen und die erstaunliche Information zu verarbeiten, die sie erhalten hatten.»Absolvent von Saint-Cyr, Held des Zweiten
Weltkriegs, eine Legende in der Resistance und bis zu dem Bruch, der sie in der Algerienfrage entzweite, de Gaulles Kronprinz. Jason, einen solchen Mann mit Carlos in Verbindung zu bringen, ist einfach unglaublich.«
«Aber die Verbindung beweist es doch. Glaub mir.«
«Ich kann es nicht. Villiers ist so etwas wie die personifizierte Ehre Frankreichs. Er stammt aus einer Familie, die man bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückverfolgen kann. Heute ist er einer der bedeutendsten Deputierten der Nationalversammlung — politisch steht er natürlich rechts von Karl dem Großen —, aber ein Mann, dem Gesetz und Ordnung aus allen Poren quellen. Es wäre genauso, als brächte man Douglas MacArthur mit einem bezahlten Killer der Mafia in Verbindung. Das gibt einfach keinen Sinn.«
«Dann wollen wir sehen, ob wir einen finden. Worüber kam es zu dem Bruch mit de Gaulle?«
«Algerien. Anfang der sechziger Jahre. Villiers gehörte der OAS an — einer der algerischen Oberste unter Salan. Sie standen in Opposition zu den Übereinkünften von Evian, in denen Algerien die Unabhängigkeit gewährt wurde, und waren der Ansicht, daß es rechtens zu Frankreich gehörte.«
«Die verrückten Colonels von Algier«, sagte Borowski und wußte wie bei so vielen Worten und Sätzen nicht, woher sie kamen oder weshalb er sie aussprach.
«Sagt dir das etwas?«
«Das muß es wohl, aber ich weiß nicht was.«
«Du mußt nachdenken«., sagte Marie.»Warum sollte dieser Begriff von den >verrückten Colonels< dich an etwas erinnern? Was kommt dir in den Sinn? Schnell, sag!«
Jason sah sie hilflos an, dann kamen die Worte.»Bombenanschläge… Infiltration. Provocateure. Man studiert
sie, studiert ihre Methoden.«
«Warum?«
«Ich weiß nicht.«
«Basieren Entscheidungen auf dem, was man lernt?«
«Ich denke schon.«
«Was für Entscheidungen? Was entscheidest du denn?«
«Unterbrechungen.«
«Was bedeutet das für dich? Unterbrechungen.«
«Ich weiß nicht! Ich kann nicht denken!«
«Schon gut… schon gut. Wir kommen ein andermal darauf zurück.«
«Dafür ist keine Zeit. Wir wollen auf Villiers zurückkommen. Was war nach Algerien?«
«Es gab eine Art Versöhnung mit de Gaulle; Villiers war nie direkt in irgendwelche terroristischen Aktionen verwickelt, und seine militärischen Leistungen erforderten das einfach. Er kehrte nach Frankreich zurück — wurde willkommen geheißen— ein Kämpfer für eine verlorene, aber respektierliche Sache. Er übernahm wieder seine Kommandoposition und bekleidete den Rang eines Generals, ehe er in die Politik eintrat.«
«Dann ist er also Politiker?«
«Eher ein Sprecher. Ein >Elder Statesmans Er ist immer noch ein fanatischer Militarist und immer noch darüber erbost, daß Frankreichs militärische Bedeutung geringer geworden ist.«
«Howard Leland«, sagte Jason.»Da hast du deine Verbindung mit Carlos.«
«Wie? Warum?«
«Leland ist ermordet worden, weil er sich gegen die Waffenexporte des Quai d'Orsay ausgesprochen hatte. Mehr brauchen wir nicht.«
«Es erscheint mir unglaublich, ein solcher Mann…«Marie verstummte; plötzlich überkam sie die Erinnerung.»Sein Sohn ist ermordet worden. Es waren politische Motive im Spiel, fünf oder sechs Jahre ist das jetzt her.«
«Sag mir mehr.«
«Sein Wagen wurde auf der Rue du Bac in die Luft gesprengt. Es stand damals überall in den Zeitungen. Er war ein Politiker mit Leib und Seele, ebenso wie sein Vater stockkonservativ, der bei jeder Gelegenheit gegen die Sozialisten und Kommunisten zu Felde zog. Ein junger Parlamentarier, der gegen jegliche Steuerverschwendung protestierte, der aber recht beliebt war. Ein charmanter junger Mann aus bester Familie.«
«Wer hat ihn getötet?«
«Man dachte damals, kommunistische Fanatiker. Er hatte es geschafft, irgendeine Gesetzgebung zu blockieren, die dem äußersten linken Flügel wichtig war. Nach seiner Ermordung fiel die Front auseinander, und das Gesetz wurde verabschiedet. Viele glauben, daß deshalb Villiers seinen Abschied nahm und sich für die Nationalversammlung aufstellen ließ. Deshalb ist das Ganze ja so unwahrscheinlich, so voller Widersprüche. Schließlich ist sein Sohn ermordet worden; man würde meinen, der allerletzte, mit dem er etwas zu tun haben wollte, wäre ein professioneller Meuchelmörder.«
«Da ist noch etwas. Du sagtest, er wäre in Paris willkommen gewesen, weil er nie direkt mit Terrorismus zu tun hatte.«
«Vielleicht gab es Hinweise in den Akten«, unterbrach Marie.»In solchen — pikanten Dingen ist man hier recht tolerant. Schließlich war er ja ein Held, das darfst du nicht vergessen.«
«Ein Terrorist bleibt ein Terrorist!«
«Leute können sich auch ändern.«
«Nur in manchen Dingen. Bei Terroristen ist die Sache komplexer. Wer einmal in dieser Maschinerie drin steckt, kommt nicht mehr raus. Aber was Villiers angeht, bin ich ganz sicher. Ich werde mit ihm Verbindung aufnehmen. «Borowski trat an das Nachtkästchen und nahm das Telefonbuch.»Wir wollen sehen, ob er hier im Telefonbuch steht, oder ob er eine Geheimnummer hat. Ich brauche seine Adresse.«
«Du wirst nie an ihn herankommen. Wenn er mit Carlos in Verbindung steht, wird er bewacht werden. Die töten dich sofort; sie haben doch dein Foto!«
«Das nützt ihnen nichts. Ich bin nicht der, den sie suchen. Hier steht es. Villiers, A. F., Parc Monceau.«
«Ich kann das immer noch nicht glauben. Für die Lavier muß das doch ein Schock gewesen sein.«
«Oder es hat ihr eine solche Angst eingejagt, daß sie alles tun würde.«
«Kommt es dir nicht seltsam vor, daß man ihr eine solche Nummer gibt?«
«Eigentlich nicht, Carlos will, daß seine Drohnen wissen, daß er es ernst meint. Er will Cain.«
Marie stand auf.»Jason? Was ist eine >Drohne«
Borowski blickte zu ihr auf.»Ich weiß nicht… Jemand, der blind für jemand anderen arbeitet.«
«Blind? Ohne zu sehen?«
«Ohne zu wissen. Jemand, der glaubt, eine Sache zu tun und in Wirklichkeit etwas anderes tut.«
«Das verstehe ich nicht.«
«Ich gebe dir den Auftrag, an einer bestimmten Straßenecke nach einem Wagen Ausschau zu halten. Der Wagen erscheint dort nie. Aber die Tatsache, daß du dort bist, bedeutet für jemanden, der dich beobachtet, daß etwas anderes geschehen wird.«
«Im arithmetischen Sinne also eine Nachricht, die man nicht auf ihren Ursprung zurückverfolgen kann.«
«Ja, so könnte man es nennen.«
«So wie in Zürich. Walther Apfel war eine Drohne. Er hat diese Geschichte über den Bankeinbruch weitergegeben, ohne zu wissen, was er in Wirklichkeit damit sagte.«
«Und was hat er gesagt?«
«Nun, ich vermute, man wollte dir sagen, du solltest mit jemandem Verbindung aufnehmen, den du sehr gut kennst.«
«Treadstone Seventy-One«, sagte Jason.»Womit wir wieder bei Villiers angelangt wären. Carlos hat mich über die Gemeinschaftsbank in Zürich gefunden. Das bedeutet, daß er über Treadstone informiert sein mußte; wahrscheinlich trifft das auch für Villiers zu. Wenn nicht, können wir ihn vielleicht dazu bewegen, es für uns in Erfahrung zu bringen.«
«Wie?«
«Sein Name. Wenn er so ist, wie du sagst, läßt er seinen Namen nicht in den Schmutz ziehen. Die Ehre Frankreichs in Verbindung zu bringen mit einem Schwein wie Carlos könnte seine Wirkung haben. Ich werde drohen, zur Polizei zu gehen, die Presse zu informieren.«
«Er würde es einfach leugnen. Er würde sagen, das sei unerhört.«
«Macht nichts. Kommt es wirklich zu einem Dementi, dann steht das auf derselben Seite wie sein Nachruf.«
«Zuerst mußt du mit ihm Kontakt aufnehmen.«
«Das werde ich. Du weißt ja, ich bin ein halbes Chamäleon.«
Die von Bäumen gesäumte Straße im Parc Monceau kam ihm irgendwie vertraut vor, aber er wußte nicht, warum. Es war vielmehr die Atmosphäre. Zwei Reihen gepflegter Steinhäuser, deren Türen und Fenster glänzten, deren polierte Eisenbeschläge blitzten, Häuser mit sauber geschrubbten Treppen und beleuchteten Zimmern, Hängepflanzen vor den Fenstern. Eine wohlhabende Straße in einem wohlhabenden Stadtteil, und er wußte, daß er schon einmal eine Straße wie diese erlebt hatte, und daß das von ausschlaggebender Bedeutung gewesen war.
19.35 Uhr, eine kalte Märznacht unter klarem Himmel, und das Chamäleon war dem Anlaß entsprechend gekleidet. Borowskis blondes Haar war von einer Kappe bedeckt, sein Hals vom Kragen einer Jacke geschützt, auf deren Rücken in großen Lettern der Name eines Botendienstes stand. Über seiner Schulter hing ein Segeltuchstreifen, an dem eine fast leere Tasche befestigt war; dieser Bote war ziemlich am Ende seiner Tour angelangt. Noch drei oder vier Stationen lagen vor ihm; gleich würde er es wissen. Bei den Umschlägen in seiner Tasche handelte es sich in Wirklichkeit gar nicht um Umschläge, sondern um Prospekte, die Seine-Rundfahrten mit den Bateaux Mouche anpriesen, Prospekte, die er sich in einer Hotelhalle geholt hatte. Er würde sich willkürlich ein paar Häuser in der Nähe der Wohnung des Generals Villiers aussuchen und die Broschüren in die Briefkastenschlitze stecken. Seine Augen würden alles in Sekundenschnelle registrieren. Was für Sicherheitsvorkehrungen hatte Villiers getroffen? Wer bewachte den General, und wie viele waren es?
Und weil er davon überzeugt gewesen war, entweder Männer in Wagen oder andere Männer zu Fuß vorzufinden, überraschte ihn die Erkenntnis, daß da niemand war. Andre Francois Villiers, Verbindungsoffizier zu Carlos, hatte keinerlei äußerlich sichtbare Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Wenn er geschützt wurde, so beschränkte sich jener Schutz einzig und allein auf das Haus. In Anbetracht der Schwere seines Verbrechens war Villiers entweder so arrogant, daß das schon fast an Gleichgültigkeit grenzte, oder ein Narr.
Jason stieg die Treppe des Nachbarhauses hinauf; Villiers Türe war höchstens zwanzig Fuß entfernt. Er schob den Prospekt in den Schlitz und blickte zu den Fenstern von Villiers Haus auf, suchte ein Gesicht, eine Gestalt. Doch da war niemand.
Plötzlich öffnete sich die zwanzig Fuß entfernte Tür.
Borowski duckte sich, fuhr mit der Hand unter die Jacke, griff nach der Waffe, verfluchte sich selbst als Narr; jemand, der aufmerksamer als er war, hatte ihn entdeckt. Aber die Worte, die er hörte, beruhigten ihn. Zwei Leute in mittleren Jahren — eine Hausangestellte in Uniform und ein Mann mit einer dunklen Jacke — unterhielten sich an der Türe.
«Achte darauf, daß die Aschenbecher leer sind«, sagte die Frau.»Du weißt, wie er überfüllte Aschenbecher haßt.«
«Er ist heute nachmittag gefahren«, antwortete der Mann.»Das bedeutet, daß sie jetzt voll sind.«
«Mach sie in der Garage sauber; du hast noch Zeit. Er kommt frühestens in zehn Minuten. Um halb neun muß er in Nanterre sein.«
Der Mann nickte und klappte die Revers seiner Jacke hoch, ehe er die Treppe hinunterging.
Die Türe schloß sich, und auf der Straße herrschte wieder Schweigen. Jason erhob sich und sah dem Mann nach, wie er den Bürgersteig hinuntereilte. Er wußte nicht genau, wo Nanterre lag, nur daß es ein Vorort von Paris war. Wenn Villiers selbst dort hinfuhr und er alleine war, war es am besten, sofort mit ihm zu sprechen.
Borowski nahm die Tasche von der Schulter und ging schnell die Treppe hinunter, bog unten auf dem Bürgersteig nach links. Zehn Minuten blieben ihm noch.
Jason sah durch die Windschutzscheibe, wie die Tür sich öffnete und General Andre Francois Villiers auftauchte. Er war ein Mann von mittlerer Größe, breitschultrig, Ende Sechzig, vielleicht auch Anfang Siebzig. Er trug keinen Hut, so daß man sein kurz gestutztes graues Haar und den makellos gepflegten weißen Kinnbart sehen konnte. Seine Haltung war unverkennbar soldatisch.
Borowski starrte ihn fasziniert an und fragte sich, was einen solchen Mann dazu bewegte, mit einem Verbrecher wie Carlos zusammenzuarbeiten.
Villiers drehte sich um, sagte etwas zu der Hausangestellten und sah auf die Armbanduhr. Die Frau nickte und schloß die Tür, als der General mit federnden Schritten die Stufen hinunter und um die Motorhaube einer großen Limousine herum zur Fahrerseite ging. Er öffnete die Tür und stieg ein, ließ dann den Motor an und rollte langsam in die Straßenmitte.
Jason wartete, bis die Limousine die nächste Kreuzung erreicht hatte und nach rechts gebogen war; dann startete er seinen Renault und erreichte die Kreuzung gerade noch rechtzeitig, um Villiers an der nächsten Kreuzung erneut nach rechts biegen zu sehen.
In dem Zusammentreffen der Umstände lag eine gewisse Ironie, ein Omen, wenn man an solche Dinge glauben konnte. Der Weg, den General Villiers zu dem Vorort Nanterre einschlug, ging ein kleines Stück auf einer Landstraße lang, die Saint-Germain-en-Laye ähnelte, wo Marie vor zwölf Stunden Jason angefleht hatte, nicht aufzugeben. Es gab hier Streifen von Weideland, Felder, die unvermittelt in die sanft ansteigenden Hügel übergingen, aber anstatt vom Licht der frühen Morgensonne gekrönt zu sein, waren diese von den kalten, weißen Strahlen des Mondes eingehüllc. Borowski kam es in den Sinn, daß dieses isolierte Straßenstück sich ebensogut wie jedes andere dazu eignen würde, den General bei seiner Rückkehr aufzuhalten.
Es fiel Jason nicht schwer, sich in einer Viertelmeile Distanz zu halten, und deshalb überraschte ihn die Feststellung, als er den alten Soldaten plötzlich eingeholt hatte. Villiers hatte seine Fahrt verlangsamt und bog jetzt in einen kiesbedeckten Weg ein, der in den Wald führte. Dahinter lag ein Parkplatz, der von Tiefstrahlern beleuchtet war. Auf einem Schild, das an zwei Ketten von einem Pfosten hing und erleuchtet wurde, stand: LARBALETE. Der General traf sich in diesem abgelegenen Restaurant mit jemandem zum
Abendessen, nicht in dem Vorort Nanterre, sondern außerhalb. Auf dem Lande.
Borowski fuhr an der Einfahrt vorbei und parkte am Straßenrand, wo die rechte Wagenseite vom Gebüsch verdeckt wurde. Er mußte sich zusammenreißen. Ein ungeheuerlicher Gedanke kam ihm plötzlich.
Angesichts der aufwühlenden Ereignisse — der Ungeheuerlichkeit der Niederlage, die Carlos letzte Nacht in dem Motel in Montrouge erlitten hatte — war es mehr als wahrscheinlich, daß man Andre Villiers in ein abgelegenes Restaurant bestellt hatte, weil eine dringende Besprechung erforderlich war. Vielleicht sogar mit Carlos selbst. Wenn das der Fall war, würde das Anwesen bewacht sein, und der Mann, dessen Foto jene Wachtposten so gut kannten, würde in dem Augenblick, in dem man ihn erkannte, niedergeschossen werden. Andererseits war die Chance, die Kerntruppe von
Carlos' Leuten — oder gar Carlos selbst — zu beobachten, eine Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder bieten würde. Er mußte L'Arbalete betreten. Ein innerer Zwang trieb ihn, das Risiko einzugehen. Es war verruckt! Aber die Umstände zwangen ihn dazu. Carlos. Er mußte Carlos finden!
Er spürte die Waffe an seinem Gürtel. Er stieg aus und zog den Mantel an, nahm einen schmalkrempigen Hut vom Sitz, dessen weicher Filz ringsum nach unten gebogen war; der würde sein Haar bedecken. Dann versuchte er, sich zu erinnern, ob er die Brille mit dem Schildpattgestell getragen hatte, als in Argenteuil die Aufnahme von ihm gemacht worden war. Nein; er hatte sie bei Tisch abgenommen, als ein Schmerz nach dem anderen durch seinen Kopf zuckte, ausgelöst von Worten, die ihm von einer Vergangenheit berichteten, die zu vertraut, zu erschreckend war, als daß er ihr ins Auge sehen konnte. Er griff nach seiner Hemdtasche; da war die Brille gut aufgehoben für den Fall, daß er sie brauchte. Er drückte die Türe zu und machte sich auf den Weg in Richtung Wäldchen.
Das grelle Licht der Außenbeleuchtung des Restaurants sickerte durch die Bäume, wurde alle paar Meter heller, je weniger Blattwerk dem Licht den Weg versperrte. Borowski erreichte den Rand des kleinen Wäldchens, vor ihm lag der mit Kies bedeckte Parkplatz. Er stand jetzt neben dem rustikalen Restaurant und sah eine Reihe kleiner Fenster, die eine ganze Gebäudewand zierten, sah die flackernden Kerzen hinter dem Glas, die die Gestalten im Inneren beleuchteten. Dann wanderte sein Blick zum Obergeschoß — obwohl dieses nicht die ganze Länge des Gebäudes füllte, sondern nur etwa die Hälfte, weil hinten eine offene Terrasse angebracht war. Aber der Überbau glich dem Erdgeschoß. Er bestand aus einer Reihe von Fenstern, die, vielleicht etwas größer, ebenfalls von Kerzenschein beleuchtet wurden. Gestalten regten sich, aber das waren ganz andere Leute als die Gäste im Untergeschoß.
Es waren alles Männer. Sie standen, saßen nicht; bewegten sich beiläufig, hielten Gläser in der Hand, Zigaretten, der Rauch kräuselte sich über ihren Köpfen. Es war unmöglich zu sagen, wie viele es waren — mehr als zehn, weniger als zwanzig vielleicht.
Und da sah er ihn, er bewegte sich von einer Gruppe zur anderen. Sein weißer Kinnbart leuchtete. General Villiers war tatsächlich zu einer Zusammenkunft gefahren, und alle
Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß dies eine Konferenz war, die sich mit den Fehlern der letzten achtundvierzig Stunden befaßte, Fehlern, die es einem Mann namens Cain gestatteten, am Leben zu bleiben.
Die Chancen. Wie standen die Chancen? Wo waren die Wachen? Wie viele und wo waren ihre Stationen? Im Schütze des Wäldchens arbeitete Borowski sich vorsichtig zum Vordereingang des Restaurants, bog die Zweige mit einem kaum wahrnehmbaren Knacken zur Seite und stand reglos da, hielt Ausschau nach Männern, die sich im Blattwerk oder in den Schatten des Gebäudes verbargen. Er sah niemanden und setzte seinen Weg fort, bis er schließlich den hinteren Teil des Restaurants erreichte.
Eine Tür öffnete sich. Ein Mann in einer weißen Jacke trat heraus. Er stand einen Augenblick da, die Hände vor dem Gesicht, zündete sich eine Zigarette an. Borowski blickte nach links, nach rechts, nach oben zur Terrasse, aber da tauchte niemand auf. Ein Wachtposten, der hier stationiert war, wäre von dem plötzlichen Licht zehn Fuß unter der Konferenz erschreckt worden. Um das Haus herum gab es keine Posten.
Ein weiterer Mann erschien unter der Türe; auch er trug eine weiße Jacke, aber dazu eine Kochmütze. Seine Stimme klang ärgerlich, und das Französisch, das er sprach, hatte die gutturalen Klänge des Gascogner Dialekts.»Wir schwitzen und ihr faulenzt hier! Der Dessertwagen ist halbleer. Füll ihn wieder auf. Jetzt, du Faulpelz!«
Der Kellner, der für den Nachtisch zuständig war, drehte sich um und zuckte die Achseln; er drückte seine Zigarette aus und ging wieder hinein, schloß die Türe hinter sich. Das Licht verschwand, nur ein schwacher Schein des Mondes blieb, aber es genügte, um die Terrasse zu beleuchten. Dort war niemand, kein Wächter, der die breiten Doppeltüren sicherte, die nach drinnen führten.
Carlos. Du mußt Carlos finden. Carlos in die Falle locken. Cain ist für Charlie, und Delta ist für Cain.
Borowski schätzte die Distanz und die Hindernisse ab. Er war höchstens vierzig Fuß vom hinteren Teil des Gebäudes entfernt, zehn oder zwölf Fuß unter dem Geländer, das die Terrasse umlief. In der Außenwand gab es zwei Lüftungsschlitze, aus denen jetzt Dampf strömte, und daneben ein Ablaufrohr, das von dem Geländer aus zu erreichen war. Wenn es ihm gelang, am Rohr nach oben zu klettern und sich dann irgendwie am unteren Lüftungsschlitz festzuhalten, würde er das Geländer packen und sich zur Terrasse hinaufziehen können. Aber es ging nicht, solange er den Mantel trug. Er zog ihn aus, legte ihn auf den Boden, den weichkrempigen Hut darauf und bedeckte beides mit Ästen und Zweigen. Dann ging er bis zum Rand des Wäldchens und rannte so leise wie möglich quer über die Kiesfläche auf das Abflußrohr zu.
Im Schatten zerrte er probeweise an dem gerippten Metall; es war fest im Boden verankert. Er streckte die Arme so hoch er konnte und sprang dann in die Höhe, packte das Rohr, drückte die Füße gegen die Wand, schob einen über den anderen, bis sein linker Fuß parallel zu der ersten Lüftungsöffnung stand. Er hielt sich fest, schob seinen Fuß in die Vertiefung und arbeitete sich ein Stück weiter an der Röhre nach oben. Jetzt war er noch achtzehn Zoll vom Geländer entfernt; wenn er sich kräftig von der Vertiefung in der Mauer abstieß, würde er die unterste Sprosse erreichen.
Eine Tür flog krachend unter ihm auf; weißes Licht ergoß sich über die Kiesfläche, reichte bis zu den Bäumen. Eine Gestalt torkelte heraus, hatte Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten, und dicht hinter ihr kam der Koch mit seiner weißen Mütze und schrie:
«Verdammter Scheißkerl! Besoffen bist du, das sag ich dir! Die ganze Nacht warst du schon besoffen! Backwerk überall am Boden. Zum Kotzen sieht das aus. Hau ab, keinen Sou bekommst du!«
Die Türe wurde zugeschlagen, und das Geräusch des Riegels klang endgültig. Jason hielt sich an der Regenrinne fest, seine Arme und Gelenke schmerzten, und auf der Stirn brach ihm der Schweiß in Strömen aus. Der Mann unter ihm taumelte rückwärts, machte mit der rechten Hand eine obszöne Handbewegung für den Koch, der freilich bereits nicht mehr zu sehen war. Seine glasigen Augen wanderten an der Mauer nach oben, erreichten schließlich Borowskis Gesicht. Jason hielt den Atem an, als ihre Augen sich begegneten; der Mann starrte ihn an, blinzelte dann und starrte erneut. Er schüttelte den Kopf, schloß die Augen, öffnete sie dann wieder weit; ungläubiges Staunen lag in seinem Blick. Er ging rückwärts, torkelte, wäre beinahe ausgeglitten und beschleunigte dann seine Schritte, wandte sich um, war offensichtlich zu dem Schluß gelangt, daß er einer optischen Täuschung erlegen war, und torkelte um die Ecke. Ein Mann, der mit sich jetzt wieder im Gleichgewicht war, weil er das Verrückte, das seinen Blick verwirrt hatte, von sich gewiesen hatte.
Borowski atmete auf, ließ sich erleichtert gegen die Wand sinken.
Aber nur einen Augenblick lang; der Schmerz an seinem Fußgelenk war zum Fuß hinuntergewandert, erzeugte dort jetzt einen Krampf. Er machte einen Satz nach oben, packte die Eisenstange, mit der das Geländer begann, mit der rechten Hand und ließ mit der Linken die Dachrinne los. Er drückte die Knie gegen die Schindeln und zog sich langsam an der Mauer nach oben, bis sein Kopf über den Terrassenrand blickte. Sie war verlassen. Jetzt schwang er das rechte Bein auf den Sims, und seine rechte Hand griff nach der Brüstung; er gewann sein Gleichgewicht und schwang sich darüber.
Er befand sich jetzt auf einer Terrasse, die in den Frühlings- und Sommermonaten zum Essen benutzt wurde, der mit Kacheln bedeckte Boden bot leicht zehn bis fünfzehn Tischen Platz. In der Mitte der Mauer, die den umbauten Teil von der Terrasse trennte, befand sich die breite Doppeltüre, die er von dem Wäldchen aus gesehen hatte. Die Leute drinnen waren jetzt reglos, standen still, und Jason fragte sich einen Augenblick lang, ob irgendwo ein Alarm ausgelöst worden war— und sie vielleicht auf ihn warteten. Er stand völlig reglos, die Hand an der Waffe; nichts geschah. Er ging auf die Mauer zu, hielt sich im Schatten. Dort angelangt, drückte er sich gegen die Holzvertäfelung und näherte sich der ersten Tür, bis seine Finger den Türrahmen berührten. Zentimeter für Zentimeter kam er der Glasscheibe näher und sah endlich hinein.
Was er drinnen sah, faszinierte ihn, wirkte fast erschreckend. Die Männer standen in Reihen da — drei Reihen von jeweils vier Männern — und sahen Andre Villiers an, der zu ihnen sprach. Insgesamt dreizehn Männer, von denen zwölf nicht nur standen, sondern Habtacht-Stellung eingenommen hatten. Es waren alte Männer, aber keine gewöhnlichen alten Männer; es waren alte Soldaten. Keiner trug eine Uniform, aber jeder hatte kleine Bänder am Revers, Regimentsfarben und Auszeichnungen für Tapferkeit. Und wenn es etwas gab, das alle gemeinsam hatten, so war auch das nicht zu verkennen. Dies waren Männer, die ein Kommando gewöhnt waren. Das stand in ihren Gesichtern, ihren Augen, zu lesen, in der Art, wie sie lauschten — voll Respekt, aber das war kein blinder Respekt, das war Achtung, die auf Überlegung und Urteilsvermögen beruhte. Ihre Körper waren alt, dennoch spürte man die Kraft, die in jenem Raum versammelt war. Ungeheuere Kraft. Das war es, was beängstigend wirkte. Wenn diese Männer Carlos angehörten, dann waren die Hilfstruppen dieses Terroristen nicht nur weitreichend, sondern außergewöhnlich gefährlich. Denn dies waren keine gewöhnlichen Männer; dies waren erfahrene Berufssoldaten, mutige Kämpfer.
Die verrückten Colonels von Algier — was war von ihnen geblieben? Männer, die die Erinnerung an ein Frankreich trieb, das es nicht mehr gab, eine Welt, die es nicht mehr gab, die die jetzige schwach und wirkungslos fanden. Solche Männer konnten einen Pakt mit Carlos schließen, und wäre es nur um der Macht willen, die ihnen das verlieh.
Der General hob jetzt die Stimme; Jason bemühte sich, die Worte durch das Glas zu hören. Er konnte jetzt deutlicher verstehen.
«… unsere Gegenwart wird ihre Wirkung zeitigen, man wird unser Ziel verstehen. Wir stehen gemeinsam und unverrückbar; man wird uns hören! Im Gedenken all jener, die gefallen sind— unsere Brüder in Uniform — die ihr Leben für den Ruhm Frankreichs gegeben haben. Wir werden unser geliebtes Land vor schädlichen Einflüssen zu bewahren wissen; es wird herrschen. Jene, die sich gegen uns stellen, werden unseren Zorn kennenlernen. Auch darin sind wir uns einig. Wir beten zum allmächtigen Gott, daß jene, die vor uns hingegangen sind, den Frieden gefunden haben mögen, denn wir befinden uns immer noch im Konflikt… Meine Herren: auf unsere Dame — unser Frankreich!«
Ein Murmeln einstimmiger Billigung war zu vernehmen, und die alten Soldaten blieben starr und steif stehen, und dann erhob sich eine andere Stimme, die ersten fünf Worte nur von einer Stimme gesungen, beim letzten Wort schloß sich der Rest der Gruppe an.
Allons enfants de la patrie,
Lejour de gloire est arrive…
Borowski wandte sich ab. Was er in dem Raum gesehen und gehört hatte, ekelte ihn an. Schafft Verwüstung im Namen des Ruhmes; der Tod der gefallenen Kameraden verlangt gewaltsam nach weiterem Sterben, selbst wenn es einen Pakt mit Carlos, dem Meuchelmörder, bedeutet.
Was störte ihn so? Was war es, das den Ekel auslöste? Er haßte Menschen wie Andre Villiers, verachtete die Männer in jenem Raum. Sie waren alles alte Männer, die Krieg führten… und den jungen das Leben stahlen.
Warum schlossen sich die Nebel wieder um ihn? Warum war der Schmerz plötzlich wieder so bohrend? Jetzt war nicht die Zeit für Fragen, nicht die Kraft, sie zu ertragen. Er mußte sich auf Andre Francois Villiers konzentrieren, Krieger und Kriegsherr, dessen Ziele ins Gestern gehörten, aber dessen Pakt mit einem Meuchelmörder heute den Tod verlangte.
Er würde den General in eine Falle locken, ihn zur Strecke bringen, um alles zu erfahren. Männer wie Villiers verdienten es nicht zu leben. Ich bin wieder in meinem Labyrinth, und seine Mauern sind mit Dornen gespickt. O Gott, wie weh das tut.
Jason kletterte in der Dunkelheit über das Geländer und klammerte sich an die Regenrinne, jeder Muskel in seinen Gliedern schmerzte. Schmerz — auch das mußte er auslöschen. Er mußte ein verlassenes Stück Straße im Mondlicht erreichen und dort einen Gesandten des Teufels in die Falle locken.
Borowski wartete in dem Renault, zweihundert Meter östlich vom Restauranteingang. Er ließ den Motor laufen und war bereit, in dem Augenblick loszufahren, in dem er Villiers herauskommen sah. Einige andere hatten das Haus bereits verlassen, jeder in seinem eigenen Wagen. Verschwörer hielten ihre Verbindungen geheim, und diese alten Männer waren Verschwörer im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatten allen Ruhm, den sie sich erworben hatten, für die Waffe und die Organisation eines Mörders eingetauscht. Alter und Vorurteil hatten sie ihrer Vernunft beraubt, so wie sie ihr Leben damit verbracht hatten, andere ihres Lebens zu berauben. Die Jungen und die sehr Jungen.
Was war das? Warum läßt es mich nicht los? Irgend etwas Schreckliches sitzt tief in mir, versucht herauszubrechen, versucht mich zu töten. Angst und Schuld peinigen mich… aber ich kenne den Grund. Warum sollten diese verkalkten, alten Militärschädel so viel Furcht und Schuld in mir hervorrufen… und so viel Abscheu?
Sie verkörperten den Krieg. Den Tod. Auf Erden und im Himmel. Im Himmel… Hilf mir, Marie. Um Gottes willen, hilf mir!
Das war er. Die Scheinwerferstrahlen schossen aus der Einfahrt, und das lange, schwarze Chassis spiegelte das Licht der Außenbeleuchtung der Häuser. Jason ließ die eigenen Scheinwerfer ausgeschaltet, als er sich aus dem Schatten löste. Er beschleunigte, jagte die Straße hinunter, bis er die erste Kurve erreichte, wo er die Scheinwerfer einschaltete und das Gaspedal bis zum Boden durchdrückte. Das isolierte Stück Straße war etwa zwei Meilen entfernt; er mußte schnell dort hinkommen.
Es war zehn nach elf, und ebenso wie vor drei Stunden gingen die Felder in die Hügel über, beide vom Licht des Märzmondes gebadet, der jetzt geradewegs im Zenit stand. Der Randstreifen war breit, grenzte an eine Wiese, und das bedeutete, daß man beide Fahrzeuge von der Straße holen konnte. Aber sein unmittelbares Ziel war es, Villiers zum
Halten zu veranlassen. Der General war alt, aber nicht schwächlich. Alles kam auf die Wahl des richtigen Zeitpunkts an.
Borowski drehte den Renault herum und wartete, bis er in der Ferne die Scheinwerfer aufleuchten sah, dann beschleunigte er plötzlich und riß daß Steuer ruckartig zurück. Der Wagen schoß über die Straße — ein Fahrer, dem das Fahrzeug aus der Kontrolle geraten war, der außerstande war, auf gerader Spur zu fahren, der aber dennoch schnell fuhr.
Villiers hatte keine Wahl; er bremste ab, als Jason wie ein Wahnsinniger auf ihn zugeschossen kam. Und dann, als die beiden Fahrzeuge noch höchstens zwanzig Fuß voneinander entfernt waren, unmittelbar vor dem Zusammenstoß, riß Borowski das Steuer nach links und bremste so scharf, daß die Reifen quietschten. Endlich kam der Wagen zum Stehen. Borowski hatte sein Fenster offen und stieß einen undefinierbaren Schrei aus, der wie das Stöhnen eines Kranken oder eines Betrunkenen klang, aber jedenfalls nicht drohend. Er schlug mit der Hand auf den Fensterrahmen und verstummte, zusammengekauert im Sitz, die Waffe im Schoß.
Er hörte, wie die Türe von Villiers' Limousine sich öffnete und spähte sachte hinüber. Der alte Mann war nicht bewaffnet, wenigstens war keine Waffe zu sehen; er schien nichts zu argwöhnen, war nur erleichtert, daß es nicht zum Zusammenstoß gekommen war. Der General ging auf das linke Fenster des Renault zu, seine Stimme klang besorgt, hatte aber zugleich einen befehlsgewohnten Unterton.
«Was soll das? Was haben Sie sich eigentlich gedacht? Sind sie verletzt? Alles in Ordnung bei Ihnen?«Seine Hände griffen nach dem Fensterrahmen.
«Ja, aber bei Ihnen nicht«, erwiderte Borowski in englischer Sprache und hob die Waffe.
«Was…«Der alte Mann hielt die Luft an, stand plötzlich ganz aufrecht da.»Wer sind Sie und was soll das?«
Jason stieg aus dem Renault, die linke Hand über dem Lauf der Waffe.»Ich bin froh, daß Sie so fließend Englisch sprechen. Gehen Sie zu Ihrem Wagen zurück. Fahren Sie ihn von der Straße herunter.«
«Und wenn ich mich weigere?«
«Dann töte ich Sie sofort. Es gehört nicht viel dazu, mich zu reizen.«
«Stammen diese Worte von den Roten Brigaden? Oder vom
Pariser Zweig der Baader-Meinhof-Gruppe?«
«Warum? Könnten Sie dann Gegenbefehl geben?«
«Ich pfeife auf sie! Und auf Sie auch!«
«Niemand hatte je Zweifel an Ihrem Mut, General. Gehen Sie zu Ihrem Wagen.«
«Das ist keine Frage des Mutes!«sagte Villiers ohne sich zu bewegen.»Das ist eine Frage der Logik. Wenn Sie mich töten, erreichen Sie gar nichts, und noch viel weniger, wenn Sie mich entführen. Meine Befehle stehen fest, und mein Stab und meine Familie werden sie befolgen. Die Israeli haben völlig recht. Es kann keine Verhandlungen mit Terroristen geben. Schießen Sie schon, Sie Abschaum! Oder verschwinden Sie!«
Jason studierte den alten Soldaten und war sich plötzlich zutiefst unsicher. Er wagte einen Vorstoß, er würde sich nicht täuschen lassen.
«Im Restaurant soeben sagten Sie, daß Frankreich niemandes Lakai sein sollte. Aber ein General von Frankreich hat sich zum Lakai degradieren lassen. General Andre Villiers ist der Bote für Carlos, ist der Kontaktmann von Carlos, ist der Soldat von Carlos, ist der Lakai von Carlos.«
Die wütenden Augen weiteten sich, aber nicht so, wie Jason das erwartet hatte. In die Wut mischte sich plötzlich Haß, nicht Schock, nicht Hysterie, sondern tiefer, kompromißloser Abscheu. Villiers Handrücken schoß hoch, beschrieb einen Bogen, klatschte in Borowskis Gesicht, ein scharfer, schmerzhafter Laut. Und dann folgte ein weiterer Schlag mit der Handfläche, brutal, beleidigend, so kräftig, daß Jason zurückfuhr. Der alte Mann rückte nach, der Lauf der Waffe hielt ihn auf, aber er hatte keine Angst, sie bereitete ihm keinen Schrecken, ihn beherrschte nur der Drang, den anderen zu bestrafen. Die Schläge folgten dicht aufeinander, ein Besessener schlug hier zu.
«Schwein!«schrie Villiers.»Schmutziges, widerliches Schwein! Abschaum!«
«Ich schieße! Ich töte Sie! Aufhören!«Aber Borowski konnte den Abzug nicht betätigen. Er fühlte sich mit dem Rücken gegen den kleinen Wagen gedrängt, die Schultern gegen das Dach gepreßt. Und der alte Mann griff immer noch an, seine Hände flogen, schwangen, schmetterten ihm ins Gesicht.
«Töten Sie mich, wenn Sie es können — wenn Sie es wagen! Dreckskerl!«
Jason warf die Waffe weg und hob die Arme, um Villiers Angriff aufzuhalten. Seine linke Hand schoß vor, packte das rechte Handgelenk des alten Mannes, dann sein linkes, umklammerte den linken Unterarm, der wie ein Schwert herunterfuhr. Er drehte beide kräftig herum, zwang damit Villiers zu sich heran, zwang den alten Soldaten, reglos zu stehen, so daß ihre Gesichter nur ein paar Zoll voneinander entfernt waren, und der Brustkasten des alten Mannes sich hob und senkte, vor Empörung.
«Wollen Sie mir vielleicht sagen, daß Sie nicht Carlos' Mann sind? Leugnen Sie es?«
Villiers warf sich vor, versuchte, Borowskis Griff zu brechen, und sein mächtiger Brustkasten stieß gegen Jason.»Ich verabscheue Sie! Sie Bestie!«
«Verdammt — ja oder nein?«
Der alte Mann spuckte Borowski ins Gesicht, und das Feuer in seinen Augen war jetzt erloschen, Tränen standen in ihnen.»Carlos hat meinen Sohn getötet«, sagte er im Flüsterton.»Meinen einzigen Sohn hat er in der Rue du Bac getötet. Fünf Stangen Dynamit haben das Leben meines Sohnes auf der Rue du Bac beendet!«
Jason lockerte langsam den Druck seiner Finger. Schwer atmend sprach er, so leise er das konnte.
«Fahren Sie Ihren Wagen ins Feld und bleiben Sie dort. Wir müssen miteinander reden, General. Etwas ist geschehen, wovon Sie nichts wissen. Wir sollten besser beide mehr darüber erfahren.«
«Nie! Unmöglich! Das kann es nicht geben!«
«Das gibt es«, sagte Borowski, der vorne neben Villiers saß.
«Dann ist ein schrecklicher Fehler begangen worden! Sie wissen nicht, was Sie sagen!«
«Kein Fehler — und ich weiß, was ich sage, weil ich die Nummer selbst gefunden habe. Es ist nicht nur die richtige Nummer, es ist auch eine ausgezeichnete Deckung. Niemand, der im Besitz seines Verstandes ist, würde Sie mit Carlos in Verbindung bringen. Besonders angesichts des Todes Ihres Sohnes. Ist es allgemein bekannt, daß er von Carlos getötet wurde?«
«Können Sie sich etwas deutlicher ausdrücken, Monsieur.«
«Entschuldigung. Bitte, beantworten Sie meine Frage.«
«Allgemein bekannt? Was die Sürete angeht, eindeutig ja.
Was die militärische Abwehr und Interpol betrifft, ganz bestimmt. Ich habe die Berichte gelesen.«
«Was stand in ihnen?«
«Man vermutete, daß Carlos seinen Freunden aus den Tagen der Radikalen einen Gefallen tat. Bis zu dem Punkt, da er insgeheim zuließ, daß sie die Verantwortung für die Tat auf sich nahmen. Sie hatten politische Motive, müssen Sie wissen. Mein Sohn war ein Opfer, ein Exempel für andere, die sich gegen die Fanatiker stellten.«
«Fanatiker?«
«Die Extremisten bildeten eine falsche Koalition mit den Sozialisten und machten Versprechungen, die sie nie zu halten beabsichtigten. Mein Sohn erkannte das, deckte es auf und forderte neue Gesetze, um das Bündnis zu blockieren. Dafür hat man ihn getötet.«
«Haben Sie deshalb Ihren Abschied aus der Armee genommen und sich zur Wahl gestellt?«
«Mit ganzem Herzen. Üblicherweise führt der Sohn das Werk des Vaters fort…«Der alte Mann hielt inne, und das Mondlicht beleuchtete sein verhärmtes Gesicht.»In dieser Angelegenheit war es das Vermächtnis des Vaters, das Werk des Sohnes fortzuführen. Er war kein Soldat und ich kein Politiker, aber Waffen und Explosivstoffe sind mir nicht fremd. Sein Gedankengut war von mir geprägt. Seine Philosophie entsprach der meinen, und dafür hat man ihn getötet. Meine Entscheidung stand fest. Ich würde das, was wir für richtig hielten, in die politische Arena tragen und mich seinen Feinden stellen. Der Soldat war auf sie vorbereitet.«
«Mehr als ein Soldat, vermute ich.«
«Was meinen Sie damit?«
«Jene Männer in dem Restaurant. Sie sahen so aus, als hätten sie einmal die halbe französische Streitmacht angeführt.«
«Das haben sie, Monsieur. Es sind die legendären zornigen jungen Kommandeure von Saint-Cyr. Die Republik war korrupt, das Militär unfähig, die Maginotlinie ein Witz. Hätte man damals auf sie gehört, wäre Frankreich nicht gefallen. Sie wurden die Führer der Resistance. Sie kämpften in ganz Europa und Afrika gegen die Boches und Vichy.«
«Und was tun sie jetzt?«
«Die meisten leben von ihren Pensionen, und viele läßt die Vergangenheit nicht in Ruhe. Sie beten zur Heiligen Jungfrau, daß diese Vergangenheit endgültig begraben sein möge. Aber die Fakten sprechen dagegen. Das Militär ist zu einer Farce geworden, Kommunisten und Sozialisten in der Nationalversammlung sorgen dafür, daß die Macht der Streitkräfte ausgehöhlt wird. Nur Moskau bleibt sich treu, es ändert sich über all die Jahrzehnte nicht. Eine freie Gesellschaft verführt zur Infiltration, und sobald sie einmal infiltriert ist, schreiten die Veränderungen fort, bis jene Gesellschaft völlig pervertiert ist. Verschwörung ist überall; man muß sich gegen sie stellen.«
«Das alles klingt sehr extrem.«
«Wieso? Weil es ums Überleben geht? Weil es die Ehre anbelangt? Sind das Begriffe, die Ihnen anachronistisch erscheinen?«
«Ich glaube nicht. Aber ich kann mir vorstellen, daß man im Namen dieser Begriffe viel Schaden anrichten kann.«
«Da gehen unsere Ansichten auseinander, aber ich will nicht darüber streiten. Sie haben mich nach meinen Kameraden gefragt, und ich habe Ihnen Antwort gegeben. Aber jetzt bitte zu dieser unglaublichen Fehlinformation, die Sie haben. Ich bin fassungslos. Sie wissen nicht, wie es ist, wenn man einen Sohn verliert, wenn einem ein Kind getötet wird.«
Der Schmerz packt mich wieder, wenn ich wüßte weshalb.
Schmerz und Leere, ein Vakuum am Himmel. Vom Himmel. Tod am Himmel und vom Himmel. Herrgott, tut das weh. Es. Was ist es?
«Ich kann Ihnen das nachfühlen«, sagte Jason und verkrampfte die Hände ineinander, um das plötzliche Zittern besser verbergen zu können.«
«Niemand, der im Vollbesitz seines Verstandes ist, würde mich mit Carlos in Verbindung bringen, geschweige denn dieses Schwein persönlich. Es wäre ein Risiko, das er nie eingehen würde. Undenkbar.«
«Genau. Deshalb sage ich ja, daß Sie mißbraucht werden; es ist undenkbar. Sie sind der perfekte Zwischenträger für definitive Anweisungen.«
«Unmöglich! Wie sollte das gehen?«
«Jemand, der Zugang zu Ihrem Telefon hat, steht in direkter Verbindung mit Carlos. Man benutzt Codes, gewisse Worte, um jene Person ans Telefon zu locken. Wahrscheinlich, wenn Sie nicht da sind, möglicherweise aber sogar dann. Bedienen Sie ihr Telefon selbst?«
Villiers runzelte die Stirn.»Um die Wahrheit zu sagen, nein. Nicht diese Nummer. Es gibt zu viele Leute, denen ich aus dem Wege gehe, deshalb habe ich eine Privatnummer.«
«Und wer bedient das Telefon dann?«
«Gewöhnlich die Haushälterin oder ihr Mann, der mir teilweise als Butler, teilweise als Chauffeur dient. Er war während meiner letzten Jahre beim Militär mein Fahrer. Und wenn keiner von ihnen beiden zur Stelle ist, natürlich meine Frau. Oder mein Assistent, der oft in meinem Büro zu Hause arbeitet; er war mein Adjutant.«
«Wer sonst?«
«Sonst gibt es niemanden.«
«Hausangestellte? Mädchen?«
«Wir haben keine feste Hausangestellte; wenn wir eine brauchen, stellen wir sie kurzfristig auf begrenzte Zeit ein. Der Reichtum der Villiers liegt mehr im Namen als auf den Banken.«
«Reinemachefrau?«
«Zwei. Sie kommen zweimal die Woche, und nicht immer dieselben zwei.«
«Sie sollten sich Ihren Chauffeur und den Adjutanten näher ansehen.«
«Lächerlich! Ihre Loyalität steht außer Frage.«
«Das hat man von Brutus auch gesagt, und Cäsar hatte einen höheren Rang als Sie.«
«Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
«Doch, das ist mir bitter ernst. Und Sie sollten mir das auch glauben. Alles, was ich Ihnen gesagt habe, ist die Wahrheit.«
«Aber eigentlich haben Sie mir gar nicht sonderlich viel gesagt, oder? Ihren Namen, zum Beispiel.«
«Der ist nicht nötig. Wenn Sie ihn kennen würden, könnte das ein Nachteil für Sie sein.«
«In welcher Hinsicht?«
«In der zugegebenermaßen sehr geringen Möglichkeit, daß ich in bezug auf die Verbindungsperson unrecht habe — und diese Möglichkeit besteht eigentlich kaum.«
Der alte Mann nickte, so wie alte Männer das tun, wenn sie Worte wiederholen, die sie so verblüfft haben, daß sie sie nicht glauben können. Sein faltiges Gesicht bewegte sich im Mondlicht auf und ab.»Ein Mann ohne Namen hält mich nachts auf der Straße auf, richtet eine Pistole auf mich und erhebt eine geradezu ungeheuerliche Anklage — einen
Vorwurf, der so entsetzlich ist, daß ich ihn am liebsten töten möchte — und erwartet dann von mir, daß ich sein Wort akzeptiere. Das Wort eines Mannes ohne Namen und mit einem Gesicht, das ich nicht erkenne, und keinerlei Beweismittel. Er behauptet nur, daß Carlos ihn jagt. Sagen Sie mir selbst, weshalb sollte ich diesem Mann Glauben schenken?«
«Weil«, antwortete Borowski,»er keinen Anlaß hätte, zu Ihnen zu kommen, wenn er nicht von der Wahrheit überzeugt wäre.«
Villiers starrte Jason an.»Nein, es gibt einen besseren Grund. Vor einer Weile haben Sie mir mein Leben gegeben. Sie warfen Ihre Pistole auf den Boden anstatt zu feuern. Das hätten Sie aber tun können. Leicht. Statt dessen zogen Sie dann eine Unterhaltung mit mir vor.«
Der alte Mann wies auf den Renault, der zehn Meter von ihnen entfernt auf dem Feld stand.»Fahren Sie hinter mir her nach Parc Monceau. Wir wollen uns in meinem Büro weiter unterhalten. Ich schwöre bei meinem Leben, daß Sie bezüglich beider Männer Unrecht haben; aber schließlich haben Sie recht damit, daß Cäsar von falscher Ergebenheit getäuscht wurde. Und er hatte in der Tat einen höheren Rang als ich.«
«Wenn ich jenes Haus betrete und jemand mich erkennt, bin ich ein toter Mann. Ebenso wie Sie.«
«Mein Assistent ging heute Nachmittag kurz nach fünf Uhr weg, und der Chauffeur, wie Sie ihn nennen, geht spätestens um zehn, um fernzusehen. Sie können ja draußen warten, bis ich hineingehe und mich umsehe. Wenn alles normal ist, rufe ich Sie. Wenn nicht, komme ich wieder heraus und fahre weg. Dann folgen Sie mir wieder. Ich halte irgendwo dann an.«
Jason beobachtete Villiers beim Sprechen und fragte skeptisch.»Warum wollen Sie, daß ich nach Parc Monceau zurückfahre?«
«Wohin denn sonst? Ich bin gespannt auf die Begegnung. Einer der Männer liegt im Bett und glotzt in die Fernsehröhre. Ferner möchte ich, daß meine Frau Bescheid weiß. Sie ist eine alte Soldatenfrau und hat ein untrügliches Gespür für solche Dinge. Ich habe mir angewöhnt, mich auf sie in dieser Hinsicht zu verlassen; sobald sie Ihre Stimme hört, ist es möglich, daß ihr irgend etwas auffällt.«
Borowski mußte es einfach aussprechen:»Ich habe Sie in die Falle gelockt, indem ich Sie täuschte. Sie können nun mich in die Falle locken, indem Sie mich täuschen. Woher soll ich wissen, daß Parc Monceau keine Falle ist?«
Der alte Mann zuckte mit keiner Wimper.»Sie haben das Wort eines Generals von Frankreich, und das ist alles, was ich Ihnen geben kann. Wenn Ihnen das nicht genügt, dann nehmen Sie Ihre Waffe und verschwinden Sie hier.«
«Es genügt«, sagt Borowski.»Nicht weil es das Wort eines Generals ist, sondern weil es das Wort eines Mannes ist, dessen Sohn in der Rue du Bac getötet wurde.«
Die Rückkehr nach Paris schien Jason viel länger als die Herfahrt. Er kämpfte jetzt wieder gegen Bilder; Bilder, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieben. Der teuflische Schmerz begann an seinen Schläfen und zog sich durch seine Brust, bis er einen Klumpen in seinem Magen bildete — er war so unerträglich, daß er am liebsten geschrieen hätte.
Tod am Himmel… vom Himmel. Nicht Dunkelheit, sondern blendendes Sonnenlicht. Keine Winde, die meinen Körper in tiefe Dunkelheit treiben, sondern statt dessen Schweigen und die Geräusche des Dschungels… an einem Flußufer. Stille, gefolgt vom Kreischen der Vögel und dem Dröhnen der Maschinen. Vögel… Maschinen… die im blendenden Sonnenlicht nach unten rasen. Explosionen. Tod. Der Jungen und der sehr Jungen.
Aufhören! Das Rad anhalten! Du mußt dich jetzt auf die Straße konzentrieren. Du darfst nicht denken. Denken ist zu schmerzhaft. Du weißt nicht weshalb.
Sie erreichten die von Bäumen gesäumte Straße in Parc Monceau. Villiers fuhr hundert Meter vor ihm, mit einem Problem konfrontiert, das er noch vor Stunden nicht gekannt hatte; jetzt waren viel mehr Fahrzeuge auf der Straße. Einen Parkplatz zu finden, würde schwierig sein.
Aber da gab es einen genügend großen Platz zur Linken, schräg gegenüber dem Haus des Generals. Villiers hielt die Hand zum Fenster hinaus und winkte Jason zu, ihm zu folgen.
Und dann geschah es. Jasons Augen wurden von einem Lichtschein in einer Tür geblendet und erfaßte in Sekundenschnelle die Gestalten im schwachen Licht; Entsetzen packte ihn und ganz automatisch, vom Instinkt geleitet, griff er nach der Pistole, die in seinem Gürtel steckte.
Hatte man ihn doch in eine Falle gelockt? War das Wort eines Generals von Frankreich wertlos gewesen?
Villiers manövrierte seine Limousine in die Parklücke.
Borowski drehte sich in seinem Sitz herum und schätzte die Umgebung ab; aber niemand kam auf ihn zu, niemand näherte sich. Die Situation war so unwirklich und doch wieder so wirklich, daß der alte Haudegen nichts begreifen konnte.
Denn auf der anderen Straßenseite, auf den Stufen, die in Villiers Haus führten, stand eine junge, attraktive Frau unter der Türe. Sie redete schnell und mit kleinen, ängstlich wirkenden Gesten auf einen Mann ein, der auf der obersten Treppenstufe stand und die ganze Zeit nickte, als erhielte er Instruktionen. Und dieser Mann war der grauhaarige, distinguiert aussehende Telefonist vom Les Classiques. Der Mann, dessen Gesicht Jason irgendwie bekannt vorkam. Ein Gesicht, das andere Bilder ausgelöst hatte… Bilder, die gewalttätig und schmerzhaft waren, die ihn nicht in Ruhe ließen, wie jene letzte halbe Stunde in dem Renault gezeigt hatte…
Aber etwas war hier anders. Dieses Gesicht weckte Erinnerungen an Finsternis und stürmische Winde am nächtlichen Himmel, an Explosionen, die eine nach der anderen kamen, Geräusche von einem Stakkato-Gewehrfeuer, das durch die Myriaden-Tunnels eines Dschungels hallte.
Borowski wandte mit einiger Mühe den Blick von der Türe und sah Villiers durch die Windschutzscheibe an. Der General hatte seine Scheinwerfer abgeschaltet und war jetzt im Begriff, aus dem Wagen zu steigen. Jason ließ die Kupplung los und rollte nach vorne, bis er mit der hinteren Stoßstange der Limousine kollidierte. Villiers fuhr in seinem Sitz herum.
Borowski schaltete seine eigenen Scheinwerfer ab und knipste das kleine Dachlicht im Wageninneren an. Er hob die Hand — die Handfläche nach unten — und hob sie dann noch zweimal, sagte dem alten Soldaten, er solle bleiben, wo er war. Villiers nickte, und Jason schaltete die Lichter ab.
Er blickte wieder zu der Türe hinüber. Der Mann war einen Schritt nach unten gegangen, ein letzter Befehl der Frau hatte ihn aufgehalten. Borowski konnte sie jetzt ganz deutlich sehen. Sie war Mitte bis Ende Dreißig und hatte kurzes, dunkles Haar, das modisch geschnitten war und ein von der Sonne gebräuntes Gesicht einrahmte. Sie war eine hochgewachsene Frau, fast statuenhaft, und das eng anliegende Tuch eines langen, weißen Kleides, das ihre braune Hautfarbe vorteilhaft zur Geltung brachte, hob ihre schwellenden Brüste hervor. Wenn sie Teil des Hauses war, hatte Villiers sie nicht erwähnt, und das bedeutete, daß sie das vermutlich nicht war. Sie schien eine Besucherin zu sein, die wußte, wann der richtige Zeitpunkt war, um zu dem Haus des alten Mannes zu kommen. Das bedeutete, daß es eine Kontaktperson in Villiers Haus gab, die mit ihr in Verbindung stand. Der alte Mann mußte sie eigentlich kennen!
Der grauhaarige Telefonist nickte ein letztes Mal, kam die Treppe herunter und ging schnell die Straße entlang. Die Türe schloß sich, und das Licht der Kutschenlampen beleuchtete die verlassene Treppe und die glänzende schwarze Tür mit den Bronzebeschlägen.
Warum bedeuteten jene Stufen und jene Türe etwas für ihn?
Waren es Bilder? Eine Realität, die nicht existierte?
Borowski stieg aus dem Renault, beobachtete die Fenster, hielt Ausschau nach der Bewegung eines Vorhangs; doch da war nichts. Er ging schnell zu Villiers Wagen; das vordere Seitenfenster wurde heruntergekurbelt, das Gesicht des Generals erschien, und seine dichten Augenbrauen hoben sich überrascht.»Was um Himmels willen tun Sie?«fragte er.
«Dort drüben bei Ihrem Haus«, sagte Jason und duckte sich ein wenig,»Sie haben es auch gesehen?«
«Ja, und?«
«Wer war die Frau? Kennen Sie sie?«
«Das will ich meinen! Sie ist meine Frau.«
«Ihre Frau!« Borowski war die Überraschung anzusehen.
«Ich dachte, Sie hätten gesagt… ich dachte, Sie hätten gesagt, sie sei eine alte Frau. Sie wollten, daß Sie mich anhört, weil Sie seit Jahren Ihrem Urteil blind vertrauen. Das haben Sie vorhin gesagt.«
«Nicht genau. Ich habe gesagt, sie sei eine alte Soldatenfrau. Und ich habe in der Tat großen Respekt vor ihrem Urteil. Aber sie ist meine zweite Frau — meine sehr viel jüngere zweite Frau — aber mir ebenso lieb wie meine erste, die vor acht Jahren starb.«
«O mein Gott… «
«Machen Sie sich keine Gedanken über den Altersunterschied. Sie ist stolz und glücklich, die zweite Madame Villiers zu sein. Sie war mir im Rat eine große Hilfe.«
«Es tut mir leid«, flüsterte Borowski.»Herrgott, es tut mir leid.«
«Was denn? Sie haben sie mit jemand anderem verwechselt?
Das geschieht häufig; sie ist schließlich eine auffallende Schönheit. Ich bin sehr stolz auf sie. «Villiers öffnete die Tür, während Jason sich aufrichtete.»Warten Sie hier«, sagte der General,»ich gehe hinein und sehe nach; wenn alles in Ordnung ist, öffne ich die Tür und gebe Ihnen ein Zeichen. Wenn nicht, komme ich zum Wagen zurück, dann fahren wir weg.«
Borowski blieb reglos vor Villiers stehen und hinderte damit den alten Mann am Aussteigen.»General, ich muß Sie etwas fragen. Ich weiß nicht recht, wie ich es anstellen soll, aber ich muß. Ich sagte Ihnen ja, daß ich Ihre Telefonnummer in einer Verbindungsstation gefunden habe, die Carlos benutzt. Ich habe Ihnen nicht gesagt, wo. Nur, daß sie von einer Person bestätigt wurde, die zugab, Nachrichten zwischen Carlos und dessen Kontaktpersonen zu vermitteln. «Borowski atmete tief, und sein Blick wanderte kurz zu der Tür auf der anderen Straßenseite.»Jetzt muß ich Ihnen eine Frage stellen und Sie bitten, sorgfältig nachzudenken, ehe Sie antworten. Kauft Ihre Frau ihre Kleider in einem Geschäft, das sich Les Classiques nennt?«
«In Saint-Honore?«
«Ja.«
«Ich weiß zufällig, daß sie das nicht tut.«
«Sind Sie sicher?«
«Ganz und gar. Nicht nur, daß ich nie eine Rechnung von diesem Geschäft gesehen habe, sondern sie hat mir auch gesagt, daß ihr die Stoffe dort nicht gefallen. Meine Frau kennt sich in Modedingen sehr gut aus.«
«Mein Gott.«
«Was?«
«General, ich kann dieses Haus nicht betreten. Ich kann dort nicht hineingehen.«
«Warum nicht? Was wollen Sie damit sagen?«
«Der Mann auf der Treppe, der mit Ihrer Frau sprach. Er kommt von der Verbindungsstelle; das ist Les Classiques. Er ist ein Kontaktmann für Carlos.«
Alles Blut wich aus Andre Villiers Gesicht. Er wandte sich um, starrte über die von Bäumen gesäumte Straße zu seinem Haus hinüber auf die glänzende schwarze Tür und die Bronzedekoration, die das Licht der Kutschenlampen spiegelte.
Der pockennarbige Bettler kratzte sich die Bartstoppeln, nahm seine fadenscheinige Mütze ab und zwängte sich durch das Bronzeportal der kleinen Kirche in Neuilly-sur-Seine.
Er ging unter den mißbilligenden Blicken zweier Priester den rechten Aufgang hinunter. Die beiden Kleriker ärgerten sich; das war eine wohlhabende Gemeinde, und allem biblischen Mitgefühl zum Trotz hatte der Wohlstand doch
seine religiösen Privilegien. Eine dieser Privilegien bestand darin, daß man eine gewisse Klasse von Gläubigen bevorzugte
— und dieses alte, heruntergekommene Wrack paßte eigentlich nicht hierher.
Der Bettler machte einen mißglückten Versuch einer Kniebeuge und setzte sich dann in einen Betstuhl in der zweiten Reihe, bekreuzigte sich und kniete nieder, den Kopf
im Gebet versunken, schob mit der rechten Hand den linken
Ärmel seines Mantels zurück. An seinem Handgelenk war eine Uhr zu sehen, die irgendwie nicht zu seiner sonstigen
Kleidung paßte. Es war eine teure Digitaluhr mit großen, auffälligen Ziffern. Ein Besitzstück, von dem man sich nie trennen würde, denn es handelte sich um ein Geschenk von Carlos. Vor einiger Zeit war er einmal fünfundzwanzig Minuten zu spät zur Beichte gekommen und hatte damit seinen Wohltäter verärgert, und keine andere Entschuldigung vorbringen können, als daß er keine genaue Uhr besessen habe. Bei ihrer nächsten Verabredung hatte Carlos sie unter dem halbdurchsichtigen Vorhang durchgeschoben, der den Sünder vom heiligen Manne trennte.
Stunde und Minute stimmten. Der Bettler erhob sich und ging auf den zweiten Beichtstuhl zur Rechten zu. Er öffnete den Vorhang und trat ein.
«Angelus Domini.«
«Angelus Domini, Kind Gottes. «Das Flüstern hinter dem schwarzen Tuch klang hart.»Sind deine Tage angenehm?«
«Sie werden angenehm gemacht… «
«Sehr gut«, unterbrach die Silhouette.»Was hast du mir gebracht? Meine Geduld geht zur Neige. Ich zahle Tausende — Hunderttausende — wofür? Für Unfähigkeit und Versagen. Was geschah in Montrouge? Wer war für die Lügen verantwortlich, die von der Botschaft in Montaigne kamen? Wer hatte damit zu tun?«
«Die >Auberge du Coin< war eine Falle. Es ist schwierg herauszufinden, was eigentlich los war. Wenn der Attache namens Corbelier nur Lügen wiederholte, sind unsere Leute zumindest überzeugt, daß er sich dessen nicht bewußt war. Er ist von der Frau getäuscht worden.«
«Von Cain ist er getäuscht worden! Borowski verfolgt die Spur jedes Gewährsmannes bis zu ihrem Ursprung. Er gibt falsche Informationen weiter und bringt uns dadurch in Gefahr, das gibt er unumwunden zu. Aber warum? Wir wissen jetzt, was und wer er ist, aber er läßt Washington zappeln. Er will im dunkeln bleiben.«
«Die Antwort«, sagte der Bettler,»liegt in der Vergangenheit begraben. Aber ich glaube, er will seine Ruhe haben. Die amerikanische Abwehr verfügt über genügend selbstherrliche Autokraten, die heute so und morgen so denken und selten miteinander in Verbindung stehen. In den Tagen des kalten Krieges konnte man viel Geld verdienen, wenn man denselben Stationen drei- oder viermal Informationen verkaufte. Vielleicht wartet Cain, bis er glaubt, daß es nur noch eine Möglichkeit gibt, die Dinge in Ordnung zu bringen.«
«Das Alter hat Ihren Verstand noch nicht getrübt, alter Freund. Deshalb habe ich auch Sie gerufen.«
«Ode r«, fuhr der Bettler fort,»es könnte natürlich auch sein, daß er es sich überlegt und kehrtgemacht hat. Das wäre nicht das erste Mal, daß so etwas passiert.«
«Das glaube ich nicht, aber darauf kommt es nicht an. Washington glaubt, daß er die Fronten gewechselt hat. Der >Mönch< ist tot, alle sind sie tot in Treadstone. Cain steht als der Killer fest.«
«Der >Mönch«sagte der Bettler.»Ein Name aus der Vergangenheit; er war in Berlin tätig, in Wien. Wir kannten ihn gut und waren froh, wenn wir ihm nicht zu nahe kamen. Da haben Sie Ihre Antwort, Carlos. Es war stets der Stil des >Mönchs<, die Zahl der Leute, mit denen er zu tun hatte, so gering wie möglich zu halten. Er ging von der Theorie aus, daß seine Kreise infiltriert und nicht zuverlässig waren. Er muß Cain Anweisung gegeben haben, nur ihm zu berichten. Das würde die Verwirrung in Washington erklären, die Monate des Schweigens.«
«Aber was bedeutet es für uns? Nichts ist passiert.«
«Das kann viele Ursachen haben. Krankheit, Erschöpfung, zur Ausbildung zurückgerufen. Oder einfach nur das Ziel, Verwirrung unter den Feinden zu säen. Der >Mönch< hatte immer einen ganzen Sack voller Tricks.«
«Und doch sagte er, ehe er starb, zu einem Kollegen, daß er nicht wüßte, was geschehen war. Daß er nicht einmal sicher sei, daß der Mann wirklich Cain war.«
«Wer war der Kollege?«
«Ein Mann namens Gillette. Er war unser Mann, aber das kann Abbott nicht gewußt haben.«
«Noch eine Möglichkeit: der >Mönch< hatte für solche Männer einen Instinkt. In Wien hieß es immer, David Abbott würde selbst dem lieben Gott nicht über den Weg trauen.«
«Möglich. Was Sie sagen, beruhigt mich; Sie suchen Dinge, die andere nicht suchen.«
«Ich hab' Erfahrung; ich war einmal ein wichtiger Mann. Unglücklicherweise habe ich keine Beziehung zum Geld.«
«Die haben Sie immer noch nicht.«
«Wir hätten einander in den alten Tagen kennen sollen.«
«Jetzt werden Sie anmaßend, Carlos.«
«So ist das immer. Sie wissen, daß ich weiß, daß Sie mein Leben jeden Augenblick auslöschen können, also muß ich einen Wert für Sie besitzen, der nicht nur mit Erfahrung zu erklären ist.«
«Was haben Sie mir noch mitzuteilen?«
«Es ist vielleicht nicht besonders wichtig, aber immerhin… Ich habe ordentliche Kleider angezogen und den Tag in der >Auberge du Coin< verbracht. Es gab dort einen Mann, einen korpulenten Mann — die Sürete hat ihn verhört und entlassen— dessen gehetzter Blick mir auffiel. Er schwitzte auch zu viel. Jedenfalls kam er mir verdächtig vor. Ich habe mich mit ihm unterhalten und zeigte ihm ein offizielles NATO-Ausweispapier, das ich mir Anfang der fünfziger Jahre hatte machen lassen. Anscheinend hat er gestern früh um drei Uhr einen Wagen vermietet. An einen blonden Mann in Begleitung einer Frau. Die Beschreibung paßt zu der Fotografie aus Argenteuil.«
«Vermietet?«
«So hat er es mir dargestellt. In ein oder zwei Tagen sollte die Frau den Wagen zurückgeben.«
«Das wird nie geschehen.«
«Natürlich nicht, aber es läßt Rückschlüsse zu… Warum sollte Cain sich die Mühe machen, sich ausgerechnet auf die Weise ein solches Fahrzeug zu beschaffen?«
«Um so schnell wie möglich wegzukommen.«
«In diesem Falle ist die Information wertlos«, sagte der
Bettler.»Andererseits gibt es so viele Möglichkeiten, auf weniger auffällige Art zu verreisen. Und Borowski muß jedem mißtrauen.«
«Worauf wollen Sie hinaus?«
«Ich gebe zu bedenken, daß Borowski sich diesen Wagen zu dem einzigen Zweck beschafft haben könnte, um jemanden hier in Paris zu verfolgen. Kein Herumlungern in der Öffentlichkeit, wo man ihn vielleicht entdecken könnte, keine Mietwagen, die Hinweise geben, keine hektische Suche nach Taxis. Statt dessen einfach nur ein Austausch von Zulassungsschildern und ein unauffälliger schwarzer Renault in den überfüllten Straßen. Wo sollte man da suchen?«
Die Silhouette wandte sich ihm zu.»Die Lavier«, sagte der Meuchelmörder im Beichtstuhl leise.»Und jeder andere in Les Classiques, den er verdächtigt. Das ist der Ort, wo man sie beobachten kann. Binnen Tagen — vielleicht binnen Stunden— wird man einen unauffälligen schwarzen Renault sehen und ihn finden. Haben Sie eine Beschreibung des Wagens?«
«Bis auf die letzte Beule am hinteren Kotflügel.«
«Gut. Sagen Sie den anderen alten Männern Bescheid. Durchkämmen Sie die Straßen, die Garagen und die Parkplätze. Derjenige, der den Renault findet, hat für alle Zeiten ausgesorgt.«
«Weil wir schon gerade bei dem Thema sind…«
Ein Umschlag schob sich zwischen dem Vorhang und der Filzbespannung des Beichtstuhls durch.»Wenn sich Ihre
Theorie als richtig erweist, können Sie das als eine rein symbolische Geste betrachten.«
«Ich habe recht, Carlos.«
«Warum sind Sie so überzeugt?«
«Weil Cain das tut, was Sie tun würden, was ich getan hätte— damals, in den alten Tagen. Man muß den Hut vor ihm ziehen.«
«Töten muß man ihn«, sagte der Meuchelmörder.»Im
Zeitablauf ist Symmetrie. In ein paar Tagen ist der 25. März. Am 25. März 1968 wurde Jason Borowski im Dschungel von Tam Quan exekutiert. Jetzt, Jahre später — fast auf den Tag genau — wird ein anderer Jason Borowski gejagt, und die
Amerikaner sind ebenso eifrig erpicht wie wir, daß er getötet wird. Ich frage mich, wer von uns diesmal den Abzug drücken wird.«
«Ist das wichtig?«
«Ich will ihn haben«, flüsterte die Silhouette.»Er war nie echt, und das war sein Fehler. Sagen Sie den alten Männern, sie sollen in Parc Monceau Bescheid sagen, wenn sie ihn finden. Sie sollen ihn nur im Auge behalten. Ich möchte, daß er am 25. März noch am Leben ist. Am 25. März werde ich ihn selbst töten und seine Leiche an die Amerikaner ausliefern.«
«Ich werde sofort Bescheid geben.«
«Angelus Domini, Kind Gottes.«
«Angelus Domini«, sagte der Bettler.
Der alte Soldat schritt schweigend neben dem jüngeren Mann den mondbeschienenen Weg im Bois de Boulogne hinab. Keiner von beiden sagte etwas, es war schon viel zuviel gesagt worden. Villiers mußte über das Gehörte nachdenken. Und er bezog Stellung.
Der junge Mann schien die Wahrheit zu sprechen. Seine Augen, seine Stimme, jede seiner Gesten ließen keine Zweifel zu. Der Mann ohne Namen log nicht. Die Zelle des Verrates befand sich in Villiers' Haus. Das erklärte viele Dinge, die er vorher nicht zu fragen gewagt hatte. Ein alter Mann wollte weinen.
Für den Mann ohne Erinnerung blieb alles beim alten. Seine Geschichte klang überzeugend, weil hier die Wahrheit war. Er mußte Carlos finden, mußte erfahren, was der Meuchelmörder wußte; wenn ihm das nicht gelang, würde es für ihn kein Leben geben. Er erwähnte Marie St. Jacques nicht, auch nicht die Ile de Port Noir, oder die Nachricht, die von einem oder mehreren Unbekannten geschickt wurde, oder das Mysterium seiner eigenen Person.
Statt dessen berichtete er alles, was er über den Killer wußte, den man Carlos nannte. Jenes Wissen war so profund, daß Villiers ihn verblüfft anstarrte und Informationen erkannte, von denen er wußte, daß sie streng geheim waren. Durch seinen Sohn hatte der General Zugang zu den geheimsten Akten seines Landes über Carlos gehabt, und manches in jenen Akten paßte zu dem, was ihm der Unbekannte hier erzählte.
«Diese Frau, mit der Sie in Argenteuil sprachen, die in telefonischer Verbindung zu meinem Haus steht, und die Ihnen gegenüber zugab, Kurier zu sein…«
«Ihr Name ist Lavier«, unterbrach Borowski.
Der General machte eine Pause.»Danke. Sie hat Sie durchschaut; sie hat Sie fotografieren lassen.«
«Ja.«
«Die hatten vorher also keine Fotografie?«
«Nein.«
«Also jagt Carlos Sie ebenso wie Sie ihn jagen. Aber Sie besitzen keine Fotografie. Sie kennen nur zwei Kuriere, von denen einer in meinem Hause war.«
«Ja.«
«Und mit meiner Frau gesprochen hat.«
«Ja.«
Der alte Mann wandte sich ab. Schweigen lastete über ihnen.
Sie erreichten das Ende des Weges, wo sich ein kleiner See befand. Er war mit weißem Kies eingesäumt, und alle zehn oder fünfzehn Fuß standen Bänke und umgaben das Wasser, wie eine Ehrenwache ein Grabmonument aus schwarzem Marmor umgibt. Sie gingen zur zweiten Bank. Jetzt brach Villiers sein Schweigen.
«Ich würde mich gerne setzen«, sagte er.»Mit dem Alter lassen die Kräfte nach. Das ist mir oft peinlich.«
«Das sollte es nicht sein«, sagte Borowski und setzte sich neben ihn.
«Das sollte es nicht«, pflichtete der General ihm bei,»aber das tut es. «Er wartete einen Augenblick und fügte dann leise hinzu:»Häufig in Gesellschaft meiner Frau.«
«Das ist doch nicht so schlimm«, sagte Jason.
«Sie mißverstehen mich. «Der alte Mann wandte sich dem jüngeren zu.»Ich meine nicht das Bett. Es gibt einfach Zeiten, wo ich mich genötigt sehe, meine Aktivitäten einzuschränken— eine Abendveranstaltung früher zu verlassen, an einer Wochenendreise ans Meer nicht teilzunehmen, auf das Skifahren in Gstaad zu verzichten.«
«Ich weiß nicht, ob ich Sie verstehe.«
«Meine Frau und ich sind oft getrennt. In vieler Hinsicht lebt jeder von uns ein Leben für sich, und erfreut sich an dem, was dem anderen Spaß macht.«
«Ich begreife immer noch nicht.«
«Machen Sie es mir nicht so schwer!«sagte Villiers.
«Wenn ein alter Mann eine junge, aufregende Frau findet, die darauf erpicht ist, sein Leben mit ihm zu teilen, versteht er gewisse Dinge ganz gut, andere nicht so ohne weiteres. Da ist natürlich die finanzielle Sicherheit ausschlaggebend, und in meinem Fall ein gewisses Maß an Zugang zum öffentlichen Leben. Luxus, gesellschaftliche Ereignisse, Freundschaft mit berühmten Leuten, alles das ist wunderbar. Für einen alternden
Mann ist es ein berauschendes Gefühl, eine schöne junge Frau an seiner Seite zu wissen. Stolz präsentiert er sie der Welt. Aber dann gibt es Augenblicke quälender Eifersucht. «Der alte Soldat beugte sich ein wenig vor; das, was er sagen mußte, fiel ihm nicht leicht.»Wird sie sich einen Liebhaber nehmen?«fuhr er dann mit leiser Stimme fort.»Sehnt sie sich nach einem jüngeren, kräftigeren Körper? Einem, der mehr mit dem ihren im Einklang ist? Man kann nichts dagegen unternehmen — nur hoffen, daß sie so vernünftig ist, diskret zu sein. Ein Staatsmann, den man zum Hahnrei macht, verliert seine Wählerschaft schneller als ein Quartalsäufer; es bedeutet einfach, daß er nicht mehr Herr seiner selbst ist. Und dann kommen noch andere Sorgen dazu. Wird sie seinen Namen mißbrauchen? Wird sie die Contenance bewahren, ihr jugendliches Temperament zu zügeln wissen? Das ist das Risiko, das man eingeht, das sind die Zweifel, die an einem nagen. Und deshalb frage ich mich, ob sie nicht Teil eines Planes ist, von Anfang an.«
«Sie haben es also gespürt?«fragte Jason leise.
«Gefühle sind nicht die Realität!«konterte der alte Soldat heftig.»Sie haben keinen Platz in den Beobachtungen.«
«Warum sagen Sie mir das dann?«
Villiers' Kopf lehnte sich nach hinten, fiel dann wieder nach vorne, so daß seine Augen den See erfaßten.»Ich bete dafür, daß es eine einfache Erklärung für das gibt, was wir beide heute Abend gesehen haben, und ich werde ihr jede Gelegenheit bieten, mir diese Erklärung zu liefern. «Wieder hielt der alte Mann inne.»Aber in meinem Herzen weiß ich, daß es keine solche Erklärung gibt. Ich wußte es in dem Augenblick, in dem Sie mir von Les Classiques erzählten. Ich blickte über die Straße auf die Türe meines Hauses, und plötzlich wurden mir eine Anzahl Dinge schmerzhaft klar. Die letzten zwei Stunden habe ich den Teufelsadvokaten gespielt; es hat keinen Sinn, das fortzusetzen. Vor dieser Frau gab es meinen Sohn.«
«Aber Sie sagten doch, Sie hätten Vertrauen in ihre Urteilskraft. Sagten, sie wäre Ihnen eine große Hilfe.«
«Das stimmt, Sie müssen wissen, ich wollte ihr vertrauen, wünschte mir ganz verzweifelt, ihr vertrauen zu können. Es ist die einfachste Sache auf der Welt, sich selbst zu überzeugen, daß man recht hat. Und je älter man wird, desto leichter fällt einem das.«
«Und was haben Sie erkannt?«
«Genau die Hilfe, die sie mir war, das Vertrauen, das ich in sie setzte. «Villiers wandte sich um und sah Jason an.»Sie besitzen ein außergewöhnliches Wissen über Carlos. Ich habe jene Akten so genau studiert, wie das nur irgendein Mensch getan hat, denn ich würde mehr als jeder Mensch darum geben, daß man ihn faßt und hinrichtet, und daß ich alleine das Erschießungspeloton wäre. Doch so dick sie auch sind, jene Akten kommen nicht entfernt an das heran, was Sie wissen. Dabei haben Sie sich einzig und allein auf seine Morde konzentriert, seine Methoden. Sie haben die andere Seite von Carlos übersehen. Er ist nicht nur Waffenhändler, er ist auch Agent.«
«Das weiß ich«, sagte Borowski.»Das ist es nicht, was — «
«Zum Beispiel«, fuhr der General fort, als hätte er Jason nicht gehört.»Ich habe Zugang zu Geheimdokumenten, die sich mit der nuklearen Sicherheitspolitik Frankreichs beschäftigen. Es gibt vielleicht fünf weitere Männer — die alle über jeden Verdacht erhaben sind —, die ebenfalls Zugang dazu haben. Und doch stellen wir mit erschütternder Regelmäßigkeit immer wieder fest, daß Moskau dies, Washington jenes, und Peking schließlich wieder etwas anderes erfahren hat.«
«Sie haben mit Ihrer Frau über diese Dinge gesprochen?«fragte Borowski überrascht.
«Natürlich nicht. Jedesmal, wenn ich solche Papiere mit nach Hause bringe, verwahre ich sie in meinem Safe in meinem Büro. Niemand darf den Raum betreten, wenn ich nicht zugegen bin. Es gibt nur eine einzige Person, die einen Schlüssel besitzt, eine einzige Person, die den Alarmschalter kennt. Meine Frau.«
«Ich hätte gedacht, das sei ebenso gefährlich, wie über die Akten zu diskutieren. Man könnte sie zwingen — «
«Es gab einen Grund. Ich bin in einem Alter, in dem das Unerwartete zur Alltäglichkeit wird; ich darf Sie nur auf die Todesanzeigen verweisen. Wenn mir etwas zustoßen sollte, hat sie Anweisung, den Conseiller Militaire anzurufen, in mein Büro zu gehen, und bei dem Safe zu bleiben, bis die Sicherheitsbeauftragten erscheinen.«
«Könnte sie nicht einfach an der Türe Wache halten?«
«Es ist schon vorgekommen, daß Männer meines Alters an ihrem Schreibtisch gestorben sind. «Villiers schloß die Augen.
«Sie war es…«
«Sind Sie ganz sicher?«
«Mehr als ich mir selbst einzugestehen wage. Sie war es, die auf der Heirat bestand. Ich wies sie mehrmals auf den Altersunterschied zwischen uns hin, aber das wollte sie nicht hören. Sie sagte immer wieder, daß es auf die gemeinsamen Jahre ankäme, nicht auf jene, die unsere Geburtsdaten trennten. Sie erbot sich, eine Erklärung zu unterzeichnen und jeglichen Erbanspruch auf das Villierssche Erbe aufzugeben, und ich wies das natürlich von mir, das bewies ja, wie ergeben sie mir war. Das alte Sprichwort stimmt schon, >der schlimmste Narr ist ein alter Narr<. Aber ich hatte immer Zweifel; fast jedesmal bei Reisen oder bei unerwarteten Trennungen.«
«Unerwartet?«
«Sie hat viele Interessen, die häufig ihre Anwesenheit erfordern. Ein französisch-schweizerisches Museum in Grenoble, eine Kunstgalerie in Amsterdam, ein Denkmal für die Resistance in Boulogne-sur-Mer, eine idiotische Ozeanografie-Konferenz in Marseille, darüber gab es eine hitzige Auseinandersetzung. Ich brauchte sie dringend in Paris; wichtige diplomatische Veranstaltungen, an denen ich teilnehmen mußte, und bei denen ich sie bei mir haben sollte. Aber sie war nicht zum Bleiben zu bewegen. So, als würde man ihr befehlen, zu einem bestimmten Zeitpunkt hier oder dort oder sonst wo zu sein.«
«Wann war die Konferenz in Marseille?«fragte Jason.
«Letzten August, glaube ich. Gegen Ende des Monats.«
«Am 26. August, um fünf Uhr nachmittags, wurde Botschafter Howard Leland in Marseille ermordet.«
«Ja, ich weiß«, sagte Villiers.»Sie erwähnten das schon vorher. Ich bedauere das Hinscheiden des Mannes… «Der alte Soldat blieb stehen; er sah Borowski an.»Mein Gott«, flüsterte er.»Sie mußte bei ihm sein. Carlos rief, und sie kam. Sie gehorchte.«
«So weit bin ich nie gegangen«, sagte Jason.»Ich schwöre Ihnen, ich sah sie nur als Verbindungsperson — ein blindes Relais, wie man in der Sprache der Agenten sagt. Ich bin nie so weit gegangen.«
Plötzlich entrang sich der Kehle des alten Mannes ein tiefer, haßerfüllter Schrei. Er schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen, bäumte sich auf, legte den Kopf im Mondlicht in den Nacken und weinte.
Borowski bewegte sich nicht; da war nichts, was er tun konnte.»Es tut mir leid«, sagte er.
Der General gewann die Fassung über sich zurück.»Mir auch«, erwiderte er schließlich.»Ich bitte um Entschuldigung.«
«Nicht nötig.«
«Doch, ich glaube schon. Wir wollen nicht weiter darüber sprechen. Ich werde tun, was getan werden muß.«
«Und das wäre?«
Der Soldat saß aufrecht auf der Bank, das Kinn energisch vorgestreckt.»Da fragen Sie noch? Das, was sie getan hat, ist nichts anderes, als wenn sie mein Kind, das sie nicht trug, getötet hätte. Sie gab vor, die Erinnerung an ihn teuer zu halten, und doch war und ist sie eine Komplizin des Mordes, der an ihm begangen wurde. Und die ganze Zeit beging sie einen zweiten Verrat gegen die Nation, der ich mein ganzes Leben lang gedient habe.«
«Sie werden sie töten?«
«Ich werde sie töten. Sie wird mir die Wahrheit sagen und sterben.«
«Sie wird alles leugnen, was Sie sagen.«
«Das bezweifle ich.«
«Das ist verrückt!«
«Junger Mann, ich habe mehr als ein halbes Jahrhundert damit verbracht, die Feinde Frankreichs in die Falle zu locken und zu bekämpfen, selbst wenn es Franzosen waren. Die Wahrheit muß endlich ans Licht.«
«Was glauben Sie denn, daß sie tun wird? Dasitzen und Sie anhören und ruhig zugeben, daß sie schuldig ist?«
«Sie wird gar nichts ruhig tun. Aber sie wird es zugeben; hinausschreien wird sie es.«
«Warum sollte sie das?«
«Weil sie, wenn ich sie beschuldige, Gelegenheit haben wird, mich zu töten. Und wenn sie es versucht, handle ich in Notwehr, nicht wahr?«
«Das Risiko würden Sie eingehen?«
«Das muß ich eingehen.«
«Hören Sie mir zu«, beharrte Jason.»Sie sagen, zuerst käme
Ihr Sohn. Denken Sie an ihn! Machen Sie Jagd auf den Mörder, nicht die Komplizin. Mag sein, daß sie für Sie eine ungeheure Wunde ist, aber es gibt eine größere Wunde. Sie müssen zuerst den Mann bekommen, der Ihren Sohn getötet hat! Am Ende werden Sie sie beide bekommen. Sprechen Sie noch nicht mir ihr! Benutzen Sie Ihr Wissen gegen Carlos. Jagen Sie ihn mit mir. Niemand ist je so dicht auf seiner Spur gewesen.«
«Sie verlangen von mir Unmenschliches«, sagte der alte Mann.
«Nicht, wenn Sie an Ihren Sohn denken. Nur wenn Sie an sich denken. Aber nicht, wenn Sie an die Rue du Bac denken.«
«Sie sind hart, Monsieur.«
«Ich habe recht, und Sie wissen es.«
Eine Wolke zog am Nachthimmel vorüber und verdunkelte kurz die Mondscheibe. Die Finsternis war vollkommen; Jason schauderte. Als der alte Soldat wieder sprach, klang seine Stimme resigniert.
«Ja, Sie haben recht«, sagte er.»Sie sind hart wie Stahl, und Sie haben recht. Den Mörder, nicht die Hure, muß man zur Strecke bringen. Werden wir es schaffen?«
Jason schloß kurz erleichtert die Augen.»Tun Sie nichts. Carlos muß mich in ganz Paris suchen. Ich habe seine Männer getötet, seine Codes entdeckt, einen Kontakt gefunden. Ich bin ihm auf der Spur. Wenn ich nicht falsch gewickelt bin, wird Ihr Telefon ab jetzt immer häufiger benutzt werden. Ich sorge dafür.«
«Wie?«
«Ich werde mich an ein halbes Dutzend Angestellte von Les Classiques heranmachen. Ein paar Verkäufer, die Lavier, vielleicht Bergeron, und ganz bestimmt den Mann an der Telefonzentrale. Sie werden sprechen. Und ich werde das auch. Die ganze Zeit wird Ihr Telefon klingeln.«
«Aber was ist mit mir? Was soll ich tun?«
«Bleiben Sie zu Hause. Sagen Sie, Sie fühlten sich nicht wohl. Und jedesmal, wenn das Telefon klingelt, bleiben Sie in seiner Nähe. Hören Sie sich die Gespräche an und versuchen Sie, Codes zu erkennen. Befragen Sie Ihre Angestellten. Horchen Sie ab! Vielleicht tut sich etwas. Derjenige, der an der Leitung hängt, wird wissen, daß Sie da sind. Trotzdem, Sie werden die Verbindungsperson irritieren. Und je nachdem, wo Ihre Frau — «
«Die Hure«, unterbrach der alte Soldat.
«— in Carlos Hierarchie steht, könnte es sogar sein, daß wir ihn dazu zwingen können, ans Licht zu treten.«
«Noch einmal, wie?«
«Seine Kontakte werden gestört sein. Die absolut sichere, über jeden Verdacht erhabene Kontaktperson gerät in Schwierigkeiten. Er wird ein Zusammentreffen mit Ihrer Frau verlangen.«
«Er wird doch ganz bestimmt nicht sagen, wo er sich aufhält.«
«Ihr muß er es sagen. «Borowski hielt inne. Ein anderer Gedanke kam ihm in den Sinn.»Wenn die Störung ihm Sorgen bereitet, wird er anrufen, oder eine Person, die Sie nicht kennen, kommt ins Haus, und kurz darauf wird Ihre Frau sagen, daß sie irgendwo hingehen muß. Wenn es dazu kommt, bestehen Sie darauf, daß Sie Ihnen eine Telefonnummer hinterläßt, wo man sie erreichen kann. Sie müssen darauf bestehen; Sie versuchen nicht, sie am Gehen zu hindern, aber Sie müssen imstande sein, sie zu erreichen. Sagen Sie ihr, es handle sich um eine höchst wichtige militärische Angelegenheit, über die Sie nicht sprechen können, solange Sie keine Freigabe besitzen. Dann aber wollen Sie darüber mit ihr sprechen, ehe Sie Ihr eigenes Urteil bilden. Sie könnte anbeißen.«
«Und was bewirkt das?«
«Sie wird Ihnen sagen, wo sie ist. Vielleicht, wo Carlos ist. Wenn nicht Carlos, dann bestimmt andere, die ihm näher stehen. Und dann müssen Sie mit mir Verbindung aufnehmen. Ich nenne Ihnen ein Hotel und eine Zimmernummer. Der Name, unter dem ich eingetragen bin, ist bedeutungslos, machen Sie sich darüber keine Gedanken.«
«Warum nennen Sie mir Ihren Namen nicht?«
«Weil Sie, wenn Sie ihn je erwähnten — bewußt oder unbewußt — ein toter Mann wären.«
«Ich bin nicht senil.«
«Nein, das sind Sie nicht. Aber Sie sind ein Mann, der eine schwere Verletzung erlitten hat. Die schwerste Verletzung, die man erleiden kann, denke ich. Sie dürfen Ihr Leben riskieren; ich werde das nicht.«
«Sie sind ein seltsamer Mann, Monsieur.«
«Ja. Wenn ich nicht da bin, wenn Sie anrufen, wird sich eine Frau melden. Sie wird wissen, wo ich bin. Wir werden einen Zeitpunkt für Nachrichten vereinbaren.«
«Eine Frau?«Der General stutzte.»Sie haben nichts von einer Frau oder sonst jemandem gesagt.«
«Sonst ist auch niemand. Ohne diese Frau wäre ich nicht mehr am Leben. Carlos macht Jagd auf uns beide; er hat versucht, uns beide zu töten.«
«Weiß sie über mich Bescheid?«
«Ja. Sie war es, die mich über Sie aufgeklärt hat, die beim besten Willen Sie und Carlos nicht in Verbindung bringen konnte. Ich wollte es nicht glauben.«
«Vielleicht werde ich sie treffen.«
«Unwahrscheinlich. Solange sich Carlos nicht in unserer Macht befindet, dürfen wir uns nicht mit Ihnen sehen lassen. Unter keinen Umständen. Nachher — wenn es ein Nachher gibt— könnte es sein, daß Sie sich nicht mit uns sehen lassen wollen, beziehungsweise nicht mit mir. Ich bin ganz ehrlich zu Ihnen.«
«Das verstehe ich und respektiere es. Jedenfalls danken Sie dieser Frau in meinem Namen. Danken Sie ihr, daß sie wußte, ich könnte nichts mit Carlos zu tun haben.«
Borowski nickte.»Sind Sie ganz sicher, daß Ihre Privatleitung nicht angezapft ist?«
«Absolut. Sie wird regelmäßig überprüft; sämtliche Telefone, die unter der Aufsicht des Conseiller stehen, werden das.«
«Wenn Sie einen Anruf von mir erwarten, melden Sie sich und räuspern Sie sich dann einmal. Dann werde ich wissen, daß Sie es sind. Wenn Sie aus irgendeinem Grund nicht sprechen können, dann sagen Sie mir, ich solle Ihre Sekretärin am Morgen anrufen. Ich rufe dann in zehn Minuten zurück. Wie ist die Nummer?«
Villiers gab sie ihm.»Ihr Hotel?«fragte der General.
«Das >Terrasse<. Rue de Maistre. Montmartre. Zimmer vierhundertzwanzig.«
«Wann werden Sie beginnen?«
«Sobald wie möglich. Heute Mittag.«
«Kämpfen Sie wie ein Rudel Wölfe«, sagte der alte Soldat und lehnte sich vor, ein Kommandant, der seinem Offizierscorps Instruktionen gibt.»Schlagen Sie zu.«
«Sie war so bezaubernd und charmant, ich muß einfach etwas für sie tun«, sprudelte Marie ins Telefon.»Und dann auch dieser reizende junge Mann; er war so hilfsbereit. Ich sage Ihnen, das Kleid war ein voller Erfolg! Ich bin so dankbar.«
«Ihrer Beschreibung nach, Madame«, erwiderte die kultivierte Männerstimme aus der Telefonzentrale von Les Classiques,»bin ich ganz sicher, daß sie Janine und Claude meinen.«
«Ja natürlich. Janine und Claude, jetzt erinnere ich mich. Ich werde beiden ein kleines Briefchen mit einer Aufmerksamkeit schicken. Wissen Sie zufällig, wie die beiden mit Familiennamen heißen? Ich meine, es wirkt so herablassend, wenn ich die Umschläge einfach an >Janine< und >Claude< adressiere. So, wie man an Dienstboten schreibt, finden Sie nicht auch? Könnten Sie Jacqueline fragen?«
«Das ist nicht nötig, Madame. Ich kenne die Namen auch. Und gestatten Sie mir zu sagen, daß Madame ebenso feinfühlig wie großzügig ist. Janine Dolbert und Claude Oreale.«
«Janine Dolbert und Claude Oreale«, wiederholte Marie und sah Jason an.»Janine ist doch mit diesem reizenden Pianisten verheiratet, oder?«
«Ich glaube nicht, daß Mademoiselle Dolbert mit irgend jemand verheiratet ist.«
«Aber natürlich. Ich dachte an jemand anderen.«
«Wenn Sie gestatten, Madame, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«
«Wie dumm von mir!«Marie streckte den Telefonhörer von sich und hob die Stimme.»Darling, du bist ja zurück und schon so bald! Das ist ja großartig. Ich spreche mit diesen reizenden Leuten von Les Classiques… ja, sofort mein Lieber. «Sie zog den Hörer an die Lippen. »>Vielen, vielen Dank, Sie waren sehr liebenswürdig. «Sie legte auf.»Nun, wie habe ich es gemacht?«
«Wenn du je auf die Idee kommen solltest, dem Wirtschaftsleben den Rücken zu kehren«, sagte Jason, ohne von dem Pariser Telefonbuch aufzublicken,»dann solltest du in den Verkauf gehen. Ich habe dir jedes Wort abgekauft.«
«Waren die Beschreibungen richtig?«
«Einmalig. Das mit dem Pianisten war übrigens gut.«
«Ich dachte, wenn sie verheiratet wäre, würde das Telefon sicher auf den Namen ihres Mannes eingetragen sein.«
«Nicht nötig«, unterbrach Borowski.»Hier steht es. Dolbert, Janine, Rue Losserand. «Jason schrieb sich die Adresse auf.»Oreale, das ist doch mit O, wie oisean1, nicht wahr?«
«Ich glaube schon. «Marie zündete sich eine Zigarette an.»Du willst wirklich zu ihnen nach Hause gehen?«
Borowski nickte.»Wenn ich mich in der Rue Saint-Honore an sie heranmachte, würde das Carlos erfahren.«
«Und was ist mit den anderen? Lavier, Bergeron und der Mann von der Telefonzentrale.«
«Morgen. Heute reicht es erst einmal.«
«Aha?«
«Ich muß sie alle zum Reden bringen. Sonst verbreitet die Dolbert und der Oreale das im ganzen Laden. Ich werde heute Abend noch zwei weitere erreichen — die werden dann die Lavier und den Mann von der Telefonzentrale anrufen. Zuerst die erste Attacke und dann auch noch die zweite. Das Telefon des Generals wird noch heute Nachmittag zu klingeln beginnen. Bis morgen sollte schließlich die Panik vollständig sein.«
«Zwei Fragen«, sagte Marie und erhob sich vom Bettrand und kam auf ihn zu.»Wie willst du es anstellen, während der Geschäftszeit zwei Angestellte aus Les Classiques herauszuholen? Und was für Leute willst du heute Abend erreichen?«
Borowski sah auf die Uhr.»Es ist jetzt Viertel nach elf; ich werde gegen Mittag das Appartementhaus der Dolbert besuchen und veranlassen, daß der Hausmeister sie im Geschäft anruft. Er wird ihr sagen, daß sie sofort nach Hause kommen soll. Es gäbe ein dringendes, sehr persönliches Problem, um das sie sich kümmern muß.«
«Was für ein Problem?«
«Keine Ahnung. Aber wer hat heute keine Probleme?«
«Und mit Oreale willst du es genauso machen?«
«Für Oreale wird es mir ein besonderes Vergnügen sein.«
«Du bist wahnsinnig, Jason.«
«Ich bin stinknormal«, sagte Borowski, dessen Finger wieder an einer Reihe von Namen entlangfuhr.»Hier ist er. Oreale, Claude Giselle. Kein Kommentar. Rue Racine. Ich werde ihn gegen drei erreichen; wenn ich mit ihm fertig bin, wird er sofort umkehren, zur Rue de Saint-Honore zurückeilen und Krach schlagen.«
«Was ist mit den anderen zwei? Wer sind sie?«
«Ich werde entweder von Oreale oder der Dolbert Namen bekommen, vielleicht auch von beiden. Dann wird die zweite Attacke losgehen.«
Jason stand im Schatten der Türnische in der Rue Losserand. Er war fünfzehn Fuß vom Eingang zu Janine Dolberts kleinem Appartementhaus entfernt, wo vor wenigen Augenblicken ein mürrischer, aber dann mittels eines Geldscheines recht beflissen gewordener Hausmeister einem beredten Fremden gefällig gewesen war, indem er Mademoiselle Dolbert an ihrem Arbeitsplatz anrief und ihr sagte, ein Herr in einer Chauffeur-Limousine hätte schon zweimal nach ihr gefragt. Der Herr sei wieder da; was der Hausmeister tun solle?
Ein kleines schwarzes Taxi hielt am Randstein, und eine erregte, unnatürlich bleich wirkende Janine Dolbert sprang heraus. Jason eilte aus der Türnische und hielt sie wenige Fuß vor dem Eingang, noch auf dem Bürgersteig, auf.
«Das ging aber schnell«, sagte er und nahm ihren Ellbogen.»Wirklich reizend, Sie wiederzusehen. Sie waren neulich so hilfsbereit.«
Janine Dolbert starrte ihn an, die Lippen leicht geöffnet, eine Regung des Erkennens, dann Erstaunen. »»Sie. Der Amerikaner«, sagte sie in englischer Sprache.»Monsieur Briggs, nicht wahr? Sind Sie das, der — «
«Ich habe meinem Chauffeur gesagt, er könne sich eine Stunde freinehmen. Ich wollte Sie alleine sprechen.«
«Mich? Weshalb sollten Sie denn mich sprechen wollen?«
«Wissen Sie das nicht? Weshalb sind Sie dann so schnell gekommen?«
Die großen Augen unter ihrem kurzen Haar fixierten ihn, und ihr bleiches Gesicht wirkte im Tageslicht noch bleicher.»Sie kommen also vom House of Azur?«fragte sie vorsichtig.
«Könnte sein. «Borowski verstärkte den Druck an ihrem Ellbogen.»Und?«
«Ich habe das geliefert, was ich versprochen habe. Mehr geht nicht, darüber waren wir uns einig.«
«Sind Sie sicher?«
«Seien Sie doch kein Idiot! Sie kennen die Pariser Couture nicht. Sie kennen nicht die Pläne und Intrigen, die in jedem Studio geschmiedet werden. — Und wenn dann die Herbstlinie herauskommt und Sie die Hälfte von Bergerons Entwürfen vor ihm vorführen, wie lange glauben Sie dann, daß ich noch in Les Classiques bleiben kann?
Ich bin das zweite Mädchen der Lavier, eine der wenigen, die Zugang zu ihrem Büro haben. Es wäre besser, Sie würden sich um mich kümmern, wie Sie das versprochen haben. In einem Ihrer Geschäfte in Los Angeles.«
«Machen wir doch einen kleinen Spaziergang«, sagte Jason und schob sie sachte vor sich her.»Sie haben den falschen Mann, Janine. Ich habe nie vom House of Azur gehört und habe nicht das geringste Interesse an gestohlenen Entwürfen — «
«O mein Gott… «
«Gehen Sie weiter. «Borowski drückte ihren Arm.»Ich habe gesagt, daß ich mit Ihnen sprechen möchte.«
«Worüber? Was wollen Sie von mir? Woher haben Sie meinen Namen?«Sie redete jetzt schneller, und die einzelnen Sätze überschlugen sich.»Ich bin heute früher Mittagessen gegangen und muß deshalb sofort wieder zurück; wir haben heute sehr viel Arbeit. Bitte, Sie tun mir weh.«
«Entschuldigen Sie.«
«Wie ich schon sagte, es war unsinnig. Wir hatten Gerüchte gehört; ich wollte Sie auf die Probe stellen. Das war es, was ich getan habe; Sie auf die Probe stellen!«
«Das klingt sehr überzeugend. Ich akzeptiere das, was Sie sagen.«
«Ich bin eine loyale Mitarbeiterin von Les Classiques. Das bin ich immer gewesen.«
«Das ist eine sehr gute Eigenschaft, Janine. Ich bewundere Loyalität. Ich habe das neulich zu… wie hieß er doch?… diesem netten Mann an der Telefonvermittlung gesagt. Wie heißt er? Ich habe den Namen vergessen.«
«Philippe«, sagte die Verkäuferin verstört, unsicher.
«Philippe d'Anjou.«
«Ja, richtig, vielen Dank. «Sie erreichten eine enge, kopfsteingepflasterte Gasse zwischen zwei Häusern. Jason führte sie hinein.»Gehen wir doch hier hinein, damit wir von der Straße wegkommen. Keine Sorge, Sie kommen nicht zu spät. Ich will Sie nur noch um ein paar Minuten bitten. «Sie gingen zehn Schritte in der schmalen Gasse. Borowski blieb stehen; Janine Dolbert preßte den Rücken gegen die Ziegelwand.»Zigarette?«fragte er.
«Ja, danke.«
Er gab ihr Feuer und stellte fest, daß ihre Hand zitterte.»Sind Sie jetzt wieder ruhiger?«
«Ja. Nein, eigentlich nicht. Was wollen Sie, Monsieur Briggs?«
«Zunächst einmal heiße ich nicht Briggs, aber das sollten Sie ja wissen.«
«Das weiß ich nicht. Warum sollte ich?«
«Ich war sicher, daß das erste Mädchen der Lavier Ihnen das gesagt hätte.«
«Monique?«
«Bitte Nachnamen. Das muß alles ganz genau sein.«
«Brielle also«, sagte Janine und runzelte die Stirn.»Kennt sie Sie?«
«Fragen Sie sie doch.«
«Wie Sie wünschen. Also, was wollen Sie, Monsieur?«
Jason schüttelte den Kopf.»Sie wissen es also wirklich nicht, wie? Drei Viertel der Angestellten im Les Classiques arbeiten mit uns, und eine der intelligentesten ist nicht einmal kontaktiert worden. Es ist natürlich möglich, daß jemand Sie für ein Risiko hielt; das kommt vor.«
«Was kommt vor? Was für ein Risiko? Wer sind Sie?«
«Dafür ist jetzt keine Zeit. Das können Ihnen die anderen später erklären. Ich bin hier, weil wir noch nie einen Bericht von Ihnen bekommen haben, und doch sprechen Sie den ganzen Tag mit wichtigen Kunden.«
«Sie müssen sich schon klarer ausdrücken, Monsieur.«
«Wir wollen einmal sagen, daß ich der Sprecher für eine Gruppe von Leuten bin — Amerikaner, Franzosen, Engländer, Holländer — die hinter einem Killer her sind, der in jedem einzelnen unserer Länder politische und militärische Führungspersönlichkeiten ermordet hat.«
«Ermordet? Militärische und politische…«Janine riß den
Mund auf, und die Asche ihrer Zigarette brach ab und fiel ihr auf die gleichsam erstarrte Hand.»Was soll das? Wovon reden Sie? Ich habe davon noch nie etwas gehört.«
«Da muß ich mich wohl entschuldigen«, sagte Borowski mit weicher Stimme. Er glaubte ihr aufs Wort.»Man hätte schon vor einigen Wochen mit Ihnen Verbindung aufnehmen sollen. Das war ein Irrtum seitens meines Vorgängers, und es tut mir leid. Für Sie muß das ein Schock sein.«
«Es ist ein Schock, Monsieur«, flüsterte die Verkäuferin, ihr Rücken spannte sich unter der Last des eben Gehörten,»Sie sprechen von Dingen, die mein Verständnis übersteigen.«
«Aber ich verstehe jetzt«, unterbrach Jason.»Kein Wort von Ihnen über irgend jemand. Jetzt ist es mir klar.«
«Aber mir nicht.«
«Wir arbeiten uns an Carlos heran. An den Terroristen, der als Carlos bekannt ist.«
«Carlos?« Die Zigarette entfiel ihrer Hand, jetzt war der Schock vollkommen.
«Er ist einer Ihrer treuesten Kunden, darauf deuten alle Beweise. Acht Männer stehen im Verdacht. Die Falle ist für einen Zeitpunkt im Laufe der nächsten paar Tage vorbereitet. Vorsichtsmaßnahmen sind getroffen.«
«Vorsichtsmaßnahmen…?«
«Es besteht immer die Gefahr einer Geiselnahme, das wissen wir alle. Wir rechnen mit einer Schießerei, aber das wird sich in engen Grenzen halten. Das eigentliche Problem wird Carlos selbst sein. Er hat geschworen, sich nie lebend fangen zu lassen und läuft immer mit Explosivstoffen in den Taschen herum, die einer Tausend-Pfund-Bombe entsprechen. Aber damit werden wir fertig. Unsere Scharfschützen werden bereitstehen; ein sauberer Schuß in den Kopf, und alles ist vorbei.«
«Ein einziger Schuß…«
Plötzlich sah Borowski auf die Uhr.»Jetzt habe ich Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen. Sie müssen in Ihr Geschäft zurück, und ich muß wieder auf meinen Posten. Denken sie daran, wenn Sie mich draußen sehen, kennen Sie mich nicht. Wenn ich Les Classiques betrete, behandeln Sie mich so, wie Sie jeden reichen Kunden behandeln würden. Außer, wenn Sie einen Kunden entdeckt haben, von dem Sie annehmen, daß er unser Mann sein könnte; dann dürfen Sie keine Zeit vergeuden und müssen mich sofort informieren.
Noch einmal, alles das tut mir furchtbar leid. Es war ein Kommunikationsproblem, sonst nichts. Das kommt vor.«
«Ein Kommunikationsproblem…?«
Jason nickte, machte auf dem Absatz kehrt und ging schnell die gepflasterte Gasse zurück. An der Straße angelangt, blieb er stehen und sah sich nach Janine Dolbert um. Sie lehnte benommen an der Wand; für sie war die elegante Welt der Haute Couture völlig aus dem Gleichgewicht geraten.
Philippe d'Anjou. Der Name sagte ihm nichts, aber Borowski stand unter einem inneren Zwang. Er wiederholte den Namen in Gedanken immer wieder und versuchte, ein Bild heraufzubeschwören… weil das Gesicht des grauhaarigen Mannes an der Telefonvermittlung in ihm so gewalttätige Bilder von Finsternis und Lichtblitzen hervorrief. Philippe d'Anjou… Da war doch etwas gewesen, etwas, wobei sich Jasons Magen verkrampfte, das seine Muskeln straffte… die Dunkelheit.
Er saß am Fenster gleich neben der Türe eines Cafes an der Rue Racine, bereit, aufzustehen und das Lokal zu verlassen, sobald er die Gestalt von Claude Oreale an der Türe des alten Gebäudes auf der anderen Straßenseite auftauchen sah. Sein Zimmer befand sich im fünften Stock in einer Wohnung, die er mit zwei anderen Männern teilte, und die man nur über eine ausgetretene Treppe erreichen konnte. Wenn er eintraf, würde er ganz bestimmt nicht im Schritttempo erscheinen, dessen war Borowski sicher.
Er wußte das deshalb so sicher, weil Claude Oreale, der auf einer anderen Treppe in Saint-Honore so eindringlich auf Jacqueline Lavier eingeredet hatte, von seiner Zimmerwirtin per Telefon beschimpft worden war. Er solle dafür sorgen, zeterte sie, daß das Geschrei und das Zerschlagen von Möbeln aufhörte, das aus seiner Wohnung im fünften Stock zu hören war. Entweder sorgte er, daß das aufhörte, oder man würde die Polizei rufen; er hatte zwanzig Minuten Zeit.
Er brauchte nur fünfzehn. Seine schlanke Gestalt, in einen Pierre-Cardin-Anzug gehüllt — die Rockschöße im Wind flatternd — kam aus dem nächsten Metro-Ausgang gerannt. Er wich Kollisionen mit der Agilität eines abgemagerten Rugbyspielers aus, den das Bolschoi-Ballett ausgebildet hatte. Er hatte den dünnen Hals ein paar Zoll vor den mit einer Weste bedeckten Brustkasten ausgestreckt, und sein langes, dunkles Haar flog wie eine Mähne parallel zum Pflaster. Er erreichte den Eingang, packte das Treppengeländer und jagte die Stufen hinauf, warf sich förmlich in die finsteren Schatten des Vestibüls.
Jason eilte aus dem Cafe und lief über die Straße. Drinnen rannte er auf die alte Treppe zu und stieg dann die knarrenden Stufen hinauf. Vom vierten Stock konnte er hören, wie über ihm gegen die Türe gehämmert wurde.
«Macht die Türe auf! Schnell, um Gottes willen!«Oreale erstarrte plötzlich. Das Schweigen drinnen war vielleicht noch erschreckender als alles andere.
Borowski stieg die letzten paar Stufen hinauf, bis er Oreale zwischen dem Geländer und dem Boden sehen konnte. Der zerbrechliche Körper des Verkäufers war gegen die Türe gedrückt, die Hände zu beiden Seiten von ihm, die Finger gespreizt, das Ohr gegen die Türfüllung gepreßt, das Gesicht gerötet. Jason schrie mit gutturaler Stimme in bürokratischem Französisch während er weiterrannte:»Sürete! Bleiben Sie genau wo Sie sind, junger Mann! Wir wollen doch keinen Ärger haben. Wir haben Sie und Ihre Freunde beobachtet. Wir wissen über die Dunkelkammer Bescheid.«
«Nein!«schrie Oreale.»Das hat nichts mit mir zu tun, das schwöre ich. Dunkelkammer?«
Borowski hob die Hand.»Seien Sie still, schreien Sie nicht so!«Er trat an das Geländer, beugte sich darüber und blickte nach unten.
«Sie können mich da nicht hineinziehen!«fuhr der Angestellte fort.»Ich habe nichts damit zu tun! Ich habe denen immer wieder gesagt, sie sollen das alles wegschaffen. Eines Tages bringen die sich noch um. Drogen sind doch für Idioten! Mein Gott, das ist so still, vielleicht sind die tot!«
Jason löste sich vom Geländer und kam mit erhobenen Handflächen auf Oreale zu.»Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen still sein«, flüsterte er heiser.»Gehen Sie hinein und seien Sie ruhig! Das war nur für diese alte Schachtel dort unten.«
Der Verkäufer war wie erstarrt, seine Panik ging in lautlose Hysterie über.»Was?«
«Sie haben doch einen Schlüssel«, sagte Borowski.»Machen Sie auf und gehen Sie hinein.«
«Da ist verriegelt«, erwiderte Oreale.
«Um diese Zeit ist es hier immer verriegelt.«
«Sie verdammter Narr, wir mußten Sie erreichen! Wir mußten Sie hierherholen, ohne daß jemand den Grund erfuhr. Öffnen Sie jetzt. Schnell!«
Wie das erschreckte Kaninchen, das er in Wirklichkeit war, fummelte Claude Oreale in der Tasche herum und fand den Schlüssel. Er schloß die Türe auf und spähte vorsichtig in den Raum, wie ein Mann, der eine Stahlkammer betritt, und annimmt, daß sie mit verstümmelten Leichen gefüllt ist. Borowski schob ihn durch die Tür, folgte ihm und schloß sie dann.
Was von der Wohnung zu sehen war, strafte den Rest des Gebäudes Lügen. Das geräumige Wohnzimmer war mit teurem, geschmackvollem Mobiliar gefüllt, Dutzende roter und gelber Samtkissen lagen auf Sesseln, Diwans und dem Boden herum. Es war ein erotischer Raum, ein luxuriöser Zufluchtsort inmitten von Unrat und Zerfall.
«Ich habe nur ein paar Minuten«, sagte Jason.»Jetzt ist nur Zeit für das Geschäftliche.«
«Geschäftlich?«fragte Oreale, dessen Gesicht zu einer Maske erstarrt war.»Diese… diese… Dunkelkammer? Was für eine Dunkelkammer?«
«Das können Sie vergessen. Sie hatten da etwas viel Besseres.«
«Was für Geschäfte?«
«Wir haben Nachricht aus Zürich bekommen und wollen, daß Sie das an Ihre Freundin Lavier weitergeben.«
«Madame Jacqueline? Meine Freundin?«
«Wir vertrauen nicht auf das Telefon.«
«Was für ein Telefon? Was haben Sie erfahren?«
«Carlos hat recht.«
«Carlos? Carlos und wie noch?«
«Der Meuchelmörder.«
Claude Oreale schrie. Seine Hand fuhr an seinen Mund. Er biß auf den Knöchel seines Zeigefingers und schrie:»Was sagen Sie da?«
«Seien Sie still!«
«Warum sagen Sie das mir?«
«Sie sind Nummer Fünf. Wir rechnen auf Sie.«
«Fünf was? Wozu?«
«Daß Sie Carlos helfen, aus dem Netz zu entkommen. Die Widersacher rücken immer näher. Morgen, am Tag darauf, vielleicht noch einen Tag später. Er soll sich fernhalten; er muß sich fernhalten. Die werden den Laden umstellen, Scharfschützen alle zehn Fuß. Das Sperrfeuer wird mörderisch sein; wenn er drinnen ist, könnte es zu einem Massaker kommen. Und das würde keiner von Ihnen überleben.«
Wieder schrie Oreale, sein Fingerknöchel war rot.»Hören Sie doch endlich auf! Ich weiß nicht, wovon Sie reden! Sie sind verrückt, und ich will kein Wort mehr hören — ich habe nichts gehört. Carlos, Sperrfeuer… Massaker? Mein Gott, ich ersticke… ich brauche Luft!«
«Sie werden Geld bekommen. Eine ganze Menge, stelle ich mir vor. Die Lavier wird Ihnen danken. Und d'Anjou auch.«
«D'Anjou? Der verabscheut mich! Er nennt mich einen Pfau, beleidigt mich jedesmal, wenn er dazu Gelegenheit bekommt.«
«Natürlich, das ist seine Tarnung. Tatsächlich hat er Sie sehr gerne — vielleicht mehr als Sie ahnen. Er ist Nummer Sechs.«
«Was sind das für Nummern? Hören Sie auf, von Nummern zu sprechen!«
«Wie sollten wir denn sonst zwischen Ihnen unterscheiden, Ihnen Aufträge zuteilen? Wir können keine Namen gebrauchen.«
«Wer kann das nicht?«
«Wir alle, die wir für Carlos arbeiten.«
Der Schrei war ohrenbetäubend, und von Oreales Finger tropfte Blut.»Ich höre jetzt nicht mehr zu! Ich bin Couturier,
Künstler!«
«Sie sind Nummer Fünf. Sie werden genau das tun, was wir sagen, oder Sie werden dieses Liebesnest hier nicht mehr zu sehen bekommen.«
«Auuuhhh!«
«Hören Sie zu schreien auf! Wir haben Verständnis für Sie. Wir wissen, daß Sie alle unter schrecklichem Druck stehen. Übrigens, wir vertrauen dem Buchhalter nicht.«
«Trignon?«
«Nur Vornamen. Es ist wichtig, daß alles geheim bleibt.«
«Also Pierre. Er ist widerlich. Er läßt sich die Telefonanrufe bezahlen.«
«Wir glauben, daß er für Interpol arbeitet.«
«Interpol?«
«Wenn das stimmt, könnten Sie alle zehn Jahre ins Gefängnis wandern. Die würden Sie bei lebendigem Leib auffressen, Claude.«
«Auuuhh!«
«Mund halten! Lassen Sie nur Bergeron wissen, was wir von dem Ganzen denken. Behalten Sie Trignon im Auge, besonders während der nächsten drei Tage. Wenn er das Geschäft aus irgendeinem Grund verläßt, passen Sie auf. Es könnte bedeuten, daß die Falle sich schließt. «Borowski ging zur Tür, die Hand in der Tasche.»Ich muß jetzt zurück, und Sie auch. Sagen Sie den Nummern Eins bis Sechs das, was ich Ihnen gesagt habe. Es ist wichtig, daß alle Bescheid wissen.«
Wieder schrie Oreale hysterisch.»Nummern! Immer Nummern! Was für Nummern? Ich bin ein Künstler, keine Nummer!«
«Wenn Sie nicht ebenso schnell dorthin zurückgehen, wie Sie hergekommen sind, werden Sie kein Gesicht mehr haben. Sagen Sie der Lavier, d'Anjou und Bergeron Bescheid. So schnell Sie können. Und dann den anderen.«
«Welchen anderen?«
«Fragen Sie Nummer Zwei.«
«Zwei?«
«Dolbert. Janine Dolbert.«
«Janine. Die auch?«
«Richtig. Sie ist Nummer Zwei.«
Der Verkäufer warf in hilflosem Protest die Arme in die Höhe.
«Das ist Wahnsinn! Ich verstehe gar nichts mehr!«
«Doch, Ihr Leben, Claude«, sagte Jason.»Sie müssen es richtig bewerten. Ich warte auf der anderen Straßenseite. Gehen Sie hier in genau drei Minuten weg. Und benutzen Sie das Telefon nicht; gehen Sie einfach zu Les Classiques zurück. Wenn Sie nicht in drei Minuten hier raus sind, muß ich zurückkommen. «Er nahm die Hand aus der Tasche. Mit seiner Pistole.
Oreale stieß seine Lunge voll Luft aus. Sein Gesicht war aschfahl, als er die Waffe anstarrte.
Borowski schlüpfte durch die Türe hinaus und machte sie wieder hinter sich zu.
Das Telefon klingelte auf dem Nachttisch. Marie sah auf die Uhr; es war zwanzig Uhr fünfzehn, und einen Augenblick lang empfand sie Angst, es gab ihr einen Stich in der Brust. Jason hatte gesagt, daß er um einundzwanzig Uhr anrufen würde. Er hatte La Terrasse nach Einbruch der Dunkelheit gegen neunzehn Uhr verlassen, um eine Verkäuferin namens Monique Brielle aufzuhalten. Sein Zeitplan stimmte genau und sollte nur im Notfall geändert werden. War etwas passiert?
«Ist dort Zimmer vierhundertzwanzig?«fragte die tiefe Männerstimme am anderen Ende der Leitung.
Erleichterung überkam Marie; der Mann war Andre Villiers. Der General hatte am späten Nachmittag angerufen, um Jason zu sagen, daß sich in Les Classiques Panik ausgebreitet hatte; man hatte seine Frau im Laufe von eineinhalb Stunden nicht weniger als sechsmal ans Telefon gerufen. Aber er hatte kein einziges Mal irgend etwas von Bedeutung belauschen können; jedesmal, wenn er den Hörer abgenommen hatte, waren belanglose Plaudereien anstelle ernsthafter Konversation getreten.
«Ja«, sagte Marie.»Hier ist vierhundertzwanzig.«
«Verzeihen Sie mir, aber wir haben noch nicht miteinander gesprochen.«
«Ich weiß, wer Sie sind.«
«Ich bin auch über Sie informiert. Darf ich mir die Freiheit nehmen, Ihnen zu danken.«
«Ich verstehe. Gerne geschehen.«
«Um zur Sache zu kommen. Ich rufe aus meinem Büro an, es gibt natürlich keinen Nebenapparat für diese Leitung. Sagen Sie unserem gemeinsamen Freund, daß die Krise sich beschleunigt hat. Meine Frau hat sich in ihr Zimmer begeben und behauptet, es wäre ihr übel. Aber offensichtlich geht es ihr noch so gut, daß sie telefonieren kann. Ich habe einige Male abgehoben, mußte aber erkennen, daß die auf Störungen vorbereitet war. Ich habe mich jedesmal ziemlich ruppig entschuldigt und gesagt, ich würde Anrufe erwarten. Ich bin, offen gestanden, gar nicht sicher, ob das meine Frau überzeugt hat, aber sie hat natürlich keine Möglichkeit, mich zu befragen. Ich will ganz offen sein, Mademoiselle. Zwischen uns besteht eine ungeheure Spannung, die mich ziemlich nervös macht. Möge Gott mir Kraft geben.«
«Ich kann Sie nur bitten, das Ziel im Auge zu behalten«, unterbrach ihn Marie.»Denken Sie an Ihren Sohn.«
«Ja«, sagte der alte Mann leise.»Mein Sohn. Und die Hure, die behauptet, die Erinnerung an ihn in Ehren zu halten. Es tut mir leid.«
«Schon gut. Ich werde unserem Freund übermitteln, was Sie mir gesagt haben. Er wird im Laufe der nächsten Stunde anrufen.«
«Bitte«, unterbrach Villiers.»Da ist noch mehr. Das ist auch der Grund meines Anrufs. Zweimal während meine Frau telefonierte, kamen mir die Stimmen bekannt vor. Die zweite erkannte ich; mir ist dabei sofort ein Gesicht ins Gedächtnis zurückgerufen worden. Er sitzt an einer Telefonvermittlung in Saint-Honore.«
«Wir kennen seinen Namen. Was ist mit der ersten Stimme?«
«Das war seltsam. Ich kannte die Stimme nicht; es gab kein Gesicht, das dazu gehörte. Aber ich begriff, weshalb sie dort war. Es war eine seltsame Stimme. Halb geflüstert, halb ein Befehlston, ein Echo ihrer selbst. Der Befehlston fiel mir auf. Sehen Sie, jene Stimme unterhielt sich nicht mit meiner Frau; sie hatte einen Befehl erteilt. In dem Augenblick, als ich in der Leitung war, wurde sie natürlich verändert; ein vorher vereinbartes Signal, um schnell zum Abschluß zu kommen, aber es blieb doch etwas hängen. Und das, was übrig blieb, selbst der Ton, ist jedem Soldaten bekannt; das ist für ihn die Art und Weise, wie einer Sache Nachdruck verliehen wird. Drücke ich mich klar aus?«
«Ich denke schon«, sagte Marie mit leiser Stimme. Wenn der Mann das andeutete, was sie glaubte, mußte der Druck, unter dem er stand, unerträglich sein, das spürte sie.
«Seien Sie versichert, Mademoiselle«, sagte der General,»das war das Killerschwein. «Villiers hielt inne, und nur sein Atem war über die Leitung zu hören. Die nächsten Worte waren langgedehnt und auseinandergezogen, die Stimme eines starken Mannes, der den Tränen nahe war.»Er… instruierte… meine… Frau. «Die Stimme des alten Soldaten brach.»Verzeihen Sie. Ich habe nicht das Recht, Sie zu belasten.«
«Doch, das haben Sie«, sagte Marie, die plötzlich beunruhigt war.»Das, was geschieht, muß für Sie schrecklich schmerzhaft sein, und dadurch noch schlimmer, daß Sie niemanden haben, mit dem sie sprechen können.«
«Ich spreche mit Ihnen, Mademoiselle. Ich sollte das nicht, aber ich tue es.«
«Ich wünschte, wir könnten weiter reden. Ich wünschte, einer von uns könnte bei Ihnen sein. Aber das ist nicht möglich, wie Sie verstehen. Bitte, versuchen Sie durchzuhalten. Es ist schrecklich wichtig, daß man keine
Verbindung zwischen Ihnen und unserem Freund herstellt. Das könnte Sie Ihr Leben kosten.«
«Ich denke, daß ich es vielleicht schon verloren habe.«
«Das ist absurd«, sagte Marie scharf. Sie mußte dem alten Soldaten weh tun.»Sie sind schließlich Offizier. Reden Sie nicht so ein wirres Zeug!«
«Die Lehrerin weist den Schüler zurecht. Sie haben ja recht.«
«Es stimmt, Sie sind ein großer Mann. «Jetzt herrschte Schweigen in der Leitung; Marie hielt den Atem an. Als Villiers' Stimme wieder zu hören war, atmete sie auf.
«Unser gemeinsamer Freund muß ein sehr glücklicher Mann sein. Sie sind eine bemerkenswerte Frau.«
«Ganz und gar nicht. Ich möchte nur, daß mein Freund zu mir zurückkommt. Daran ist nichts Bemerkenswertes.«
«Vielleicht nicht. Aber ich würde auch gerne Ihr Freund sein. Sie haben einem sehr alten Mann bewußt gemacht, wer und was er einmal war und wieder zu sein versuchen muß. Ich danke Ihnen zum zweitenmal.«
«Keine Ursache… mein Freund. «Marie legte auf. Sie war tief bewegt und in gleichem Maße beunruhigt. Sie war nicht überzeugt, daß Villiers den nächsten vierundzwanzig Stunden gewachsen sein würde. Und dann würde der Meuchelmörder wissen, daß er in der Falle saß, und befehlen, im Les Classiques zu räumen und zu verschwinden. Oder es würde zu einem Blutbad in Saint-Honore kommen.
Wenn das passierte, war es aus. Dann gab es keine Adresse in New York mehr, keine Botschaft mehr zu entziffern, keinen Sender zu finden. Der Mann, den sie liebte, wurde in das Dunkel, aus dem er kam, zurückgestoßen werden. Und er würde sie verlassen.
Borowski sah sie an der Ecke, sie ging im Schein der Straßenlaterne auf das kleine Hotel zu, in dem sie wohnte. Monique Brielle, Jacqueline Laviers rechte Hand, war eine härtere, sehnigere Ausgabe von Janine Dolbert; er erinnerte sich daran, sie im Laden gesehen zu haben. Ihr Schritt war der einer selbstbewußten Frau, die wußte, was sie wollte. Jason konnte gut verstehen, daß sie die rechte Hand der Lavier war. Ihre Begegnung würde kurz sein, seine Botschaft würde sie erschrecken und ihr bedrohlich vorkommen. Er blieb reglos stehen und ließ sie an sich vorbeigehen. Ihre Absätze klapperten auf dem Pflaster. Auf der Straße befanden sich vielleicht ein halbes Dutzend Leute. Man mußte sie von hier wegbringen. Höchstens dreißig Fuß vor dem Eingang des kleinen Hotels holte er sie ein; er verlangsamte seinen Schritt auf ihr Tempo und hielt sich an ihrer Seite.
«Sie müssen sofort mit der Lavier Verbindung aufnehmen«, sagte er in französischer Sprache und blickte starr nach vorne.
«Pardon? Was haben Sie gesagt? Wer sind Sie, Monsieur?«
«Bleiben Sie nicht stehen! Gehen Sie weiter. Am Eingang vorbei.«
«Sie wissen, wo ich wohne?«
«Es gibt sehr wenig, das wir nicht wissen.«
«Und wenn ich hineingehe? Es gibt einen Portier — «
«Es gibt auch die Lavier«, unterbrach Borowski.»Sie werden Ihre Stellung verlieren und auf der ganzen Rue Saint-Honore keine mehr finden. Und ich fürchte sogar, daß das das geringste Ihrer Probleme sein wird.«
«Wer sind Sie?«
«Nicht Ihr Feind. «Jason sah sie an.»Machen Sie mich nicht dazu.«
«Sie. Der Amerikaner! Janine… Claude Oreale!«
«Carlos«, ergänzte Borowski.
«Carlos? Was soll dieser Wahnsinn? Den ganzen Nachmittag nichts als Carlos! Und Nummern! Jeder hat eine Nummer, von der noch nie jemand gehört hat! Und all das Gerede von Fallen und von Männern mit Waffen! Verrückt ist das!«
«Ist aber Realität. Gehen Sie weiter. Bitte. Um Ihrer selbst willen.«
Sie gehorchte, aber ihr Schritt war jetzt weniger sicher, ihr Körper steif, eine starre Marionette, die ihrer Fäden unsicher war.»Jacqueline hat mit uns gesprochen«, sagte sie mit eindringlicher Stimme.»Sie hat uns gesagt, es sei alles
Wahnsinn, daß — Sie — sich vorgenommen hätten, Les Classiques zu ruinieren. Daß eines der anderen Häuser Sie dafür bezahlt haben muß, um uns zu ruinieren.«
«Was haben Sie denn erwartet, daß sie sagt?«
«Sie sind ein bezahlter Provokateur. Sie hat uns die
Wahrheit gesagt.«
«Hat Sie Ihnen auch gesagt, daß Sie den Mund halten sollen? Daß Sie zu niemandem etwas davon sagen dürfen?«
«Natürlich.«
«Und ganz besonders«, fuhr Jason fort, als hätte er sie nicht gehört,»dürfen Sie keine Verbindung mit der Polizei aufnehmen, was unter den gegebenen Umständen ja eigentlich das logischste wäre. In mancher Hinsicht sogar das einzig mögliche.«
«Ja, natürlich…«
«Nicht natürlich«, widersprach Borowski.»Hören Sie, ich bin nur ein Verbindungsmann, ich stehe wahrscheinlich nicht viel höher in der Hierarchie als Sie selbst. Ich bin nicht hier, um Sie zu überzeugen, ich bin hier, um eine Nachricht zu übermittlen. Wir haben mit der Dolbert einen Versuch gemacht; wir haben ihr falsche Informationen eingetrichtert.«
«Janine?«Monique Brielle war perplex, und dazu kam noch, daß ihr alles immer verwirrender vorkam.»Was sie gesagt hat, war unglaublich! Ebenso unglaublich wie Claudes hysterisches Geschrei. Aber jeder von ihnen sagte etwas anderes.«
«Das wissen wir; war auch unsere Absicht. Sie hat mit Azur gesprochen.«
«Dem House of Azur?«
«Das können Sie ja morgen überprüfen. Sie müssen sie einfach zur Rede stellen.«
«Sie zur Rede stellen?«
«Ja. Interpol einschalten.«
«Was? Das ist alles verrückt! Ich weiß nicht, wovon Sie reden!«
«Die Lavier weiß es, nehmen Sie sofort mit Ihr Verbindung auf. «Sie näherten sich dem Ende des Häuserblocks; Jason berührte ihren Arm.»Ich werde Sie hier an der Ecke verlassen. Gehen Sie zu Ihrem Hotel zurück und rufen Sie Jacqueline an. Sagen Sie ihr, die Sache hätte sich zugespitzt. Es droht Gefahr. Und am allerschlimmsten, jemand wäre abgesprungen. Nicht die Dolbert, keine der Verkäuferinnen, sondern jemand viel weiter oben. Jemand, der alles weiß.«
«Abgesprungen? Was bedeutet das?«
«Es gibt einen Verräter in Les Classiques. Sagen Sie ihr, sie soll vorsichtig sein. Allen gegenüber. Wenn sie das nicht ist, könnte das unser aller Ende bedeuten. «Borowski ließ ihren Arm los und verließ den Bürgersteig, überquerte die Straße. Auf der anderen Seite fand er eine etwas zurückliegende Türnische und stellte sich hinein.
Er schob sein Gesicht bis zum Rand und spähte hinaus, blickte zu der Straßenecke hinüber. Monique Brielle hatte bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, rannte auf den Eingang ihres Hotels zu. Die Jagd hatte begonnen; jetzt war es Zeit, Marie anzurufen.
«Ich mache mir um Villiers Sorgen, Jason. Er verliert fast den Verstand. Der Schock sitzt ihm noch zu sehr in den Knochen.«
«Er wird damit fertig werden«, sagte Borowski und beobachtete den Verkehr auf den Champs-Elysees aus dem Inneren der verglasten Telefonzelle und wünschte, er könne in bezug auf Andre Villiers mehr Zuversicht empfinden.»Wenn nicht, habe ich ihn getötet. Ich will nicht mein Gewissen belasten, aber ich werde mich schuldig fühlen. Ich hätte meinen verdammten Mund halten und sie mir selbst vornehmen sollen.«
«Das hättest du nicht geschafft. Du hast ja d'Anjou auf der Treppe gesehen; du hättest nicht hineingehen können.«
«Ich hätte mir irgend etwas überlegen können.«
«Aber was du jetzt tust ist besser! Du erzeugst Panik, zwingst die Leute, die Carlos' Befehle ausführen, dazu, sich zu zeigen. Bald wirst du es wissen, Jason. Du wirst ihn kriegen! Ganz bestimmt!«
«Hoffentlich! Ich weiß genau, was ich tue, aber dann werde ich immer wieder…«Borowski hielt inne. Er sagte das ungern, aber er mußte es — er mußte es zu ihr sagen.»Dann werde ich verwirrt. Es ist, als bestünde ich aus zwei Teilen, wobei ein Teil von mir sagt >du mußt dich selbst retten<, und der andere Teil… Gott helfe mir… sagt mir >du mußt Carlos fertigmachen<.«
«Das hast du doch von Anfang an getan, oder?«sagte Marie mit leiser Stimme.
«Carlos ist mir gleichgültig!« schrie Jason und wischte sich den Schweiß von der Stirn und merkte, daß es kalter Schweiß war.»Es macht mich wahnsinnig«, fügte er hinzu und war nicht sicher, ob er die Worte laut ausgesprochen oder nur gedacht hatte.
«Darling, komm zurück.«
«Was?«Borowski sah das Telefon an und wußte wieder nicht, ob er die Worte tatsächlich gehört hatte, oder ob sie nur in seinen Gedanken existierten. Jetzt geschah es wieder. Die Realität löste sich auf. Der Himmel draußen vor einer Telefonzelle auf den Champs-Elysees war dunkel. Einmal war es hell gewesen, so hell, so blendend.
Und heiß, nicht kalt. Mit kreischenden Vögeln und pfeifenden Metallstücken…
«Jason!«
«Was?«
«Komm zurück. Darling. Bitte, komm zurück.«
«Warum?«
«Du bist müde. Du brauchst Ruhe.«
«Ich muß Trignon erreichen. Pierre Trignon. Er ist der Buchhalter.«
«Tu es morgen. Es hat Zeit bis morgen.«
«Nein. Morgen kommen die Kapitäne dran.«Was sagte er da? Kapitäne. Truppen, die in Panik kollidieren. Aber das war jetzt die einzige Möglichkeit. Die einzige Möglichkeit. Das Chamäleon war ein… Provokateur.
«Hör mir zu«, sagte Marie mit eindringlicher Stimme.»Mit dir ist etwas nicht in Ordnung. Das ist mir schon früher aufgefallen; das wissen wir beide, mein Liebster. Und dann mußt du aufhören, das wissen wir auch. Komm zum Hotel zurück. Bitte.«
Borowski schloß die Augen, der Schweiß begann zu trocknen, die Geräusche des Verkehrs außerhalb der Telefonzelle verdrängten das Kreischen in seinen Ohren. Er konnte die Sterne am kalten Nachthimmel sehen. Kein blendendes Sonnenlicht mehr, keine unerträgliche Hitze. Es war vorübergegangen.
«Ich bin wieder in Ordnung. Wirklich, alles okay.«
«Jason?«Marie sprach ganz langsam, zwang ihn, ihr zuzuhören.»Was war los?«
«Ich weiß nicht.«
«Du hast gerade diese Brielle gesehen. Hat sie etwas zu dir gesagt? Etwas, das Erinnerungen in dir weckte?«
«Ich weiß nicht.«
«Denk nach, Liebster!«
Borowski schloß die Augen, versuchte sich zu erinnern. War da etwas gewesen? Etwas, das beiläufig ausgesprochen worden war, oder so schnell, daß es ihm im Augenblick gar nicht aufgefallen war.»Sie hat mich einen Provokateur genannt«, sagte Jason und begriff nicht, warum das Wort zu ihm zurückkam.»Aber das bin ich ja schließlich, nicht wahr? Das ist es doch, was ich tue.«
«Ja«, gab Marie ihm recht.
«Ich muß weiter«, fuhr Borowski fort.»Trignons Wohnung ist nur ein paar Häuserblocks von hier entfernt. Ich will vor zehn Uhr bei ihm sein.«
«Sei vorsichtig!«Marie sprach, als wären ihre Gedanken anderswo.
«Das bin ich. Ich liebe dich.«
«Ich glaube an dich«, sagte Marie St. Jacques.
Die Straße war still, der Block eine seltsame Mischung aus Geschäften und Wohnungen, typisch für das Zentrum von Paris; am Tag voller aufgeregter Geschäftigkeit, nachts verlassen.
Jason erreichte das kleine Appartementhaus, wo sich Pierre Trignons Wohnung befand. Er stieg die Treppe hinauf und betrat das saubere, schwach beleuchtete Foyer. Zur Rechten gab es eine Reihe von Bronzebriefkästen, jeder über einem kleinen, mit Speichen versehenen Kreis, der Sprechanlage. Jason fuhr mit dem Finger über die gedruckten Namen unter den Schlitzen: M. PIERRE TRIGNON — 42. Er drückte den kleinen schwarzen Knopf zweimal; zehn Sekunden später war ein knatterndes Geräusch zu hören, das die Stimme halb übertönte.
«Ja?«
«Monsieur Trignon?«
«Jawohl.«
«Telegramm, Monsieur. Ich bin in Eile und kann mein Fahrrad nicht im Stich lassen.«
«Ein Telegramm, für mich?«
Pierre Trignon war kein Mann, der häufig Telegramme erhielt; das war an seiner überraschten Stimme zu merken. Der Rest seiner Worte war kaum zu verstehen, aber eine Frauenstimme im Hintergrund wirkte geradezu verstört, vermutete schon allerlei mögliche Katastrophen.
Borowski wartete vor der Milchglastüre, die ins Innere des Appartementhauses führte. Binnen Sekunden hörte er das schnelle Klappern von Schritten immer lauter werden, als jemand — offensichtlich Trignon — die Treppe heruntergeeilt kam. Die Tür flog auf, verbarg Jason; ein kräftig gebauter Mann, dem schon die meisten Haare ausgegangen waren, mit Hosenträgern, die das Fleisch unter dem vorquellenden weißen Hemd einzwängten, ging auf die Briefkästen zu und blieb bei Nummer 42 stehen.
«Monsieur Trignon?«
Der kräftig gebaute Mann fuhr herum, sein joviales Gesicht wirkte völlig hilflos.»Haben Sie mir ein Telegramm gebracht?«rief er.
«Ich bitte um Entschuldigung für die kleine Lüge, Trignon, aber ich habe das Ihretwegen getan. Ich dachte, Sie würden nicht gerne vor Ihrer Frau und Ihrer Familie verhört werden.«
«Verhört?« rief der Buchhalter aus, und seine dicken, vorstehenden Lippen kräuselten sich verwundert, seine Augen blickten verängstigt. »»Mich? Wozu? Was soll das? Warum sind Sie hier in meinem Haus? Ich bin ein anständiger Bürger und habe nur nie etwas zuschulden kommen lassen!«
«Sie arbeiten in der Rue Saint-Honore? Für eine Firma, die sich Les Classiques nennt?«
«Ja. Wer sind Sie?«
«Wenn Sie es vorziehen, können wir in mein Büro gehen«, sagte Borowski.
«Wer sind Sie?«
«Ich führe eine Sonderuntersuchung für die Steuerbehörde durch, Abteilung für Betrugsfälle. Kommen Sie mit — mein Dienstwagen steht draußen.«
«Draußen? Mitkommen? Ich habe keine Jacke, keinen Mantel! Meine Frau. Sie ist oben und wartet auf mich, wartet, daß ich ein Telegramm bringe. Ein Telegramm!«
«Sie können ihr ja eines schicken, wenn Sie wollen. Kommen Sie jetzt mit. Ich war den ganzen Tag mit dieser Geschichte beschäftigt und möchte das jetzt abschließen.«
«Bitte, Monsieur«, protestierte Trignon.»Was fällt Ihnen ein? Sie sagten, Sie hätten Fragen zu stellen. Stellen Sie Ihre Fragen und lassen Sie mich wieder hinauf. Ich will nicht in Ihr Büro.«
«Es dauert nur ein paar Minuten«, sagte Jason.
«Ich werde meiner Frau erklären, daß es sich um einen Irrtum gehandelt hat. Das Telegramm ist für den alten Gravet; er wohnt hier im Erdgeschoß und kann kaum lesen. Das wird sie verstehen.«
Madame Trignon verstand das nicht, aber ihre schrillen Einwände wurden von einem noch schrilleren Monsieur Trignon zum Schweigen gebracht.»Da sehen Sie es«, sagte der Buchhalter und richtete sich von dem Briefschlitz auf. Borowski konnte sehen, daß die Haarsträhnen über seinem kahlen Schädel vom Schweiß naß waren.»Es gibt keinen Anlaß, irgendwohin zu gehen. Was sind schon ein paar Minuten im Leben eines Mannes? Die Fernsehshows werden in ein oder zwei Monaten ja ohnehin wiederholt. Also, was in Gottes Namen soll das alles, Monsieur? Meine Bücher sind in Ordnung. Da gibt es nichts! Natürlich bin ich nicht für die Arbeit des Buchhalters verantwortlich. Das ist eine separate Firma; er ist eine separate Firma. Offen gestanden, habe ich ihn nie gemocht; er flucht die ganze Zeit, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber wer bin ich schon, um etwas dagegen zu sagen?«Trignon streckte seine Hände mit gespielter Verzweiflung aus, das Gesicht zu einem unterwürfigen Lächeln verzogen.
«Zunächst einmal«, sagte Borowski und tat die Proteste ab, als hätte er sie nicht gehört,»dürfen Sie die Stadtgrenzen von Paris nicht verlassen. Wenn Sie aus irgendeinem Grunde persönlich oder beruflich aufgefordert werden sollten, das zu tun, müssen Sie uns verständigen. Um es offen zu sagen, Sie werden keine Genehmigung bekommen.«
«Sie scherzen, Monsieur!«
«Das tue ich ganz bestimmt nicht.«
«Ich habe keinen Grund, Paris zu verlassen — und auch nicht das Geld dazu — aber es ist unglaublich, daß man zu mir so etwas sagt. Was habe ich getan?«
«Das Bureau wird Ihre Bücher morgen früh beschlagnahmen. Seien Sie darauf vorbereitet.«
«Beschlagnahmen? Aus welchem Grund? Worauf vorbereitet?«
«Zahlungen an sogenannte Lieferanten, deren Rechnungen betrügerisch sind. Die Ware ist nie entgegengenommen worden
— war nie dazu bestimmt, entgegengenommen zu werden — und die Zahlungen sind statt dessen auf eine Bank in Zürich geleitet worden.«
«Zürich? Ich weiß nicht, wovon Sie reden! Ich habe nie Schecks für Zürich ausgestellt.«
«Nicht direkt, das wissen wir. Aber es war doch eine Kleinigkeit für Sie, diese Schecks für nicht existierende Firmen auszustellen, dann die Gelder auszuzahlen und nach Zürich zu kabeln.«
«Jede Rechnung wird von Madame Lavier abgezeichnet! Ich bezahle nichts auf eigene Veranlassung!«
Jason hielt inne und runzelte die Stirn.»Jetzt scherzen Sie«, sagte er.
«Auf mein Wort! Das ist Vorschrift. Sie können jeden fragen! Les Classiques bezahlt keinen Sou, der nicht von Madame angewiesen ist.«
«Sie behaupten also, daß Sie Ihre Anweisungen direkt von ihr bekommen.«
«Aber natürlich!«
«Und von wem bekommt sie ihre Anweisungen?«
Trignon grinste.»Es heißt immer, von Gott, wenn es nicht andersherum ist, aber das ist natürlich ein Scherz, Monsieur.«
«Ich hoffe, daß Sie auch ernst sein können. Wer sind die Eigentümer von Les Classiques?«
«Das ist eine Partnerschaft, Monsieur. Madame Lavier hat viele wohlhabende Freunde; diese Freunde haben in ihre Fähigkeit investiert. Und natürlich in die Talente von Rene Bergeron.«
«Treffen sich diese Geldgeber häufig? Machen sie Vorschläge in bezug auf die Geschäftspolitik? Empfehlen sie vielleicht bestimmte Firmen, mit denen Geschäfte gemacht werden sollen?«
«Das weiß ich nicht, Monsieur. Natürlich, jeder hat Freunde.«
«Wir haben uns vielleicht auf die falschen Leute konzentriert«, unterbrach Borowski.»Es ist durchaus möglich, daß Sie und Madame Lavier — als die beiden, die direkt mit den täglichen Finanzen befaßt sind — benutzt werden.«
«Wozu benutzt?«
«Um Geld nach Zürich zu schaffen. Auf das Konto eines der
gemeinsten Killer von Europa.«
Trignon zuckte zusammen, sein dicker Bauch zitterte, als er sich gegen die Wand stützte.»In Gottes Namen, was wollen Sie damit sagen?«
«Sie persönlich haben die Schecks vorbereitet, sonst niemand.«
«Nur auf Anweisung!«
«Haben Sie je die Ware mit den Rechnungen abgeglichen?«
«Das gehört nicht zu meinen Obliegenheiten!«
«Sie haben also Zahlungen für Lieferungen geleistet, die Sie nie gesehen haben.«
«Ich sehe nie etwas! Nur Rechnungen, die abgezeichnet worden sind. Ich zahle nur auf solche Rechnungen!«
«Dann hoffe ich, daß Sie jede einzelne finden werden. Sie und Madame Lavier würden gut daran tun, Ihre Akten gründlich zu durchforschen. Denn Sie beide — ganz besonders Sie — werden sich mit der Anklage auseinandersetzen müssen.«
«Anklage? Was für eine Anklage?«
«In Ermangelung einer besonderen Vorladung wollen wir es einmal Mittäterschaft an mehrfachem Mord nennen.«
«Mehrfachem — «
«Meuchelmord. Das Konto in Zürch gehört dem Terroristen, der unter dem Namen Carlos bekannt ist. Sie, Pierre Trignon, und Ihre gegenwärtige Arbeitgeberin, Madame Jacqueline Lavier, sind direkt in die Finanzierung des meistgesuchten Mörders von Europa verwickelt. Iljitsch Ramirez Sanchez. Alias Carlos.«
«Ohhh!.. «Trignon mußte sich an der Wand festhalten, die Augen vor Entsetzen geweitet, die aufgedunsenen Züge verquollen.»Den ganzen Nachmittag lang…«, flüsterte er.»Leute, die herumliefen, hysterische Gespräche in den Gängen, und alle haben mich so seltsam angesehen, sind an meinem Büro vorübergegangen und haben die Köpfe abgewandt. O mein Gott.«
«An Ihrer Stelle würde ich keinen Augenblick vergeuden. Der morgige Tag ist nicht mehr weit, und er wird wahrscheinlich der schwierigste Tag Ihres Lebens sein. «Jason ging zur Haustüre und blieb mit der Hand auf dem Türknopf stehen.»Es kommt mir nicht zu, Ihnen Ratschläge zu erteilen, aber an Ihrer Stelle würde ich sofort mit Madame Lavier Verbindung aufnehmen. Sie sollten anfangen, Ihre gemeinsame
Verteidigung vorzubereiten — das ist vielleicht alles, was Ihnen noch möglich ist. Es kann zu einem Skandal kommen.«
Das Chamäleon öffnete die Tür und trat ins Freie, die kalte Nachtluft schlug ihm ins Gesicht.
Du mußt Carlos finden. Carlos in die Falle locken. Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain.
Falsch!
Du mußt eine Nummer in New York finden. Treadstone finden. Den Sinn einer Nachricht finden. Den Sender finden.
Jason Borowski finden.
Das Tageslicht leuchtete durch die Mosaikfenster, als der
glattrasierte alte Mann in dem altmodischen Anzug durch den
Mittelgang der Kirche in Neuilly-sur-Seine eilte. Der hochgewachsene Priester, der bei den Novenenkerzen stand, blickte ihm nach, hatte das Gefühl, den Mann irgendwie zu kennen. Einen Augenblick dachte der Priester, er habe den Mann schon einmal gesehen und wisse nur nicht, wo er ihn hintun müsse. Da war gestern ein heruntergekommener Bettler gewesen, etwa die gleiche Größe, der gleiche… Nein, die Schuhe dieses alten Mannes waren blank geputzt, sein weißes Haar sorgfältig gekämmt, und der Anzug, auch wenn er aus dem letzten Jahrzehnt stammte, war von guter Qualität.
«Angelus Domini«, sagte der alte Mann und schob die Vorhänge des Beichtstuhls auseinander.
«Genug!«flüsterte die nur silhouettenhaft sichtbare Gestalt im Inneren des Beichtstuhls.»Was haben Sie in Saint-Honore erfahren?«
«Wenig Konkretes. Aber seine Schachzüge sind genial.«
«Steckt ein System dahinter?«
«Ich glaube nicht. Er wählt Leute aus, die absolut nichts wissen, und erzeugt durch sie Chaos. Ich würde vorschlagen, die Aktivitäten in Les Classiques einzustellen.«
«Natürlich«, gab ihm die Silhouette recht.»Aber welches Ziel verfolgt er?«
«Über das Chaos hinaus?«fragte der alte Mann.»Ich würde sagen, er will unter denjenigen, die etwas wissen, Mißtrauen verbreiten. Die Brielle hat diese Worte gebraucht. Sie hat gesagt, der Amerikaner hätte von ihr verlangt, sie solle der Lavier sagen, es gäbe >einen Verräter in ihrer Mitte, eine offenkundig falsche Aussage. Welcher von ihnen würde das schon wagen? Der Buchhalter, Trignon, ist verrückt geworden.
Gestern Abend hat er bis zwei Uhr früh vor dem Haus der Lavier gewartet und sie buchstäblich überfallen, als sie aus dem Hotel der Brielle zurückkehrte. Auf der Straße hat er herumgeschrien!«
«Die Lavier selbst hat sich auch nicht viel besser benommen. Sie hatte sich kaum noch im Griff, als sie in Parc Monceau anrief; man hat ihr gesagt, sie solle nicht wieder anrufen. Wir brechen die Verbindung dorthin ab!«
«Selbstverständlich. Die wenigen von uns, die die Nummer kennen, haben sie vergessen.«
«Ja, daran tun sie gut. «Die Silhouette bewegte sich plötzlich; der Vorhang raschelte. »»Natürlich will er Mißtrauen verbreiten! Das folgt dem Chaos. Daran besteht kein Zweifel. Er wird sich die Kontaktpersonen herauspicken und versuchen, von ihnen Informationen zu bekommen. Und wenn ihm das bei einem nicht gelingt, wird er ihn den Amerikanern ausliefern und sich den nächsten packen. Aber er wird bei allem alleine operieren, das ist Teil seines Ego. Er ist ein Verrückter. Ein Besessener.«
«Mag sein, daß er beides ist«, konterte der alte Mann,»aber er versteht sich auf sein Geschäft. Er wird dafür sorgen, daß die Namen an seine Vorgesetzten weitergeleitet werden, für den Fall, daß sein Vorhaben mißlingt. Also wird man sie auf alle Fälle festnehmen, gleichgültig ob es Ihnen gelingt, ihn fertigzumachen oder nicht.«
«Wir werden sie zwar töten«, sagte der Meuchelmörder.»Nur Bergeron nicht. Er ist zu wichtig. Sagen Sie ihm, er soll nach Athen gehen; er weiß schon wohin.«
«Soll ich daraus entnehmen, daß ich die Stelle von Parc Monceau einnehmen soll?«
«Das wäre unmöglich, aber für den Augenblick werden Sie meine endgültigen Entscheidungen an die jeweiligen Personen weiterleiten.«
«Und die erste Person ist Bergeron. Nach Athen!«
«Ja.«
«Also stehen Lavier und der Mann aus den Kolonien, d'Anjou, auf der Liste?«
«Ja, Köder überleben selten. Sie müssen noch eine weitere Nachricht weiterleiten an die beiden Teams, die die Lavier und d'Anjou überwachen. Sagen Sie ihnen, daß ich sie beobachten werde — die ganze Zeit. Es darf keine Fehler geben!«
Jetzt zögerte der alte Mann, verschaffte sich damit die
Aufmerksamkeit des anderen.»Ich habe mir das Beste für den Schluß aufgehoben, Carlos. Man hat den Renault vor eineinhalb Stunden in einer Garage am Montmartre gefunden. Er ist letzte Nacht zurückgebracht worden.«
In der Stille konnte der alte Mann den langsamen Atem der Gestalt hinter dem Vorhang hören.»Ich nehme an, Sie haben Maßnahmen ergriffen, um ihn zu beobachten — selbst in diesem Augenblick — um ihm zu folgen — selbst in diesem Augenblick.«
Der Bettler lachte leise.»Entsprechend Ihrer letzten Instruktion habe ich mir die Freiheit genommen, einen Freund einzustellen, einen Freund mit einem einwandfreien Wagen. Er seinerseits hat drei Bekannte eingestellt, und die wechseln sich jetzt in vier Sechs-Stunden-Schichten auf der Straße vor der Garage ab. Sie wissen natürlich nichts, nur daß sie dem Renault zu jeder Tages- und Nachtstunde folgen müssen.«
«Sie enttäuschen mich nicht.«
«Das kann ich mir nicht leisten. Und nachdem Parc Monceau eliminiert worden ist, konnte ich ihnen keine andere Telefonnummer als die meine geben, die, wie Sie wissen, ein heruntergekommenes Cafe im Quartier ist. Der Besitzer und ich waren in den alten Tagen, den besseren Tagen, Freunde. Ich kann ihn alle fünf Minuten fragen, ob irgendwelche Mitteilungen für mich eingegangen sind, und er würde sich nie wundern. Ich weiß, woher er das Geld hat, mit dem er sich sein Geschäft aufgebaut und, und wer dabei den kürzeren zog.«
«Sie haben hervorragende Arbeit geleistet.«
«Ich habe auch ein Problem, Carlos. Da keiner von uns Parc Monceau anrufen darf, wie kann ich da Sie erreichen? Falls ich das muß. Zum Beispiel wegen des Renault.«
«Ja, ich überlege gerade. Sind Sie sich eigentlich bewußt, was Sie da wagen?«
«Ich weiß es, aber ich muß. Meine einzige Hoffnung ist, daß Sie, wenn das vorbei ist und Cain tot ist, sich an meine vorzügliche Arbeit erinnern werden, und die Nummer ändern, anstatt mich zu töten.«
«Sie stellen Vermutungen auf.«
«Früher war dies meine Überlebenschance.«
Der Meuchelmörder flüsterte sieben Ziffern.»Sie sind der einzige lebende Mensch, der diese Nummer besitzt. Sie kann natürlich nicht überprüft werden.«
«Natürlich. Wer würde erwarten, daß ein alter Bettler sie besitzt?«
«Jede Stunde bringt Sie einem besseren Lebensstandard näher. Das Netz beginnt sich zu schließen. Wir werden Cain schnappen und seine Leiche den genialen Strategen, die ihn zur Marionette gemacht haben, zurückgeben. Er kennt das Dunkel nicht, aus dem er kommt. Daran wird er zerbrechen.«
Borowski nahm den Hörer ab.»Ja?«
«Zimmer vierhundertzwanzig?«
«Sprechen Sie, General.«
«Die Telefonanrufe haben aufgehört. Man kontaktiert sie nicht mehr — zumindest nicht über das Telefon. Unsere zwei Angestellten waren weg, und das Telefon klingelte zweimal. Sie bat mich beide Male, den Hörer abzunehmen. Ihr war nicht nach Reden zumute.«
«Wer hat angerufen?«
«Die Apotheke wegen eines Rezepts, und ein Journalist, der um ein Interview bat. Beides konnte sie nicht wissen.«
«Hatten Sie den Eindruck, daß sie versucht hat, abzulenken, indem sie Sie bat, die Anrufe entgegenzunehmen?«
Villiers überlegte. Als er antwortete, klang seine Stimme ärgerlich.»Ich denke schon. Sie erwähnte auch, daß sie vielleicht auswärts essen würde. Sie sagte, sie hätte einen Tisch im George V. bestellt, und ich könnte sie dort erreichen.«
«Wenn sie hingeht, möchte ich gerne vor ihr dort sein.«
«Ich gebe Ihnen Bescheid.«
«Sie sagten, sie würde >zumindest nicht mehr per Telefon< kontaktiert. Was meinen Sie damit?«
«Vor dreißig Minuten kam eine Frau. Meine Frau zögerte, sie zu empfangen, hat es aber dann doch getan. Ich habe ihr Gesicht nur einen Augenblick lang im Korridor gesehen, aber das war genug. Die Frau wirkte total verstört.«
«Beschreiben Sie sie.«
Das tat Villiers.
«Jacqueline Lavier«, sagte Jason.
«Das hatte ich angenommen. Nach ihrem Aussehen zu urteilen, war das Wolfsrudel äußerst erfolgreich; sie sah übernächtigt aus. Ehe sie sie in die Bibliothek führte, sagte mir meine Frau, sie sei eine alte Freundin, die gerade eine Ehekrise durchmachte. Eine offenkundige Lüge; in ihrem Alter gibt es keine Krisen mehr in der Ehe, da geht es nur darum, gewisse Dinge zu akzeptieren, oder den anderen zu erpressen.«
«Ich verstehe nicht, daß sie zu Ihrem Haus ging. Das ist viel zu riskant. Das leuchtet mir nicht ein. Es sei denn, sie hat es auf eigene Faust getan, im Wissen, daß keine weiteren Anrufe mehr erfolgen dürfen.«
«Das habe ich mir auch überlegt«, sagte der ehemalige Offizier.»Ich wollte ein wenig Luft schnappen und machte einen kleinen Spaziergang ums Haus. Mein Adjutant begleitete mich. Meine Augen waren wachsam. Jemand hat die Lavier verfolgt. Zwei Männer saßen vier Häuser entfernt in einem Wagen; das Automobil war mit einem Radio ausgestattet. Diese Männer gehörten nicht in unsere Straße. Das konnte man in ihren Gesichtern lesen und an der Art und Weise merken, wie sie mein Haus beobachteten.«
«Woher wissen Sie, daß die Lavier nicht mit diesen Männern gekommen ist?«
«Wir wohnen in einer ruhigen Straße. Als die Frau kam, saß ich im Wohnzimmer, trank Kaffee und hörte sie die Treppen herauflaufen. Als ich ans Fenster ging, sah ich gerade noch ein Taxi wegfahren. Sie kam in einem Taxi; man hat sie verfolgt.«
«Wann ist sie weggefahren?«
«Bis jetzt noch nicht. Und die Männer sind noch draußen.«
«Was für einen Wagen haben die Männer?«
«Einen grauen Citroen. Die ersten drei Buchstaben des Zulassungsschildes lauten NYR.«
«Vögel in der Luft, die einer Kontaktperson folgen. Woher kommen die Vögel?«
«Wie bitte? Was haben Sie gesagt?«
Jason schüttelte den Kopf.»Ich weiß nicht genau. Lassen Sie nur. Ich werde versuchen, dorthin zu kommen, ehe die Lavier wegfährt. Tun Sie, was in Ihrer Macht steht, um mir zu helfen. Unterbrechen Sie Ihre Frau. Sagen Sie ihr, Sie müßten sie ein paar Minuten sprechen. Bestehen Sie darauf, daß ihre >alte Freundin< bleibt; sagen Sie irgend etwas; sorgen Sie einfach dafür, daß sie das Haus nicht verläßt.«
«Ich werde mir Mühe geben.«
Borowski legte auf und sah Marie an, die am Fenster stand.»Es funktioniert. Sie mißtrauen einander bereits. Die Lavier ist nach Parc Monceau gefahren, und man hat sie verfolgt. Sie fangen an, Argwohn gegen ihre eigenen Leute zu empfinden.«
«Vögel in der Luft«, sagte Marie.»Was hat das für eine
Bedeutung?«
«Ich weiß nicht; es ist nicht wichtig. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
«Ich glaube schon, daß es wichtig ist, Jason.«
«Jetzt nicht«, erwiderte Jason bestimmt und trat an den Sessel, auf den er seinen Mantel und den Hut gelegt hafte. Er zog sich schnell an und ging zu dem Sekretär, zog die Schublade auf und entnahm ihr die Pistole. Er sah sie einen
Löwenstraße, eine schmutzige Pension an der Brauerstraße. Die Pistole erschien ihm jetzt als Symbol. Damals in Zürich hätte sie fast sein Leben beendet.
Aber dies war schließlich Paris. Und in Zürich hatte es einmal begonnen.
Du mußt Carlos finden. Carlos in die Falle locken. Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain.
Falsch! Verdammt, falsch!
Du mußt Treadstone finden. Eine Nachricht finden. Einen Mann finden.
Jason machte sich auf dem Rücksitz ganz klein, als sich das Taxi dem Haus von Villiers in Parc Monceau näherte. Er musterte die Wagen, die die Bürgersteige säumten; da stand kein grauer Citroen mit dem Nummernschild, das die Anfangsbuchstaben NYR trug.
Aber da war Villiers. Der alte Soldat stand alleine an der Straße, vier Türen von seinem Haus entfernt.
Zwei Männer… in einem Wagen, vier Häuser von dem meinen entfernt.
Villiers stand jetzt dort, wo jener Wagen gestanden hatte; das war ein Signal.
«Halten Sie bitte an«, sagte Borowski zu dem Fahrer.»Ich möchte mit dem alten Herrn da drüben sprechen. «Er kurbelte das Fenster herunter und lehnte sich nach vorne. »Monsieur?«
«Reden wir englisch«, erwiderte Villiers und ging auf das Taxi zu, ein alter Mann, den ein Fremder herbeigerufen hat.
«Was ist geschehen?«fragte Jason.
«Ich konnte alle beide nicht aufhalten.«
«Alle beide?«
«Meine Frau ist mit der Lavier weggefahren. Ich war allerdings hartnäckig. Ich habe ihr gesagt, sie solle im George V. auf meinen Anruf warten. Es sei eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit, und ich brauchte ihren Rat.«
«Was hat sie gesagt?«
«Sie wäre nicht sicher, ob sie im George V. sein würde. Ihre Freundin bestünde darauf, einen Priester in Neuilly-sur-Seine aufzusuchen, in der Kirche des Geheiligten Sakraments. Sie sagte, sie fühlte sich verpflichtet, sie zu begleiten.«
«Haben Sie Einwände vorgebracht?«
«Mit einer Heftigkeit, die ihr merkwürdig vorkam. Denn sie hat zum erstenmal in unserem gemeinsamen Leben die Gedanken ausgesprochen, die mich bewegten. Sie sagte: >Wenn es dein Wunsch ist, mir nachzuspionieren, Andre, kannst du ja die Pfarrei anrufen. Ich bin sicher, daß jemand mich erkennt und zu einem Telefon führt.< Ob sie mich damit auf die Probe stellen wollte?«
Borowski versuchte nachzudenken.»Vielleicht. Sicher wird sie dafür sorgen, daß jemand sie dort sieht. Aber sie zu einem Telefon führen, ist wieder etwas ganz anderes. Wann sind die beiden weggefahren?«
«Vor weniger als fünf Minuten.«
«Mit Ihrem Wagen?«
«Nein. Meine Frau hat ein Taxi gerufen.«
«Die zwei Männer in dem Citroen sind ihnen gefolgt.«
«Ich fahre hin«, sagte Jason.
«Das habe ich schon vermutet«, sagte Villiers.»Ich habe die Adresse der Kirche nachgesehen.«
Borowski ließ eine Fünfzigfranc-Banknote über die Rücklehne des Vordersitzes fallen. Der Fahrer schnappte danach.»Es ist sehr wichtig für mich, daß ich so schnell wie möglich nach Neuilly-sur-Seine komme. Die Kirche des >Geheiligten Sakraments<. Wissen Sie, wo die ist?«
«Aber natürlich, Monsieur. Das ist die schönste Pfarrei in der ganzen Gegend.«
«Sehen Sie zu, daß wir schnell hinkommen, dann bekommen Sie noch einmal fünfzig Francs.«
«Wir werden auf den Flügeln von Engeln fliegen, Monsieur!«
Und sie flogen, wobei sie sich unterwegs eine Unzahl keineswegs heiliger Gedanken von Fahrern anderer Fahrzeuge zuzogen.
«Dort sind die Türme das >Geheiligten Sakraments<, Monsieur«, sagte der siegreiche Fahrer zwölf Minuten später und deutete durch die Windschutzscheibe auf drei hochragende Steintürme.»Eine Minute, zwei vielleicht, wenn diese Idioten, die man eigentlich von der Straße fernhalten müßte…«
«Nur langsam«, unterbrach Borowski, dessen Aufmerksamkeit nicht den Türmen der Kirche, sondern einem Wagen galt, der einige Wagenlängen vor ihnen fuhr. Sie waren um eine Ecke gerollt und er hatte ihn dabei entdeckt; es war ein grauer Citroen, und auf dem Vordersitz saßen zwei Männer.
Sie kamen an eine Verkehrsampel; die Fahrzeuge hielten an. Jason ließ die zweite Fünfzigfrancnote über den Sitz fallen und öffnete die Tür.»Ich bin gleich wieder da. Wenn die Ampel wechselt, fahren Sie langsam weiter, dann springe ich herein.«
Borowski stieg aus, rannte geduckt zwischen den Wagen nach vorne, bis er die Buchstaben sehen konnte. NYR; die Ziffern dahinter waren 768, aber für den Augenblick waren sie bedeutungslos. Der Taxifahrer hatte sich sein Geld verdient.
Die Ampel schaltete um, und die Reihe von Automobilen ruckte nach vorne wie ein in die Länge gezogenes Insekt, das seine einzelnen Panzerteile in Bewegung setzt. Das Taxi kam; Jason öffnete die Tür und stieg ein.»Sie machen gute Arbeit«, sagte er zu dem Fahrer.
«Ich bin mir wirklich nicht sicher, daß ich die Arbeit auch kenne, die ich hier leiste.«
«Eine Angelegenheit des Herzens. Man muß den Betrüger auf frischer Tat ertappen.«
«In der Kirche, Monsieur? Die Welt dreht sich zu schnell für mich.«
«Aber nicht im Verkehr«, sagte Borowski. Sie näherten sich der letzten Straßenkreuzung vor der Kirche des >Geheiligten Sakraments<. Der Citroen bog ab, zwischen ihm und dem Taxi war noch ein einziger Wagen, dessen Passagiere nicht zu erkennen waren. Irgend etwas störte Jason. Die Überwachung seitens der zwei Männer war zu deutlich, viel zu offensichtlich. Es war gerade, als wollten die Soldaten Carlos', daß jemand in dem Taxi wußte, daß sie da waren.
Natürlich! Villiers' Frau war in dem Taxi. Mit Jacqueline Lavier. Und die beiden Männer in dem Citroen wollten, daß Villiers' Frau wußte, daß sie hinter ihr her waren.
«Wir sind da«, sagte der Fahrer und fuhr in die Straße, wo die Kirche sich in mittelalterlichem Prunk inmitten eines kurzgeschorenen Rasens erhob, der von plattenbelegten Wegen durchkreuzt und mit Statuen geschmückt war.»Was soll ich jetzt tun, Monieur?«
«Halten Sie dort«, befahl Jason und deutete auf eine Lücke in der Reihe parkender Fahrzeuge. Das Taxi mit Villiers' Frau und der Lavier hielt vor einem Fußweg, der von einem Heiligen aus Beton bewacht wurde. Villiers' Frau stieg als erste aus und streckte Jacqueline Lavier die Hand hin, die aschfahl aus dem Wagen stieg. Sie trug eine große, orangegeränderte Sonnenbrille und eine weiße Handtasche, aber ihre ganze Eleganz war verflogen. Die Krone ihres mit silbernen Strähnen durchzogenen Haares fiel gerade und formlos über die kalkweiße Totenmaske ihres Gesichts. Ihre Strümpfe waren zerrissen. Sie war wenigstens dreihundert Fuß entfernt, aber Borowski hatte das Gefühl, ihren stockenden Atem hören zu können, der die zögernden Bewegungen ihrer einst königlichen Gestalt begleitete.
Der Citroen war ein Stück weitergefahren und näherte sich jetzt ebenfalls dem Randstein. Keiner der beiden Männer stieg aus, aber aus dem Kofferraum schob sich jetzt ein dünner Metallstab, der das Sonnenlicht reflektierte. Die Radioantenne wurde eingeschaltet, über eine Geheimfrequenz ging ein Codespruch hinaus. Jason war wie hypnotisiert, nicht von dem, was er sah und dem Wissen, was hier geschah, sondern von etwas anderem. Worte flogen ihm zu, er wußte nicht, woher, aber sie waren da.
Delta an Almanach, Delta an Almanach. Wir werden nicht antworten. Wiederhole, negativ, Bruder.
Almanach an Delta. Sie werden wie befohlen antworten. Aufgeben, aufgeben. Das ist endgültig.
Delta an Almanach. Du bist endgültig, Bruder. Geh und flck dich selber. Delta Ende, Gerät beschädigt.
Plötzlich umgab ihn wieder die Dunkelheit, das Licht der Sonne war verschwunden. Da waren keine hochragenden Türme einer Kirche mehr, die nach dem Himmel griffen; statt dessen waren da schwarze Umrisse von unregelmäßigem Blattwerk, das im Licht irisierender Wolken schauderte. Alles war in Bewegung, alles war in Bewegung; und er mußte sich der Bewegung anschließen. Reglos bleiben, hieß sterben. Bewegen! Um Himmels willen, beweg dich!
Und hol sie heraus. Einen nach dem anderen. Du mußt näher herankriechen, die Angst überwinden — die schreckliche Angst — und ihre Zahl verringern. Das war alles, worum es ging. Die Zahl reduzieren. Der Mönch hatte das ganz klargemacht. Messer, Draht, Knie, Daumen; du kennst doch die Punkte, wo man Schaden anrichten kann.
Die Punkte, die den Tod bedeuten.
Der Tod ist für die Computer ein statistischer Begriff. Für dich bedeutet er das Überleben.
Der Mönch.
Der Mönch?
Und dann kam wieder das Licht, blendete ihn einen Augenblick lang, er hatte den Fuß auf dem Pflaster, den Blick auf den grauen Citroen gerichtet, der hundert Meter entfernt stand. Aber das Sehen bereitete ihm Schwierigkeiten; warum war es so schwierig? Dunst, Nebel… Jetzt nicht Finsternis, sondern undurchdringlicher Nebel. Ihm war heiß; nein, ihm war kalt. Kalt! Sein Kopf fuhr ruckartig in die Höhe, plötzlich war ihm wieder bewußt, wo er war und was er tat. Er hatte das Gesicht gegen das Glas gepreßt; sein Atem hatte die Scheibe beschlagen.
«Ich steige gleich aus«, sagte Borowski.»Bleiben Sie hier.«
«Den ganzen Tag, wenn Sie wollen, Monsieur.«
Jason klappte sich den Mantelkragen hoch, schob sich den Hut in die Stirn und setzte die Schildpattbrille auf. Er ging an einem Ehepaar vorbei, auf einen Kiosk zu, stellte sich hinter eine Mutter, die mit ihrem Kind vor der Theke stand. Er konnte jetzt den Citroen gut sehen; das Taxi, das man zum Parc Monceau gerufen hatte, war nicht mehr da, Villiers' Frau hatte es weggeschickt. Wieso eigentlich, dachte Borowski; man fand hier nicht so leicht ein Taxi.
Drei Minuten später war ihm der Grund klar… er beunruhigte ihn. Villiers' Frau kam aus der Kirche, sie ging schnell, und ihre hochgewachsene, statuenhafte Gestalt erregte bewundernde Blicke der Passanten. Sie ging direkt auf den Citroen zu, sagte etwas zu den Männern auf den Vordersitzen und öffnete dann die hintere Türe.
Eine Handtasche. Eine weiße Handtasche! Villiers' Frau trug jetzt die Tasche, die noch vor wenigen Minuten Jacqueline Laviers Hand umkrampft hatte. Sie stieg auf den Hintersitz des Citroen und zog die Türe zu. Der Motor wurde angelassen und heulte dann auf. Ein Vorspiel zu einer schnellen, plötzlichen Abfahrt. Als der Wagen davonrollte, wurde der glänzende Metallstab, der die Antenne des Wagens darstellte, kürzer und kürzer, zog sich in den Kofferraum zurück.
Wo war Jacqueline Lavier? Warum hatte sie ihre Handtasche Villiers' Frau gegeben? Borowski wollte sich schon in Bewegung setzen, blieb dann aber stehen, von einem Instinkt gewarnt. Eine Falle? Wenn man der Lavier folgte, war es durchaus möglich, daß diejenigen, die sie beobachteten, ihrerseits beobachtet wurden — und zwar nicht durch ihn.
Er blickte die Straße hinauf und hinunter, studierte die Fußgänger auf dem Bürgersteig, dann jeden Wagen, jeden Fahrer und jeden Passagier, und hielt Ausschau nach einem Gesicht, das nicht hierher gehörte, so wie Villiers gesagt hatte, daß die zwei Männer in dem Citroen nicht in den Parc Monceau gehört hatten.
Aber da war nichts, das die Parade störte, keine unsteten Augen, keine Hände, die sich in überdimensionierten Taschen versteckt hielten. Er übertrieb seine Vorsicht; Neuilly-sur-Seine war keine Falle für ihn. Er entfernte sich von der Theke und ging auf die Kirche zu.
Dann blieb er stehen, so, als wären seine Füße plötzlich im Pflaster verwurzelt. Ein Priester kam aus der Kirche, ein Priester in einem schwarzen Anzug mit gestärktem weißen Kragen und einem schwarzen Hut, der sein Gesicht teilweise verdeckte. Er hatte ihn schon einmal gesehen. Nicht vor langer Zeit, nicht in einer lang vergessenen Vergangenheit, sondern erst vor kurzem, vor ganz kurzer Zeit. Tage… Stunden vielleicht. Doch wo war das gewesen? Wo? Er kannte ihn! Alles an ihm war ihm vertraut, sein Gang, die Art, wie er den Kopf etwas zur Seite neigte, die breiten Schultern, die zu den fließenden Bewegungen seines Körpers paßten. Er war ein Mann mit einer Pistole! Doch wo war das gewesen?
Zürich? Das >Carillon du Lac Es waren zwei Männer, die sich den Weg durch die Menge bahnten. Einer trug eine goldgeränderte Brille; das war er nicht. Jener Mann war tot. War es jener andere Mann im >Carillon du Lac Oder am Mythen-Quai? Ein Tier, das unartikuliert stöhnte, und dessen Augen von der wilden Leidenschaft verzerrt waren. War er es? Oder jemand anderer? Ein Mann in einem dunklen Mantel im Korridor der >Auberge du Coin<, wo die Lichter plötzlich verloschen und der Lichtschein vom Treppenhaus die Falle beleuchtete. Eine umgekehrte Falle, wo jener Mann in der Dunkelheit seine Waffe auf Umrisse abgefeuert hatte, die er für menschlich hielt. War es jener Mann? Borowski wußte es nicht, er wußte nur, daß er den Priester schon einmal gesehen hatte, aber nicht als Priester. Als einen Mann mit einer Waffe.
Der Killer im Priesteranzug erreichte das Ende des Plattenweges und bog am Sockel des Betonheiligen nach rechts. Einen kurzen Augenblick lang fiel ein Sonnenstrahl auf sein Gesicht. Jason erstarrte; die Haut. Die Haut des Killers war dunkel, nicht von der Sonne gebräunt, sondern von Geburt an. Eine südländische Haut, deren Färbung über Generationen entstanden war, der Abkömmling von Leuten, die immer am Mittelmeer gelebt hatten. Vorfahren, die über den Erdball gewandert waren… über die Meere.
Borowski begriff plötzlich, er war vor Schreck wie erstarrt. Der dort vor ihm stand, war kein anderer als Iljitsch Ramirez
Sanchez.
Carlos. Carlos in die Falle locken. Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain.
Jason riß an seinem Jackett, seine rechte Hand umfaßte den Kolben der Pistole, die in seinem Gürtel steckte. Er fing an, aufs Pflaster hinauszurennen, stieß mit den Passanten zusammen, stieß mit der Schulter einen Straßenhändler zur Seite, taumelte an einem Bettler vorbei, der in einem Abfallkorb — der Bettler! Die Hand des Bettlers tauchte in seine Tasche; Jason wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um den Lauf einer Automatic unter dem abgewetzten Mantel hervorlugen zu sehen, die Sonnenstrahlen spiegelten sich in dem Metall. Der Bettler hatte eine Pistole! Seine hagere Hand hob sie, hielt die Waffe ganz gerade, sah ihn voll an. Jason warf sich auf die Straße, prallte von einem kleinen Wagen ab. Er hörte die Kugeleinschläge rings um ihn, jenes endgültige Geräusch. Schreie, schrill und schmerzerfüllt, kamen von unsichtbaren Leuten auf dem Bürgersteig. Borowski duckte sich zwischen zwei Wagen und rannte durch den Verkehr auf die andere Straßenseite. Der Bettler rannte weg; ein alter Mann mit Augen aus Stahl rannte in die Menge hinein, ins Vergessen.
Carlos. Carlos in die Falle locken. Cain ist…!
Wieder wirbelte Jason herum und taumelte erneut, warf sich nach vorne, schob alles weg, das sich ihm in den Weg stellte, um den Killer zu verfolgen. Er blieb atemlos stehen, verwirrt und irgendwie wütend. Plötzlich verspürte er einen bohrenden Schmerz an den Schläfen. Wo war er? Wo war Carlos! Und dann sah er ihn; der Killer hatte sich hinter das Steuer einer mächtigen schwarzen Limousine gesetzt. Borowski rannte wieder auf die Straße zurück, rempelte Fußgänger an, lädierte Kotflügel und Motorhauben. Plötzlich versperrten ihm zwei Wagen den Weg, die miteinander kollidiert waren. Seitwärts sprang er über die ineinander verkeilten Stoßstangen. Doch dann blieb er wieder stehen, und seine Augen füllten sich mit Tränen über das, was er sah; gleichzeitig wußte er, daß es sinnlos war, weiterzugehen. Er war zu spät gekommen. Die große schwarze Limousine hatte eine Lücke im Verkehr entdeckt, und Iljitsch Ramirez Sanchez jagte davon.
Die Lavier! Borowski fing wieder zu rennen an, auf die Kirche des Geheiligten Sakraments zu. Er erreichte den Plattenweg unter den Augen des Betonheiligen und bog nach links, rannte auf die mächtigen, mit Skulpturen versehenen Flügel und die marmorne Treppe zu. Er jagte hinauf, rannte in die gotische Kirche, sah sich ganzen Regalen mit flackernden Kerzen gegenüber, während sich aus den Mosaikglasfenstern hoch ober in den finsteren Steinmauern ineinander verschmolzene Strahlen farbigen Lichts ergossen. Er ging den Mittelgang hinunter und starrte die Gläubigen an, hielt Ausschau nach einem Kopf mit dunklem Haar, das von silbernen Strähnen durchzogen war, und unter dem ein totenbleiches Gesicht zur Maske erstarrt schien.
Die Lavier war nirgends zu sehen, und doch hatte sie die Kirche noch nicht verlassen, mußte also noch hier irgendwo sein. Jason drehte sich um und blickte den Gang hinauf; da sah er einen hochgewachsenen Priester, der ganz beiläufig an den Kerzen vorbeiging. Borowski überholte ihn und stellte sich ihm in den Weg.
«Entschuldigen Sie bitte, Hochwürden«, sagte er.»Ich fürchte, ich habe jemanden verloren.«
«Niemand ist im Hause Gottes verloren, mein Herr«, erwiderte der Geistliche und lächelte.
«Vielleicht ist sie nicht im Geiste verloren, aber wenn ich nicht wenigstens den Rest finde, wird sie sehr ungehalten sein. In ihrem Geschäft hat es einige Probleme gegeben. Sind Sie schon lange hier, Hochwürden?«
«Ich begrüße jene Angehörige unserer Erde, die Hilfe suchen. Ja. Ich bin seit fast einer Stunde hier.«
«Vor ein paar Minuten kamen zwei Frauen herein. Die eine war außergewöhnlich groß und sehr attraktiv, sie trug eine helle Jacke und, wie ich meine, ein dunkles Tuch über dem Haar. Die andere war älter, nicht so hochgewachsen, und offensichtlich nicht ganz gesund. Haben Sie sie zufällig gesehen?«
Der Priester nickte.»Ja. Das Gesicht der älteren Frau wirkte verhärmt, sie war bleich, litt offensichtlich.«
«Wissen Sie, wo sie hingegangen ist? Ich glaube, ihre jüngere Freundin ist weggegangen.«
«Eine sehr ergebene Freundin, darf ich sagen. Sie hat die arme Dame zum Beichtstuhl geführt und ihr geholfen, in dem Beichtstuhl Platz zu nehmen. Die Reinigung der Seele gibt uns allen in schweren Zeiten Kraft.«
«Zur Beichte?«
«Ja — der zweite Beichtstuhl von rechts. Ich darf vielleicht hinzufügen, daß sie einen Beichtvater mit sehr viel Mitgefühl hat. Ein Priester, der aus der Erzdiözese Barcelona zu Besuch ist. Ein bemerkenswerter Mann übrigens; leider ist das sein letzter Tag. Er kehrt nach Spanien zurück…«Der hochgewachsene Priester runzelte die Stirn.»Ist das nicht eigenartig? Vor ein paar Augenblicken dachte ich, ich sähe Pater Manuel hinausgehen. Wahrscheinlich hat man ihn abgelöst. Aber wie dem auch sei, die liebe Dame ist in guten Händen.«
«Dessen bin ich sicher«, sagte Borowski.»Danke, Hochwürden. Ich werde auf sie warten. «Jason ging den Seitengang hinunter auf die Reihe von Beichtstühlen zu, die Augen auf den zweiten gerichtet, wo ein kleiner Streifen aus weißem Tuch zu erkennen gab, däß der Beichtstuhl besetzt war. Eine Seele wurde gerade gereinigt. Er setzte sich in die vorderste Reihe und kniete sich dann hin, drehte den Kopf langsam zur Seite, um den Kircheneingang im Auge behalten zu können. Der hochgewachsene Priester stand am Eingang und blickte auf das Geschehen auf der Straße hinaus. In der Ferne war das Heulen von schnell näher kommenden Sirenen zu hören.
Borowski stand auf und ging auf den zweiten Beichtstuhl zu. Er schob den Vorhang beiseite und sah hinein, sah dort, was er erwartet hatte. Nur die Methode war noch fraglich gewesen.
Jacqueline Lavier war tot, ihr Körper nach vorne gesunken, etwas zur Seite gerollt, von der Wand des Beichtstuhls gestützt, das maskenhafte Gesicht nach oben gewandt, die Augen geweitet, im Tod zur Decke starrend. Ihr Jackett war offen, und das Tuch ihres Kleides von Blut getränkt. Die Waffe war ein langer, dünner Brieföffner, mit dem man sie über der linken Brust erstochen hatte. Ihre Finger hatten sich um den Griff verkrampft, und ihre lackierten Nägel hatten dieselbe Farbe wie das Blut.
Zu ihren Füßen lag eine Handtasche — nicht die weiße Handtasche, die sie vor zehn Minuten festgehalten hatte, sondern eine modische Tasche von Yves St. Laurent, dessen auffällige Initialen auf den Stoff gedruckt waren, ein Wappen der Haute Couture. Jason war der Grund dafür klar. In der Tasche lagen Papiere, die diesen tragischen Selbstmord erklärten, diese überarbeitete Frau war so von Leid beladen, daß sie sich selbst das Leben nahm, während sie vor den
Augen Gottes Absolution suchte. Carlos war wirklich gründlich gewesen.
Borowski zog den Vorhang zu und entfernte sich von dem Beichtstuhl. Irgendwo hoch oben im Turm hallten die Glocken des morgendlichen >Angelus<.
Das Taxi rollte ziellos durch die Straßen von Neuilly-sur-Seine, Jason saß auf dem Rücksitz, seine Gedanken überschlugen sich.
Es war sinnlos zu warten, vielleicht sogar gefährlich. Strategien änderten sich, wenn die Umstände sich änderten. Und sie hatten eine tödliche Änderung erfahren. Jacqueline Lavier war verfolgt worden, ihr Tod unvermeidlich, aber zu früh; sie war immer noch wertvoll. Doch dann begriff Borowski. Sie war nicht getötet worden, weil sie Carlos die Treue gebrochen hatte, vielmehr, weil sie ihm nicht gehorcht hatte. Sie war nach Parc Monceau gefahren — das war der Fehler, für den es keine Nachsicht gab.
Es gab noch eine weitere bekannte Verbindungsperson im Les Classiques einen grauhaarigen Telefonisten namens Philippe d'Anjou, dessen Gesicht in ihm Bilder von Gewalt und Finsternis hervorriefen. Bilder von grellen Lichtblitzen und Lärm. Er war ein Teil von Borowskis Vergangenheit gewesen, dessen war Jason sicher, und deswegen mußte der Gejagte vorsichtig sein; er konnte nicht wissen, was jener Mann für ihn bedeutete. Aber er war eine Verbindungsstelle, und auch er würde beobachtet werden, ebenso wie man die Lavier beobachtet hatte, ein weiterer Köder für eine zusatzliche Falle. Und sobald die Falle sich schloß, mußte schnell gehandelt werden.
Waren dies die einzigen zwei? Gab es andere? Ein obskurer, gesichtsloser Angestellter vielleicht, der gar kein einfacher Angestellter war, sondern etwas anderes? Ein Lieferant, der Stunden in der Rue Saint-Honore verbrachte und ganz legitim die Wege der Haute Couture betrat, in Wirklichkeit aber ein ganz anderes Ziel verfolgte. Oder der muskulöse Designer, Rene Bergeron, dessen Bewegungen so schnell und so… flüssig waren.
Plötzlich erstarrte Borowski, ließ sich in den Sitz zurückfallen. Eine Erinnerung aus jüngster Vergangenheit drängte an die Oberfläche. Bergeron, die von der Sonne dunkelbraun gebrannte Haut, die breiten Schultern, die die hochgekrempelten Ärmel noch betonten… Schultern, die über einer schmalen Taille zu schweben schienen, und darunter kraftige Beine, die sich schnell und geschmeidig bewegten, wie die eines Tieres, einer Katze.
War es möglich? Waren die anderen Vermutungen bloße Phantome, Fragmente vertrauter Bilder, bei denen er selbst sich eingeredet hatte, daß sie Carlos darstellen konnten? War der Mörder — seinen Verbindungspersonen unbekannt — nur ein Phantom, das gar nicht wirklich existierte. War es Bergeron?
Er mußte sofort an ein Telefon. Jede Minute, die er verlor, war eine Minute mehr, die ihn von der Antwort trennte, und zu viele solcher Minuten bedeuteten, daß er überhaupt keine Antwort mehr bekommen würde. Aber er konnte nicht selbst anrufen; die Ereignisse waren zu schnell aufeinandergefolgt, er mußte sich zurückhalten, seine eigene Information nur registrieren.
«Wenn Sie irgendwo eine Telefonzelle sehen, halten Sie an«, sagte er zu dem Fahrer, den das Chaos bei der >Kirche des Geheiligten Sakraments< offenbar immer noch erschütterte.
«Wie Sie wünschen, Monsieur. Aber, wenn Monsieur bitte verstehen wollen, die Zeit, um die ich mich in der Garage melden sollte, ist schon lange überfällig.«
«Ich verstehe.«
«Dort ist ein Telefon.«
«Gut. Halten Sie an.«
Die rote Telefonzelle, deren eigenartige Glasscheiben in der Sonne glitzerten, wirkte von außen wie ein großes Puppenhaus und roch innen nach Urin. Borowski wählte die Nummer des >Terrasse<, schob die Münzen ein und verlangte Zimmer 420. Marie meldete sich.
«Was ist geschehen?«
«Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Ich möchte, daß du Les Classiques anrufst und Rene Bergeron verlangst. D Anjou wird vermutlich an der Zentrale sein, laß dir einen Namen einfallen und sag ihm, du hättest schon eine Stunde lang versucht, Bergeron über die Sonderleitung der Lavier zu erreichen. Sag, daß es dringend ist, daß du mit ihm sprechen mußt.«
«Und wenn er kommt, was soll ich dann sagen?«
«Ich glaube nicht, daß er kommen wird, aber wenn ja, legst du einfach auf. Und wenn d'Anjou wieder am Apparat ist, dann frag ihn, wann man Bergeron erwartet. Ich rufe dich in etwa drei Minuten wieder an.«
«Darling, ist auch alles in Ordnung?«
«Ich hatte ein tiefschürfendes religiöses Erlebnis. Ich werde dir später davon erzählen.«
Jason wandte den Blick nicht vom Zifferblatt seiner Uhr, die winzigen Sprünge des dünnen, zarten Sekundenzeigers bereiteten ihm fast körperlichen Schmerz. Er begann seine eigene, persönliche Zählung bei dreißig Sekunden, kalkulierte den Herzschlag, der in seiner Kehle widerhallte, auf zirka zweieinhalb pro Sekunde. Bei zehn Sekunden fing er zu wählen an, schob die Münzen bei vier Sekunden ein und sprach um minus fünf mit der Vermittlung des >Terrasse<. Marie nahm den Hörer in dem Augenblick, da das Telefon zu klingeln begann.
«Was ist geschehen?«fragte er.»Ich dachte, du würdest vielleicht noch sprechen.«
«Es war ein sehr kurzes Gespräch. Ich glaube, d'Anjou war gewarnt. Er hat vielleicht eine Namensliste jener Leute, denen man die Privatnummern gegeben hat — aber das weiß ich nicht. Aber er wirkte irgendwie zurückhaltend, unsicher.«
«Was hat er gesagt?«
«Monsieur Bergeron ist auf einer Geschäftsreise am Meer. Er ist heute morgen abgereist und wird erst wieder in einigen Wochen zurückkehren.«
«Möglicherweise habe ich ihn gerade ein paar hundert Meilen von seinem Reiseziel entfernt gesehen.«
«Wo?«
«In der Kirche. Wenn es Bergeron war, hat er mit der Spitze eines sehr scharfen Instruments die Absolution erteilt.«
«Wovon redest du?«
«Die Lavier ist tot.«
«O mein Gott! Was wirst du jetzt tun?«
«Mit einem Mann sprechen, den ich zu kennen glaube. Wenn er auch nur einen Funken Gehirn im Kopf hat, wird er mir zuhören. Sonst ist er dem Tod geweiht.«
«D'Anjou.«
«Delta? Ich habe mich schon gefragt, wann… ich glaube, ich würde Ihre Stimme überall erkennen.«
Er hatte es gesagt! Der Name war ausgesprochen. Der Name, der ihm nichts und doch irgendwie alles bedeutete. D'Anjou wußte es. Philippe d'Anjou war Teil der Vergangenheit, an die er sich nicht erinnerte. Delta. Cain ist für Charlie. Und Delta ist für Cain. Delta. Delta. Delta! Er hatte diesen Mann gekannt, und dieser Mann besaß die Antwort! Alpha, Bravo, Cain, Delta, Echo, Foxtrott… Medusa.
«Medusa«, sagte er leise und wiederholte den Namen, der ein stummer Schrei in seinen Ohren war.
«Paris ist nicht Tam Quan, Delta. Es gibt keine unbeglichenen Schulden mehr zwischen uns. Warten Sie nicht auf Zahlung. Wir arbeiten jetzt für verschiedene Auftraggeber.«
«Jacqueline Lavier ist tot. Carlos hat sie vor weniger als dreißig Minuten in Neuilly-sur-Seine getötet.«
«Versuchen Sie es gar nicht erst. Jacqueline ist seit zwei Stunden unterwegs. Sie hat mich vom Flughafen Orly aus angerufen. Sie trifft sich mit Bergeron — «
«Zum Stoffe-Einkaufen in Südfrankreich?«unterbrach Jason.
D'Anjou hielt inne.»Die Frau, die angerufen und sich nach Rene erkundigt hat. Ich habe es mir doch gedacht. Das ändert nichts. Ich habe mit ihr gesprochen; sie rief von Orly aus an.«
«Sie hatte Auftrag, Ihnen das zu sagen. Klang ihre Stimme so, als hätte sie sich unter Kontrolle?«
«Sie war erregt, und niemand weiß besser als Sie, warum. Sie haben hier Beachtliches geleistet, Delta. Oder Cain. Oder wie Sie sich sonst hier nennen mögen. Natürlich war sie außer sich, deshalb geht sie ja auf eine Weile weg.«
«Deshalb ist sie tot. Sie sind der nächste.«
«Die letzten vierundzwanzig Stunden waren Ihrer würdig. Das jetzt nicht.«
«Man hat sie verfolgt; man verfolgt auch Sie. Beobachtet Sie jeden Augenblick.«
«Wenn das geschieht, dann zu meinem eigenen Schutz.«
«Warum ist die Lavier dann tot?«
«Ich glaube nicht, daß sie tot ist.«
«Würde sie Selbstmord begehen?«
«Niemals.«
«Dann rufen Sie doch in der Kirche des Geheiligten Sakraments in Neuilly-sur-Seine an. Erkundigen Sie sich nach der Frau, die sich im Beichtstuhl getötet hat. Was haben Sie denn zu verlieren? Ich rufe Sie wieder an.«
Borowski legte auf und verließ die Telefonzelle. Er trat auf die Straße und sah sich nach einem Taxi um. Wenn er Philippe d'Anjou das nächste Mal anrief, würde er das wenigstens zehn Häuserblocks entfernt tun. Der Mann von Medusa würde sich nicht leicht überzeugen lassen, und bis dahin würde Jason kein Risiko eingehen.
Delta? Ich glaube, daß ich Ihre Stimme überall erkennen wurde — Paris ist nicht Tam Quan. Tam Quan… Tam Quan, Tam Quan! Cain ist für Charlie und Delta für Cain. Medusa!
Hör auf damit! Du darfst nicht an Dinge denken, die… an die du nicht denken kannst. Konzentriere dich auf das, was ist, jetzt. Du. Nicht auf das, was andere sagen, das du bist — nicht einmal auf das, was du glaubst, das du bist. Nur das Jetzt. Und das ist ein Mann, der dir Antworten geben kann.
Wir arbeiten für unterschiedliche Auftraggeber…
Das war der Schlüssel.
Sag es mir! Um Himmels willen, sag es mir doch! Wer ist er? Wer ist mein Auftraggeber, d'Anjou?
Ein Taxi bremste gefährlich nahe seiner Kniescheibe. Jason öffnete die Tür und stieg ein.»Place Vendöme«, sagte er, weil er wußte, daß das nahe bei der Rue Saint-Honore war. Es war von großer Wichtigkeit, daß er so nahe wie möglich am Ort des Geschehens war, um dort die Strategie in Gang zu setzen, die ihm immer klarer wurde. Der Vorteil lag auf seiner Seite; es kam jetzt darauf an, ihn zu einem doppelten Ziel einzusetzen. D'Anjou mußte überzeugt werden, daß jene, die ihn verfolgten, seine Henker waren. Aber was jene Männer nicht wissen konnten, war, daß ein anderer sie verfolgte.
Der Place Vendöme war wie immer überfüllt, der Verkehr wie immer mörderisch. Borowski sah die Telefonzelle an der Ecke und stieg aus dem Taxi. Er betrat die Zelle und wählte die Nummer von Les Classiques; seit seinem Anruf aus Neuilly-sur-Seine waren vierzehn Minuten verstrichen.
«D'Anjou?«
«Eine Frau hat sich während der Beichte das Leben genommen, das ist alles, was ich weiß.«
«Kommen Sie schon, damit würden Sie sich niemals begnügen. Medusa würde sich damit nicht begnügen.«
«Lassen Sie mir einen Augenblick, bis ich hier auf einen anderen Apparat umschalte.«
Ein kurzes Knacken — dann nichts mehr.
Die Leitung war knapp vier Minuten tot. Dann kehrte d'Anjou zurück.»Eine Frau in mittleren Jahren mit silbernem und weißem Haar, teurer Kleidung und einer Yves St. LaurentHandtasche. Das beschreibt zehntausend Frauen in Paris. Woher weiß ich denn, daß Sie sich nicht eine gesucht und sie getötet haben, um damit diesem Anruf eine Grundlage zu verschaffen?«
«O sicher. Wie eine Pieta habe ich sie in die Kirche getragen, und das Blut ist aus ihren offenen Stigmata auf den Gang zwischen den Stühlen getropft. Seien Sie doch vernünftig, d'Anjou. Wollen wir mit den konkreten Beweismitteln beginnen. Die Handtasche war nicht die ihre; sie trug eine weiße Ledertasche. Schließlich würde sie ja nicht Reklame für eine Konkurrenzfirma machen.«
«Das bestätigt ja nur meine Ansicht. Es war nicht Jacqueline Lavier.«
«Es bestätigt eher die meine. Die Papiere in jener Tasche haben sie als jemand anderen identifiziert. Man wird die Leiche schnell abholen; niemand kommt Les Classiques zu nahe.«
«Weil Sie das sagen?«
«Nein. Weil es die Methode ist, die Carlos bei fünf Morden benutzt hat, die ich nennen kann.«Das konnte er. Das war das Beängstigende.»Ein Mann wird getötet, und die Polizei hält ihn für eine bestimmte Person, den Tod für ein Rätsel, die Mörder bleiben unbekannt. Dann stellen sie fest, daß er jemand anderes ist, und bis dahin ist Carlos bereits in einem anderen Land und hat den nächsten Kontrakt erfüllt. Die Lavier war eine Variation dieser Methode, sonst nichts.«
«Worte, Delta. Sie haben nie viel gesagt, aber wenn Sie etwas sagten, wirkten Sie immer überzeugend.«
«Und wenn Sie heute in drei oder vier Wochen in der Rue
Saint-Honore wären — was Sie nicht sein werden —, würden Sie sehen, wie es endet. Ein Flugzeugabsturz, oder ein Schiff, das im Mittelmeer verschwindet. Leichen, die zur Unkenntlichkeit verbrannt oder einfach verschwunden sind. Aber bis jetzt ist nur eine tot — Madame Lavier. Monsieur Bergeron genießt Privilegien — mehr als Sie jemals wußten. Bergeron kommt wieder ins Geschäft. Und was Sie betrifft, enden Sie einfach als eine statistische Zahl in der Leichenhalle von Paris.«
«Und Sie?«
«Wenn es nach dem Plan geht, bin ich ebenfalls tot. Die rechnen damit, mich durch Sie zu bekommen.«
«Logisch. Wir kommen beide von Medusa, das wissen die
— Carlos weiß das. Es ist anzunehmen, daß Sie mich erkannt haben.«
«Und Sie mich?«
D'Anjou hielt inne.»Ja«, sagte er.»Wie ich Ihnen schon sagte, wir arbeiten jetzt für unterschiedliche Auftraggeber.«
«Das ist es ja, worüber ich reden möchte.«
«Nicht reden, Delta. Aber um der alten Zeiten willen — für das, was sie in Tam Quan für uns alle getan haben —, hören Sie auf den Rat eines alten Kollegen. Verlassen Sie Paris, oder Sie sind dieser tote Mann, den Sie gerade erwähnten.«
«Das kann ich nicht.«
«Das sollten Sie aber. Wenn ich Gelegenheit bekomme, werde ich selbst abdrücken. Man würde mich dafür gut bezahlen.«
«Dann werde ich Ihnen diese Gelegenheit verschaffen.«
«Verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß ich das lächerlich finde.«
«Sie wissen nicht, was ich vorhabe oder was ich riskieren will.«
«Was immer Sie wollen, Sie gehen das Risiko ein. Ich kenne Sie, Delta. Und ich muß jetzt wieder an meine Arbeit. Ich wünsche Ihnen eine gute Jagd, aber — «
Das war der Augenblick, um die einzige Waffe einzusetzen, die ihm geblieben war, die einzige Drohung, die vielleicht dafür sorgen würde, daß d'Anjou in der Leitung blieb.»Von wem holen Sie sich jetzt Instruktionen, seit Parc Monceau nicht mehr in Frage kommt?«
D'Anjou schwieg. Als er antwortete, war seine Stimme nur noch ein Flüstern. »Was haben Sie gesagt?«
«Das ist der Grund, weshalb sie getötet wurde. Wissen Sie, daß man auch Sie töten wird. Sie fuhr nach Parc Monceau und ist dafür gestorben. Sie sind in Parc Monceau gewesen und werden dafür ebenfalls sterben. Carlos kann sich Sie nicht mehr leisten; Sie wissen einfach zu viel. Warum sollte er ein solches Arrangement aufs Spiel setzen? Er wird Sie dazu benutzen, mich in die Falle zu locken und Sie dann töten und ein anderes Les Classiques aufbauen. Als ein Medusa-Mann zum anderen — können Sie daran zweifeln?«
Das Schweigen dauerte diesmal länger, lastete schwerer zwischen ihnen. Der ältere Mann von Medusa stutzte, er begann zu überlegen.»Was wollen Sie von mir? Meine Person ist für Sie bedeutungslos. Und doch fordern Sie mich heraus, setzen mich mit dem, was Sie erfahren haben, in Erstaunen. Ich nütze Ihnen weder tot noch lebendig, was wollen Sie also?«
«Informationen. Wenn Sie sie haben, verlasse ich Paris noch heute Abend und weder Carlos noch Sie werden jemals wieder von mir hören.«
«Was für Informationen?«
«Wenn ich die Frage jetzt stelle, werden Sie mit Sicherheit lügen. Aber wenn ich Sie sehe, werden Sie die Wahrheit sprechen.«
«Mit einem Draht um die Kehle?«
«Inmitten einer Menschenmenge?«
«Einer Menschenmenge? Bei Tag?«
«In einer Stunde. Vor dem Louvre. In der Nähe der Stufen. Am Taxistand.«
«Der Louvre? Menschenmengen? Informationen, von denen Sie glauben, daß ich Sie besitze, und die Sie zur Abreise bringen? Sie können doch von mir nicht erwarten, daß ich mit Ihnen über meine Auftraggeber spreche.«
«Nicht über die Ihren. Die meinen.«
«Treadstone?«
Er wußte es. Philippe d'Anjou hatte die Antwort. Ruhig bleiben. Zeige nicht, wie beunruhigt du bist.
«Einundsiebzig«, setzte Jason hinzu.»Nur eine ganz einfache Frage, dann verschwinde ich. Und wenn Sie mir die Antwort geben — die Wahrheit —, dann gebe ich Ihnen etwas dafür.«
«Was gibt es denn, was ich von Ihnen wollen könnte? Abgesehen von Ihnen selbst?«
«Eine Information, mit der Sie weiterleben können. Keine Garantie, aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß Sie ohne diese Information nicht leben werden. Parc Monceau, d'Anjou.«
Wieder Schweigen. Borowski konnte sich vorstellen, wie der grauhaarige ehemalige Medusa-Mann sein Schaltbrett anstarrte und wie der Name des wohlhabenden Pariser Bezirks lauter und lauter in seinen Gedanken hallte. Von Parc Monceau ging der Tod aus, und d'Anjou wußte das ebenso sicher, wie er wußte, daß die tote Frau in Neuilly-sur-Seine Jacqueline Lavier war.
«Was könnte das für eine Information sein?«fragte d'Anjou.
«Die Identität Ihres Auftraggebers. Ein Name und hinreichende Beweise, die man in einen Umschlag stecken und versiegeln und einem Anwalt geben kann, mit dem Auftrag, den Umschlag so lange zu verwahren, als Sie am Leben sind. Sollte Ihr Leben auf unnatürliche Art und Weise enden, auch durch einen Unfall, kann man ihm Instruktionen geben, den Umschlag zu öffnen und seinen Inhalt bekanntzumachen. Das ist Schutz, d'Anjou.«
«Ich verstehe«, sagte der andere leise.»Aber Sie sagen doch, daß ich beobachtet werde, verfolgt.«
«Dann schützen Sie sich doch«, sagte Jason.»Sagen Sie ihnen die Wahrheit. Sie haben doch eine Nummer, die Sie anrufen können, oder?«
«Ja, eine solche Nummer gibt es, einen Mann. «Die Stimme des Älteren erhob sich erstaunt.
«Rufen Sie ihn an. Sagen Sie ihm genau, was ich Ihnen gesagt habe… außer dem Tausch natürlich. Sagen Sie ihm, daß ich Kontakt mit Ihnen aufgenommen habe, mich mit Ihnen treffen möchte. In einer Stunde, vor dem Louvre. Die Wahrheit.«
«Sie sind verrückt.«
«Ich weiß, was ich tue.«
«Ja, das wußten Sie immer. Sie schaffen sich da Ihre eigene Falle, bereiten die eigene Exekution vor.«
«In dem Fall würden Sie ja eine reichliche Belohnung bekommen.«
«Oder selbst exekutiert werden, wenn das, was Sie sagen, stimmt.«
«Das wollen wir auf alle Fälle herausfinden. Ich werde so oder so Kontakt aufnehmen, glauben Sie mir das. Die haben meine Fotografie; die werden es wissen, wenn ich es tue. Besser, eine Situation, die man selbst kontrolliert und bestimmt, als eine, über die es keine Kontrolle gibt.«
«Jetzt höre ich Delta«, sagte d'Anjou.»Delta stellt sich nicht selbst eine Falle, er tritt nicht vor ein
Erschießungspeieton und bittet um eine Augenbinde.«
«Nein, das tut er nicht«, pflichtete Borowski ihm bei.»Sie haben keine Wahl, d'Anjou. In einer Stunde. Vor dem
Louvre.«
Die Worte kamen ihm in den Sinn, als er in dem Taxi ein paar Häuser von Les Classiques entfernt in der Rue Saint-Honore wartete. Er hatte den Fahrer gebeten, ihn zweimal um den Häuserblock zu fahren — ein amerikanischer Tourist, dessen Frau in diesem Viertel der Haute Couture mit Shopping beschäftigt war. Über kurz oder lang würde sie aus einem der Geschäfte kommen und er würde sie finden.
Was er gefunden hatte, waren die Überwacher, die Carlos aufgestellt hatte. Die mit Gummi überzogene Antenne auf der schwarzen Limousine war gleichzeitig Beweis und Gefahrensignal. Er würde sich viel sicherer fühlen, wenn dieser Radiosender funktionsunfähig gemacht werden könnte, aber es gab keine Möglichkeit, das zu bewirken. Die Alternative war Fehlinformation. Irgendwann im Laufe der nächsten fünfundvierzig Minuten würde Jason alles in seiner Macht Stehende tun, um sicherzustellen, daß über jenes Radio eine falsche Nachricht gesendet wurde. Von seinem Versteck auf dem Rücksitz des Wagens aus studierte er die beiden Männer in dem Wagen auf der anderen Straßenseite. Wenn es etwas gab, was sie von hundert ähnlichen Männern auf der Rue Saint-Honore unterschied, war es die Tatsache, daß sie nicht redeten.
Philippe d'Anjou trat auf die Straße hinaus, das graue Haar mit einem grauen Homburg bedeckt. Seine Blicke suchten die Straße nach beiden Seiten ab und verrieten Borowski, daß der ehemalige Medusa-Mann sich gesichert hatte. Er hatte eine Nummer angerufen; hatte die überraschende Information weitergeleitet und wußte, daß es Männer in einem Wagen gab, die darauf vorbereitet waren, ihm zu folgen.
Ein Taxi, das offensichtlich telefonisch bestellt war, hielt am Randstein. D'Anjou sprach mit dem Fahrer und stieg ein. Auf der anderen Straßenseite schob sich eine Antenne drohend aus ihrer Halterung; die Jagd hatte begonnen.
Die Limousine schloß sich d'Anjous Taxi an; das war die Bestätigung, die Jason brauchte. Er beugte sich vor und sprach zu dem Fahrer.»Das habe ich vergessen«, sagte er gereizt.»Sie hat gesagt, heute morgen sei der Louvre dran und das Shopping am Nachmittag. Herrgott, jetzt habe ich mich um eine halbe Stunde verspätet! Fahren Sie mich bitte zum Louvre, ja?«
Während der kurzen Fahrt zu der monumentalen Fassade, die auf die Seine herunterblickte, überholte Jasons Taxi die schwarze Limousine und wurde dann ihrerseits wieder überholt. Die Nähe gab Borowski die Möglichkeit, genau das zu sehen, was er sehen wollte. Der Mann neben dem Fahrer sprach wiederholt in das Mikrophon des Funkgerätes. Carlos vergewisserte sich, daß kein Stachel in der Falle locker war; auch andere näherten sich dem Hinrichtungsplatz.
Sie erreichten den imposanten Eingang des Louvre.»Stellen Sie sich hinter diese anderen Taxis«, sagte Jason.
«Aber die warten auf Fahrgäste, Monsieur. Ich habe einen Fahrgast; Sie. Ich bringe Sie zum — «
«Tun Sie, was ich sage«, sagte Borowski und ließ eine Fünfzigfrancnote über die Rücklehne des Vordersitzes fallen.
Der Fahrer reihte sich ein. Die schwarze Limousine war rechts von ihnen zwölf Meter entfernt; der Mann am Radio hatte sich in seinem Sitz herumgedreht und blickte zum linken Hinterfenster hinaus.
Jason folgte seinem Blick und sah das, was er erwartet hatte. Ein paar hundert Fuß westlich war ein grauer Wagen auf dem riesigen Platz zu sehen, jener Wagen, der Jacqueline Lavier und Villiers' Frau zu der Kirche des Geheiligten Sakraments gefolgt war, und letztere dann aus Neuilly-sur-Seine entfernt hatte, nachdem sie die Lavier zu ihrer letzten Beichte geführt hatte. Man konnte sehen, wie die Antenne gerade in die Halterung zurückfuhr. Rechts von ihm hielt Carlos' Soldat das Mikrophon nicht mehr. Auch die Antenne der schwarzen Limousine war eingezogen worden; der Kontakt war hergestellt, visuell bestätigt. Vier Männer. Das war das von Carlos beauftragte Kommando.
Borowski konzentrierte sich auf die Menschenmenge vor dem Louvre-Eingang. Er entdeckte den elegant gekleideten d'Anjou sofort. Langsam ging er vor dem großen weißen Granitblock, der die Marmortreppe zur Linken flankierte, auf und ab.
Jetzt. Jetzt war der Augenblick, um die Fehlinformation auszusenden.
«Verlassen Sie die Reihe«, befahl Jason.
«Was, Monsieur?«
«Zweihundert Francs, wenn Sie genau das tun, was ich Ihnen sage. Verlassen Sie die Reihe und stellen Sie sich davor, und dann biegen Sie zweimal nacheinander nach links, und dann in die nächste Bucht.«
«Das verstehe ich nicht, Monsieur.«
«Das brauchen Sie auch nicht. Dreihundert Francs.«
Der Fahrer bog nach rechts ab und schob sich an die Spitze der Reihe, wo er das Steuer drehte, so daß das Taxi nach links auf die Reihe geparkter Wagen zurollte. Borowski zog die Automatic aus dem Gürtel und hielt sie zwischen den Knien. Er überprüfte den Schalldämpfer und schraubte den Zylinder fest.
«Wohin wollen Sie, Monsieur?«fragte der verwirrte Fahrer, als sie in die Parkbucht fuhren, die auf den Eingang des Louvre zuführte.
«Langsam«, sagte Jason.»Dieser große graue Wagen vor uns, der, dessen Vorderseite auf den Seine-Ausgang gerichtet ist. Sehen Sie ihn?«
«Selbstverständlich.«
«Fahren Sie langsam nach rechts um den Wagen herum. «Borowski schob sich auf die linke Sitzseite und kurbelte das Fenster herunter, so daß sein Kopf und die Waffe verborgen waren. In wenigen Sekunden würde er beide zeigen.
Das Taxi näherte sich dem Kofferraum der Limousine, jetzt drehte der Fahrer erneut das Steuer. Sie standen jetzt parallel. Jason schob den Kopf und die Waffe zum Fenster hinaus. Er zielte auf das rechte Hinterfenster der grauen Limousine und feuerte, sechs trockene, spuckende Laute nacheinander, die das Glas zersplittern und die zwei Männer erschreckten, die einander anschrien und sich unter dem Fensterrahmen zu Boden warfen. Aber sie hatten ihn gesehen. Das war die Fehlinformation.
«Weg hier!«schrie Borowski den erschreckten Fahrer an und warf dreihundert Francs über den Sitz und preßte seinen weichen Filzhut gegen das Hinterfenster. Das Taxi schoß los, auf die steinernen Tore des Louvre zu.
Jetzt.
Jason schob sich über den Sitz zurück, öffnete die Tür und ließ sich auf das Kopfsteinpflaster hinausfallen, rief dem Fahrer seine letzten Instruktionen zu.»Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann verschwinden Sie hier!«
Das Taxi schoß mit einem Aufheulen seines Motors davon, und der Fahrer stieß einen Schrei aus. Borowski warf sich zwischen zwei geparkte Wagen, die ihm vor der grauen Limousine Schutz boten, und erhob sich langsam, spähte zwischen Fenstern durch. Carlos' Männer waren schnell, professionell, vergeudeten keinen Augenblick. Sie hatten das Taxi vor Augen, das natürlich der schweren Limousine in keiner Weise gewachsen war, und in jenem Taxi saß ihre Zielperson. Der Mann hinter dem Steuer legte den Gang ein und raste los, während sein Begleiter das Mikrophon zu sich riß und die Antenne sich aus ihrem Sockel schob. Befehle flogen zu einer weiteren Limousine hinüber, die näher bei den großen Steinstufen stand. Das Taxi schoß in die Seinestraße hinaus, der schwere graue Wagen unmittelbar dahinter. Als sie wenige Fuß entfernt an Jason vorbeizogen, sagte der Gesichtsausdruck der beiden Männer ihm alles. Sie hatten Cain vor dem Visier, die Falle war zugeklappt, und sie würden sich ihr Geld binnen weniger Minuten verdienen.
Die umgedrehte Falle muß zufolge ihrer einzigen Komplikation auch noch einfacher und schnell sein…
Eine Frage von Minuten… er hatte nur wenige Augenblicke zur Verfügung, wenn alles so war, wie er es annahm. D'Anjou! Die Kontaktperson hatte ihre Rolle gespielt — ihre unwesentliche Rolle — und war überflüssig — so wie Jacqueline Lavier das gewesen war.
Borowski rannte zwischen den beiden Wagen auf die schwarze Limousine zu — sie war höchstens fünfzig Meter von ihm entfernt. Er konnte die zwei Männer sehen; sie arbeiteten sich auf d'Anjou zu, der immer noch vor der Marmortreppe auf und ab ging. Ein einziger, gezielter Schuß eines der beiden Männer, und d'Anjou würde tot sein. Und Treadstone Seventy-One würde mit ihm zum Teufel gehen. Jason rannte schneller, und die Hand unter seiner Jacke umfaßte die schwere Automatic.
Carlos' Soldaten waren nur noch wenige Meter entfernt und beeilten sich jetzt ebenfalls, die Liquidierung rasch zu erledigen. Der Verurteilte sollte niedergeschossen werden, ehe er begriff, was vor sich ging.
«Medusa!« schrie Borowski, ohne zu wissen, weshalb er diesen Namen und nicht den d'Anjous rief. »»Medusa — Medusal«
D'Anjous Kopf fuhr in die Höhe, Schrecken überzog sein Gesicht. Der Fahrer der schwarzen Limousine war herumgefahren, die Waffe auf Jason gerichtet, während sein Begleiter sich auf d'Anjou zu bewegte, die Pistole auf den ehemaligen Medusa-Mann gerichtet. Borowski warf sich nach rechts, und streckte die Automatic aus, von der linken Hand gestützt. Er feuerte im Sprung, zielte genau, und der Mann, der d'Anjou bedrohte, bäumte sich nach rückwärts auf, als seine Beine plötzlich erlahmten; dann brach er auf dem Kopfsteinpflaster zusammen. Über Jasons Kopf sausten zwei Kugeln und prallten gegen das Metall hinter ihm. Er rollte sich nach links, stützte die Waffe erneut, zielte auf den zweiten Mann. Zweimal drückte er ab; der Fahrer schrie auf, und dann breitete sich eine Lache aus Blut über seinem Gesicht aus, ehe er zusammenbrach.
Hysterie erfaßte die Menge. Männer und Frauen schrien, Eltern warfen sich über ihre Kinder. Andere rannten die Treppen hinauf, durch die großen Tore des Louvre, während die Wachen von drinnen nach draußen stürzten. Borowski stand auf, sah sich nach d'Anjou um. Der Ältere hatte sich hinter den weißen Granitblock geworfen. Die hagere Gestalt kroch jetzt unsicher und verstört hervor. Jason rannte durch die von Panik erfüllte Menge, schob die Automatic in den Gürtel, drängte zwischen Menschen, zwischen hysterisch schreienden Menschen, die zwischen ihm und dem Mann standen, der Antworten liefern konnte. Treadstone. Treadstonel
Er erreichte den grauhaarigen Medusa-Mann.»Aufstehen!«befahl er.»Wir wollen hier weg!«
«Delta!.. Das war Carlos' Mann! Ich kenne ihn, ich habe ihn benutzt! Er wollte mich töten!«
«Ich weiß. Kommen Sie jetzt! Schnell! Die anderen kommen gleich zurück; dann werden sie uns suchen. Kommen Sie schon!«
Etwas Schwarzes schob sich in Borowskis Gesichtskreis, genau über dem Augenwinkel sah er es. Er wirbelte herum und stieß instinktiv d'Anjou zu Boden, als vier Schüsse aus einer Waffe peitschten, die eine dunkle Gestalt hielt, die neben der Reihe von Taxis stand. Ringsum splitterten Granitbrocken ab. Das war er! Die breiten, kräftigen Schultern, die vor ihm auftauchten, die schmalen Hüften, von dem eng einliegenden schwarzen Anzug betont… Das dunkelhäutige Gesicht. Carlos!
Carlos! Du mußt Carlos in die Falle locken! Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain!
Falsch!
Treadstone finden! Eine Nachricht finden; für einen Mann! Du mußt Jason Borowski finden!
Er glaubte wahnsinnig zu werden. Verschwommene Bilder aus der Vergangenheit vermischten sich mit der schrecklichen Realität und trieben ihn in ein Land, das er nicht mehr verstand. Es war, als hätte sein Hirn Türen, die sich öffneten und sich schlossen, die aufflogen, und wieder zukrachten. Licht, Dunkel — Licht. Ein Schmerz — diese scharfen, bohrenden Stiche in seinen Schläfen, Donner grollte, der ihn betäubte. Er lief hinter dem Mann in dem schwarzen Anzug mit dem weißen Seidentuch, das der sich vors Gesicht gebunden.hatte, her. Dann sah er die Augen und den Lauf der Pistole, drei dunkle Kreise, die auf ihn gerichtet waren — wie schwarze Löcher. Bergeron?… War es Bergeron? War er das? Oder Zürich… oder… Keine Zeit!
Er sprang nach links und rollte dann nach rechts aus der Feuerlinie. Kugeln peitschten gegen den Stein. Pfeifen der abprallenden Geschosse. Jason duckte sich hinter einem Wagen und sah zwischen den Rädern die schwarze Gestalt wegrennen. Der Schmerz blieb, aber der Donner hörte auf. Er kroch auf das Kopf Steinpflaster hinaus, erhob sich und rannte zu den Stufen des Louvre zurück.
Was hatte er getan? D'Anjou war verschwunden. Wie war es dazu gekommen? Seine Falle war gar keine Falle. Seine eigene Strategie war gegen ihn eingesetzt worden und hatte dem einzigen Mann, der ihm die Antworten liefern konnte, die Flucht gestattet. Er war Carlos' Soldaten gefolgt, aber Carlos war ihm gefolgt! Seit der Rue Saint-Honore. Alles war umsonst; eine Übelkeit erregende Leere breitete sich in ihm aus.
Und dann hörte er die Worte, sie kamen hinter einem parkenden Wagen hervor, und jetzt tauchte Philippe d'Anjou vorsichtig auf.
«Tam Quan ist nie sehr weit entfernt, scheint es. Wo wollen wir hingehen, Delta? Hier können wir nicht bleiben.«
Sie saßen in einer von einem Vorhang verdeckten Nische in einem überfüllten Cafe an der Rue Pilon, einer kleinen Nebenstraße in Montmartre. D'Anjou nippte an seinem doppelten Brandy, und seine Stimme war leise, nachdenklich.
«Ich werde nach Asien zurückkehren«, sagte er.»Nach Singapur oder Hongkong, oder vielleicht sogar den Seychellen. Frankreich war nie besonders gut für mich, und jetzt ist es tödlich.«
«Das müssen Sie vielleicht nicht«, sagte Borowski und schluckte den Whisky hinunter, spürte, wie die warme Flüssigkeit sich schnell ausbreitete und ein wohliges Gefühl erzeugte.»Das, was ich vorhin gesagt habe, war mir ernst. Sie sagen mir, was ich wissen möchte. Und ich verrate Ihnen — «Er hielt inne, Zweifel überkamen ihn; nein, er würde es wagen.»Ich verrate Ihnen, wer Carlos ist.«
«Das interessiert mich nicht im entferntesten«, erwiderte der ehemalige Medusa-Mann und musterte Jason scharf.»Ich werde Ihnen sagen, was ich kann. Warum sollte ich irgend etwas verschweigen? Ich gehe ganz bestimmt nicht zur Polizei. Aber ich möchte nicht in die Sache hineingezogen werden.«
«Sie sind nicht einmal neugierig?«
«Das habe ich mir abgewöhnt. Also stellen Sie Ihre Fragen und dann können Sie mich ja in Erstaunen versetzen.«
«Sie werden schockiert sein.«
Ohne Warnung sagte d'Anjou leise den Namen.»Bergeron?«
Jason machte keine Bewegung; er starrte den Älteren sprachlos an. D'Anjou fuhr fort:
«Ich habe immer wieder darüber nachgedacht. Jedesmal, wenn wir miteinander sprechen, sehe ich ihn an und frage mich. Aber dann komme ich immer wieder zu demselben negativen Schluß.«
«Warum?«unterbrach Borowski.
«Damit wir uns richtig verstehen, ich bin nicht sicher — ich habe nur einfach das Gefühl, daß es falsch ist. Vielleicht weil ich mehr von Rene Bergeron über Carlos erfahren habe als von sonst jemandem. Er ist von Carlos besessen; er hat jahrelang für ihn gearbeitet und ist ungeheuer stolz auf das Vertrauen,
das er genießt. Was den Verdacht entkräftet, ist, daß er zuviel über ihn redet.«
«Das Ego, das durch den vorgeschobenen Zweiten spricht?«
«Wäre möglich, paßt aber nicht zu den außergewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen, die Carlos trifft. Die Mauer aus Geheimnissen, die er um sich herum errichtet hat, ist undurchdringlich. Ich weiß es natürlich nicht mit Bestimmtheit, aber ich glaube nicht, daß es Bergeron ist.«
D'Anjou lächelte.»Stellen Sie Ihre Fragen, Delta!«
Jason wußte nicht weshalb, aber das abgehärmte Gesicht Andre Villiers' schob sich plötzlich in sein Bewußtsein. Er hatte sich vorgenommen, für den alten Soldaten was er konnte in Erfahrung zu bringen. Die Gelegenheit würde sich nicht wieder bieten.
«Wie paßt eigentlich Villiers' Frau hinein?«
D'Anjou zog die Augenbrauen hoch.»Aber natürlich, Sie sagten ja Parc Monceau, nicht wahr? Wie — «
«Die Einzelheiten sind jetzt nicht wichtig.«
«Für mich ganz bestimmt nicht.«
«Was ist mit ihr?«drängte Borowski.
«Haben Sie sie genau angesehen? Die Haut?«
«Nahe genug war ich ihr. Sie ist gebräunt. Sehr groß und stark gebräunt.«
«Sie achtet darauf, daß ihre Haut immer gebräunt ist. Die Riviera, die griechischen Inseln, Costa del Sol, Gstaad; ihre Haut ist immer von der Sonne getränkt.«
«Das steht ihr sehr gut.«
«Das ist auch sehr nützlich. Das verdeckt, was sie ist. Denn da gibt es keine herbstliche oder winterliche Blässe in ihrem Gesicht, an ihren Armen und den langen Beinen. Sie ist von Natur aus so braun. Mit oder ohne Saint Tropez oder Costa Brava oder die Alpen.«
«Wovon sprechen Sie?«
«Obwohl man die aufregende Angelique Villiers allgemein für eine Pariserin hält, ist sie das nicht. Sie ist von spanischem Geblüt. Venezolanerin, um es genau zu sagen.«
«Sanchez«, flüsterte Borowski.»Iljitsch Ramirez Sanchez.«
«Ja. Manche behaupten ja, sie sei Carlos' erste Cousine, seine Geliebte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Das Gerücht geht — bei jenen wenigen Leuten —, daß sie, abgesehen von ihm selbst, der einzige Mensch auf der Welt ist, der ihm etwas bedeutet.«
«Und Villiers weiß von all dem nichts?«
«Worte von Medusa, Delta?«D'Anjou nickte.»Ja, Villiers weiß nichts, er ist wie eine Drohne. Carlos' brillant geschaffener Draht zu den wichtigsten Abteilungen der französischen Regierung.«
«Brillant«, sagte Jason und nickte.»Weil es unvorstellbar ist.«
«Absolut.«
Borowski lehnte sich plötzlich vor.»Treadstone«, sagte er, und seine beiden Hände umklammerten das Glas, das vor ihm stand.»Sagen Sie mir, was Sie über Treadstone Seventy-One wissen.«
«Was soll ich Ihnen sagen?«
«Alles, was Sie wissen, alles, was Carlos weiß.«
«Ich weiß nicht, ob ich dazu imstande bin. Ich höre Dinge, mache mir ein Bild davon, aber abgesehen von den Dingen, die Medusa betreffen, bin ich kein Ratgeber, geschweige denn ein Vertrauter.«
Jason hatte alle Mühe, an sich zu halten, nicht nach Medusa, nach Delta und Tam Quan zu fragen; nach den Winden am Nachthimmel und der Finsternis, und den Lichtexplosionen, die ihn jedesmal blendeten, wenn er die Worte hörte. Er konnte das nicht; gewisse Dinge mußten unterstellt werden, er mußte über seinen eigenen Verlust hinweggehen, keinen Hinweis darauf geben. Die Prioritäten. Treadstone. Treadstone Seventy-One…
«Was haben Sie gehört? Was haben Sie sich zusammengereimt?«
«Was ich gehört und was ich mir zusammengereimt habe, paßte nicht immer zusammen. Dennoch waren mir gewisse Tatsachen klar.«
«Zum Beispiel?«
«Als ich Sie erkannte, wußte ich Bescheid. Delta hatte eine lukrative Übereinkunft mit den Amerikanern getroffen. Wieder eine lukrative Übereinkunft, vielleicht von anderer Art als vorher.«
«Würden Sie das bitte etwas deutlicher ausdrücken.«
«Vor elf Jahren ging in Saigon das Gerücht, daß der eiskalte Delta der höchstbezahlte Medusa-Mann wäre. Ohne Zweifel waren Sie der Fähigste, den ich kannte, also vermutete ich, daß Sie auf eigene Faust für sich abgeschlossen hatten. So, wie auch jetzt.«
«Was ist Ihnen zu Ohren gekommen?«
«Es ist in New York nicht dementiert worden. Der Mönch hat es sogar bestätigt, ehe er starb, sagt man. Es paßte auch zu den Vorgängen von Anfang an.«
Borowski hielt sein Glas und wich d'Anjous Blick aus. Der Mönch. Der Mönch. Nicht fragen. Der Mönch ist tot, wer und was auch immer er gewesen sein mag. Auf ihn kommt es jetzt nicht an.»Ich wiederhole«, sagte Jason,»was glauben die zu wissen, daß ich tue?«
«Kommen Sie, Delta. Ich bin derjenige, der hier weggeht. Es ist sinnlos — «
«Bitte«, unterbrach Borowski.
«Also gut. Sie haben sich einverstanden erklärt, Cain zu werden. Cain, der Mörder, der überall seine Hand im Spiel hat, ein Phantom, das nie tatsächlich existierte. Der große Gegenspieler Carlos! Die Absicht ist klar zu erkennen; Carlos herausfordern — Carlos in die Enge treiben, ihm die Leute abspenstig machen, seine Organisation von innen heraus auszuhöhlen. Es ging darum, Carlos aus der Reserve zu locken und ihn unschädlich zu machen. Das war die Übereinkunft, die Sie mit den Amerikanern geschlossen haben.«
Vor Jasons Augen begann es sich zu drehen. Erinnerungen kehrten bruchstückhaft in sein Bewußtsein.
«Dann sind die Amerikaner — «Borowski sprach den Satz nicht zu Ende und hoffte in diesem kurzen Augenblick der Qual, daß d'Anjou das für ihn tun würde.
«Ja«, sagte der andere.»Treadstone Seventy-One. Die am besten kontrollierte Einheit der amerikanischen Abwehr seit den Consular Operations des State Departments. Vom selben Mann geschaffen, der Medusa gebaut hat. David Abbott.«
«Der Mönch«, sagte Jason. Wie von selbst waren ihm diese Worte von den Lippen gekommen. Eine Türe tat sich in der Ferne auf, Helligkeit strömte herein.
«Natürlich. An wen sonst würde er herantreten, um die Rolle des Cain zu spielen, als an den Mann von Medusa, der als Delta bekannt war? Wie gesagt, ich wußte das im ersten Augenblick, als ich Sie sah.«
«Eine Rolle — «Borowski hielt inne, das Licht wurde heller, warm, aber nicht blendend.
D'Anjou lehnte sich nicht vor.»An diesem Punkt natürlich paßte das, was ich hörte und das, was ich mir zusammenreimte, nicht mehr zusammen. Es hieß, daß Jason
Borowski den Auftrag aus Gründen annahm, von denen ich wußte, daß sie nicht stimmen konnten. Ich war dabei, die anderen nicht; sie konnten das nicht wissen.«
«Was haben diese anderen gesagt? Was haben Sie gehört?«
«Daß Sie ein amerikanischer Abwehroffizier wären, vermutlich aus dem Militär. Können Sie sich das vorstellen. Sie, Delta! Der Mann, der die Amerikaner verachtete. Ich sagte Bergeron, daß das unmöglich wäre, aber ich bin nicht sicher, ob er mir glaubte.«
«Was haben Sie ihm gesagt?«
«Was ich glaubte. Was ich immer noch glaube. Es war nicht Geld — kein Betrag hätte Sie dazu bringen können —, es mußte etwas anderes sein. Ich glaube, Sie taten es aus demselben Grund, aus dem vor elf Jahren so viele bei Medusa mitmachten. Um irgendwo eine Rechnung zu begleichen, um ein anderes Leben zu beginnen, glaube ich.«
«Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte Jason und hielt den Atem an. Es leuchtete ein. Eine Botschaft wurde gesandt. Das könnte es sein. Du mußt die Botschaft finden. Den Sender. Treadstone!
«Um zurück zu Delta zu kommen«, fuhr d'Anjou fort.»Wer war er? Dieser gebildete, seltsam stille Mann, der sich im Dschungel in eine tödliche Waffe verwandeln konnte. Der sich und andere zu Leistungen anstachelte, die das Menschenmögliche überstiegen, ohne daß es einen Grund dafür gab. Wir begriffen das nie.«
«Das war auch nie notwendig. Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen können? Wissen sie den präzisen Aufenthalt von Treadstone?«
«Sicher. Ich habe es von Bergeron erfahren. Eine Wohnung in New York City, an der östlichen Einundsiebzigsten Straße.«
«Nummer hundertneununddreißig. Stimmt das nicht?«
«Möglich… noch etwas?«
«Nur etwas, das Sie offensichtlich wissen, etwas, dessen Strategie, wie ich zugebe, mir unverständlich ist.«
«Und das wäre?«
«Daß die Amerikaner glauben, Sie hätten die Seiten gewechselt. Besser gesagt, sie wollen Carlos weismachen, Sie hätten die Seiten gewechselt.«
«Warum?«Langsam begann es ihm zu dämmern!
«Sie haben lange Zeit nichts mehr von Cain gehört, wissen nicht, wo er sich aufhält, geschweige denn, was er tut. Ein obskurer Bankdiebstahl… «
Das war es. Die Nachricht. Das Schweigen. Die Monate in Port Noir. Der Wahnsinn in Zürich, das Massaker in Paris. Niemand konnte wissen, was geschehen war. Man ließ ihn wissen, daß er aus dem Untergrund hervorkommen solle. Du hast recht gehabt, Marie, meine Liebe, meine Allerliebste. Du hast von Anfang an recht gehabt.
«Sonst also nichts?«fragte Borowski und versuchte, die Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen, weil ihn jetzt jede Faser seines Wesens danach drängte, zu Marie zurückzukehren.
«Das ist alles, was ich weiß — aber verstehen Sie bitte, man hat mir das alles nie gesagt. Man hat mich wegen meines Wissens um Medusa hereingeholt — und es stand fest, daß Cain von Medusa kam — aber ich war nie ein Teil von Carlos' hartem Kern.«
«Nahe genug waren Sie. Danke. «Jason legte ein paar Geldscheine auf den Tisch und schickte sich an, die Nische zu verlassen.
«Da ist noch etwas«, sagte d'Anjou.»Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, aber man weiß jedenfalls, daß Ihr Name nicht Jason Borowski ist.«
«Was?«
«25. März. Erinnern Sie sich nicht, Delta? Das ist in zwei Tagen, und das Datum ist für Carlos sehr wichtig. Er möchte Ihre Leiche am fünfundzwanzigsten. Er möchte sie an jenem Tag den Amerikanern ausliefern.«
«Was wollen Sie damit sagen?«
«Am 25. März 1968 wurde Jason Borowski in Tam Quan exekutiert. Sie haben ihn exekutiert.«
Sie öffnete die Tür, und einen Augenblick lang stand er da und sah sie nur an, sah die großen braunen Augen, die über sein Gesicht wanderten, Augen, die besorgt waren, aber in denen eine unausgesprochene Frage lag. Und er war zurückgekommen, um ihr diese Antwort zu überbringen. Er ging in das Zimmer, und sie schloß die Türe hinter ihm.
«Es ist passiert«, sagte sie.
«Es ist passiert. «Borowski drehte sich um und streckte seine Hände nach ihr aus. Sie kam zu ihm und sie hielten einander, und das Schweigen ihrer Umarmung sagte mehr als jedes gesprochene Wort.»Du hast recht gehabt«, flüsterte er schließlich, die Lippen an ihrem weichen Haar.»Es gibt viel, das ich nicht weiß — vielleicht nie wissen werde — aber du hast recht gehabt. Ich bin nicht Cain, weil es keinen Cain gibt, nie gegeben hat. Nicht den Cain, von dem alle reden. Er hat nie existiert. Er ist ein Mythos, den man erfunden hat, um Carlos herauszulocken. Ich bin dieser Mythos. Ein Mann von Medusa, den man Delta nannte, hat sich einverstanden erklärt, eine Lüge namens Cain zu werden. Dieser Mann bin ich.«
Sie trat einen Schritt zurück, ohne ihn loszulassen.
«Cain ist für Charlie…«Sie sagte das mit leiser Stimme.
«Und Delta ist für Cain«, vollendete Jason.»Du hast mich das sagen hören?«
Marie nickte.»Ja, eines Nachts, in dem Zimmer in der Schweiz, hast du es im Schlaf hinausgeschrien. Carlos hast du nie erwähnt, nur Cain… Delta. Ich habe am Morgen etwas darüber zu dir gesagt, aber du hast mir keine Antwort gegeben. Du hast nur zum Fenster hinausgeschaut.«
«Weil ich es nicht verstand. Ich verstehe es immer noch nicht, aber ich akzeptiere es. Es erklärt so viele Dinge.«
Wieder nickte sie.»Der Provokateur. Die Code-Worte, die du gebrauchst, die seltsamen Sätze, die Wahrnehmungen. Aber warum? Warum du?«
«>Um irgendwo eine Rechnung zu begleichen.< Das hat er gesagt.«
«Wer gesagt?«
«D'Anjou.«
«Der Mann auf der Treppe in Parc Monceau? Der Mann von der Telefonvermittlung?«
«Der Mann von Medusa. Ich kannte ihn bei Medusa.«
«Was hat er gesagt?«
Borowski berichtete es ihr und spürte dieselbe Erleichterung, die auch er bei d'Anjous Worten empfunden hatte. In ihren Augen war ein Leuchten, ein leichtes Pochen an ihrem Hals, schiere Freude, die aus ihrer Kehle hervorbrach. Es war gerade, als könnte sie kaum erwarten, daß er den Bericht abschloß, damit sie ihn wieder umarmen konnte.
«Jason!«rief sie und nahm sein Gesicht in die Hände.
«Liebster, mein Liebster! Mein Freund ist zu mir zurückgekehrt! Es ist alles so, wie wir es wußten, wie wir es fühlten!«
«Nicht ganz«, sagte er und strich über ihre Wange.»Für dich bin ich Jason, für mich Borowski, weil das der Name ist, den man mir gegeben hat, und den ich gebrauchen muß, weil ich keinen anderen habe. Aber es ist nicht der meine.«
«Eine Erfindung?«
«Nein, es gab ihn. Man behauptet, ich hätte Jason Borowski an einem Ort, der Tam Quan heißt, getötet.«
Sie nahm die Hände von seinem Gesicht, ließ sie auf seine Schultern gleiten, ließ ihn aber nicht los.»Es muß einen Grund dafür gegeben haben.«
«Das hoffe ich. Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das die Rechnung, die ich begleichen will.«
«Meine Güte«, sagte sie und ließ ihn los.»Das liegt mehr als zehn Jahre zurück. Alles, worauf es jetzt ankommt, ist, daß du den Mann bei Treadstone erreichst, weil die versuchen, dich zu erreichen.«
«D'Anjou hat gesagt, die Amerikaner glaubten, ich wäre übergelaufen, da man seit sechs Monaten nichts von mir gehört hat, und in Zürich Millionen verschwunden sind.«
«Du kannst ihnen erklären, was geschehen ist. Du hast deine Vereinbarung nicht wissentlich gebrochen; andererseits kannst du so nicht weitermachen, das ist unmöglich. Alle Instruktionen, die du erhalten hast, nützen dir nichts. Sie sind nur noch in Fragmenten vorhanden — in Bildern und Sätzen, die du mit nichts in Verbindung bringen kannst. Du kennst Leute nicht, die du kennen müßtest. Sie sind für dich Gesichter ohne Namen, ohne Bedeutung.«
Borowski zog das Jackett aus und nahm die Automatic aus dem Gurt. Er studierte den Zylinder — den häßlichen perforierten Ansatz an dem Lauf, der garantierte, daß ein Pistolenschuß nicht lauter als ein leises Hüsteln war — widerwillig. Er trat an die Kommode, legte die Waffe hinein und schob die Schublade zu. Einen Augenblick lang hielt er die Knöpfe fest, und seine Augen wanderten zum Spiegel, zu dem Gesicht in dem Glas, das keinen Namen hatte.
«Was soll ich zu ihnen sagen?«fragte er.»Hier spricht Jason Borowski. Natürlich weiß ich, daß das nicht mein Name ist, weil ich den Mann namens Jason Borowski getötet habe. Aber es ist der Name, den Sie mir gegeben haben… Es tut mir leid, meine Herren, aber auf dem Weg nach Marseille ist mir etwas zugestoßen. Ich habe etwas verloren — nichts für Sie Wertvolles — nur mein Gedächtnis. Nun nehme ich an, daß wir eine Übereinkunft haben, aber ich weiß nicht was für eine. Ich kann mich nur an verrückte Sätze, wie >Carlos finden! < und >Carlos in die Falle locken!<, und daß Delta Cain wäre und daß Cain angeblich Charlie ersetzen soll, der in Wirklichkeit Carlos ist, erinnern. Wenn sie mir nicht glauben und mich für einen Schwindler halten?«Borowski wandte sich vom Spiegel ab und sah Marie an.»Was soll ich dann sagen?«
«Die Wahrheit«, antwortete sie.»Die werden sie akzeptieren. Sie haben dir eine Nachricht geschickt; sie versuchen, dich zu erreichen. Was die sechs Monate angeht — telegrafiere doch Washburn in Port Noir. Er führt Akten — ausführliche, detaillierte Akten.«
«Vielleicht wird er nicht antworten. Wir hatten unsere eigene Übereinkunft. Dafür, daß er mich wieder zusammenflickte, sollte er ein Fünftel des Geldes aus Zürich bekommen, so, auf einem Nummernkonto. Ich habe ihm eine Million US-Dollars geschickt.«
«Glaubst du, das würde ihn vielleicht daran hindern, dir zu helfen?«
Jason überlegte.»Es kann sein, daß er sich selbst nicht helfen kann. Er ist schließlich Alkoholiker. Wie lange kommt er mit einer Million Dollar aus? Oder, um es genauer zu sagen, wie lange glaubst du, daß sie ihn noch am Leben lassen?«
«Trotzdem kannst du beweisen, daß du dort warst. Du warst krank, isoliert. Du warst mit niemandem in Kontakt.«
«Wie können die Männer in Treadstone dessen sicher sein? Von ihrem Standpunkt aus betrachtet, bin ich eine wandelnde
Enzyklopädie offizieller Geheimnisse. Wie können sie sicher sein, daß ich nicht mit den falschen Leuten gesprochen habe?«
«Sag ihnen, sie sollen ein Team nach Port Noir schicken.«
«Die werden dort nur verständnislose Blicke und Schweigen vorfinden. Ich habe jene Insel mitten in der Nacht verlassen, und der halbe Hafen war hinter mir her. Wenn dort drunten jemand Geld aus Washburn herausgeholt hat, wird er die Verbindung sehen und verschwinden.«
«Jason, ich weiß nicht, worauf du hinauswillst. Du hast deine Antwort, die Antwort, die du gesucht hast, seit du an jenem Morgen in Port Noir aufgewacht bist. Was willst du noch mehr?«
«Vorsichtig will ich sein, das ist alles«, sagte Borowski mit schneidender Stimme.»Ich will mich umsehen, ehe ich etwas unternehme, und verdammt sicher sein, daß ich in keine Falle gerate. >Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste< heißt es immer, und ich will auch nicht >Aus dem Regen in die Traufe geraten<. Was sagst du jetzt zu meinem Gedächtnis!« Er schrie förmlich; jetzt erschrak er und hielt inne.
Marie ging quer durch das Zimmer und stellte sich vor ihn hin.»Sehr gut ist das. Aber das ist es nicht, worauf es ankommt, nicht wahr. Das Vorsichtigsein meine ich.«
Jason schüttelte den Kopf.»Nein, das ist es nicht«, sagte er.»Bei jedem Schritt hatte ich Angst, Angst vor den Dingen, die ich erfahren habe. Jetzt, am Ende, ist meine Angst größer denn je. Wenn ich nicht Jason Borowski bin, wer bin ich dann in Wirklichkeit? Was ist mir denn noch übriggeblieben? Hast du darüber einmal nachgedacht?«
«Mit allen Konsequenzen, die es hat, Liebster. In gewisser Weise ist meine Angst größer als die deine, aber ich glaube nicht, daß uns das aufhalten kann. Ich wünschte bei Gott, das könnte es, aber ich weiß, daß es unmöglich ist.«
Der Attache in der amerikanischen Gesandtschaft an der Avenue Gabriel betrat das Büro des Ersten Sekretärs und schloß die Tür. Der Mann am Schreibtisch blickte auf.
«Sind Sie sicher, daß er es ist?«
«Ich bin nur sicher, daß er die richtigen Worte gebraucht hat«, sagte der Attache und trat an den Schreibtisch. Er hielt eine rotgeränderte Karteikarte in der Hand.»Da ist die Fahne«, sagte er und reichte sie dem Ersten Sekretär.»Ich habe die Worte überprüft, die er gesagt hat, und wenn diese
Fahne stimmt, würde ich sagen, er ist es.«
Der Mann hinter dem Schreibtisch studierte die Karte.»Wann hat er den Namen Treadstone gebraucht?«
«Erst nachdem ich ihn überzeugt hatte, daß er mit niemandem in der US-Abwehrbehörde sprechen würde, solange er mir nicht einen verdammt guten Grund dafür geliefert hatte. Ich denke, er war der Meinung, ich würde einen Nervenzusammenbruch erleiden, wenn er sagte, daß er Jason Borowski wäre. Als ich ihn einfach fragte, was ich für ihn tun könnte, schien er wie benommen, gerade, als wollte er jeden Augenblick auflegen.«
«Hat er nicht ein Wort darüber gesagt, daß wir auf ihn warten?«
«Darauf habe ich gewartet, aber er hat es nicht gesagt. Nach dieser Skizze aus sechs Worten — >Erfahrener Außendienstbeamter. Mögliche Fahnenflucht oder Feindübertritt< — hätte er einfach nur das Wort >Fahne< zu sagen brauchen, und alles wäre klargewesen. Aber das hat er nicht getan.«
«Dann ist er es vielleicht doch nicht.«
«Der andere Rest stimmt. Er hat gesagt, daß Washington ihn seit mehr als sechs Monaten sucht. Dabei hat er den Namen Treadstone gebraucht. Er käme von Treadstone; sagte er mir als Überraschungseffekt. Außerdem solle ich die Codeworte Delta, Cain und Medusa weitergeben. Die beiden ersten stehen auf der Fahne; die habe ich überprüft. Ich weiß nicht, was Medusa bedeutet.«
«Ich weiß überhaupt nicht, was das alles bedeutet«, sagte der Erste Sekretär.»Nur, daß ich Anweisung habe, sofort in die Nachrichtenzentrale zu rasen, sämtlichen Zerhackerverkehr nach Langley aus der Leitung zu fegen und eine sterile Verbindung zu einem Spion namens Conklin zu besorgen. Von ihm habe ich allerhand gehört: soll ein ganz übler
Schweinehund sein, dem vor zehn oder zwölf Jahren in Nam der Fuß abgeschossen worden ist. Er drückt ganz seltsame Knöpfe in der Firma. Außerdem hat er die Reinigungsaktionen überlebt, und das bringt mich auf die Idee, daß er ein Typ ist, den die nicht so gerne auf der Straße rumlaufen lassen, um sich einen Job zu suchen. Oder einen Verleger.«
«Wer glauben Sie denn, daß dieser Borowski ist?«fragte der Attache.»Ich habe in den ganzen acht Jahren, die ich jetzt im Ausland tätig bin, noch keine so konzentrierte und andererseits so schlaffe Jagd auf einen einzelnen Menschen erlebt.«
«Jemand, den sie dringend haben wollen. «Der Erste Sekretär erhob sich von seinem Schreibtisch.»Vielen Dank für das hier. Ich werde Washington sagen, wie gut Sie das erledigt haben. Wie ist denn der Zeitplan? Er wird Ihnen ja wahrscheinlich keine Telefonnummer gegeben haben.«
«Nein. Er wollte in fünfzehn Minuten wieder anrufen», aber ich spielte den gehetzten Bürokraten und sagte ihm, er solle sich etwa in einer Stunde wieder melden. Das wäre nach fünf Uhr, und wir könnten weitere ein oder zwei Stunden gewinnen, wenn ich um die Zeit gerade essen bin.«
«Ich weiß nicht. Ich will nicht riskieren, daß wir ihn verlieren. Ich werde das von Conklin arrangieren lassen. Er ist hier die oberste Instanz. Niemand unternimmt in bezug auf Borowski etwas, das nicht von ihm genehmigt ist.«
Alexander Conklin saß in Langley, Virginia, hinter dem Schreibtisch seines Büros mit den weißen Wänden und hörte sich den Mann von der Botschaft in Paris an. Er war überzeugt davon, daß es Delta war. Der Hinweis auf Medusa war der Beweis, denn es gab außer Delta niemand, der diesen Namen kennen konnte. Dieser Dreckskerl! Er spielte den gestrandeten Agenten, seine Kontaktleute in Treadstone reagierten nicht auf die richtigen Code-Worte — wie auch immer sie lauten mochten —, weil Tote nun mal nicht mehr sprechen können. Und das benutzte er dazu, um sich selbst aus der Schußlinie zu ziehen! Nerven hatte dieser Bastard, unglaublich! Bastardl
Er tötet zuerst die Kontrollpersonen, um die Jagd abzublasen. Wie viele Männer hatten das schon vor ihm getan, dachte Alexander Conklin. Er beispielsweise. In den Bergen von Huong Khe hatte es eine Sektorkontrollstelle gegeben, einen Verrückten, der verrückte Befehle erteilte, die den sicheren Tod für ein Dutzend Medusa-Teams auf einer Wahnsinnsjagd bedeuteten. Ein junger Abwehroffizier namens Conklin war mit einem nordvietnamesischen Karabiner — russisches Kaliber — in das Stützpunktlager Kilo zurückgekrochen und hatte zwei Kugeln auf den Kopf des Wahnsinnigen abgefeuert. Die Trauer war groß gewesen, und man hatte die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, aber die Jagd wurde abgeblasen.
Aber auf den Dschungelwegen von Stützpunktlager Kilo hatte man keine Glassplitter gefunden. Giassplitter mit Fingerabdrücken, die den Todesschützen unwiderlegbar als einen westlichen Rekruten von Medusa selbst identifizierten. Solche Glassplitter hatte man an der Einundsiebzigsten Straße gefunden, aber das wußte der Killer nicht — Delta wußte es nicht.
«Zuerst waren wir ernsthaft im Zweifel, ob er es auch ist«, sagte der Erste Sekretär der Gesandtschaft eifrig, als wäre er bemüht, das plötzliche Schweigen Washingtons mit Geschwätzigkeit zu überbrücken.»Ein erfahrener Außendienstmann hätte den Attache aufgefordert, eine Fahne zu suchen, aber das hat der Kerl nicht getan.«
«Daran hat er nicht gedacht«, erwiderte Conklin und seine Gedanken kreisten um das Rätsel, das Delta-Cain hieß.»Was wurde veranlaßt?«
«Ursprünglich hat Borowski darauf bestanden, in fünfzehn Minuten wieder anzurufen, aber ich habe die unteren Chargen instruiert, daß sie ihn hinhalten sollen. Wir könnten zum Beispiel die Essenszeit…«Der Mann von der Gesandtschaft vergewisserte sich, ob sein Vorgesetzter in Washington erkannte, wie weise sein Beitrag war. Das würde jetzt eine gute Minute lang so weitergehen; Conklin hatte schon genug gehört.
Delta. Warum hatte er die Fronten gewechselt? Der Wahnsinn mußte ihm den Kopf weggefressen und nur die Überlebensinstinkte zurückgelassen haben. Er war schon zu lange im Geschäft; er wußte doch, daß sie ihn über kurz oder lang finden und töten würden. Es gab nie eine Alternative, das mußte ihm von dem Augenblick an klar sein, in dem er überlief — oder absprang — oder was auch immer. Es gab keinen Ort mehr, an dem er sich verbergen konnte; gleichgültig, auf welcher Seite der Welt er sich befand, er war immer ein Zielobjekt. Er würde nie wissen, wer plötzlich aus dem Schatten hervortreten und sein Leben beenden würde. Das war etwas, mit dem sie alle lebten, das einzige, dafür aber auch überzeugendste Argument gegen das Überlaufen. Also mußte er eine andere Lösung finden: das Überleben. Der biblische Cain (Cain = amerikanische Schreibweise für Kain, Anmerkung des Übersetzers) war der erste, der einen Brudermord beging. Hatte der biblische Name die Entscheidung ausgelöst? War es so einfach? Sie einfach alle töten, den Bruder töten.
Webb lebte nicht mehr, der Mönch, der Yachtsegler und seine Frau… Wer konnte denn die Instruktionen noch ableugnen, die Delta erhalten hatte, da nur diese vier Instruktionen an ihn weitergaben? Er hatte die Millionen entfernt und sie so verteilt, wie man es ihm befohlen hatte. Natürlich hatte er angenommen, es wäre ein Teil der Strategie des Mönches, daß er die Gelder an blinde Empfänger ausgegeben hatte. Wer war Delta schon, um Entscheidungen des Mönchs in Zweifel zu ziehen? Der Schöpfer von Medusa, das Genie, das ihn rekrutiert und geschaffen hatte. Cain.
Die perfekte Lösung. Um völlig überzeugend zu wirken, bedurfte es nur des Todes eines Bruders und der entsprechenden Trauer. Dann würde das offizielle Urteil ausgesprochen werden. Carlos war es gelungen, Treadstone zu infiltrieren und zu töten. Der bezahlte Killer hatte gesiegt, Treadstone wurde aufgegeben. Das hatte man alles diesem Bastard zu verdanken.
«… also war ich grundsätzlich der Ansicht, daß der weitere Plan von ihm kommen sollte. «Der Erste Sekretär in Paris hatte geendet. Er war ein Esel, aber Conklin brauchte ihn; man mußte die eine Melodie hören, während die andere gespielt wurde.
«Sie haben richtig gehandelt«, sagte ein jovialer Vorgesetzter in Langley.»Ich werde es unseren Leuten hier drüben sagen, wie gut Sie das alles erledigt haben. Sie hatten völlig recht; wir brauchen Zeit, aber das weiß Borowski nicht. Wir können es ihm auch nicht sagen; das macht es noch schwieriger. Wir haben hier eine sterile Leitung; darf ich mich dementsprechend ausdrücken?«
«Natürlich.«
«Borowski steht unter Druck. Er ist… ziemlich lange Zeit… festgehalten worden. Drücke ich mich klar aus?«
«Die Sowjets?«
«Stimmt genau. In der Lubjanka. Doppelbuchung. Sind Sie mit dem Ausdruck vertraut?«
«Ja. Moskau glaubt, daß er jetzt für sie arbeitet.«
«Das glauben die. «Conklin hielt inne.»Und wir sind nicht sicher. In der Lubjanka geschehen verrückte Dinge.«
Der Erste Sekretär pfiff leise durch die Zähne.»Üble Sache. Wie werden Sie das klären?«
«Mit Ihrer Hilfe. Aber die Klassifizierungspriorität ist so hoch, daß sie über dem Niveau einer Gesandtschaft liegt, sogar über dem eines Botschafters. Sie sind an Ort und Stelle; er ist an Sie herangetreten. Sie können jetzt einverstanden sein oder nicht, das liegt ganz bei Ihnen. Wenn ja, könnte ich mir vorstellen, daß Sie eine Belobigung aus dem Oval Office bekommen.«
Conklin konnte hören, wie dem anderen der Atem stockte.
«Ich tue natürlich, was in meiner Macht steht. Sie brauchen es bloß zu sagen.«
«Das haben Sie bereits. Wir wollen, daß er hingehalten wird. Wenn er wieder anruft, sprechen Sie selbst mit ihm.«
«Natürlich«, unterbrach der Mann aus der Botschaft.
«Sagen Sie ihm, Sie hätten die Codes weitergegeben. Sagen Sie ihm, Washington würde per Militärmaschine einen Direktor von Treadstone einfliegen. Sagen Sie, Washington möchte, daß er sich im Hintergrund hält und sich nicht in der Nähe der Botschaft zeigt; alle Straßen werden beobachtet. Dann fragen Sie ihn, ob er Schutz braucht und wenn ja, bringen Sie in Erfahrung, wo er diesen Schutz haben möchte. Aber schicken Sie niemanden; wenn Sie wieder mit mir sprechen, werde ich inzwischen mit jemandem dort drüben telefoniert haben. Ich gebe Ihnen dann einen Namen und einen Augenpunkt, den Sie ihm geben können.«
«Augenpunkt?«
«Visuelle Identifizierung. Etwas oder jemand, den er erkennen kann.«
«Einen Ihrer Leute?«
«Ja, das halten wir für das beste. Darüber hinaus braucht die Botschaft nicht eingeschaltet zu werden. Machen Sie also keine Aufzeichnungen über irgendwelche Gespräche, die Sie führen.«
«Jawohl«, sagte der Erste Sekretär.»Aber wie kann Ihnen denn ein einziges Gespräch mit mir Aufschluß darüber geben, ob er ein Doppelagent ist?«
«Eins? Es werden eher zehn sein.«
«Zehn?«
«Ganz recht; Ihre Instruktionen an Borowski — von uns über Sie — lauten, daß er jede Stunde Ihren Apparat anrufen soll, um damit zu bestätigen, daß er sich in Sicherheit befindet. Bis zu dem letzten Gespräch, in dem Sie ihm sagen, daß der Mann von Treadstone in Paris eingetroffen ist und sich mit ihm treffen will.«
«Was erreichen Sie damit?«fragte der Erste Sekretär.
«Er wird nervös werden… wenn er nicht unser Mann ist. Es gibt in Paris ein halbes Dutzend bekannter Untergrundagenten der Sowjets, deren Telefone alle angezapft sind. Wenn er mit Moskau zusammenarbeitet, ist die Chance groß, daß er wenigstens eines dieser Telefone benutzt. Wir werden sie überwachen. Und wenn sich das herausstellt, werden Sie sich wahrscheinlich den Rest Ihres Lebens an den Tag erinnern, an dem Sie die ganze Nacht in der Botschaft geblieben sind. Belobigungen des Präsidenten verändern den Status von Laufbahnbeamten ganz erheblich. Natürlich können Sie gar nicht mehr so weit aufsteigen.«
«Es gibt schon noch Beförderungsmöglichkeiten, Mr. Conklin«, unterbrach der Erste Sekretär.
Das Gespräch war beendet; der Mann in der Botschaft würde zurückrufen, sobald er von Borowski gehört hatte. Conklin stand auf und hinkte quer durch das Zimmer zu einem grauen Aktenschrank, der an der Wand stand. Er sperrte die oberste Schublade auf. Sie enthielt einen Aktendeckel mit einem verschlossenen Umschlag mit den Namen und Adressen von Männern, an die man im Notfall herantreten konnte. Früher einmal waren es tüchtige, loyale Männer gewesen, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr auf den offiziellen Listen in Washington standen. Unter dem Schütze einer neuen Identität tauchten sie anderswo unter — wobei diejenigen, die eine Fremdsprache fließend beherrschten, häufig von freundlich gesinnten ausländischen Regierungen eingebürgert wurden.
Das waren die Outsider der Organisation, Männer, die im Dienste ihres Landes die Gesetze übertraten, vielleicht im Interesse ihres Landes sogar getötet hatten. Offiziell konnten sie nicht mehr geduldet werden; sie stellten einen Risikofaktor dar. Trotzdem wurden sie oft noch gebraucht. Gelder wanderten auf Konten, die offiziell nicht überprüft wurden, alle Zahlungen honorierten durchgeführte geheime Aufträge.
Conklin trug den Umschlag zu seinem Schreibtisch zurück und riß das markierte Band ab; der Umschlag würde wieder verschlossen, das Band neu markiert werden. Es gab einen Mann in Paris, einen treu ergebenen Mann, der das Offizierscorps der Militärischen Abwehr durchlaufen hatte und schon mit fünfunddreißig Jahren Oberstleutnant war. Man konnte sich auf ihn verlassen; er hatte Verständnis für nationale Prioritäten. Vor zwölf Jahren hatte er in einem Dorf in der Nähe von Hue einen Kameramann, einen Kommunisten, getötet.
Drei Minuten später hatte er den Mann an der Leitung. Der ehemalige Offizier erfuhr einen Namen und erhielt Instruktionen, eine geheime Reise in die Vereinigten Staaten vorzubereiten. Es ging um besagten Fahnenflüchtigen, der im Sonderauftrag jene eliminiert hatte, die seine Strategie kontrollieren sollten.
«Ein Doppelagent also?«fragte der Mann in Paris.»Moskau?«
«Nein, nicht für die Sowjets«, erwiderte Conklin, der wohl wußte, daß Delta, wenn er Schutz erbat, mit dem anderen reden würde.
«Eine langfristige Untergrundstrategie, Carlos in die Falle zu locken.«
«Den Meuchelmörder?«
«Richtig,«
«Sie können zwar sagen, daß es nicht Moskau ist, aber mich überzeugen Sie nicht. Carlos ist in Nowgorod ausgebildet worden, für mich ist er immer noch eine schmutzige Kanone für den KGB.«
«Mag sein. Details sind hier nicht wichtig. Jedenfalls wir sind überzeugt, daß man unseren Mann gekauft hat; er hat ein paar Millionen eingesteckt und braucht jetzt einen Paß.«
«Wenn ich recht verstehe, hat er es so hingedreht, daß Carlos dafür verantwortlich gemacht wird, was zwar nichts bedeutet, aber immerhin wieder auf sein Konto geht.«
«Genau. Wir spielen mit und tun so, als glaubten wir ihm. Aber wir brauchen ein Geständnis, irgendeine Information, und deshalb komme ich nach Paris. Aber das ist jetzt nicht so wichtig, zuerst müssen wir ihn herausholen. Können Sie helfen? Es bringt einen fetten Bonus ein.«
«Mit Vergnügen. Und den Bonus können Sie behalten, ich hasse solche Drecksäcke wie ihn. Die lassen ganze Netze auffliegen.«
«Es muß aber einwandfrei klappen; er ist einer der Besten. Wenn Sie Unterstützung brauchen…«
«Ich habe einen Mann von Saint-Gervais, der fünf ersetzt. Er steht zur Verfügung.«
«Dann stellen Sie ihn ein. Jetzt die Einzelheiten. Der Kontrollmann in Paris ist ein Blinder in der Botschaft. Er weiß nichts, steht aber mit Borowski in Verbindung und wird möglicherweise Schutz für ihn erbitten.«
«Geht klar«, sagte der ehemalige Abwehrmann.»Und was weiter?«
«Für den Augenblick ist das alles. Ich nehme eine Maschine von Andrews und treffe zwischen elf und zwölf Uhr nachts in Paris ein. Ich will dann Borowski innerhalb von ein oder zwei Stunden sehen und bis morgen wieder in Washington zurück sein. Es ist knapp, aber es geht nicht anders.«
«Ich verstehe.«
«Der Blinde in der Botschaft ist der Erste Sekretär. Er heißt… «
Conklin lieferte noch ein paar Einzelheiten, dann überlegten sich die beiden Männer die Codes für ihren ersten Kontakt in Paris. Codeworte, die dem Mann von der Central Intelligence Agency, wenn sie das nächste Mal miteinander sprachen, verraten würden, ob es Probleme gab. Conklin legte auf. Alles verlief planmäßig, und zwar genauso, wie Delta es erwartete. Die Nachfolger Treadstones würden genau nach dem Buch vorgehen, und das Buch hatte seine exakten Vorschriften. Strategien, die zerbrochen, und Strategien, die gescheitert waren, mußten aus der Welt geschafft werden, ganz radikal. Washington verabscheute Skandale. Gescheiterte Agenten bildeten außerdem eine nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle.
All das war Delta bekannt. Er selbst hatte Treadstone zerstört, deshalb würde er all die Vorsichtsmaßnahmen verstehen und mit ihnen rechnen. Er wäre höchst beunruhigt, wenn er sie nicht vorfände. Wenn er von dem Massaker hört, das in der Einundsiebzigsten Straße stattgefunden hatte, wird er mit Sicherheit den Wütenden und Trauernden mimen, und Alexander Conklin würde seine Ohren spitzen, um irgendeinen Unterton herauszuhören, oder eine Erklärung zu erfahren. Aber er wußte sehr wohl, daß er das nicht zu hören bekommen würde. Die Glasscherben würden nicht über den Atlantik fliegen, um unter einem schweren Vorhang in einer Ziegelvilla in Manhattan versteckt zu werden, und Fingerabdrücke waren ein verläßlicherer Beweis dafür, daß ein Mann sich an einem Ort befunden hatte, als jede Fotografie. Es gab keine Möglichkeit, hier etwas vorzutäuschen.
Conklin würde Delta genau zwei Minuten Zeit lassen, um seinen Verstand zu gebrauchen. Er würde zuhören und dann würde er ihn fertigmachen.
«Warum tun die das?«fragte Marie Jason in dem überfüllten Cafe. Er hatte gerade das fünfte Telefongespräch geführt, fünf Stunden nachdem er das erste Mal mit der Botschaft gesprochen hatte.
«Die wollen mich auf Trab halten, mich nervös machen, ich weiß nicht, warum.«
«Da bist du selbst schuld daran«, sagte Marie.»Du hättest die Anrufe auch vom Zimmer aus machen können.«
«Nein, das hätte ich nicht gekonnt. Aus irgendeinem Grunde haben sie mir das klargemacht. Jedesmal, wenn ich anrufe, fragt mich dieses Schwein, von wo ich jetzt telefonierte, ob ich in >sicherem Territorium< wäre. Eine verdammt blöde Formulierung, >sicheres Territorium<. Aber dann sagte er immer noch etwas, und zwar, jeder Kontakt müsse von einem anderen Ort aus erfolgen, damit mich niemand zu einem bestimmten Telefon oder einer bestimmten Adresse zurückverfolgen kann. Sie nehmen mich nicht in Gewahrsam, halten mich aber an langer Kette. Sie wollen mich haben, aber sie haben Angst vor mir; ich verstehe den Sinn nicht!«
«Vielleicht bildest du dir das alles nur ein? Niemand hat etwas gesagt, das auch nur annähernd in diese Richtung geht.«
«Das brauchten sie auch nicht. Man kann es dem entnehmen, was sie nicht gesagt haben. Warum haben sie nicht einfach gesagt, ich solle sofort zur Botschaft kommen? Niemand könnte mir dort etwas anhaben; das ist Territorium der Vereinigten Staaten. Aber das haben sie nicht getan.«
«Die Straßen werden überwacht. Das hat man dir gesagt.«
«Weißt du, das habe ich akzeptiert — blind akzeptiert — bis vor etwa dreißig Sekunden, da kam es mir plötzlich in den Sinn. Von wem? Wer überwacht die Straßen?«
«Carlos natürlich. Seine Leute.«
«Das weißt du, und ich weiß das auch — zumindest können wir es vermuten — aber sie wissen das nicht. Ich kann mich nicht erinnern, wer in drei Teufels Namen ich bin oder woher ich komme, aber ich weiß, was mir während der letzten vierundzwanzig Stunden passiert ist. Das wissen sie nicht.«
«Sie könnten es ja auch vermuten, nicht wahr? Sie könnten seltsame Männer in Autos entdeckt haben, oder Männer, die zu lange oder zu auffällig irgendwo herumstehen.«
«Carlos ist dazu viel zu intelligent. Und dann gibt es eine Menge Möglichkeiten, mit Spezialfahrzeugen schnell in eine Botschaft zu gelangen. Unsere Marineinfanteristen auf der ganzen Welt sind für solche Dinge ausgebildet.«
«Ich glaube dir.«
«Aber das haben sie nicht getan; nicht einmal vorgeschlagen haben sie es. Statt dessen halten sie mich hin und lassen mich herumrennen. Verdammt noch mal, warum?«
«Du hast es ja selbst gesagt, Jason. Sie haben seit sechs Monaten nichts mehr von dir gehört. Sie sind sehr vorsichtig.«
«Aber warum auf diese Art? Sobald sie mich im Botschaftsgebäude haben, können sie tun, was sie wollen. Dort haben sie mich unter Kontrolle. Da können sie eine Party für mich veranstalten oder mich in eine Zelle werfen.«
«Sie warten auf den Mann aus Washington.«
«Was für einen besseren Ort gibt es dann dafür als die Botschaft selbst?«Borowski schob seinen Stuhl zurück.»Irgend etwas stimmt da nicht. Verschwinden wir von hier.«
Alexander Conklin, Treadstones Nachfolger, hatte genau sechs Stunden und zwölf Minuten gebraucht, um den Atlantik zu überqueren. Am Morgen würde er in Paris den ersten Concordeflug nehmen und Dulles um 7.30 Uhr nach Washingtoner Zeit erreichen. Gegen 9.00 Uhr könnte er dann in Langley sein. Falls jemand versuchte, ihn telefonisch zu erreichen, oder fragte, wo er die Nacht verbracht hatte, würde ein darauf vorbereiteter Major aus dem Pentagon eine falsche Antwort liefern. Und falls ein Erster Sekretär in der Botschaft in Paris je erwähnte, daß er auch nur ein Sekundengespräch mit einem Mann aus Langley geführt hätte, würde er sofort auf die niedrigste Rangstufe im diplomatischen Dienst degradiert und auf einen Posten in Tierra del Fuego versetzt werden. Das würde man ihm garantieren.
Conklin ging durch die Absperrung geradewegs auf einen Telefonautomaten zu und rief die Botschaft an. Der Erste Sekretär war von dem Gefühl erfüllt, etwas Wesentliches geleistet zu haben.
«Alles planmäßig, Conklin«, sagte der Mann aus der Botschaft und ließ das früher gebrauchte Mister weg, um damit seine Ranggleichheit zu betonen, schließlich kam er ja zu ihm nach Paris.»Borowski ist nervös. Während unseres letzten Gesprächs fragte er wiederholt, warum man ihn nicht hierher bestellte.«
«Hat er das?«Zuerst war Conklin überrascht, dann begriff er. Delta spielte die Reaktionen eines Mannes, der nichts von den Ereignissen an der Einundsiebzigsten Straße wußte. Wenn man ihn aufgefordert hätte, zur Botschaft zu kommen, wäre er geflohen. Er wußte ganz genau, daß es keine offizielle Verbindung geben durfte.»Haben Sie wieder gesagt, daß die Straßen unter Beobachtung stünden?«
«Natürlich. Daraufhin hat er mich gefragt, wer sie beobachtete. Können Sie sich das vorstellen?«
«Ja, das kann ich. Was haben Sie geantwortet?«
«Daß er das genausogut wüßte wie ich, und daß ich es für gefährlich hielte, solche Dinge am Telefon zu besprechen.«
«Sehr gut.«
«Das fand ich auch.«
«Was hat er darauf erwidert? Hat er sich zufriedengegeben?«
«Auf recht seltsame Art, ja. Er sagte >Ich verstehe.< Sonst nichts.«
«Hat er es sich anders überlegt und um Schutz gebeten?«
«Er lehnte ihn weiterhin ab. Auch noch, als ich insistierte. «Der Erste Sekretär machte eine kurze Pause.»Er will nicht beobachtet werden, wie?«sagte er vertraulich.
«Nein, das will er nicht. Wann wollte er wieder anrufen?«
«In etwa fünfzehn Minuten.«
«Sagen Sie ihm, der Mann von Treadstone sei eingetroffen. «Conklin zog eine Landkarte aus der Tasche, auf der bereits mit blauer Tinte eine Route markiert war.»Sagen Sie ihm, das Treffen fände um ein Uhr dreißig auf der Straße zwischen Chevreuse und Rambouillet statt, sieben Meilen südlich von Versailles bei Le Cimetiere des Noblesse.«
«Ein Uhr dreißig, Straße zwischen Chevreuse und Rambouillet… da ist der Friedhof. Weiß er, wie er hinkommt?«
«Er ist schon einmal dort gewesen. Wenn er ein Taxi nehmen will, sagen Sie ihm, er soll die normalen Vorsichtsmaßregeln treffen und es dann wegschicken.«
«Wird ihm das nicht seltsam vorkommen? Dem Fahrer, meine ich. Das ist doch eine sehr ausgefallene Zeit für einen
Friedhofbesuch.«
«Ich habe nur gesagt, Sie sollen >ihm das sagen<. Er wird natürlich kein Taxi nehmen.«
«Natürlich«, sagte der Erste Sekretär schnell und gewann seine Fassung zurück, indem er zustimmte, was unnötig war.»Da ich Ihren Mann hier in Paris noch nicht angerufen habe — soll ich ihn anrufen und sagen, daß Sie eingetroffen sind?«
«Das werde ich erledigen. Haben Sie seine Nummer noch?«
«Ja, natürlich.«
«Verbrennen Sie sie umgehend!«befahl Conklin.»Ich rufe in zwanzig Minuten wieder an.«
Ein Zug donnerte auf der unteren Etage der Metro vorbei, man spürte die Schwingungen am Bahnsteig darüber. Borowski hängte den Hörer am Telefonautomaten an der Betonwand auf und starrte die Sprechmuschel einen Augenblick lang an. Wieder hatte sich irgendwo in den Tiefen seines Unterbewußtseins irgendeine Türe ein Stück geöffnet. Aber das Licht, das durch den Spalt fiel, war schwach… Dennoch tauchte vor seinen Augen die Straße nach Rambouillet auf… durch einen schmiedeeisernen Bogen… eine kleine, flach abfallende Bodenerhebung mit weißem Marmor. Kreuze, groß, größer, Mausoleen… Und überall Statuen. Le >Cimetiere des Noblesse<. Ein Briefkasten, aber mehr als das. Ein Ort, wo Gespräche stattfanden, mitten zwischen den Begräbnissen und den Särgen, die in die Tiefe gesenkt wurden. Zwei Männer, ebenso feierlich gekleidet wie die Menschenmenge, zwei Männer, die sich zwischen den Trauernden bewegten, bis sie sich begegneten und die Worte austauschten, die sie einander zu sagen hatten.
Da war auch ein Gesicht, aber es war nur undeutlich zu sehen, unscharf; er sah nur die Augen. Und jenes unscharfe Gesicht und jene Augen hatten einen Namen, David… Abbott… der Mönch. Der Mann, den er kannte und doch nicht kannte. Der Mann, der Medusa und Cain geschaffen hatte.
Jason blinzelte ein paarmal und schüttelte den Kopf, als könne er damit den Nebel verjagen. Er sah zu Marie hinüber, die fünfzehn Fuß zu seiner Linken an der Wand stand und die Menschen am Bahnsteig musterte, Ausschau hielt nach jemandem, der ihn vielleicht beobachtete. Aber in Wirklichkeit tat sie das nicht, sie sah ihn an, ihr Gesichtsausdruck war besorgt. Er nickte, beruhigte sie; das war kein schlechter Augenblick für ihn, da waren nur wieder
Bilder gewesen. Er war irgendwann schon einmal auf jenem Friedhof gewesen; das wußte er mit Bestimmtheit. Er ging auf Marie zu; sie drehte sich um und schloß sich ihm an, und dann gingen sie gemeinsam auf den Ausgang zu.
«Er ist hier«, sagte Borowski.»Treadstone ist eingetroffen. Ich soll mich mit ihm in der Nähe von Rambouillet treffen. Auf einem Friedhof.«
«Wie makaber. Warum ein Friedhof?«
«Das soll mich beruhigen.«
«Du lieber Gott, wie denn?«
«Ich bin schon dort gewesen. Ich habe mich dort mit Leuten getroffen… einem Mann. Indem Treadstone diesen Friedhof als Treffpunkt benennt — ein ungewöhnlicher Treffpunkt allerdings —, gibt er mir zu verstehen, daß ich an seiner Identität nicht zu zweifeln brauche.«
Sie griff nach seinem Arm, als sie die Stufen zur Straße hinaufgingen.»Ich möchte mit dir gehen.«
«Tut mir leid.«
«Du kannst mich nicht ausschließen!«
«Das muß ich, weil ich nicht weiß, was ich dort finden werde. Es ist besser, da wartet jemand in sicherer Entfernung auf mich.«
«Liebster, das hat doch keinen Sinn! Ich werde von der Polizei gesucht. Wenn die mich finden, schicken sie mich mit der nächsten Maschine nach Zürich zurück; das hast du doch selbst gesagt. Was würde ich dir denn in Zürich nützen?«
«Nicht du. Villiers. Er vertraut uns. Er vertraut dir. Du kannst ihn erreichen, wenn ich bis zum Morgen nicht zurück bin oder zumindest nicht angerufen habe. Er kann einen Skandal machen und dazu ist er, weiß Gott, bereit. Er ist der einzige Verbündete, den wir haben.«
Marie nickte.»Wie wirst du nach Rambouillet kommen?«
«Wir haben doch einen Wagen, erinnerst du dich nicht mehr? Ich bring dich zum Hotel und geh dann zur Garage hinüber.«
Er betrat die letzte Kabine in dem Garagenkomplex in Montmartre und drückte den Knopf ins vierte Stockwerk. Seine Gedanken weilten auf einem Friedhof, irgendwo zwischen Chevreuse und Rambouillet, an einer Straße, auf der er bereits einmal gefahren war, wenn er auch keine Ahnung hatte, wann oder zu welchem Zweck.
Das war der Grund, warum er jetzt dorthin fahren wollte, warum er den vereinbarten Zeitpunkt für das Zusammentreffen nicht abwarten wollte. Wenn die Bilder, die sich in sein Bewußtsein drängten, nicht völlig verzerrt waren, handelte es sich um einen Friedhof von enormen Ausmaßen. Und wo genau in dieser riesigen Fläche von Gräbern und Statuen war der Treffpunkt? Er würde gegen ein Uhr hinkommen und sich eine halbe Stunde Zeit lassen, zwischen den Gräbern auf und ab gehen und nach einem Scheinwerferpaar oder einem Signal Ausschau halten. Dann würden ihm auch andere Dinge wieder einfallen.
Die Lifttür öffnete sich scharrend. Das Stockwerk war zu drei Viertel mit Wagen gefüllt. Jason versuchte sich zu erinnern, wo er den Renault geparkt hatte; in einer abgelegenen Ecke, daran erinnerte er sich, aber war es rechts oder links? Er setzte sich nach links in Bewegung; denn dort war der Lift gewesen, als er den Wagen vor einigen Tagen hereingefahren hatte. Er blieb stehen, die Logik hinderte ihn plötzlich am Weitergehen. Der Lift war zu seiner Linken gewesen, als er hereingekommen war, nicht nachdem er den Wagen abgestellt hatte; da war die Lifttür diagonal rechts von ihm gewesen. Er drehte sich schnell um, und wieder wanderten seine Gedanken zu der Straße zwischen Chevreuse und Rambouillet.
Ob es nun dieser plötzliche, unerwartete Richtungswechsel war, oder nur die Ungeschicklichkeit dessen, der ihn beobachtete, wußte Borowski nicht. Was auch immer es war, dieser Augenblick rettete ihm das Leben, dessen war er sicher. Der Kopf eines Mannes duckte sich in der zweiten Reihe zu seiner Rechten hinter die Motorhaube eines Wagens; jener Mann hatte ihn beobachtet. Ein erfahrener Beobachter hätte sich jetzt aufgerichtet und ein Schlüsselbund vom Boden aufgehoben oder das Scheibenwischerblatt überprüft und wäre dann weggegangen. Eines jedenfalls hätte er nicht getan — das, was dieser Mann jetzt tat; riskiert, daß man ihn bemerkte, indem er sich wegduckte.
Jason veränderte sein Schrittempo nicht, seine Gedanken werteten die neue Entwicklung aus. Wer war dieser Mann? Wie hatte man ihn ausfindig gemacht? Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, die Antwort lag auf der Hand. Der Angestellte in der >Auberge du Coin<.
Carlos war gründlich gewesen — er hatte jede Einzelheit der letzten gescheiterten Aktionen überprüft, und eine dieser Einzelheiten war ein Angestellter, der während einer dieser Aktionen Dienst gehabt hatte. Ein solcher Mann mußte überprüft und dann befragt werden; das ist nicht schwierig. Es genügte, ein Messer oder eine Pistole zu zeigen. Die Informationen würden dann förmlich über die zitternden Lippen des Mannes sprudeln, und anschließend konnte Carlos seine Armee anweisen, sich in der Stadt auszubreiten, jedes Viertel würde in Sektoren aufgeteilt werden, und überall würde man nach einem ganz bestimmten schwarzen Renault suchen. Eine mühsame Suche, aber nicht unmöglich, leichter gemacht durch die Nachlässigkeit des letzten Benutzers, der versäumt hatte, die Zulassungsschilder auszutauschen. Wie viele Stunden war diese Garage jetzt schon ohne Unterlaß beobachtet worden? Wie viele Männer waren da? Innen, außen? Wie schnell würden andere eintreffen? Würde Carlos kommen?
Diese Fragen waren jetzt zweitrangig. Er mußte hinaus. Auf den Wagen könnte er zur Not verzichten, aber er brauchte ein Transportmittel, und er brauchte es jetzt. Kein Taxi würde einen Fremden um ein Uhr früh zu einem Friedhof am Rand von Rambouillet fahren. Und schnell einen Wagen auf der Straße zu stehlen, war auch ein gefährliches Unterfangen.
Er blieb stehen, holte Zigaretten und Streichhölzer aus der Tasche, schützte dann die Flamme mit den Händen und legte den Kopf etwas zur Seite. Er konnte aus dem Augenwinkel einen Schatten sehen — breit, untersetzt; der Mann hatte sich wieder geduckt, diesmal hinter den Kofferraum eines näherstehenden Wagens.
Jason duckte sich, sprang nach links und warf sich zwischen zwei nebeneinanderstehenden Wagen aus der Parkgasse heraus, bremste den Fall mit den Handflächen ab; es ging alles völlig lautlos. Er kroch um die Hinterräder des Wagens zu seiner Rechten, seine Arme und Beine arbeiteten schnell und lautlos, krochen die schmale Gasse hinunter wie ein Spinne, die über ein Netz huscht. Jetzt war er hinter dem Mann; er kroch auf die Gasse zu, erhob sich auf die Knie, schob sein Gesicht an dem glatten Metall entlang und spähte um einen Scheinwerfer herum. Der untersetzt gebaute Mann war jetzt deutlich zu sehen, er stand aufrecht. Offensichtlich war er verwirrt, denn er bewegte sich zögernd auf den Renault zu, jetzt wieder geduckt, kniff die Augen zusammen. Was er sah, machte ihm offenkundig noch mehr Angst; da war nichts, niemand. Er schnaufte, es war ganz deutlich zu hören, gleich würde er zu rennen anfangen. Man hatte ihn ausgetrickst; das bedeutete für ihn, sich möglichst schnell aus dem Staub zu machen. Und das sagte Borowski noch etwas. Man hatte dem Mann etwas über den Fahrer des Renault erzählt, ihm die Gefahr vor Augen geführt. Der Mann rannte auf die Rampe der Ausfahrt zu.
Jetzt. Jason sprang auf und rannte los, quer über den Gang, zwischen den Wagen durch zum nächsten Gang, holte den keuchenden Mann ein, machte einen Satz, packte ihn am Rücken und riß ihn mit sich auf den Betonboden. Er drückte den dicken Hals des Mannes mit dem Unterarm zu, preßte seinen Schädel gegen das Pflaster und hatte die Finger der linken Hand in die Augenhöhlen des Mannes gedrückt.
«Sie haben genau fünf Sekunden Zeit, mir zu sagen, wer draußen ist«, sagte er in französischer Sprache und erinnerte sich an das verzerrte Gesicht eines anderen Franzosen in einer Liftkabine in Zürich. Damals waren auch Männer draußen gewesen, Männer, die ihn auch hatten töten wollen, damals an der Bahnhofstraße.»Raus mit der Sprache! Jetzt!«
«Ein Mann, ein einziger Mann, sonst niemand!«
Borowski drückte noch kräftiger zu und bohrte seine Finger noch tiefer in die Augenhöhlen.»Wo?«
«In einem Wagen«, stieß der Mann heraus.»Er parkt auf der anderen Straßenseite. Mein Gott, Sie ersticken mich! Sie blenden mich!«
«Noch nicht. Wenn ich das tue, werden Sie es schon merken. Was für ein Wagen?«
«Ein ausländischer. Ich weiß nicht. Ein italienischer, glaube ich. Oder amerikanisch, ich kann es wirklich nicht genau sagen. Bitte! Meine Augen!«
«Farbe!«
«Dunkel! Grün, blau, sehr dunkel. O mein Gott!«
«Sie arbeiten doch für Carlos, oder?«
«Für wen?«
Jason verstärkte den Druck.»Sie haben es genau verstanden
— Sie kommen von Carlos!«
«Ich kenne keinen Carlos. Wir haben eine Nummer und rufen einen Mann an. Das ist alles, was wir tun.«
«Ist er angerufen worden?«Der Mann gab keine Antwort; Borowski drückte die Finger tiefer in die Augenhöhlen.»Sagen Sie es mir!«
«Ja. Das mußte ich.«
«Wann?«
«Vor ein paar Minuten. Das Münztelefon an der zweiten Rampe. Mein Gott! Ich kann nichts sehen.«
«Doch, das können Sie. Stehen Sie auf!«Jason ließ den Mann los und stieß ihn auf die Füße.»Hinüber zu dem Wagen, schnell!«Borowski stieß ihn zwischen den stehenden Autos zu dem Gang, wo sich der Renault befand. Der Mann drehte sich um, protestierte hilflos.»Sie haben gehört, was ich sage. Schnell!«schrie Jason.
«Ich kriege doch nur ein paar Francs.«
«Jetzt können Sie für die paar Francs fahren. «Borowski stieß ihn zu dem Renault.
Augenblicke darauf jagte der kleine schwarze Wagen über die Ausfahrtrampe auf eine verglaste Zelle zu, in der ein Mann vor der Registrierkasse saß. Jason saß auf dem Rücksitz und preßte die Pistole gegen den zerschundenen Nacken des anderen. Borowski schob einen Geldschein und den Parkzettel zum Fenster hinaus; der Angestellte nahm beide.
«Jetzt los!«sagte Borowski.»Tun Sie genau, was ich Ihnen gesagt habe.«
Der Mann drückte das Gaspedal nieder, und der Renault jagte zur Ausfahrt hinaus. Auf der Straße riß der Mann den Wagen auf quietschenden Reifen herum und bremste ruckartig vor einem dunkelgrünen Chevrolet. Eine Wagentüre öffnete sich hinter ihnen; jetzt waren Schritte zu hören.
«Jules? Was ist passiert? Du fährst den Wagen?«Eine Gestalt ragte neben dem offenen Fenster auf.
Borowski hob seine Automatic und zielte auf das Gesicht des Mannes.»Treten Sie zwei Schritte zurück«, sagte er auf französisch.»Nicht mehr, nur zwei. Und dann bleiben Sie ganz ruhig stehen. «Er stieß den Lauf seiner Pistole leicht gegen den Kopf des Mannes namens Jules.»Steigen Sie aus. Langsam.«
«Wir sollten nur hinter ihnen herfahren«, protestierte Jules und trat auf die Straße hinaus.»Wir sollten Ihnen folgen und melden, wo Sie sind.«
«Sie werden etwas viel Besseres tun«, sagte Borowski und stieg aus dem Renault, wobei er seine Landkarte nahm.»Sie werden mich fahren. Eine Weile werden Sie mich fahren. Steigen Sie in Ihren Wagen, alle beide!«
Fünf Meilen außerhalb von Paris, auf der Straße nach
Chevreuse, erhielten die beiden Männer den Befehl, den Wagen zu verlassen. Es war eine dunkle, schlecht beleuchtete Landstraße. Die letzten drei Meilen hatte er keine Geschäfte, Gebäude, Häuser oder Telefonzellen gesehen.
«Wie hieß die Nummer, die Sie anrufen sollten?«fragte Jason.»Aber lügen Sie nicht. Da würden Sie nur noch mehr Ärger bekommen.«
Jules gab sie ihm. Borowski nickte und setzte sich hinter das Steuer des Chevrolet.
Der alte Mann in dem abgewetzten Mantel saß zusammengesunken im Schatten der leeren Nische neben dem Telefon. Das kleine Restaurant war geschlossen, und seine Anwesenheit war die Folge einer freundlichen Geste eines Freundes aus den alten, den besseren Tagen. Er sah immer wieder zu dem Telefon an der Wand hinüber und fragte sich, wann es klingeln würde. Es war nur eine Frage der Zeit, und wenn es dann klingelte, würde er seinerseits jemanden anrufen, und dann würden die besseren Tage wieder beginnen
— und nie mehr enden. Er würde der einzige Mann in Paris sein, der in Verbindung zu Carlos stand, die anderen alten Männer würden darüber tuscheln. Und man würde wieder Respekt vor ihm haben.
Der schrille Klang der Glocke brach aus dem Telefon heraus, hallte von den Wänden des verlassenen Restaurants. Der Bettler schob sich aus der Nische und eilte ans Telefon. Die Erwartung ließ sein Herz schneller schlagen. Das war das Signal. Cain saß in der Falle! Die Tage des geduldigen Wartens waren nur das Vorspiel zum schönen Leben. Er nahm den Hörer von der Gabel.
«Ja?«
«Jules. Ich bin es!«rief die Stimme keuchend.
Das Gesicht des alten Mannes wurde aschfahl und das Pochen in seiner Brust so laut, daß er kaum die schrecklichen Dinge hören konnte, die man ihm sagte. Aber er hatte genug gehört. Er war ein toter Mann. Er glaubte zu ersticken, so schnürte es ihm die Brust zusammen.
Der Bettler sank zu Boden, die Telefonschnur straff gespannt, den Hörer immer noch in der Hand. Er starrte das schreckliche Instrument an, das die furchtbaren Worte zu ihm getragen hatte. Was sollte er tun? Was im Namen Gottes würde er jetzt tun?
Borowski ging den Weg zwischen den Gräbern hinunter und zwang sich, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, so wie Washburn ihm das vor einem ganzen Leben in Port Noir aufgetragen hatte. Wenn er je ein Schwamm hatte sein müssen, so war jetzt die Zeit dafür; der Mann von Treadstone mußte das begreifen. Er mühte sich verzweifelt ab, den Bildern, die in seiner Erinnerung auftauchten, einen Sinn zu geben. Er wußte ja, daß er unschuldig war, immer wieder hämmerte er es sich ein, er war nicht übergelaufen, war nicht geflohen — er war ein Krüppel; so einfach war das.
Er mußte den Mann von Treadstone finden. Wo inmitten dieser umfriedeten Flächen des Schweigens würde er stecken? Wo erwartete er ihn? Jason hatte den Friedhof lange vor der verabredeten Zeit erreicht, der Chevrolet war ein schnellerer Wagen als der heruntergekommene Renault. Er hatte das Friedhofstor passiert, war ein paar hundert Meter die Straße hinuntergefahren, um so zu parken, daß man ihn nicht sehen konnte. Als er dann zum Tor zurückging, hatte es zu regnen angefangen. Es war ein kalter Regen, ein Märzregen, aber ein leiser Regen, der das Schweigen kaum störte. Er kam an einer Gruppe von Gräbern vorbei, die von einem niedrigen schmiedeeisernen Geländer umgeben war, und aus deren Mitte sich ein Alabasterkreuz acht Fuß in die Höhe reckte. Er blieb einen Augenblick lang davor stehen. War er schon einmal hiergewesen? Öffnete sich da in der Ferne wieder eine Türe für ihn? Oder suchte er nur verbissen danach, eine zu finden? Und dann kam es ihm plötzlich. Es war nicht diese Gruppe von Grabsteinen, nicht das hochragende Alabasterkreuz, und auch nicht das niedrige Eisengeländer, es war der Regen. Ein plötzlicher Regenfall. Eine große Zahl von Trauernden in schwarzer Kleidung, die sich um eine Grabstelle versammelt hatten, das Knacken von Schirmen, und zwei Männer, die aufeinander zugingen, deren Schirme sich berührten, kurze, leise gesprochene Entschuldigungsworte, und dann ein länglicher brauner Umschlag, der den Besitzer wechselte, von Tasche zu Tasche ging, unbemerkt von den Trauernden.
Und da war noch etwas. Ein Bild, das sich aus einem anderen Bild löste, das er erst vor wenigen Minuten gesehen hatte. Regen, der an weißem Marmor abfloß; nicht kalter, leichter Regen, sondern ein Wolkenbruch, der auf die glänzende weiße Fläche herunterprasselte — Die Säulen…
Reihen von Säulen ringsum. Auf der anderen Seite des Hügels. In der Nahe der Tore. Ein weißes Mausoleum, irgend jemand hatte sich eine naturgetreu verkleinerte Version des Parthenon gebaut. Vor höchstens fünf Minuten war er daran vorbeigekommen, hatte einen Blick darauf geworfen, es aber nicht gesehen. Das war der Ort, wo es plötzlich zu regnen begonnen hatte, wo sich die zwei Schirme berührt hatten und der längliche Umschlag den Besitzer gewechselt hatte. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Es war jetzt vierzehn Minuten nach eins; er fing an, den Weg hinaufzurennen. Er war noch früh dran; er hatte noch Zeit, die Scheinwerferkegel eines Wagens zu sehen, oder das kurze Flackern eines angerissenen Streichholzes, oder…
Der Lichtschein einer Taschenlampe. Dort am Fuße des Hügels — der Lichtkegel bewegte sich auf und ab und wanderte immer wieder zu den Toren zurück, als machte sich der Besitzer der Taschenlampe Sorgen, jemand könnte dort kommen. Borowski empfand den beinahe unwiderstehlichen Drang, zwischen den Reihen von Gräbern und Statuen hinunterzurennen und so laut er konnte zu schreien: Ich bin hier! Ich bin es. Ich verstehe Ihre Nachricht. Ich bin zurückgekommen! Ich habe Ihnen so viel zu sagen… und es gibt so viel, das Sie mir sagen müssen!
Aber er schrie nicht und rannte auch nicht. Wichtiger als alles andere war, daß er die absolute Kontrolle behielt und auch erkennen ließ, denn das, was ihm zugestoßen war, war unkontrollierbar. Er mußte den Eindruck erwecken, völlig klar und Herr seiner selbst zu sein — innerhalb der Grenzen seiner Erinnerung ohne Makel. Er begann, in dem kalten, leichten Regen den Hügel hinunterzugehen und wünschte sich, sein Gefühl, es eilig zu haben, hätte ihm erlaubt, an eine Taschenlampe zu denken. Die Taschenlampe. Irgend etwas an dem Lichtstrahl, fünfhundert Meter unter ihm, war seltsam. Er bewegte sich in kurzen, senkrechten Strichen, wie um etwas zu betonen… als redete der Mann mit der Lampe eindringlich auf einen anderen ein.
Und so war es auch. Jason kauerte sich nieder und spähte durch den Regen. Er kroch nach vorne auf den Lichtstrahl zu, dicht an den Boden gedrückt und legte in wenigen Sekunden praktisch hundert Fuß zurück. Jetzt konnte er deutlicher sehen; er stutzte und versuchte, mit seinen Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Zwei Männer waren es; einer hielt die Lampe, der andere ein kurzläufiges Gewehr, dessen dicker Lauf Borowski nur zu gut bekannt war. Eine Waffe wie diese konnte auf Distanzen bis zu dreißig Fuß einen Mann sechs Fuß hoch in die Luft blasen. Eine höchst seltsame Waffe für jemanden, den Washington ihm geschickt hatte.
Der Lichtstrahl schoß zur Wand des weißen Mausoleums hinüber; der Mann mit dem Gewehr zog sich schnell zurück, schlüpfte hinter eine Säule, die vielleicht zwanzig Fuß von dem Mann mit der Lampe entfernt war.
Jason brauchte nicht zu überlegen; er wußte, was er tun mußte. Wenn es eine Erklärung für die tödliche Waffe gab, sollte ihm das recht sein, aber ihm gegenüber würde man sie nicht gebrauchen. Er kniete nieder, schätzte die Entfernung ab und suchte nach einem Schlupfwinkel. Dann setzte er sich in Bewegung, wischte sich die Regentropfen vom Gesicht und spürte die Pistole in seinem Gürtel, er wußte, daß er sie nicht benutzen konnte.
Von einem Grabstein zum anderen, von einer Statue zur nächsten, huschte er, zuerst nach rechts, dann langsam nach links hinüber, bis er den Halbkreis fast vollendet hatte. Er war jetzt noch fünfzehn Fuß von dem Mausoleum entfernt; der Mann mit der mörderischen Waffe stand hinter der Säule an der linken Ecke unter dem kurzen Vordach, das ihm Schutz vor dem Regen bot. Er liebkoste seine Waffe, als wäre sie ein sexuelles Objekt, klappte die Kammer auf und konnte einfach der Versuchung nicht widerstehen, hineinzuschauen. Er fuhr mit der Handfläche über die Patronen, eine geradezu obszöne Geste.
Jetzt. Borowski kroch hinter dem Grabstein vor, und seine Hände und Knie trieben ihn über das feuchte Gras, bis er nur noch sechs Fuß von dem Mann entfernt war. Er sprang auf, ein lautloser, tödlicher Panther, und eine Hand schoß nach dem Gewehrlauf, die andere auf den Kopf des Mannes zu. Er erreichte beide, packte beide, umklammerte den Lauf mit den Fingern seiner linken Hand und das Haar des Mannes mit der rechten. Der Kopf fuhr zurück, seine Kehle war gespannt, so daß er keinen Laut herausbrachte. Er schmetterte den Kopf mit solcher Gewalt gegen den weißen Marmor, daß der keuchende Laut, der dann zu hören war, eine schwere Gehirnerschütterung verriet. Der Mann wurde schlaff, Jason stützte ihn und ließ den bewußtlosen Körper leise zwischen den Säulen zu Boden sinken. Jetzt durchsuchte er den Mann, entfernte eine.357 Magnum Automatic aus einem Lederetui, das in sein Jackett eingenäht war, ein rasiermesserscharfes Schuppenmesser aus einer Scheide am Gürtel und einen kleinen.22 Revolver aus einem Knöchelhalfter. Keine der Waffen stammte aus dem Regierungsfundus; das hier war ein bezahlter Killer.
Brich ihm die Finger. Die Worte drängten sich Borowski auf; ein Mann mit einer goldgeränderten Brille in einer großen Limousine hatte sie in der Brauerstraße gesprochen. Es gab einen Grund für die Brutalität. Jason griff nach der rechten Hand des Mannes und bog die Finger zurück, bis er es knacken hörte; dann tat er das gleiche mit der linken Hand, wobei er ihm den Ellbogen zwischen die Zähne trieb, um ihn am Schreien zu hindern. Kein Laut übertönte den Regen und keine der beiden Hände würde eine Waffe bedienen oder selbst als Waffe gebraucht werden können, wobei Borowski die Waffen selbst im Schatten außer Reichweite ablegte.
Jason stand auf und näherte sein Gesicht langsam der Säule. Der Mann von Treadstone richtete den Lichtkegel jetzt direkt vor sich auf den Boden. Er wandte sich dem Tor zu, tat einen zögernden Schritt, als hätte er etwas gehört, und jetzt sah Borowski zum erstenmal den Stock, bemerkte sein Hinken. Der Mann von Treadstone Seventy-One war ein Krüppel… so wie auch er ein Krüppel war.
Jason schoß zum ersten Grabstein zurück, huschte dahinter und spähte um die Marmorkante herum. Der Mann von Treadstone blickte immer noch zu dem Tor hinüber. Borowski sah auf die Uhr; es war ein Uhr siebenundzwanzig. Noch Zeit. Er kroch vom Grabstein weg, dicht an den Boden gedrückt, bis er außer Sichtweite war und stand dann auf und rannte los, zurück zum Hügelkamm. Dort blieb er einen Augenblick stehen, bis sein Atem und sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatten, und griff dann in die Tasche nach einer Streichholzschachtel. Er schützte sie vor dem Regen, nahm ein Streichholz heraus und riß es an.»Treadstone?«sagte er laut genug, daß man ihn von unten hören konnte.
«Delta!«
Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain. Warum benutzte der Mann von Treadstone den Namen Delta und nicht Cain? Delta hatte nichts mit Treadstone zu tun; er war gleichzeitig mit Medusa verschwunden. Jason fing an, den Hügel hinunterzugehen, der kalte Regen peitschte sein Gesicht, und seine Hand griff instinktiv unter seine Jacke nach der Automatic, die in seinem Gürtel steckte.
Er trat auf das Rasenstück vor dem weißen Mausoleum. Der Mann von Treadstone kam auf ihn zugehinkt und blieb dann stehen. Er hob seine Taschenlampe. Das grelle Licht zwang Borowski, die Augen zusammenzukneifen und den Kopf abzuwenden.
«Das ist lange her«, sagte der Mann mit dem Stock und ließ die Lampe sinken.»Ich heiße übrigens Conklin, falls Sie es vergessen haben.«
«Danke. Das hatte ich vergessen. Aber das ist nur eines unter anderen, unter vielen.«
«Wieso?«
«Eines von vielen Dingen, die ich vergessen habe.«
«Aber an diesen Ort hier haben Sie sich erinnert. Das hatte ich angenommen. Ich habe Abbotts Aufzeichnungen gelesen; hier hatten Sie sich zuletzt getroffen, zuletzt eine Lieferung getätigt. Während eines Staatsbegräbnisses für irgendeinen Minister, nicht wahr?«
«Das weiß ich nicht. Darüber müssen wir sprechen. Sie haben seit mehr als sechs Monaten nichts mehr von mir gehört. Dafür muß es eine Erklärung geben.«
«Wirklich? Lassen Sie hören.«
«Am einfachsten kann ich es so ausdrücken, daß ich verwundet war, angeschossen, und die Auswirkungen der Wunden verursachten eine schwere… Verwirrung. Desorientierung ist, denke ich, ein besseres Wort dafür.«
«Klingt nicht schlecht. Was wollen Sie damit sagen?«
«Ich habe einen totalen Gedächtnisverlust erlitten. Ich habe Monate auf einer Insel im Mittelmeer verbracht — südlich von Marseille — ohne zu wissen, wer ich war oder woher ich kam. Es gibt dort einen Arzt, einen Engländer namens Washburn, der eine Krankenakte geführt hat. Er kann bestätigen, was ich Ihnen hier sage.«
«Sicher kann er das«, sagte Conklin und nickte.»Und ich wette, das sind umfangreiche Akten. Herrgott, schließlich haben Sie genügend bezahlt!«
«Was wollen Sie damit sagen?«
«Wir haben auch Aufzeichnungen. Ein Bankbeamter in Zürich, der der Meinung war, Treadstone wolle ihn überprüfen, hat eineinhalb Millionen Schweizer Franken nach
Marseille überwiesen. Danke, daß Sie uns den Namen genannt haben.«
«Das ist ein Teil dessen, was Sie erfahren müssen. Ich wußte das nicht. Er hat mir das Leben gerettet, mich wieder zusammengeflickt. Als man mich zu ihm brachte, war ich fast schon eine Leiche.«
«Also beschlossen Sie, daß eine reichliche Million Dollar dafür angemessen wäre, nicht wahr? Treadstone hat's ja.«
«Ich sagte Ihnen doch, ich wußte es nicht. Treadstone hat für mich nicht existiert; in vieler Hinsicht tut es das heute noch nicht.«
«Das hatte ich vergessen. Sie haben ja das Gedächtnis verloren. Wie haben Sie das genannt? Desorientierung?«
«Ja, aber das stimmt nicht ganz. Das richtige Wort lautet Amnesie.«
«Bleiben wir bei Desorientierung. Mir scheint nämlich, daß Sie sich schon richtig nach Zürich orientiert haben, zur Gemeinschaftsbank.«
«Ich hatte ein Negativ, das in der Nähe meines Hüftknochens eingesetzt war.«
«Das war es allerdings; Sie hatten darauf bestanden. Nur wenige von uns haben das damals begriffen. Das ist die beste Versicherung, die es gibt.«
«Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Können Sie das denn nicht verstehen?«
«Sicher. Sie haben das Negativ gefunden, auf dem nur eine Nummer stand und haben sofort den Namen Jason Borowski angenommen.«
«So ist es nicht abgelaufen! Mir schien, als erführe ich jeden Tag etwas Neues, Schritt für Schritt, eine Enthüllung nach der anderen. Ein Hotelangestellter hat mich mit Borowski angesprochen; den Namen Jason erfuhr ich dann erst, als ich zur Bank ging.«
«Wo Sie genau wußten, was Sie zu tun hatten«, unterbrach Conklin,»um nichts zu versäumen. Vier Millionen — einfach so.«
«Washburn hat mir eingetrichtert, was ich tun muß!«
«Und dann tauchte eine Frau auf, die zufälligerweise etwas von Geld verstand und Ihnen auch sagte, wie Sie den Rest beiseite bringen konnten. Und vorher nahmen Sie sich Chernak in der Löwenstraße vor. Und drei Männer, die wir nicht kannten, aber von denen wir annahmen, daß sie jedenfalls Sie kannten. Und hier in Paris traten Sie wieder in Aktion. Wieder ein Kollege? Sie haben sämtliche Spuren verwischt, wirklich jede Spur, die man sich denken kann, bis nur noch eine übrig blieb. Und Sie — Sie haben es getan.«
«Wollen Sie mir jetzt zuhörenl Diese Männer haben versucht, mich zu töten; sie jagen mich schon seit Marseille. Darüber hinaus weiß ich wirklich nicht, wovon Sie sprechen. Manchmal drängen sich mir Dinge auf, Gesichter, Straßen, Bauwerke; manchmal einfach nur Bilder, die ich nicht unterbringen kann. Aber ich weiß, daß sie etwas bedeuten, nur daß ich keine Beziehung zu ihnen finde. Und Namen — es gibt Namen, aber dann keine Gesichter. Verdammt noch mal, ich leide unter Amnesie! Das ist die Wahrheit!«
«Einer dieser Namen lautet nicht zufälligerweise Carlos?«
«Ja, und das wissen Sie auch ganz genau. Das ist es ja; Sie wissen viel mehr darüber als ich. Ich kann tausend Fakten über Carlos aufzählen, aber ich weiß nicht warum. Ein Mann, der inzwischen schon auf halbem Wege nach Asien ist, hat mir gesagt, ich hätte eine Vereinbarung mit Treadstone geschlossen. Der Mann arbeitete für Carlos. Er sagt, Carlos wußte Bescheid. Er sagt, Carlos würde Jagd auf mich machen, Sie ließen die Information verbreiten, daß ich übergelaufen wäre. Er konnte die Strategie nicht verstehen, und ich konnte sie ihm nicht erklären. Sie dachten, ich wäre zum Feind übergelaufen, weil Sie nichts mehr von mir hörten. Und ich konnte Sie nicht erreichen, weil ich nicht wußte, wer Sie sind. Ich weiß immer noch nicht, wer Sie sind!«
«Aber wer der Mönch ist, wissen Sie doch.«
«Ja, ja… der Mönch. Er hieß Abbott.«
«Sehr gut. Und der Yachtsegler? Sie erinnern sich doch an den Yachtsegler, oder? Und seine Frau?«
«Namen. Ja, ich habe sie schon gehört, aber ich kenne die Gesichter nicht.«
«Elliot Stevens?«
«Nichts.«
«Oder… Gordon Webb. «Conklin sprach den Namen ganz leise aus.
«Was?«Borowski spürte den Stich in seiner Brust und einen glühenden Schmerz, der durch seine Schläfen bis in die Augen fuhr. Seine Augen brannten! Feuer, Explosionen und Finsternis, Wind und Schmerz… Almanach an Delta! Aufgeben! Aufgeben! Sie werden wie befohlen antworten.
Aufgeben!» Gordon…«Jason hörte seine eigene Stimme, aber sie war weit entfernt, in einem weit entfernten Wind. Er schloß die Augen, die Augen, die so brannten, und versuchte die Nebel von sich zu schieben. Dann öffnete er die Augen wieder und war überhaupt nicht überrascht, Conklins Waffe zu sehen, mit der dieser auf seinen Kopf zielte.
«Ich weiß nicht, wie Sie es getan haben, aber Sie haben es jedenfalls getan. Das Ungeheuerliche. Sie gingen nach New York zurück und haben sie alle hochgehen lassen. Hingemetzelt haben Sie sie, Sie Schweinehund. Herrgott, wie ich mir wünsche, ich könnte Sie zurückbringen und zusehen, wie man Sie auf den elektrischen Stuhl schnallt. Aber das kann ich nicht. Also werde ich das Zweitbeste tun. Selbst werde ich Sie mir schnappen.«
«Ich bin seit Monaten nicht in New York gewesen. Vorher weiß ich nicht — aber nicht im letzten halben Jahr.«
«Lügner! Warum haben Sie es nicht wirklich richtig gemacht? Warum haben Sie es sich eigentlich nicht so eingeteilt, daß Sie auch zum Begräbnis gehen konnten? Der Mönch wurde erst neulich zu Grabe getragen; Sie hätten eine Menge alte Freunde sehen können. Und die Beerdigung Ihres Bruders! Allmächtiger! Sie hätten seine Frau in die Kirche führen können. Vielleicht sogar noch die Grabrede halten, das wäre wirklich eine Sensation gewesen. Sie hätten dann noch einmal in allen Ehren von Ihrem Bruder reden können, den Sie getötet haben.«
«Bruder?… Hören Sie auf! Herrgott, hören Sie auf damit!«
«Warum sollte ich? Cain lebt! Wir haben ihn geschaffen, und er ist zum Leben erwacht!«
«Ich bin nicht Cain. Es hat ihn nie gegebenl«
«Sie wissen es also! Lügner! Bastard!«
«Stecken Sie die Waffe weg. Ich sage Ihnen, stecken Sie sie weg!«
«Kommt nicht in Frage. Ich habe mir selbst geschworen, daß ich Ihnen zwei Minuten geben würde, weil ich hören wollte, womit Sie sich rechtfertigen würden. Nun, jetzt habe ich es gehört und es kotzt mich an. Wer hat Ihnen das Recht gegeben? Wir verlieren alle etwas; das ist in dem Job so. Und wenn Sie den verdammten Job nicht mögen, müssen Sie eben aussteigen. Das hatte ich bei Ihnen auch angenommen, und war bereit, Sie verschwinden zu lassen! Aber nein, Sie sind zurückgekommen und haben Ihre Waffe gegen uns gerichtet.«
«Nein! Das stimmt nicht!«
«Das können Sie den Labortechnikern sagen, die haben acht Glassplitter mit zwei Abdrücken. Mittelfinger und Zeigefinger der rechten Hand. Sie waren dort und Sie haben fünf Leute hingemetzelt. Treadstone ist erledigt, und Sie gehen als freier Mann fort.«
«Nein, Sie haben unrecht! Das war Carlos, nicht ich. Carlos war es. Wenn das, was Sie sagen, an der Einundsiebzigsten Straße so abgelaufen ist, dann war er das! Er weiß es. Die wissen es. Eine Wohnung an der Einundsiebzigsten Straße. Nummer hundertneununddreißig. Die wissen alle Bescheid!«
Conklin nickte, Trauer und Abscheu standen in seinen Augen, das war selbst in dem düsteren Licht und trotz des Regens zu sehen.»So perfekt«, sagte er langsam.»Der Hauptinitiator des Ganzen läßt sie auffliegen, indem er mit seinem Jagdobjekt einen Handel eingeht. Was bekommen Sie denn außer den vier Millionen noch? Hat Carlos Ihnen Immunität versprochen? Sie und er, Sie geben ein reizendes Paar ab.«
«Sie sind ja verrückt!«
«Ich weiß nun Bescheid«, meinte der Mann von Treadstone.»Neun lebende Menschen kannten vor halb acht Uhr am letzten Freitag jene Adresse. Drei von ihnen sind getötet worden, und wir sind die anderen vier. Wenn Carlos diese Adresse gefunden hat, gibt es nur einen Menschen, der sie ihm genannt hat. Sie.«
«Wie könnte ich? Ich kannte sie nicht. Ich kenne Sie auch jetzt nicht!«
«Sie haben sie gerade ausgesprochen. «Conklins linke Hand packte den Stock, er hatte genug gehört, um sich damit zu stützen.
«Nicht!« schrie Borowski und wußte, daß die Bitte sinnlos war, wirbelte gleichzeitig nach links herum, und sein rechter Fuß traf die Hand, die die Waffe hielt. Che-sahl war das unbekannte Wort, der lautlose Schrei in seinem Schädel. Conklin fiel zurück, feuerte blind in die Luft, stolperte über seinen Stock. Jason fuhr herum und warf sich auf ihn, trat mit dem Fuß nach der Waffe; sie flog davon.
Conklin rollte auf den Boden, blickte zu den Säulen des Mausoleums hinüber, erwartete von dort eine Explosion, die seinen Widersacher in die Luft werfen würde. Nein! Wieder wälzte sich der Mann von Treadstone herum. Jetzt nach rechts,
das Gesicht verzerrt, den Blick auf — da war noch jemand!
Borowski duckte sich, warf sich schräg nach hinten, als schnell hintereinander vier Schüsse peitschten, von denen drei irgendwo abprallten und davonsirrten. Er rollte sich herum, zog die Automatic aus dem Gürtel. Jetzt sah er den Mann im Regen; sah die silhouettenhafte Gestalt hinter einem Grabstein. Er feuerte zweimal, der Mann brach zusammen.
Zehn Fuß von ihm entfernt schlug Conklin im feuchten Gras herum. Seine beiden Hände tasteten den Boden ab, suchten nach der Waffe. Borowski sprang auf und rannte hinüber, kniete neben dem Mann von Treadstone nieder. Seine eine Hand packte das nasse Haar und die andere hielt seine Automatic, preßte ihren Lauf gegen Conklins Schädel. Von den Säulen des Mausoleums hallte ein langgezogener Schrei herüber. Er wurde immer lauter, gespenstisch, und verstummte dann.
«Da haben Sie Ihren bezahlten Killer«, sagte Jason und riß Conklins Kopf herum.»Treadstone hat sich da ein paar höchst seltsame Angestellte zugelegt. Wer war der andere Mann? Aus welcher Todeszelle haben Sie ihn denn geholt?«
«Er war ein besserer Mann als Sie jemals waren«, erwiderte Conklin mit angestrengter Stimme. Der Regen glänzte auf seinem Gesicht und fing sich im Lichtkegel der ein paar Schritte von ihm entfernt auf dem Boden liegenden Taschenlampe.»Alle sind das. Sie haben ebensoviel verloren wie Sie, aber nie die Seiten gewechselt. Wir können uns auf sie verlassen!«
«Ganz gleich, was ich sage, Sie werden mir nicht glauben. Sie wollen mir nicht glauben!«
«Weil ich weiß, was Sie sind — was Sie getan haben. Das haben Sie mir gerade bestätigt. Sie können mich töten, aber die werden Sie kriegen. Sie sind ein Ungeheuer. Sie halten sich für etwas Besonderes. Das haben Sie immer schon getan. Ich habe Sie nach Phnom Penh gesehen — jeder hat dort draußen etwas verloren, aber für Sie zählte das nicht. Für Sie zählten nur Sie, nur Sie! Und dann bei Medusa! Für Delta gab es keine Regeln! Ihm ging es bloß ums Töten. So sind alle Überläufer. Ich habe auch etwas verloren, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, ins feindliche Lager zu wechseln. Kommen Sie nur! Töten Sie mich! Dann können Sie zu Carlos zurückkehren. Aber wenn ich nicht zurückkehre, wird man wissen, wer für meinen Tod verantwortlich ist. Man wird nicht haltmachen, bis sie Sie erwischt haben. Nur zu! Schießen Sie!«
Conklin schrie, aber trotzdem konnte Borowski ihn kaum hören. Statt dessen hatte er zwei Worte gehört, und jetzt pochte wieder der Schmerz in seinen Schläfen. Phnom Penhl Phnom Penh. Tod am Himmel, Tod vom Himmel. Tod der Jungen und sehr Jungen. Kreischende Vögel und heulende Maschinen und der Gestank des Dschungels… Und ein Fluß. Seine Augen brannten wieder.
Unter ihm hatte sich der Treadstone-Mann losgerissen. Seine verkrüppelte, behinderte Gestalt kroch, von Panik erfüllt, davon, und seine Hände krallten sich in das nasse Gras. Jason blinzelte, versuchte sich von den Bildern zu lösen. Er wußte, daß er die Automatic auf den anderen richten und schießen mußte. Conklin hatte seine Pistole gefunden und hob sie jetzt. Aber Borowski konnte den Abzug nicht betätigen.
Er warf sich nach rechts, rollte weg, auf die Marmorsäulen des Mausoleums zu. Conklins Schüsse verfehlten ihn. Der Krüppel konnte sein Bein nicht stützen, nicht zielen. Und dann verstummte sein Feuer, und Jason stand auf, das Gesicht gegen den glatten, feuchten Stein gedrückt. Er sah hinaus, hob die Automatic; er mußte diesen Mann töten, denn dieser Mann würde ihn töten, Marie töten, Carlos auf seine, auf ihre Spur bringen.
Conklin humpelte jämmerlich auf das Tor zu, drehte sich dauernd um, die Waffe ausgestreckt, sein Ziel ein Wagen draußen auf der Straße. Borowski hob seine Automatic, hatte den Mann im Visier. Den Bruchteil einer halben Sekunde, und es würde vorbei sein, sein Feind von Treadstone tot, ein Tod, der ihm neue Hoffnung gab, denn in Washington gab es vernünftige Männer.
Er konnte es nicht tun; er konnte nicht abdrücken. Er senkte die Waffe und stand hilflos neben der Marmorsäule, während Conklin in seinen Wagen stieg.
Der Wagen. Er mußte nach Paris zurück. Es gab einen Weg. Die ganze Zeit hatte es ihn gegeben. Marie!
Er klopfte an die Tür. Seine Gedanken überschlugen sich, analysierten Tatsachen, nahmen sie auf und verwarfen sie ebenso schnell wieder, wie sie ihm kamen, aber langsam gewann eine Strategie Gestalt. Marie erkannte sein Klopfen; sie öffnete.
«Du lieber Gott, schau dich nur an! Was ist passiert?«
«Keine Zeit«, sagte er und rannte zum Telefon.»Es war eine Falle. Die sind überzeugt, daß ich ein Doppelagent bin, daß ich sie an Carlos verkauft habe.«
«Was?«
«Sie behaupten, ich sei letzte Woche nach New York geflogen, letzten Freitag, und hätte dort fünf Leute getötet… darunter auch meinen Bruder. «Jason schloß kurz die Augen.»Es gab einen Bruder — gibt einen Bruder. Ich weiß nicht, ich kann jetzt nicht darüber nachdenken.«
«Du hast Paris nie verlassen! Das kannst du beweisen!«
«Wie denn? Acht, zehn Stunden, das ist alles, was ich dazu brauchen würde. Und acht oder zehn Stunden, für die es keinen Nachweis gibt, genügen ihnen, um mich fertigzumachen. Wer ist denn mein Zeuge?«
«Ich. Du bist bei mir gewesen.«
«Die glauben, daß du ein Teil des Plans bist«, sagte Borowski und nahm den Hörer ab und wählte.»Der Diebstahl, der Verrat, Port Noir, die ganze verdammte Sache. Die denken, du steckst mit mir unter einem Hut. Carlos ist schuld, der hat das alles eingefädelt, sogar der Fingerabdruck stimmt. Herrgott! Der hat ganze Arbeit geleistet!«
«Was machst du denn? Wen rufst du an?«
«Unsere Rettung? Die einzige, die wir haben. Villiers. Villiers' Frau. Sie ist es. Wir müssen uns sie holen, sie, wenn nötig, hundert Foltern aussetzen. Aber das werden wir nicht müssen; sie wird nicht kämpfen, weil sie nicht gewinnen kann… Verdammt noch mal, warum meldet er sich nicht?«
«Der Apparat mit der Privatnummer steht in seinem Büro. Es ist drei Uhr früh. Wahrscheinlich — «
«Da ist er! General? Sind Sie es?«Jason mußte fragen; die Stimme am anderen Ende der Leitung war eigenartig still, so wie die Stille nach dem Sturm.
«Ja, ich bin es, mein junger Freund. Entschuldigen Sie die Verzögerung. Ich war oben bei meiner Frau.«
«Deshalb rufe ich an. Wir müssen etwas unternehmen. Jetzt. Alarmieren Sie die französische Abwehr, Interpol und die amerikanische Botschaft, aber sagen Sie, die sollen sich nicht einschalten, bis ich sie gesehen, mit ihr gesprochen habe. Wir müssen jetzt auspacken. «
«Da bin ich anderer Meinung, Mr. Borowski… Ja, ich kenne Ihren Namen, mein Freund. Aber mit meiner Frau
können Sie, so fürchte ich, nicht mehr sprechen. Sehen Sie, ich habe sie nämlich gerade getötet.«
Jason starrte die Wand des Hotelzimmers an, die Tapete mit dem verblaßten Muster.»Warum?«sagte er leise,»warum denn nur. Ich dachte, Sie hätten begriffen!«
«Ich habe mich bemüht, mein Freund«, sagte Villiers mit einer Stimme, die unendlich müde klang.»Die Heiligen wissen, daß ich mich bemüht habe, aber ich konnte einfach nicht anders. Ich sah sie immer wieder an… sah meinen Sohn, den nicht sie mir geboren hat, sah ihn hinter ihr auf der Straße liegen, getötet von dem Schwein, dem sie hörig war. Meine Hure war die Hure eines anderen. Die Hure dieses Schweines. Es konnte nicht anders sein. Und wie ich dann erfuhr, war es auch nicht anders. Ich glaube, sie sah sogar den Haß in meinen Augen, der weiß Gott da war. «Der General hielt inne.»Sie hat nicht nur den Haß gesehen, sondern auch die Wahrheit. Sie sah, daß ich alles wußte. Was sie war, was sie in den Jahren, die wir gemeinsam verbracht hatten, gewesen war. Am Ende gab ich ihr die Chance, so wie ich Ihnen gesagt hatte.«
«Die Chance, Sie zu töten?«
«Ja. Es war nicht schwierig. Zwischen unseren Betten steht ein Nachtkästchen mit einer Waffe in der Schublade. Sie lag auf ihrem Bett, Goyas Maja, herrlich in ihrer Überheblichkeit. Sie hatte ja nie einen Gedanken an mich verschwendet. Ich öffnete die Schublade, holte mir Streichhölzer heraus und ging zu meinem Sessel und meiner Pfeife zurück. Ich ließ die Schublade offen, so daß man die Waffe deutlich sehen konnte.
Ich denke, daß es mein Schweigen war und die Tatsache, daß ich den Blick nicht von ihr wenden konnte, die sie erkennen ließen, daß ich alles wußte. Die Spannung zwischen uns hatte einen Punkt erreicht, wo Worte überflüssig sind. Ich hörte mich fragen: >Warum hast du das getan?< und dann nannte ich sie Hure, eine Hure, die meinen Sohn getötet hatte.
Sie starrte mich ein paar Augenblicke an und dann löste sich ihr Blick von mir, wanderte zu der offenen Schublade und der Waffe… und dem Telefon. Ich stand auf, und die Asche in meiner Pfeife glühte. Sie schwang die Beine vom Bett, griff mit beiden Händen in die offene Schublade und nahm die
Waffe heraus. Ich hielt sie nicht auf, nein, ich wollte es von ihren eigenen Lippen hören, wollte ihre Anklage gegen mich genauso hören, wie sie die meine gehört hatte. Was meine Ohren zu hören bekamen, werden sie mit ins Grab nehmen… Ich bin ein Ehrenmann.«
«General…«Borowski schüttelte den Kopf, er konnte jetzt nicht klar denken und wußte gleichzeitig, daß er nicht mehr viel Zeit hatte.»General, was geschah? Sie hat Ihnen meinen Namen genannt? Das müssen Sie mir sagen. Bitte.«
«Gerne. Sie sagte, Sie seien ein unbedeutender Revolverheld, der sich mit einem Genie messen wolle. Sie seien ein Dieb, der aus Zürich geflüchtet wäre, ein Mann, von dem sich die eigenen Leute losgesagt hätten.«
«Hat sie gesagt, wer diese Leute sind?«
«Wenn ja, dann habe ich das nicht gehört. Ich war blind, taub, von Haß verzehrt. Aber Sie haben von mir nichts zu befürchten. Das Kapitel ist abgeschlossen, mein Leben ist mit diesem Telefonat zu Ende.«
«Nein!« schrie Jason.»Tun Sie das nicht! Nicht jetzt.«
«Ich muß.«
«Bitte. Geben Sie sich nicht mit der Hure von Carlos zufrieden. Sie müssen sich an Carlos selbst rächen! Carlos in die Falle locken!«
«Und Schmach auf meinen Namen bringen, weil ich in die Fänge dieser Hure, dieser Schlampe geraten bin?«
«Verdammt noch mal — und was ist mit Ihrem Sohn? Fünf Stäbe Dynamit auf der Rue du Bac!«
«Lassen Sie ihn in Frieden. Lassen Sie mich in Frieden. Es
ist vorbei.«
«Es ist nicht vorbei! Hören Sie mir zu! Nur einen
Augenblick, mehr verlange ich nicht. «Die Bilder in Jasons
Bewußtsein jagten an seinen Augen vorbei, verschmolzen ineinander. Aber diese Bilder hatten Bedeutung. Er konnte Maries Hand auf seinem Arm spüren. Sie hielt ihn fest, war wie ein Anker für ihn, ein Anker, der ihn mit der Wirklichkeit verband.»Hat jemand den Schuß gehört?«
«Da war kein Schuß. Der Gnadenschuß wird heutzutage mißverstanden. Für mich hat er noch eine ehrenvolle Bedeutung. Um das Leid eines verwundeten Kameraden oder eines respektierten Freundes zu beenden. Für eine Hure gilt er nicht.«
«Was wollen Sie damit sagen? Sie sagten doch, Sie hätten sie getötet.«
«Ich habe sie erwürgt, sie gezwungen, mir in die Augen zu sehen, als der Atem ihren Körper verließ.«
«Sie hatte doch Ihre eigene Waffe auf Sie gerichtet…«
«Nutzlos, wenn einem die Augen von der heißen Asche einer Pfeife brennen. Das ist jetzt unwesentlich; sie hätte auch gewinnen können.«
«Sie hat gewonnen, wenn Sie es jetzt damit bewenden lassen! Verstehen Sie das denn nicht? Carlos siegt! Sie hat Sie zerbrochen! Und Ihr Verstand reichte nur dazu aus, sie zu erwürgen! Und Sie reden von Ehre? Was bleibt denn da an Ehre noch übrig?«
«Warum geben Sie denn nicht auf, Monsieur Borowski?«fragte Villiers müde.»Ich erwarte keine Wohltätigkeit von Ihnen, und auch von niemand anderem. Lassen Sie mich in Ruhe. Ich nehme mein Schicksal an. Sie erreichen nichts.«
«Doch, wenn Sie mir zuhören! Sie müssen Carlos in die Falle locken, sich an ihm rächen! Wie oft muß ich es denn noch sagen? Er ist es, den Sie wollen. Er macht Ihre Rache vollständig! Und er ist es auch, den ich brauche! Ohne ihn bin ich tot. Wir sind tot. Um Himmels willen, hören Sie mir doch zu!«
«Ich würde Ihnen gerne helfen, aber ich sehe keine Möglichkeit. Sie könnten auch sagen, daß ich nicht will.«
«Doch, es gibt eine Möglichkeit. «Die Bilder gewannen Gestalt. Er wußte jetzt, wohin sein Weg ihn führte.»Drehen Sie die Falle um. Vergessen Sie, was Sie mir gerade erzählten!«
«Ich verstehe Sie nicht.«
«Sie haben Ihre Frau nicht getötet. Ich war es!«
«Jason!« schrie Marie und umklammerte seinen Arm.
«Ich weiß, was ich tue«, sagte Borowski.»Zum ersten Mal weiß ich wirklich, was ich tue. Komisch, aber ich glaube, das habe ich von Anfang an gewußt.«
Parc Monceau war still, die Straßen verlassen, und in dem kalten, nebelhaften Regen glitzerten ein paar Außenlampen. Alle Fenster in der ganzen Reihe gepflegter, teurer Häuser waren dunkel, mit Ausnahme der Wohnung von Andre Francois Villiers, der Legende von Saint-Cyr und der Normandie, Mitglied der Nationalversammlung Frankreichs… und ein Frauenmörder. Die Fenster links vom Eingang und darüber leuchteten schwach. Das war das Schlafzimmer, in dem der Herr des Hauses die Dame des Hauses getötet hatte, wo ein verzweifelter alter Soldat die Hure eines Meuchelmörders zu Tode gewürgt hatte.
Villiers hatte nichts versprochen; er war zu benommen gewesen, um antworten zu können. Aber Jason hatte nicht lockergelassen, hatte dem anderen seine Botschaft mit solcher Eindringlichkeit immer wieder eingehämmert, daß die Worte förmlich aus dem Telefon hallten. Carlos! Begnügen Sie sich nicht mit der Hure des Mörders!
Holen Sie sich den Mann, der Ihren Sohn getötet hat! Den Mann, der auf der Rue du Bac fünf Dynamitstäbe in einen Wagen gelegt und den letzten Villiers ermordet hat. Er ist es, den Sie wollen, ihn müssen Sie sich holen, an ihm sich rächen!
Carlos. Carlos in die Falle locken. Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain. Ihm war es jetzt klar. Es gab keine andere Möglichkeit. Anfang und Ende waren gleich. Um zu überleben, mußte er den Meuchelmörder fangen; wenn er versagte, war er ein toter Mann und mit ihm Marie St. Jacques, für die es dann kein Leben mehr geben würde. Sie trug das Kainsmal, und wenn man sie beseitigte, würde das nicht als Verbrechen gelten. Sie war gleichsam ein Fläschchen mit Nitroglyzerin, das in der Mittte eines unbekannten Munitionsdepots auf einem Drahtseil balancierte.
Es gab so viel, das Villiers begreifen mußte, und so wenig Zeit, um es ihm zu erklären. Ein Wort nur mußte ihm wieder und wieder eingehämmert werden, und das hieß:
Carlos!
Das Haus des Generals hatte einen zweiten Eingang im Erdgeschoß, rechts von der Treppe hinter einem Tor, er diente dazu, die Küche im Souterrain zu beliefern. Villiers hatte sich einverstanden erklärt, das Tor und die Türe unversperrt zu lassen. Borowski hatte darauf verzichtet, dem General zu erklären, daß das nicht wichtig war, daß er auf jeden Fall einen Weg fände, ins Haus zu kommen. Zuallererst bestand die Gefahr, daß Villiers' Haus beobachtet wurde. Schließlich hatte Carlos guten Grund dazu. Die tote Angelique war seine Cousine und seine Geliebte… der einzige Mensch auf der Welt, der ihm etwas bedeutet. Philippe d'Anjou.
D'Anjou! Natürlich würde da ein Beobachter sein — oder zwei oder zehn! Wenn d'Anjou Frankreich verlassen hatte, würde Carlos das Schlimmste annehmen. Wo? Wo waren Carlos' Männer? Seltsam, dachte Jason, wenn in dieser Nacht niemand in Parc Monceau lauerte, war seine ganze Strategie wertlos.
Doch das war sie nicht; sie waren da. In einer Limousine — derselben Limousine, die vor zwölf Stunden durch die Tore des Louvre gerast war, dieselben zwei Männer — Killer, die anderen Killern Schutz boten. Der Wagen stand fünfzig Fuß entfernt auf der linken Straßenseite, von wo aus man Villiers' Haus gut beobachten konnte. Aber waren diese zwei Männer, die eingesunken im Sitz saßen, Villiers' Villa aber aufmerksam beobachteten, waren diese zwei Männer die einzigen, die da waren? Borowski wußte es nicht mit Bestimmtheit; zu beiden Seiten der Straße säumten Fahrzeuge den Bürgersteig. Er duckte sich im Schatten eines Hauses schräg gegenüber den beiden Männern in der parkenden Limousine. Er wußte zwar; was zu tun war, aber nicht genau wie. Er brauchte ein Ablenkungsmanöver, auf das Carlos' Leute reinfallen würden.
Feuer. Aus dem Nichts. Ganz plötzlich, irgendwo in der Nähe von Villiers' Haus, und so auffällig, daß die ganze stille, verlassene, von Bäumen gesäumte Straße aufgeschreckt wurde. Aufgeschreckt… Sirenen; Explosionen. Es war möglich. Es war nur eine Frage der richtigen Mittel.
Borowski kroch wieder zurück und rannte lautlos zur nächsten Türe, wo er stehen blieb und Jackett und Mantel auszog. Dann riß er sich das Hemd vom Kragen bis zur Hüfte auf und zog dann Jackett und Mantel wieder an, schlug sich den Kragen hoch, knöpfte den Mantel zu und klemmte sich das Hemd unter den Arm. Er spähte in den nächtlichen Regen hinaus, musterte die Fahrzeuge auf der Straße. Er brauchte Benzin, aber in Paris waren die meisten Treibstofftanks versperrt.
Und dann sah er, was er sehen wollte, sah es vor sich auf dem Pflaster, an ein eisernes Tor gekettet. Es war ein Moped, größer als ein Roller, kleiner als ein richtiges Motorrad, und der Tank war wie eine kleine Blase aus Metall zwischen dem Lenker und dem Sattel. Wahrscheinlich hatte der Tankdeckel eine Kette, aber vermutlich kein Schloß.
Jason arbeitete sich an das Moped heran. Er sah sich auf der Straße um; da war niemand, keine Geräusche außer dem leisen Trommeln des Regens. Er legte die Hand auf den Tankdeckel und drehte ihn; er ließ sich ganz leicht aufschrauben. Und noch besser, die Öffnung war relativ groß, der Tank fast gefüllt. Er verschraubte ihn wieder; er war noch nicht so weit, das Hemd mit Benzin zu durchtränken. Er brauchte noch etwas.
Er fand es an der nächsten Ecke an einem Abflußschacht. Ein Pflasterstein, der sich teilweise gelöst hatte, den tausend unvorsichtige Fahrer in Jahrzehnten gelockert hatten. Er löste ihn ganz, indem er mit dem Fuß dagegen trat, und hob ihn dann auf und eilte mit einem kleinen Stein, der daneben gelegen hatte, in der Tasche und dem großen Pflasterstein in der Hand wieder zu dem Moped. Er prüfte sein Gewicht… erprobte seinen Arm. Es würde gehen; gut sogar.
Drei Minuten darauf zog er langsam das mit Benzin durchtränkte Hemd aus dem Benzintank, und der Dunst mischte sich in den Regen, die Ölreste besudelten seine Hände. Er schlang das Tuch um den Pflasterstein, wand die Ärmel ineinander, verknotete sie fest, und hielt das Wurfgeschoß bereit. Jetzt war er soweit.
Er kroch wieder zu dem Haus zurück, das an der Ecke von Villiers' Straße stand. Die beiden Männer in der Limousine saßen immer noch zusammengesunken auf dem Vordersitz und konzentrierten sich ganz auf Villiers' Haus. Hinter der Limousine standen drei weitere Fahrzeuge, ein kleiner brauner Mercedes, eine dunkelbraune Limousine und ein Bentley. Genau Jason gegenüber, hinter dem Bentley, erhob sich ein weißer Steinbau mit schwarz gestrichenen Fenstern. Aus einem Gang im Inneren des Hauses fiel schwaches Licht auf die Erkerfenster zu beiden Seiten der Treppe; hinter dem linken Fenster lag offensichtlich ein Eßzimmer; er konnte Stühle und einen langen Tisch im zusätzlichen Licht einer Rokokolampe sehen. Die Fenster des Speisezimmers mit dem herrlichen Blick auf die wohlhabende, etwas altmodische Pariser Straße würden genügen.
Borowski griff in die Tasche und holte den Stein heraus; er hatte höchstens ein Viertel der Größe des mit Benzin durchtränkten Pflastersteins, würde aber den Zweck erfüllen. Er schob sich langsam um die Hausecke, holte aus und warf den Stein über die Limousine mit den zwei Männern hinweg nach hinten.
Das Krachen hallte durch die stille Straße, und dann war ein lautes Poltern zu hören, als der Stein über die Motorhaube eines Wagens polterte und dann zu Boden fiel. Die beiden Männer in der Limousine riß es hoch. Der Mann auf dem Beifahrersitz riß die Türe auf und sprang mit einer Waffe in der Hand hinaus. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter und schaltete dann die Scheinwerfer ein. Die Lichtkegel schossen nach vorne, spiegelten sich in dem Metall und dem Chrom des Wagens davor. Ausgesprochen dumm, das Licht einzuschalten
— das zeigte, welche Angst die Männer in Parc Monceau hatten.
Jetzt. Jason rannte über die Straße, ganz auf die zwei Männer konzentriert, die sich jetzt die Hände über die Augen hielten, um in dem grellen Licht sehen zu können. Jetzt hatte er den Kofferraum des Bentley erreicht, hielt den Pflasterstein unter dem Arm, die Streichhölzer in der linken Hand und ein paar abgerissene Streichhölzer in der rechten. Er duckte sich, riß die Streichhölzer an, legte den Pflasterstein auf den Boden und hob ihn dann an einem Hemdärmel hoch. Er hielt die brennenden Streichhölzer unter das mit Benzin durchtränkte Tuch; es stand sofort in hellen Flammen.
Er erhob sich schnell, ließ den Stein am Ärmel kreisen, sprang auf die Straße hinaus und schleuderte sein Wurfgeschoß mit aller Kraft auf das Erkerfenster und rannte weiter, als es sein Ziel traf.
Das Klirren zerspringenden Glases brach in die regendurchtränkte Stille der Straße hinein. Borowski rannte nach links über die schmale Straße, dann zu Villiers' Block zurück und fand dort wieder den Schatten, den er brauchte. Das Feuer breitete sich aus, von dem Wind angefacht, der durch das zersplitterte Fenster hineinwehte, sprang drinnen an den Gardinen empor. Binnen einer halben Minute war der ganze Raum ein Flammenmeer, das Feuer von dem riesigen Spiegel über dem Sideboard noch verstärkt. Schreie hallten, überall wurde es hinter den Fenstern hell. Eine Minute
verstrich, und das Chaos wuchs. Die Tür des brennenden
Hauses wurde aufgerissen und Gestalten erschienen — ein
älterer Mann im Nachthemd, eine Frau im Neglige mit einem Pantoffel — beide von Panik erfüllt.
Jetzt öffneten sich weitere Türen, weitere Gestalten
schossen auf die Straße, fanden den Übergang vom Schlaf ins Chaos, einige rannten auf das von lodernden Flammen erfaßte Haus zu — ein Nachbar hatte Schwierigkeiten. Jason rannte schräg über die Straße, nur eine weitere laufende Gestalt in der schnell dichter werdenden Menge. Er blieb neben dem Eckgebäude stehen, wo er erst vor wenigen Minuten angefangen hatte, und sah sich nach Carlos' Soldaten um.
Er hatte recht gehabt; die beiden Männer waren nicht die einzigen Wachen von Parc Monceau. Jetzt waren da vier Männer, die sich neben der Limousine niederkauerten und schnell und leise miteinander redeten. Nein, fünf. Ein weiterer kam über das Pflaster auf sie zu, schloß sich den vier anderen an.
Er hörte Sirenen. Sirenen, die lauter wurden, näherkamen. Die fünf Männer waren verunsichert. Entscheidungen mußten getroffen werden; sie konnten nicht alle bleiben, wo sie waren. Vielleicht diskutierten sie jetzt, wer die längste Vorstrafenliste hatte.
Übereinkunft. Ein Mann würde bleiben — der fünfte. Er nickte und ging schnell über die Straße zu Villiers' Seite hinüber. Die anderen kletterten in den Wagen, und als dann ein Löschzug der Feuerwehr die Straße heraufjagte, bog die Limousine aus ihrem Parkplatz und raste an dem roten Monstrum vorbei.
Ein Hindernis blieb: der fünfte Mann. Jason bog um das Haus und entdeckte ihn auf dem Wege zwischen der Ecke und Villiers' Haus. Jetzt kam alles auf die Wahl des richtigen Augenblicks an, und darauf, daß er ihn erschreckte. Borowski fing zu laufen an, ähnlich wie die anderen Leute, die sich dem Feuer näherten, den Kopf halb nach hinten gedreht, eine Gestalt, die mit ihrer Umgebung verschmolz, nur daß die Richtung nicht stimmte, weil er teilweise rückwärts lief. Er passierte den Mann; er hatte ihn nicht bemerkt — aber er würde ihn bemerken, wenn er auf die Lieferantentüre von Villiers' Haus zuging und sie öffnete. Der Mann sah sich immer wieder um, war verunsichert, besorgt, vielleicht sogar von der Tatsache beunruhigt, daß er jetzt der einzige Bewacher in der Straße war. Er stand vor einem niedrigen Geländer, einem weiteren Tor, einem weiteren Eingang zu einem weiteren teuren Haus in Parc Monceau.
Jason blieb stehen, ging seitwärts schnell auf den Mann zu und wirbelte dann herum, das Körpergewicht auf den linken Fuß verlegt, und sein rechter Fuß schoß vor, traf den fünften Mann am Leib, schleuderte ihn rückwärts über das eiserne Geländer. Der Mann schrie auf, als er in den schmalen Betonschacht stürzte. Borowski setzte über das Geländer, die rechte Faust geballt und beide Absätze ausgestreckt. Er landete auf dem Brustkasten des Mannes, dem bei dem Aufprall die Rippen gebrochen wurden. Jasons Knöchel schmetterten gegen seine Kehle. Carlos' Soldat wurde schlaff. Er würde erst wieder im Krankenhaus aufwachen. Jason durchsuchte den Mann; er trug eine einzige Pistole bei sich. Borowski nahm sie ihm ab und steckte sie in die Manteltasche. Er würde sie Villiers geben. Villiers. Der Weg war frei.
Er ging die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Auf halbem Wege konnte er einen Lichtstreifen unten an der Schlafzimmertüre sehen. Hinter dieser Türe wartete ein alter Mann, der seine einzige Hoffnung war. Wenn es in seinem Leben — dem, an das er sich erinnerte, und dem, an das er sich nicht erinnerte — je einen Augenblick gab, indem er überzeugend sein mußte, so war dieser Augenblick jetzt. Und seine Überzeugung war echt — jetzt war kein Platz für das Chamäleon. Alles was er glaubte, beruhte auf einer Tatsache. Carlos mußte ihm folgen. Das war die Wahrheit. Das war die Falle.
Er erreichte den Treppenabsatz und bog nach links zur Schlafzimmertüre. Einen Augenblick lang blieb er stehen und versuchte, das Echo aus seiner Brust zu verdrängen; es wurde lauter, das Pochen schneller. Ein Teil der Wahrheit, nicht die ganze Wahrheit. Er würde nichts erfinden, nur einiges weglassen.
Eine Übereinkunft… ein Vertrag… mit einer Gruppe von Männern — ehrenwerten Männern — die hinter Carlos her waren. Mehr brauchte Villiers nicht zu wissen; er würde das akzeptieren müssen. Er durfte nicht erfahren, daß er mit jemandem zu tun hatte, der unter Amnesie litt, denn hinter der Mauer seines verlorenen Gedächtnisses würde man vielleicht einen Mann ohne Ehre finden. Die Legende von Saint-Cyr, Algier und der Normandie würde das nicht akzeptieren; nicht jetzt, hier, am Ende seines Lebens.
O Gott, wie schmal der Grat doch war! Wie unsicher die Grenze zwischen Glauben und Unglauben… ebenso unsicher wie für das menschliche Wrack, dessen Name nicht Jason Borowski war.
Er öffnete die Tür und trat ein in die private Hölle eines alten Mannes. Draußen vor den verhängten Fenstern heulten die Sirenen, schrien die Menschen.
Jason schloß die Tür und blieb reglos stehen. Der große Raum war von Schatten erfüllt, und das einzige Licht strömte aus einer Nachttischlampe. Seine Augen wurden von einem Anblick begrüßt, von dem er sich wünschte, er brauche ihn nicht zu sehen. Villiers hatte einen hochlehnigen Schreibtischsessel durch das Zimmer gezerrt und saß jetzt am Fußende des Bettes und starrte die tote Frau an, die auf der Bettdecke lag. Angelique Villiers lag auf dem Kissen, die Augen in dem tief gebräunten Gesicht geweitet, aus ihren Höhlen hervortretend. Ihr Hals war angeschwollen, das Fleisch von rötlichem Purpur, die Würgemale hatten sich über den ganzen Hals ausgebreitet. Ihr Körper war immer noch verkrümmt, die langen, nackten Beine ausgestreckt, die Hüften verdreht, das Neglige zerfetzt, so daß die Brüste aus dem Seidenstoff hervorstachen — selbst im Tode noch sinnlich.
Der General saß wie ein hilfloses Kind da. Er wandte gequält den Blick von der toten Frau und sah Borowski an.
«Was ist draußen geschehen?«fragte er monoton.
«Männer haben Ihr Haus beobachtet. Männer von Carlos, fünf waren es. Ich habe ein Feuer gelegt; niemand ist verletzt worden. Es sind alle außer einem weg; und den habe ich unschädlich gemacht.«
«Sie sind sehr geschickt, Monsieur Borowski.«
«Ja, das bin ich«, nickte Jason.»Aber sie werden zurückkommen. Das Feuer wird gelöscht werden, und dann werden sie zurückkommen; vorher sogar, wenn Carlos sich das alles zusammenreimt, und ich glaube, daß er das tun wird. Wenn er das tut, wird er jemanden hierherschicken. Er wird naturlich nicht selbst kommen, sondern einen seiner Killer schicken. Wenn dieser Mann Sie findet… und die Frau… wird er Sie töten. Carlos verliert sie, aber er gewinnt trotzdem. Er gewinnt ein zweites Mal; er hat Sie durch sie benutzt, und am Ende tötet er Sie. Er geht dann weg und Sie sind tot. Die Leute können daraus schließen, was sie wollen, aber ich glaube nicht, daß es schmeichelhafte Schlüsse sein werden.«
«Sie sind sehr präzise. Und Ihres Urteils sicher.«
«Ich weiß, wovon ich rede. Mir wäre lieber, das, was ich jetzt sagen werde, nicht sagen zu müssen, aber es ist jetzt keine Zeit, auf Ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen.«
«Ich habe keine Gefühle mehr. Sagen Sie, was Sie wollen.«
«Ihre Frau hat Ihnen erzählt, daß Sie Französin sei, nicht wahr?«
«Ja. Aus dem Süden. Ihre Familie stammte aus Loures Barouse, in der Nähe der spanischen Grenze. Sie ist vor Jahren nach Paris gekommen und hat hier bei einer Tante gelebt. Warum?«
«Hatten Sie ihre Familie je zu Gesicht bekommen?«
«Nein.«
«Sie sind also zu Ihrer Hochzeit nicht hierher gekommen?«
«Wir waren unter Berücksichtigung aller Umstände der Ansicht, daß es am besten wäre, sie nicht einzuladen. Der Altersunterschied hätte sie vielleicht gestört.«
«Und was war mit der Tante hier in Paris?«
«Die ist gestorben, ehe ich Angelique kennenlernte. Worauf wollen Sie hinaus?«
«Ihre Frau war keine Französin, ich bezweifle sogar, daß es eine Tante in Paris gegeben hat, und ihre Familie kam nicht aus Loures Barouse, obwohl die spanische Grenze schon einige Bedeutung hat. Damit könnte man vieles tarnen und eine Menge erklären.«
«Was wollen Sie damit sagen?«
«Sie war Venezolanerin. Carlos' erste Cousine, seine Geliebte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr. Sie waren ein Team, waren das seit Jahren. Man hat mir gesagt, daß sie der einzige Mensch auf der ganzen Welt war, der ihm etwas bedeutete.«
«Eine Hure.«
«Ein Instrument eines Meuchelmörders. Ich möchte wissen, wie viele wertvolle Männer ihretwegen tot sind.«
«Zweimal kann ich sie nicht töten.«
«Aber benutzen können Sie sie. Ihren Tod benutzen.«
«Der Wahnsinn, von dem Sie gesprochen haben?«
«Der einzige Wahnsinn ist es, wenn Sie Ihr Leben wegwerfen. Carlos ist dann der große Gewinner; er begeht weiterhin Verbrechen… operiert mit Dynamitladungen… und Sie sind nicht mehr als eine Ziffer in einer Statistik. Ein weiterer Mord in einer langen Liste distinguierter Leichen. Das ist Wahnsinn.«
«Und Sie sind der Vernünftige? Sie nehmen die Schuld für ein Verbrechen, das Sie nicht begangen haben, auf sich? Für den Tod einer Hure? Lassen sich für einen Mord jagen, der nicht der Ihre war?«
«Das ist ein Teil davon. Der wesentliche Teil sogar.«
«Sprechen Sie nicht von Wahnsinn, junger Mann. Ich flehe
Sie an, gehen Sie. Was Sie mir gesagt haben, gibt mir den Mut, vor den allmächtigen Gott zu treten. Und wenn ein Tod je gerechtfertigt war, dann war das der ihre von meiner Hand. Ich werde Christus in die Augen sehen und es schwören.«
«Dann haben Sie sich abgeschrieben«, sagte Jason und bemerkte zum erstenmal die Waffe, die die Jackettasche des alten Mannes ausbeulte.
«Ich werde nicht vor Gericht stehen, wenn Sie das meinen.«
«Oh, das ist perfekt, General! Carlos selbst hätte es nicht besser arrangieren können. Er braucht nicht einmal die eigene Waffe einzusetzen. Aber diejenigen, auf die es ankommt, werden wissen, daß er es getan hat; daß er dahinterstand.«
«Diejenigen, auf die es ankommt, werden nichts wissen. Es ist eine persönliche Angelegenheit. Was Mörder und Diebe sagen, trifft mich nicht.«
«Und wenn ich die Wahrheit sagte? Sagte, weshalb Sie sie getötet haben?«
«Wer würde auf Sie hören? Selbst wenn Sie lange genug lebten, um sprechen zu können. Ich bin kein Narr, Monsieur Borowski. Sie fliehen vor mehr als nur Carlos. Sie werden von vielen gejagt, nicht nur von einem. Das haben Sie mir ja praktisch gesagt. Sie waren nicht bereit, mir Ihren Namen zu nennen… um meiner eigenen Sicherheit willen, behaupteten Sie. Falls das hier je vorbei sein sollte, sagten Sie, wäre ich es, der vielleicht keinen Wert darauf legen würde, mit Ihnen gesehen zu werden. Das sind nicht die Worte eines Mannes, auf den man großes Vertrauen setzt.«
«Sie haben mir vertraut.«
«Ich habe Ihnen gesagt, weshalb«, sagte Villiers und wandte den Blick ab, starrte seine tote Frau an.»Es stand in Ihren Augen.«
«Die Wahrheit?«
«Die Wahrheit.«
«Dann sehen Sie mich jetzt an. Da ist immer noch die Wahrheit. Auf jener Straße nach Nanterre sagten Sie, Sie würden sich anhören, was ich zu sagen habe, weil ich Ihnen Ihr Leben gegeben habe. Ich versuche, es Ihnen wieder zu geben. Sie können als freier Mann weggehen, ohne daß jemand Sie antasten kann, können sich weiterhin für die Dinge einsetzen, von denen Sie sagen, daß sie für Sie wichtig sind, Ihrem Sohn wichtig waren. Sie können gewinnen!.. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich versuche hier nicht edel zu sein.
Wenn Sie am Leben bleiben und das tun, worum ich Sie bitte, so ist das die einzige Möglichkeit für mich, am Leben zu bleiben. Die einzige Möglichkeit, je frei zu werden.«
Der alte Soldat blickte auf.»Warum?«
«Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Carlos haben will, weil man mir etwas weggenommen hat — etwas, das für mein Leben sehr notwendig ist, für mein Wohlbefinden — und daß er dahinterstand. Das ist die Wahrheit — ich glaube, daß es die Wahrheit ist —, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Es sind auch andere Leute betroffen, einige davon anständig, einige nicht, und meine Vereinbarung mit diesen Leuten war es, daß ich Carlos in eine Falle locken würde, ihn erledigen. Diese Leute wollen dasselbe, was Sie wollen, aber dann geschah etwas, das ich nicht erklären kann — ich will gar nicht versuchen, es zu erklären. Jene Leute denken, daß ich sie verraten hätte. Sie glauben, ich hätte einen Pakt mit Carlos geschlossen, ihnen Millionen gestohlen und andere getötet, die meine Verbindung zu ihnen darstellten. Sie haben überall Männer, und diese Männer haben Befehl, mich zu töten, sobald sie mich zu Gesicht bekommen. Sie hatten recht: ich fliehe vor mehr als nur vor Carlos. Ich werde von Männern gejagt, die ich nicht kenne, nicht sehen kann. Aus dem falschen Grund. Ich habe das, was man mir vorwirft, nicht getan, aber keiner will auf mich hören. Ich habe keinen Pakt mit Carlos — Sie wissen, daß es so ist.«
«Ich glaube Ihnen. Es gibt nichts, das mich daran hindert, für Sie anzurufen. Das bin ich Ihnen schuldig.«
«Wie denn? Was werden Sie sagen? >Der Mann, den ich als Jason Borowski kenne, hat keinen Pakt mit Carlos geschlossen. Das weiß ich, weil er mir klargemacht hat, daß Carlos' Geliebte meine Frau war, die Frau, die ich erwürgt habe, um keine Unehre über meinen Namen zu bringen. Ich bin im Begriff, die Sürete anzurufen und mein Verbrechen zu gestehen — aber ich werde denen natürlich nicht sagen, weshalb ich sie getötet habe. Auch nicht, weshalb ich mich selbst töten werde.<… Ist es das, General? Ist es das, was Sie sagen werden?«
Der alte Mann starrte Borowski schweigend an, erkannte den fundamentalen Widerspruch.»Dann kann ich Ihnen nicht helfen.«
«Gut. Schön. Dann ist eben Carlos der Gewinner. Sie ist die Gewinnerin. Und Sie verlieren. Ihr Sohn verliert. Nur zu — rufen Sie die Polizei und dann stecken Sie sich die Pistole in den verdammten Mund und blasen sich den verdammten Kopf weg! Nur zu! Das wollen Sie doch! Treten Sie ab, legen Sie sich hin und sterben Sie! Zu etwas anderem taugen Sie ja nicht mehr. Sie sind ein alter Mann voll Selbstmitleid! Sie sind, weiß Gott, Carlos nicht gewachsen. Dem Mann nicht gewachsen, der Ihren Sohn in der Rue du Bac mit fünf Stäben Dynamit getötet, hat.«
Villiers' Hände zitterten; ein Zittern, das bis zu seinem Kopf reichte.»Tun Sie das nicht. Ich sage Ihnen, tun Sie das nicht.«
«Sie sagen mir das? Sie erteilen mir Befehle? Ich lasse mir von Männern wie Ihnen nichts befehlen! Sie sind doch ein Schwindler! Sie sind schlimmer als all die Leute, die Sie angreifen; denn die haben wenigstens den Mumm, das zu tun, was sie sich vornehmen! Und den haben Sie nicht. Sie bestehen nur aus Luftschlössern und leeren Worten. Legen Sie sich ruhig hin und sterben Sie, alter Mann! Aber geben Sie mir keine Befehle!«
Villiers' löste die Hände voneinander und sprang aus dem Sessel auf. Er zitterte jetzt am ganzen Leibe.»Aufhören, habe ich gesagt!«
«Was Sie mir sagen, interessiert mich nicht. Ich hatte von Anfang an recht, als ich Sie sah. Sie gehören Carlos. Sie waren im Leben sein Lakai und werden auch im Tode sein Lakai sein.«
Das Gesicht des alten Mannes verzog sich vor Schmerz. Er zog die Waffe aus der Tasche, eine pathetische Geste, von der aber eine durchaus reale Drohung ausging.»Ich habe zu meiner Zeit viele Männer getötet. In meinem Beruf war das unvermeidbar, wenn es mich auch oft schmerzte. Ich will Sie jetzt nicht töten. Aber ich werde es tun, wenn Sie meine Wünsche mißachten. Gehen Sie. Verlassen Sie dieses Haus.«
«Großartig. Anscheinend stehen Sie mit Carlos in telepathischer Verbindung. Wenn Sie mich töten, erweisen Sie ihm einen großen Dienst!«Jason trat einen Schritt vor. Er sah, wie Villiers' Augen sich weiteten; die Pistole zitterte, und man konnte ihren Schatten riesenhaft an der Wand sehen. Ein paar Gramm Druck, und der Hammer würde nach vorne klappen und die Kugel ihr Ziel finden. Denn so wahnsinnig auch der Augenblick war, die Hand, die jene Waffe hielt, hatte ein Leben lang damit verbracht, Waffen zu halten; sie würde ganz ruhig sein, wenn jener Augenblick kam. Sofern er kam. Das war das Risiko, das Borowski eingehen mußte. Ohne Villiers ging es nicht; das mußte der alte Mann begreifen. Jason schrie plötzlich:»Nur zul Feuer. Töten Sie mich. Lassen Sie sich von Carlos befehlen! Sie sind ein Soldat. Sie haben Ihre Befehle. Führen Sie sie aus.«
Das Zittern in Villiers' Hand nahm zu. Die Knöchel traten weiß hervor, als die Waffe sich auf Borowskis Kopf richtete. Und dann hörte Jason das Flüstern aus der Kehle eines alten Mannes.
«>Sie sind ein Soldat… hören Sie auf… hören Sie auf.<«
«Was?«
«Ich bin ein Soldat. Jemand hat das neulich zu mir gesagt. Jemand, der Ihnen sehr teuer ist. «Villiers sprach mit leiser Stimme.»Sie hat einen alten Krieger beschämt und ihn dazu gebracht, sich an das zu erinnern, was er war… was er einmal gewesen war. >Man sagt, Sie seien ein großer Mann. Ich glaube es.< Sie war so liebenswürdig, so anständig, auch das zu mir zu sagen. Allmächtiger Gott, Sie hatte unrecht — aber ich werde es versuchen. «Andre Villiers ließ die Waffe sinken; in seiner Unterwerfung lag Würde. Die Würde eines Soldaten.»Was wollen Sie, das ich tue?«
Jason atmete wieder.»Sie sollen Carlos zwingen, mir zu folgen. Aber nicht hier, nicht in Paris. Nicht einmal in Frankreich.«
«Wo dann?«
«Können Sie mich aus dem Lande schaffen? Ich muß Ihnen dazu sagen, daß ich gesucht werde. Mein Name und meine Beschreibung liegen inzwischen jeder Einwanderungsbehörde und jeder Grenzstelle in Europa vor.«
«Fälschlicherweise?«
«Fälschlicherweise.«
«Ich glaube Ihnen. Es gibt Möglichkeiten. Der Conseiller Militaire hat Möglichkeiten und wird tun, worum ich ihn bitte.«
«Mit einem falschen Paß? Ohne Ihnen Gründe zu nennen?«
«Mein Wort genügt. Das habe ich mir verdient.«
«Noch eine Frage, Dieser Adjutant, von dem Sie sprachen, vertrauen Sie ihm — ich meine, vertrauen Sie ihm wirklich!«
«Mein Leben würde ich ihm anvertrauen.«
«Auch das Leben eines anderen? Jemandes, von dem Sie annahmen, und das mit Recht, daß sie mir sehr teuer ist.«
«Natürlich. Warum? Sie werden alleine reisen?«
«Das muß ich. Sie würde mich nie gehen lassen.«
«Sie werden ihr das erklären müssen.«
«Das werde ich. Daß ich im Untergrund bin, hier in Paris oder Brüssel oder Amsterdam. In Städten, in denen Carlos operiert. Aber sie muß hier weg; man hat unseren Wagen in Montmartre gefunden. Carlos' Männer durchsuchen jetzt jede Straße, jede Wohnung, jedes Hotel. Ihr Adjutant muß Marie aufs Land bringen; dort wird sie sicher sein. Das werde ich ihr sagen.«
«Ich muß die Frage jetzt stellen. Was geschieht, wenn Sie nicht zurückkommen?«
Borowski gab sich Mühe, die Fassung zu behalten.»Ich werde im Flugzeug Zeit haben. Ich werde alles aufschreiben, was geschehen ist, alles, woran ich… mich erinnere. Ich werde es Ihnen schicken, und Sie treffen dann die Entscheidungen. Mit ihr zusammen. Sie hat Sie einen großen Mann genannt. Schützen Sie sie.«
«Sie haben mein Wort. Es wird ihr kein Haar gekrümmt werden.«
«Das ist alles, worum ich bitte.«
Villiers warf die Pistole auf das Bett. Sie landete zwischen den verdrehten nackten Beinen der toten Frau; der alte Soldat hustete plötzlich, verächtlich, gewann seine Haltung zurück.»Und was haben Sie nun konkret vor, junger Freund«, sagte er, und man spürte wieder die alte Autorität.»Worin besteht Ihre Strategie?«
«Alles, was Sie wissen — alles, woran Sie sich erinnern — ist, daß während des Feuers ein Mann in Ihr Haus eingebrochen ist und Ihnen die Pistole gegen den Schädel geschlagen hatte; Sie waren sofort bewußtlos. Als Sie erwachten, fanden Sie Ihre Frau tot auf. Erwürgt. Neben ihrer Leiche lag ein Zettel. Und das, was auf dem Zettel steht, hat Ihnen den Verstand geraubt.«
«Und das ist?«fragte der alte Soldat vorsichtig.
«Die Wahrheit«, sagte Jason.»Die Wahrheit — eine Wahrheit, von der Sie nie zulassen können, daß jemand anderer sie erfährt. Was sie für Carlos war, was er für sie war. Der Mörder, der den Zettel schrieb, hat eine Telefonnummer hinterlassen und Ihnen gesagt, daß Sie das bestätigen könnten, was er geschrieben hat. Sobald Sie davon überzeugt seien, könnten Sie den Zettel vernichten und den Mord auf jede beliebige Weise zur Meldung bringen. Aber dafür, daß er Ihnen die Wahrheit gesagt hat — daß er die Hure getötet hat, die maßgeblich mitschuldig am Tod Ihres Sohnes ist — möchte er, daß Sie eine schriftliche Nachricht übermitteln.«
«An Carlos?«
«Nein. Er wird einen Mittelsmann schicken.«
«Dafür sei Gott Dank. Ich bin nicht sicher, ob ich das über mich brächte, wenn ich wußte, daß er es ist.«
«Die Nachricht wird ihn erreichen.«
«Und was für eine Nachricht ist das?«
«Ich werde sie Ihnen aufschreiben; Sie können sie dem Mann geben, den er schickt. Sie muß ganz exakt sein, sowohl in dem, was sie ausspricht, als auch in dem, was sie verschweigt. «Borowski sah zu der toten Frau hinüber, ihren angeschwollenen Hals.
«Haben Sie Alkohol?«
«Zum Trinken?«
«Nein. Zum Einreihen. Parfüm tut es auch.«
«Ich bin sicher, daß im Medizinschränkchen Alkohol zum Einreiben ist.«
«Würden Sie ihn mir holen? Und auch ein Handtuch, bitte.«
«Was werden Sie tun?«
«Meine Hände dorthin tun, wo die Ihren waren. Nur für alle Fälle. Obwohl ich nicht glaube, daß jemand Sie fragen wird. Während ich das tue, rufen Sie die Person an, die dafür sorgt, daß ich das Land verlassen kann. Es kommt sehr auf die richtige Zeiteinteilung an. Ich muß unterwegs sein, ehe Sie mit Carlos in Verbindung treten, ehe Sie die Polizei rufen. Sie werden die Flughäfen überwachen lassen.«
«Ich kann das bis zum Morgen hinauszögern, stelle ich mir vor. Der Schockzustand eines alten Mannes, wie Sie das ausgedrückt haben. Aber nicht viel länger. Wohin werden Sie gehen?«
«New York. Geht das? Ich habe einen Paß auf den Namen George Washburn.«
«Das erleichtert die ganze Angelegenheit. Sie werden wie ein Diplomat behandelt.«
«Als Engländer? Es ist ein britischer Paß.«
«Eine Gefälligkeit gegenüber der NATO. Das sind die Kanäle des Conseiller. Sie sind Mitglied eines anglo-amerikanischen Teams, das militärische Verhandlungen führt. Wir legen Wert darauf, daß Sie schnell in die Vereinigten
Staaten zurückkehren, um sich dort weitere Instruktionen zu holen. Das ist nicht ungewöhnlich und reicht aus, um Sie schnell durch die Paßkontrolle zu bringen.«
«Gut. Ich habe mir die Flugpläne angesehen. Um sieben Uhr früh gibt es einen Air-France-Flug nach Kennedy.«
«Geht in Ordnung. «Der alte Mann hielt inne; er war noch nicht fertig. Er trat einen Schritt auf Jason zu.»Warum New York? Was macht Sie so sicher, daß Carlos Ihnen nach New York folgen wird?«
«Zwei Fragen mit unterschiedlichen Antworten«, sagte Borowski.»Ich muß ihn an dem Ort ausliefern, wo er mir den Mord an vier Männern und einer Frau, die ich kannte, in die Schuhe schieben wollte… einer dieser Männer stand mir sehr nahe, war sozusagen ein Stück von mir, denke ich.«
«Ich verstehe Sie nicht.«
«Ich bin auch nicht sicher, ob ich mich selbst verstehe. Jetzt ist keine Zeit. Es wird alles in dem Brief stehen, den ich Ihnen im Flugzeug schreiben werde. Ich muß beweisen, daß Carlos seine Hände im Spiel hatte. Vertrauen Sie mir!«
«Das tue ich. Die zweite Frage: Warum wird er Ihnen folgen?«
Jason sah wieder die tote Frau auf dem Bett an.»Instinkt vielleicht. Ich habe den einzigen Menschen auf der Welt getötet, der ihm etwas bedeutet. Eigentlich müßte er den Mörder durch die ganze Welt verfolgen, bis er ihn gefunden hätte.«
«Er ist sicher praktischer eingestellt.«
«Da ist noch etwas«, erwiderte Jason und wandte den Blick von Angelique Villiers.»Er hat nichts zu verlieren, alles zu gewinnen. Niemand weiß, wie er aussieht, aber er kennt mein Aussehen. Trotzdem weiß er über meinen Geisteszustand nicht Bescheid. Er hat mich in den Untergrund verbannt, mich isoliert, mich in jemanden verwandelt, der ich nie sein sollte. Vielleicht war er zu erfolgreich; vielleicht bin ich wahnsinnig, geistesgestört. Das Massaker in New York war, weiß Gott, wahnsinnig. Meine Drohungen sind irrational. Bin ich irrational? Ein irrationaler Mann, ein wahnsinniger Mann, ist ein Mann in Panik. Man kann ihn leicht zur Strecke bringen.«
«Ist Ihre Angst begründet?«
«Das weiß ich nicht genau.. Ich weiß nur, daß ich keine Wahl habe.«Die hatte er nicht. Am Ende war es so wie am Anfang. Er mußte Carlos finden. Carlos in die Falle locken.
Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain. Der Mann und der Mythos waren am Ende eine Person, Bilder und Realität verschmolzen ineinander. Es gab keinen anderen Weg.
Zehn Minuten waren verstrichen, seit er Marie angerufen und belogen hatte, und gehört hatte, wie sie das, was er ihr sagte, still aufgenommen hatte. Er wußte, daß das bedeutete, daß sie Zeit zum Nachdenken brauchte. Sie hatte ihm nicht geglaubt, aber an ihn glaubte sie; auch sie hatte keine andere Wahl. Und ihren Schmerz konnte er nicht lindern; dafür war keine Zeit mehr gewesen. Villiers rief jetzt vom Erdgeschoß eine Nummer im Conseiller Militaire Frankreichs an, die nur für Notfälle zur Verfügung stand, und arrangierte, daß ein Mann mit einem falschen Paß Paris unter Diplomatenstatus verlassen konnte. In weniger als drei Stunden würde ein Mann über den Atlantik fliegen und sich dem Jahrestag seiner eigenen
Exekution nähern. Das war der Schlüssel; das war die Falle. Das war die letzte irrationale Handlung.
Borowski stand am Schreibtisch; er legte den
Kugelschreiber weg und las die Worte noch einmal, die er auf den Briefbogen einer toten Frau geschrieben hatte. Es waren die Worte, die ein zerbrochener, verwirrter, alter Mann einer unbekannten Mittelsperson über das Telefon durchgeben
würde, und diese Mittelsperson würde das Papier verlangen und es Iljitsch Ramirez Sanchez geben.
Ich habe Deine dreckige Hure getötet und ich werde
wiederkommen und Dich fertigmachen. Es gibt einundsiebzig Straßen im Dschungel. Einem Dschungel, der so dicht ist wie Tam Quan, aber es hat einen Weg gegeben, der Dir entgangen ist, einen Kellerraum, von dem Du nichts wußtest — genauso wie Du am Tag meiner Exekution vor elf Jahren nichts von mir wußtest. Einen Mann hat es gegeben, der es wußte, und den hast Du getötet. Das ist jetzt nicht mehr wichtig. In jenem Kellerraum gibt es Dokumente, die mir die Freiheit verschaffen werden. Hast Du geglaubt, ich würde Cain werden, ohne jenen letzten Schutz zu haben? Washington wird es nicht wagen, mich zu berühren! Mir kommt es richtig vor, daß Cain am Tage von Borowskis Tod die Papiere holt, die ihm ein sehr langes Leben garantieren. Du hast Cain gezeichnet, jetzt zeichne ich Dich. Ich komme wieder, dann
Delta.
Jason legte das Blatt auf den Tisch und trat neben die tote Frau. Der Alkohol war trocken, die geschwollene Kehle bereit. Er beugte sich über sie und spreizte die Finger, legte seine Hände dorthin, wo vorher ein anderer die Hände gehabt hatte.
Über den Spitzen der Kirche in Levallois-Perret im nordwestlichen Paris leuchteten die ersten Strahlen der Morgensonne, es war ein kalter Märzmorgen, und an die Stelle des nächtlichen Regens war leichter Nebel getreten. Ein paar alte Frauen, die von der nächtlichen Putzarbeit in der Stadt in ihre Wohnungen zurückkehrten, betraten durch die schweren Bronzetüren das Kirchenschiff; in der Hand trugen sie ihre Gebetbücher. Gleich würde die Morgenandacht beginnen, um sie anschließend zu Hause in wenige Stunden wohlverdienten Schlafs sinken zu lassen, bevor die Mühsal des Tages wieder begann. Und dann waren da auch einige schäbig gekleidete Männer — die meisten ebenfalls alt, andere mitleiderregend jung —, die sich ihre Mäntel enger um die Schultern zogen und die Wärme der Kirche suchten, wobei sie in ihren Taschen Flaschen mit billigem Rotwein umklammert hielten, die ihnen das Vergessen gewährten.
Nur ein alter Mann schwebte nicht in tranceartigen Zuständen wie die anderen. Er war ein alter Mann, der es eilig hatte. In seinem faltigen, fahlen Gesicht war Widerstreben — vielleicht sogar Furcht — zu lesen. Aber an der Art, wie er die Treppen hinauf und durch die Kirchentore eilte, war kein Zögern zu bemerken, und er eilte weiter, vorbei an den flackernden Kerzen, den linken Gang hinunter. Es war eine seltsame Stunde, um die Beichte abzulegen. Dennoch begab sich dieser alte Bettler direkt zum ersten Beichtstuhl, schob den Vorhang auseinander und schlüpfte hinein.
«Angelus Domini…«
«Hast du es mitgebracht?« fragte die flüsternde Stimme, und die priesterhafte Silhouette hinter dem Vorhang zitterte vor Wut.
«Ja. Er hat es mir ganz benommen in die Hand gedrückt, hat geweint, gesagt, ich solle verschwinden. Er hat den Brief Cains verbrannt und sagt, er würde alles ableugnen, wenn je auch nur ein einziges Wort davon erwähnt werden sollte. «Der alte Mann schob die beschriebenen Blätter unter dem Vorhang durch.
«Er hat ihr Briefpapier benutzt — «Das Flüstern des Meuchelmörders brach, und die Silhouette einer Hand schob sich vor die Silhouette eines Kopfes, und jetzt konnte man hinter dem Vorhang einen halb erstickten Aufschrei hören.
«Ich muß Sie eindringlich bitten, daran zu denken, Carlos«, bat der Bettler.»Der Bote ist für die Nachricht, die er trägt, nicht verantwortlich. Ich hätte mich weigern können, sie Ihnen zu überbringen.«
«Wie? Warum…?«
«Die Lavier. Er ist ihr nach Parc Monceau gefolgt und dann beiden zu der Kirche. Ich habe ihn in Neuilly-sur-Seine gesehen, als ich in Ihrem Auftrag dort war. Das habe ich Ihnen gesagt.«
«Ich weiß. Aber warum! Er hätte sie auf hundert unterschiedliche Arten einsetzen können! Gegen mich! Warum
das!«
«Es steht in seinem Brief. Er ist verrückt geworden. Man hat ihn zu weit getrieben, Carlos. Das kommt vor; ich habe das schon mehrmals erlebt. Man nimmt einem Doppelagenten die Verbindungsleute weg; er hat niemanden mehr, der seinen ursprünglichen Auftrag bestätigen kann. Beide Seiten wollen seine Leiche. Das zieht und zerrt so an seinen Nerven, daß er möglicherweise nicht mehr weiß, wer er ist.«
«Er weiß es…«Das Flüstern war jetzt ganz leise, man spürte die Wut in jedem Wort.»Indem er mit dem Namen Delta unterschreibt, sagt er mir, daß er alles weiß. Wir beide wissen, woher das kommt, woher er kommt.«
Der Bettler hielt inne.»Wenn das stimmt, dann ist er immer noch gefährlich für Sie. Er hat recht. Washington wird ihm nichts tun. Vielleicht sieht er sich sogar gezwungen, ihm als Gegenleistung für sein Schweigen ein oder zwei Privilegien einzuräumen.«
«Die Papiere, von denen er spricht?«fragte der Killer.
«Ja. Früher — in Berlin, Prag, Wien — nannte man sie >letzte Zahlung<. Borowski gebraucht hier >letzten Schutz<, das ist eine geringfügige Abweichung. Es handelte sich um Papiere, die von einer erstrangigen Quellenkontrolle und dem Infiltrator ausgestellt wurden. Sie sollten dann erst benutzt werden, wenn die Strategie zusammenbrach, der Verbindungsmann getötet wurde und dem Agenten keine anderen Wege mehr offenstanden. Das war etwas, was Sie in Nowgorod sicher nicht gelernt haben; die Sowjets verfügten über solche Dinge nicht. Aber sowjetische Überläufer bestanden darauf.«
«Einundsiebzig Straßen im Dschungel…«, las Carlos von dem Blatt, das er in der Hand hielt. Eine eisige Ruhe hatte ihn jetzt erfaßt und war aus jedem geflüsterten Wort zu verspüren.»Ein Dschungel, der so dicht ist wie Tam Quan… Diesmal wird die Exekution planmäßig stattfinden. Jason Borowski wird dieses Tam Quan nicht lebend verlassen, auch unter keinem anderen Namen. Cain wird tot sein, und Delta wird für das, was er getan hat, sterben. Angelique — du hast mein Wort. «Damit war das Gelöbnis beendet, und die Gedanken des Meuchelmörders wandten sich wieder praktischen Dingen zu.»Hatte Villiers eine Ahnung, wann Borowski sein Haus verlassen hat?«
«Das wußte er nicht. Ich sagte Ihnen ja, er konnte kaum zusammenhängend sprechen, derselbe Schock wie bei seinem Anruf.«
«Das hat jetzt nichts zu sagen. Die ersten Flüge nach den Vereinigten Staaten sind schon in der letzten Stunde abgegangen. Er wird in einer dieser Maschinen sein. Ich werde mit ihm in New York sein, und diesmal entgeht er mir nicht. Mein Messer wird ihn erwarten, und es wird scharf wie eine Rasierklinge sein. Das Gesicht werde ich ihm in Fetzen schneiden; die Amerikaner werden ihren Cain ohne Gesicht bekommen! Dann können sie diesem Borowski, diesem Delta, jeden beliebigen Namen geben, der ihnen Spaß macht.«
Das blaugestreifte Telefon klingelte auf Alexander Conklins Schreibtisch. Seine Glocke war leise, gleichsam unterkühlt und verlieh damit dem Klang eine besondere Bedeutung. Das blaugestreifte Telefon war Conklins direkte Verbindung mit den Computersälen und Datenbänken. Im Büro war niemand, um das Gespräch entgegenzunehmen.
Der leitende Mann von der Central Intelligence rannte plötzlich hinkend durch die Tür; er brauchte den Stock nicht, den G-2, SHAPE, Brüssel, ihm letzte Nacht zur Verfügung gestellt hatte, als er eine Militärmaschine nach Andrews Field, Maryland, angefordert hatte. Er warf ihn ärgerlich in die Ecke und taumelte auf das Telefon zu. Seine Augen waren von dem fehlenden Schlaf blutunterlaufen, sein Atem ging kurz und hektisch; der Mann, der für die Auflösung von Treadstone verantwortlich zeichnete, war erschöpft. Er hatte mit einem
Dutzend Abteilungen der verschiedenen Geheimdienste Zerhackergespräche geführt — in Washington und Übersee — und versucht, den Wahnsinn der letzten vierundzwanzig Stunden ungeschehen zu machen. Er hatte sämtlichen Stationen in Europa jedes Stückchen Information, das er aus den Akten graben konnte, zur Verfügung gestellt, und die Agenten der Achse Paris — London — Amsterdam alarmiert. Borowski war am Leben und war gefährlich; er hatte versucht, seinen Vorgesetzten aus Washington zu töten; er mußte irgendwo in der Nähe von Paris sein. Sämtliche Flughäfen und Bahnstationen wurden überwacht, sämtliche Netze, die es im Untergrund gab, gespannt. Man mußte ihn finden!
«Ja?«Conklin stützte sich auf den Tisch und nahm den Hörer ab.
«Hier ist Computer Block zwölf«, sagte eine energische männliche Stimme.»Wir haben vielleicht etwas. Zumindest hat das Außenministerium keine Angaben darüber.«
«Was haben Sie denn, um Himmels willen?«
«Der Name, den Sie uns vor vier Stunden durchgegeben haben. Washburn.«
«Was ist damit?«
«Ein George P. Washburn ist gestern mit Diplomatenpaß von Paris abgeflogen und heute morgen mit einem Flug der Air France in Kennedy angekommen. Washburn ist ein ziemlich verbreiteter Name; er könnte natürlich ein ganz gewöhnlicher Geschäftsmann mit Verbindungen sein, aber der Name hatte einen Stern auf dem Bildschirm, und da er einen NATO-Diplomatenstatus hatte, haben wir beim Außenministerium nachgefragt. Sie haben noch nie etwas von ihm gehört. Es gibt keinen Washburn, der zur Zeit NATO-Verhandlungen mit der französischen Regierung führt.«
«Wie, zum Teufel, kam es dann, daß er einen Diplomatenstatus hatte und durchgecheckt wurde? Wer hat ihm denn den Diplomatenstatus verpaßt?«
«Wir haben in Paris nachgeforscht; es war nicht leicht. Offenbar lief es auf eine Gefälligkeit des Conseiller Militaire hinaus.«
«Der Conseiller? Wie, zum Teufel, kommen die dazu, unsere Leute durchzuchecken?«
«Es brauchen gar nicht >unsere< Leute zu sein oder >ihre< Leute; es kann jeder beliebige sein. Nur ein kleiner Akt der Höflichkeit seitens des Gastgeberlandes, und hier handelte es sich um einen französischen Kurier. Das ist eine Möglichkeit, sich in einer bereits überfüllten Maschine einen ordentlichen Platz zu verschaffen. Übrigens, Washburns Paß stammte nicht einmal aus den USA. Er war britisch.«
Es gibt da einen Arzt, einen Engländer namens Washburn…
Das war er! Das war Delta, und der Conseiller von Frankreich hatte ihn unterstützt. Aber warum New York? Was gab es in New York für ihn? Und wen gab es in Paris an so hoher Stelle, um Delta behilflich sein zu können? Was hatte er ihnen gesagt? Herrgott! Wieviel mochte er ihnen wohl gesagt haben?
«Wann kam die Maschine an?«fragte Conklin.
«Um zehn Uhr siebenunddreißig. Vor gut einer Stunde.«
«All right«, sagte der Mann, der seinen Fuß im Dienste Medusas verloren hatte, und ließ sich mühsam wieder in seinen Sessel zurückfallen.»Sie haben geliefert, und jetzt möchte ich, daß das alles von den Bändern gelöscht wird. Sie müssen es vernichten. Alles, was Sie mir gegeben haben. Ist das klar?«
«Verstanden, Sir. Gelöscht, Sir.«
Conklin legt auf. New York. New York? Nicht Washington, sondern New York! In New York war nichts mehr. Delta wußte das.
Wenn er hinter einem Mitglied von Treadstone her war — wenn er hinter ihm her war —, hätte er einen Flug direkt nach Dulles genommen. Wieso dann New York?
Und weshalb hatte Delta absichtlich den Namen Washburn gebraucht? Ebensogut hätte er seine Strategie telegrafisch bekanntgeben können; er wußte, daß der Name über kurz oder lang auffallen würde… Später… nachdem er in den Staaten war! Delta signalisierte damit den Nachfolgern Treadstones, daß er aus einer Position der Stärke zu verhandeln gedachte. Er konnte nicht nur Treadstone auffliegen lassen, sondern ganze Netze, die er als Cain benutzt hatte; Lauschposten und Ersatzkonsulate, die nicht mehr als elektronische Spionagestationen waren… selbst Medusa. Seine Verbindung, die zum Conseiller Militaire reichte, es war Treadstone Beweis genug, wie hoch er aufgestiegen war. Es besagte, daß nichts ihn aufhalten konnte, im Gegenteil, eine erlesene Gruppe von Strategen ihm behilflich war. Verdammt! Was sollte das Ganze? Er besaß Millionen; er hätte untertauchen können!
Conklin schüttelte den Kopf, er erinnerte sich. Es hatte eine
Zeit gegeben, in der er zugelassen hätte, daß Delta untertauchte; das hatte er ihm auch vor zwölf Stunden in einem Friedhof außerhalb von Paris gesagt. Es gab für alles seine Grenzen, das wußte niemand besser als Alexander Conklin, der einmal zu den besten Außenbeamten in der Abwehr gehört hatte. Die abgedroschenen Reden, daß er ja immerhin noch am Leben war, wurden im Laufe der Zeit schal und bitter. Was ein Gebrechen aus einem machte, hing davon ab, was man vorher war. Grenzen… Aber Delta tauchte nicht unter! Er kam mit verrückten Erklärungen, verrückten Forderungen zurück… Taktiken, wie sie kein erfahrener Abwehrmann auch nur in Betracht ziehen würde. Denn ganz gleich, wieviel hochexplosive Information er besaß, kein Mann begab sich bei wachem Verstand in ein Minenfeld, das von seinen Feinden umgeben war. Kein Mann. Kein vernünftiger Mann. Conklin beugte sich langsam in seinem Sessel nach vorne.
Ich bin nicht Cain. Es hat ihn nie gegeben. Es hat mich nie gegeben! Ich war nicht in New York… Das war Carlos. Nicht ich, Carlos! Wenn das, was Sie sagen, an der Einyndsiebzigsten Straße so abgelaufen ist, dann war er es. Er weiß es!
Aber Delta war doch in der Backsteinvilla an der Einundsiebzigsten Straße gewesen. Abdrücke — Mittel- und Zeigefinger der rechten Hand. Und jetzt war auch die Transportmethode erklärt: Air France, der Conseiller Militaire
Faktum: Carlos konnte das nicht gewußt haben.
Dinge drängen sich mir auf… Gesichter, Straßen, Gebäude. Bilder, die ich nicht unterbringen kann… Ich kenne tausend Fakten über Carlos, aber ich kenne nicht den Grund dafür!
Conklin schloß die Augen. Es gab da einen Satz, einen einfachen Codesatz, der benutzt worden war, als Treadstone seinen Anfang nahm. Wie war er doch? Er kam von Medusa… Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain.
Das war es. Cain für Carlos. Delta-Borowski wurde der Cain, der der Lockvogel für Carlos war.
Conklin schug die Augen auf. Jason Borowski sollte lljitsch Ramirez Sanchez ersetzen. Das war die ganze Strategie von Treadstone Seventy-One. Das war der Schlüssel für das ganze Netz von Täuschungen, das Carlos aus seinem Versteck herauslocken und in ihr Schußfeld ziehen sollte.
Borowski. Jason Borowski. Der völlig unbekannte Mann, ein Name, der seit über einem Jahrzehnt begraben war, ein Stück menschlicher Schutt, den man in einem Dschungel zurückgelassen hatte. Aber er hatte existiert; auch das war Teil der Strategie.
Conklin blätterte in den Aktendeckeln, die auf seinem Schreibtisch lagen, bis er den fand, den er suchte. Er hatte keinen Titel, nur eine Initiale und zwei Nummern, und dahinter ein schwarzes X, was andeutete, daß es sich um den einzigen Aktendeckel handelte, der die Ursprünge von Treadstone enthielt.
T- 71 X. Die Geburt von Treadstone Seventy-One.
Er schlug den Aktendeckel auf und hatte beinahe Angst vor dem, was er in dem Ordner wußte.
Tag der Exekution. Tam Quan-Sektor. 25. März…
Conklins Augen wanderten zu dem Kalender auf seinem Schreibtisch.
24. März.
«O mein Gott«, flüsterte er und griff nach dem Telefon.
Dr. Morris Panov durchschritt die Doppeltüren der Psychiatrieabteilung im dritten Stock des
Marinekrankenhauses von Bethesda und trat auf den Tresen der Schwestern zu. Er lächelte der uniformierten Schwesternhelferin zu, die unter den strengen Blicken der Stationsschwester Karteikarten ordnete. Offenbar hatte die junge Lehrschwester eine Patientenkarte — wenn nicht gar einen Patienten — verlegt, und ihre Vorgesetzte war dabei, ihr klarzumachen, daß das nicht wieder passieren dürfte.
«Sie dürfen sich von Annies strenger Miene nicht täuschen lassen«, sagte Panov zu dem aufgeregten Mädchen.»Unter diesen kalten, unmenschlichen Augen steckt ein Herz aus purem Gold. Aber in Wirklichkeit ist sie vor zwei Wochen aus dem fünften Stock entkommen, und wir haben alle Angst, es jemandem zu sagen.«
Die Schwesternhelferin kicherte, während die Oberschwester verzweifelt den Kopf schüttelte. Das Telefon klingelte.
«Würden Sie das bitte nehmen«, sagte Annie zu dem jungen Mädchen. Die Helferin nickte und eilte zum Schreibtisch. Die Schwester wandte sich Panov zu.»Doktor Mo, wie soll ich denen jemals etwas in den Kopf trichtern, wenn Sie die ganze
Zeit Scherze machen?«
«Nur mit viel Liebe, Annie, meine Liebe. Mit Liebe. Aber Sie dürfen dabei Ihre Ketten nicht verlieren.«
«Sie sind unverbesserlich. Sagen Sie, wie geht es Ihrem Patienten in Fünf-A? Ich weiß, daß Sie sich Sorgen um ihn machen.«
«Die mach ich mir immer noch.«
«Ich höre, daß Sie die ganze Nacht wach geblieben sind.«
«Um drei Uhr früh war ein Film im Fernsehen, den ich mir ansehen wollte.«
«Passen Sie auf sich auf, Mo«, sagte die Schwester mütterlich,»Sie sind noch zu jung, um hier drinnen zu enden.«
«Und vielleicht schon zu alt, um noch eine andere Wahl zu haben. Aber vielen Dank.«
Plötzlich bemerkten Panov und die Schwester, daß er ausgerufen wurde. Die junge Schwesternhelferin am Schreibtisch sprach ins Mikrophon:
«Doktor Panov, bitte. Telefonanruf für — «
«Ich bin Doktor Panov«, sagte der Psychiater sanft zu dem Mädchen.»Wir wollen nur, daß niemand das erfährt. Annie Donovan hier ist in Wirklichkeit meine Mutter aus Polen. Wer ist denn dran?«
Die Hilfsschwester sah auf Panovs Ausweiskarte an seinem weißen Mantel; dann riß sie die Augen auf und erwiderte:»Ein Mister Alexander Conklin, Sir.«
«Oh?«Panov war sichtlich überrascht. Alex Conklin war im Laufe der letzten fünf Jahre einige Male sein Patient gewesen, bis sie beide übereinstimmend zu dem Schluß gekommen waren, daß seine Psyche sich dem Schreibtischdasein so gut angepaßt hatte, wie das eben möglich war. Was auch immer Conklin wollte, es war bestimmt einigermaßen wichtig, sonst hätte er nicht in Bethesda, sondern in seiner Praxis angerufen.»Wo kann ich das Gespräch führen, Annie?«
«Zimmer eins«, sagte die Schwester und wies auf die andere Seite des Korridors.»Das ist leer. Ich lasse das Gespräch durchstellen.«
Panov ging auf die Türe zu und begann sich irgendwie unbehaglich zu fühlen.
«Ich brauche ein paar sehr schnelle Antworten, Mo«, sagte Conklin mit gepreßter Stimme.
«Ich versteh' mich nicht besonders gut auf schnelle Antworten, Alex. Warum kommen Sie nicht heute nachmittag
einfach vorbei?«
«Es betrifft nicht mich. Es geht um jemand anderen. Möglicherweise.«
«Keine Spielchen, bitte. Ich dachte, das hätten wir hinter uns.«
«Das sind keine Spielchen. Es geht um einen Vier-NullFall. Ich brauche Hilfe.«
«Vier-Null? Dann sollten Sie einen Ihrer Leute einschalten. Ich habe noch nie die Art von Sicherheitsfreigabe beantragt.«
«Das kann ich nicht. Ich sage Ihnen ja, daß es ein schwieriger Fall ist.«
«Dann sollten Sie es vielleicht dem Herrgott zuflüstern.«
«Mo, bittel Ich muß nur ein paar Möglichkeiten untersuchen und bestätigen. Den Rest kann ich mir selbst zusammenreimen. Und ich hab' nicht einmal fünf Sekunden zu vergeuden. Da läuft möglicherweise ein Mann herum, der einem Phantom nachjagt und jeden, der sich ihm in den Weg stellt, beseitigt. Sein Geist ist verwirrt, und er ist ohne seinen Willen zu einem Werkzeug seines Wahnsinns geworden. Helfen Sie mir, helfen Sie ihm!«
«Wenn ich kann. Also, sprechen Sie.«
«Ein Mann wird über einen langen Zeitraum hinweg einer Situation von höchstem Streß ausgesetzt, die ganze Zeit im Untergrund. Die Tarnpersönlichkeit, die man ihm aufgesetzt hat, ist ein Lockvogel — eine gefährliche Situation, in der er einem ständigen Druck ausgesetzt ist. Der Zweck des Ganzen ist, eine Zielperson hervorzulocken und fertigzumachen, die dem Lockvogel sehr ähnlich ist, indem die Zielperson überzeugt wird, daß der Lockvogel sie bedroht… Konnten Sie mir bisher folgen?«
«Bisher schon«, sagte Panov.»Wenn ich recht verstehe, ist der Lockvogel einem dauerndem Druck ausgesetzt, er muß gewissermaßen in die Rolle eines Verbrechers schlüpfen. In welcher Umgebung hat sich das alles abgespielt?«
«In der brutalsten Umgebung, die Sie sich vorstellen können.«
«Über wie lange Zeit?«
«Drei Jahre.«
«Du lieber Gott«, sagte der Psychiater.»Ohne Pause?«
«Überhaupt keine. Vierundzwanzig Stunden täglich, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Drei Jahre. In einer fremden Haut.«
«Wann werdet ihr verdammten Narren es endlich einmal kapieren? Selbst Gefangene in den schlimmsten Lagern können wenigstens sie selbst sein und mit anderen sprechen, die auch sie selbst sind — «Panov hielt inne und begann zu begreifen, was Conklin meinte.»Das ist es, worauf Sie hinauswollen, nicht wahr?«
«Ich bin nicht sicher«, antwortete der Abwehrbeamte.»Es ist alles nebelhaft, verwirrend, widerspricht sich teilweise. Meine Frage ist die: könnte ein Mann unter diesen Umständen anfangen, sich mit der Person des Lockvogels zu identifizieren und seine Eigenschaften annehmen, die künstliche Person nach und nach so absorbieren, daß er am Ende glaubt, die Person selbst zu sein?«
«Die Antwort auf diese Frage ist so offenkundig, daß es mich überrascht, Sie sie stellen zu hören. Natürlich könnte er das. Es ist sogar wahrscheinlich, daß er es tut. Das ist eine unmenschliche psychische Belastung, die kein Mensch ohne Schaden übersteht. Es ist die Hölle. Ein Schauspieler, der die Bühne nie verläßt, in einem Stück, das nie endet. Tag für Tag und Nacht für Nacht. «Wieder hielt der Arzt inne und fuhr dann vorsichtig fort:»Aber das ist in Wirklichkeit gar nicht Ihre Frage, oder?«
«Nein«, erwiderte Conklin.»Ich gehe noch einen Schritt weiter. Über den Lockvogel hinaus. Das muß ich; das ist das einzige, was noch einen Sinn abgibt.«
«Augenblick«, unterbrach Panov ihn scharf.»Sie sollten jetzt besser Schluß machen, weil ich nicht irgendeine Blinddiagnose bestätige. Nicht für das, worauf Sie hinauswollen. Kommt nicht in Frage, Charlie.«
«>Kommt nicht in Frage… Charlie.< Warum haben Sie das gesagt, Mo?«
«Wieso fragen Sie? Das ist so ein dummer Satz, ich höre ihn die ganze Zeit. Junge Leute in schmutzigen Blue Jeans sagen das an jeder Straßenecke, Nutten in meinen Lieblingslokalen.«
«Woher wissen Sie denn, worauf ich hinaus will?«fragte der Mann vom CIA.
«Weil ich die entsprechenden Bücher kenne, und Sie nicht besonders subtil vorgegangen sind. Wir haben es hier mit einem klassischen Fall paranoider Schizophrenie zu tun. Es geht hier ferner nicht nur um Ihren Mann, der die Rolle des Lockvogels übernommen hat, sondern auch um den Lockvogel,
der seine Identität auf die Person übertragen hat, hinter der er her ist. Das Ziel. Darauf wollen Sie doch hinaus, Alex. Sie wollen mir klarmachen, daß Ihr Mann drei Leute sind: er selbst, der Lockvogel und das Ziel. Und ich wiederhole — kommt nicht in Frage, Charlie. Ohne eine gründliche Untersuchung bestätige ich nichts, was dem auch nur entfernt nahe kommt. Damit würde ich Ihnen Rechte einräumen, die Sie nicht haben dürfen: drei Gründe, einen Menschen zu
beseitigen. Kommt nicht in Frage!«
«Ich verlange von Ihnen nicht, daß Sie etwas bestätigen! Ich will nur wissen, ob es möglich ist. Um Himmels willen, Mo, da gibt es einen Mann, der förmlich als Mordmaschine ausgebildet ist und der mit einer Waffe herumläuft und Leute tötet, von denen er behauptet, er hätte sie nicht gekannt, aber mit denen er drei Jahre lang zusammengearbeitet hat. Er leugnet, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewesen zu sein, obwohl seine Fingerabdrücke das beweisen. Er sagt, Bilder drängten sich in sein Bewußtsein — Gesichter, die er nicht unterbringen kann, Namen, die er gehört hat und von denen er auch nicht weiß, wo er sie gehört hat. Er behauptet, er sei nie der Lockvogel gewesen; er sei das nie gewesen! Aber er war es! Ist das möglich? Das ist alles, was ich wissen möchte. Könnte der Streß, die Länge der Zeit und die tägliche Belastung ihn so zerbrechen? Daß er in die Rolle dreier Persönlichkeiten schlüpft?«
Panov hielt einen Augenblick den Atem an.»Möglich ist es«, sagte er mit leiser Stimme.»Wenn Ihre Fakten zutreffen, ist es möglich. Das ist alles, was ich sage, weil es zu viele andere Möglichkeiten gibt.«
«Danke. «Conklin hielt inne.»Eine letzte Frage. Sagen wir, es gäbe da ein Datum — einen Monat und einen Tag — das in der konstruierten Akte eine bestimmte Bedeutung hatte — der Akte des Lockvogels.«
«Sie müssen sich schon deutlicher ausdrücken.«
«Bitte. Es war das Datum, an dem der Mann, dessen Identität für den Lockvogel ausgewählt wurde, getötet wurde.«
«Also offensichtlich nicht ein Teil der Arbeitsakte, aber Ihrem Mann bekannt. Ist es das, was Sie sagen wollen?«
«Ja, er kannte es. Wir wollen sagen, daß er dort war. Würde er sich erinnern?«
«Nicht als Lockvogel.«
«Aber als einer der beiden anderen?«
«Wenn wir annehmen, daß die Zielperson dieses Datum auch kannte oder es im Rahmen dieser Transferenz mitgeteilt hatte, dann ja.«
«Es gibt dann noch einen strategischen Ort, wo der Lockvogel geschaffen wurde. Wenn unser Mann sich in der Umgebung dieses Ortes aufhielte und der Todestag des Lockvogels sich zum soundsovielten Male jährte, würde er sich dann zu diesem Ort hingezogen fühlen? Würde er für ihn wichtig werden?«
«Ja, wenn er mit dem ursprünglichen Ort des Todes in Verbindung stand. Denn dort ist der Lockvogel geboren worden; es ist möglich. Es würde davon abhängen, wer er in diesem Augenblick ist.«
«Angenommen, er wäre die Zielperson?«
«Und würde den Ort kennen — Dann würde er sich hingezogen fühlen, das wäre ein unbewußter Zwang.«
«Warum?«
«Um den Lockvogel zu töten. Er würde jeden töten, der ihm vor die Augen kommt, aber sein Hauptziel wäre der Lockvogel. Er selbst.«
Alexander Conklin legte den Hörer auf die Gabel, sein Beinstumpf tat ihm weh, die Gedanken gingen in seinem Kopf so durcheinander, daß er die Augen schließen mußte, um sich zu konzentrieren. Er hatte in Paris unrecht gehabt… in einem Friedhof außerhalb von Paris. Er hatte einen Mann aus den falschen Gründen töten wollen, weil die richtigen Gründe sein Begriffsvermögen überstiegen. Er hatte es wirklich mit einem Wahnsinnigen zu tun. Jemandem, dessen Gebrechen sich nicht durch zwanzig Jahre Ausbildung erklären ließen, die man allerdings verstehen konnte, wenn man an all die Schmerzen, die Verluste, die endlose Gewalt dachte… die alle keinen Sinn abgaben. Niemand wußte wirklich etwas. Es war alles sinnlos. Ein Carlos ging in die Falle, wurde heute getötet, und morgen würde ein anderer an seine Stelle treten. Warum taten wir das… David?
David. Endlich spreche ich deinen Namen aus. Wir waren einmal Freunde, David… Delta. Ich kannte deine Frau und deine Kinder. Wir haben zusammen getrunken und ein paarmal zusammen zu Abend gegessen, auf irgendwelchen fernen Stationen in Asien. Du warst der beste Beamte des Außenministeriums im ganzen Orient. Jeder wußte das. Du warst im Begriff, zu einer Schlüsselfigur in der Politik, einer menschlicheren Politik, aufzusteigen. Es war eine Chance. Und dann passierte die Katastrophe. Im Mekong war es. Dann hast du dich auf die andere Seite geschlagen, David. Wir haben alle unsere Hoffnungen begraben müssen, aber nur einer von uns wurde Delta. In Medusa. So gut kannte ich dich nicht — ein paar Drinks und ein oder zwei gemeinsame Abendessen schaffen noch keine Vertrautheit — aber nur wenige von uns werden zu Tieren. Du bist eines geworden, Delta.
Und jetzt mußt du sterben. Niemand kann sich mehr leisten, dich am Leben zu lassen. Keiner von uns.
«Lassen Sie uns bitte allein«, sagte General Villiers zu seinem Adjutanten, als er sich in dem Cafe in Montmartre gegenüber von Marie St. Jacques an den Tisch setzte. Der Adjutant nickte und begab sich an einen zehn Schritte von der Nische entfernten Tisch; er hatte seinen Vorgesetzten alleine gelassen, hielt sich aber immer noch im Hintergrund. Villiers sah Marie an, Erschöpfung lag in seinen Augen.
«Warum haben Sie darauf bestanden, daß ich hierher komme? Er wollte, daß Sie Paris verlassen. Ich habe ihm mein Wort gegeben.«
«Paris verlassen und aus dem Rennen ausscheiden«, sagte Marie, der der Anblick des abgehärmten Gesichtes des alten Mannes naheging.»Es tut mir leid. Ich will Ihnen nicht auch noch eine Last sein. Ich habe die Berichte im Radio gehört.«
«Wahnsinn«, sagte Villiers und griff nach dem Cognac, den sein Adjutant für ihn bestellt hatte.»Drei Stunden mit der Polizei, drei Stunden, in denen ich eine schreckliche Lüge leben mußte, in denen ein Mann in seiner Abwesenheit für ein Verbrechen verurteilt wurde, das einzig und alleine das meine war.«
«Die Beschreibung war so genau, unheimlich genau. Niemand wird ihn verfehlen.«
«Er hat sie mir selbst gegeben. Er saß vor dem Spiegel meiner Frau und hat mir gesagt, was ich sagen sollte, hat sein eigenes Gesicht auf höchst seltsame Art betrachtet. Er sagte, das sei die einzige Möglichkeit. Carlos könnte nur überzeugt werden, wenn ich zur Polizei ginge und die Jagd auslöste. Er hatte natürlich recht.«
«Er hatte recht«, nickte Marie,»aber er ist nicht in Paris,
Brüssel, oder Amsterdam.«
«Wie bitte?«
«Ich möchte, daß Sie mir sagen, wohin er gegangen ist.«
«Das hat er Ihnen doch selbst gesagt.«
«Er hat mich belogen.«
«Wie können Sie das so sicher wissen?«
«Weil ich weiß, wenn er mir die Wahrheit sagt. Sehen Sie, wir haben nämlich beide ein Ohr für die Wahrheit.«
«Ein Ohr für die Wahrheit…? Das verstehe ich nicht.«
«Das habe ich auch nicht angenommen; ich war sicher, daß er es Ihnen nicht gesagt hatte. Als er mich am Telefon belog, als er die Dinge sagte, die er so zögernd vorbrachte, weil er wußte, daß ich wußte, daß es Lügen waren, konnte ich das nicht verstehen. Ich habe mir erst ein Bild daraus gemacht, nachdem ich die Berichte im Radio gehört hatte. Diese Beschreibung… so vollständig, so total, bis zu der Narbe an seiner linken Schläfe. Dann wußte ich es. Er würde nicht in Paris bleiben oder im Umkreis von fünfhundert Meilen um Paris. Er würde weit weg gehen — an einen Ort, wo diese Beschreibung nicht sehr viel bedeutete —, wohin man Carlos locken konnte, um ihn an die Leute auszuliefern, mit denen Jason seine Übereinkunft getroffen hatte. Habe ich recht?«
Villiers stellte das Glas auf den Tisch.»Ich habe mein Wort gegeben. Ich muß Sie an einen sicheren Ort auf dem Lande bringen. Ich verstehe die Dinge nicht, die Sie sagen.«
«Dann werde ich versuchen, mich klarer auszudrücken«, sagte Marie und lehnte sich vor.»Im Radio war noch ein weiterer Bericht, den haben Sie wahrscheinlich nicht gehört, weil Sie noch mit der Polizei zu tun hatten. Man hat heute morgen in einem Friedhof in der Nähe von Rambouillet zwei Männer erschossen aufgefunden. Der eine war ein bekannter Killer aus Saint-Gervais. Der andere ist als ein ehemaliger Beamter der amerikanischen Spionageabwehr identifiziert worden, der in Paris lebte, ein höchst zwielichtiger Mann, der einen Journalisten in Vietnam getötet hatte und dem man die Wahl gelassen hatte, aus der Armee auszutreten oder vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden.«
«Wollen Sie damit sagen, daß diese Ereignisse miteinander in Verbindung stehen?«fragte der alte Mann.
«Jason hatte Anweisung seitens der amerikanischen Botschaft, letzte Nacht zu diesem Friedhof zu fahren, um sich mit einem Mann zu treffen, der aus Washington
herübergeflogen war.«
«Aus Washington?«
«Ja. Er hatte mit einer kleinen Gruppe von Leuten aus der amerikanischen Abwehr zu tun. Sie haben letzte Nacht versucht, ihn zu töten.«
«Du großer Gott, warum?«
«Weil sie ihm nicht vertrauen. Sie wissen nicht, was er getan hat und wo er sich über einen längeren Zeitraum hinweg aufgehalten hat, und er kann es ihnen nicht sagen. «Marie hielt inne und schloß kurz die Augen.»Er weiß nicht, wer er ist. Er weiß nicht, wer sie sind, und der Mann aus Washington hat andere Männer dafür bezahlt, ihn letzte Nacht zu töten. Dieser Mann war nicht bereit, ihn anzuhören; die glauben, daß er sie um Millionen betrogen und Männer getötet hat, die er nie kannte. Das stimmt natürlich nicht. Aber er hat auch keine klaren Antworten parat. Er ist ein Mann, dessen Gedächtnis nur aus Fragmenten besteht. Er leidet unter fast völliger Amnesie.«
Villiers faltiges Gesicht war vor Erstaunen erstarrt, seine Augen blickten schmerzerfüllt.»Die haben überall Männer… und die haben Befehl, mich zu töten, sobald sie mich zu Gesicht bekommen«, hat er zu mir gesagt.»Ich werde von Männern gejagt, die ich nicht kenne und nicht sehen kann. Und ich kenne die Gründe nicht.«
«Sie werden auf ihn warten, wohin auch immer er geht.«
«Wissen diese Männer, wohin er gegangen ist?«
«Er wird es ihnen sagen, das ist ein Teil seiner Strategie. Und wenn er das tut. werden sie ihn töten. Er läuft in seine eigene Falle.«
Einen Augenblick lang war Villiers stumm. Seine Schuld schien ihn zu überwältigen. Schließlich sagte er im Flüsterton:»Allmächtiger Gott, was habe ich getan?«
«Was Sie für richtig hielten. Das, wovon er Sie überzeugt hatte, daß es richtig war. Sie können sich keine Schuld geben. Ihm auch nicht.«
«Er sagte, er würde alles aufschreiben, was ihm zugestoßen war. Alles, woran er sich erinnerte… Wie schmerzlich das für ihn gewesen sein muß! Ich kann jenen Brief gar nicht erwarten, Mademoiselle. Wir können nicht warten. Ich muß alles wissen, das Sie mir sagen könnten, jetzt.«
«Was können Sie tun?«
«Zum amerikanischen Botschafter gehen. Jetzt. Sofort.«
Marie St. Jacques zog langsam ihre Hand zurück und lehnte sich an die Nischenwand, so daß ihr dunkelrotes Haar auf dem Holz lag. Ihre Augen blickten in weite Ferne und waren von Tränen umnebelt.»Er hat mir erzählt, daß sein Leben für ihn auf einer kleinen Insel im Mittelmeer begann, die Ile de Port Noir heißt… «
Der Außenminister schritt verärgert in das Büro des Direktors der Consular Operations, dem Referenten des Ministeriums, dem die geheimdienstlichen Aktivitäten unterstanden. Er ging quer durch das Zimmer auf den Schreibtisch des erstaunten Beamten zu, der sich unwillkürlich erhob, als er diesen mächtigen Mann sah. Sein Gesichtsausdruck zeigte eine Mischung von Schock und Verwirrung.
«Herr Minister?… Ihr Büro hat mich nicht verständigt. Ich wäre sofort zu Ihnen hinaufgekommen.«
Der Außenminister knallte einen Schreibblock auf den Tisch des Direktors. Auf der obersten Seite standen sechs Namen, die mit den kräftigen Strichen eines Filzschreibers hingeschrieben waren.
BOROWSKI
DELTA
MEDUSA
CAIN
CARLOS
TREADSTONE.
«Was hat das zu bedeuten?«fragte der Außenminister.»Was, zum Teufel, soll das?«
Der Direktor von Cons-Op beugte sich über den Schreibtisch.»Ich weiß nicht, Sir. Es sind natürlich Namen. Ein Code für das Alphabet — der Buchstabe D — und ein Hinweis auf Medusa; das ist noch geheim, aber ich habe davon gehört. Und ich vermute, >Carlos< bezieht sich auf den Terroristen; ich wünschte, wir wüßten mehr über ihn. Aber von >Borowski< oder >Cain< oder >Treadstone< habe ich nie gehört.«
«Dann kommen Sie in mein Büro und hören Sie sich die Bandaufzeichnung eines Telefongesprächs an, das ich gerade mit Paris geführt habe, dann werden Sie alles darüber erfahren!«brauste der Außenminister auf.»Auf diesem Band sind außergewöhnliche Dinge zu hören, darunter Morde in
Ottawa und Paris und ein paar höchst seltsame Geschäfte, die unser Erster Sekretär in der Montaigne mit einem CIA-Mann hatte. Dann gibt es ein paar unverzeihliche Lügen gegenüber den Behörden auswärtiger Regierungen, gegenüber unseren eigenen Abwehreinheiten und gegenüber den europäischen Zeitungen — das alles ohne mein Wissen und ohne meine ausdrückliche Billigung. Es hat da ein weltweites Täuschungsmanöver gegeben, durch das Fehlinformationen in ungeheurem Ausmaß verbreitet wurden. Wir fliegen jetzt unter strengstem diplomatischen Schutz eine Kanadierin herüber — eine Beamtin im Wirtschaftsministerium in Ottawa, die in Zürich wegen Mordes gesucht wird. Wir werden gezwungen, einer Flüchtigen Asyl zu gewähren, die Gesetze zu brechen — weil wir, wenn diese Frau die Wahrheit sagt, den Arsch im Feuer haben! Ich möchte wissen, was hier vorgegangen ist. Streichen Sie Ihre sämtlichen Termine — ich meine wirklich alle. Sie werden den Rest des Tages und die ganze Nacht, wenn es sein muß, damit verbringen, diesen verdammten Mist auszugraben. Da läuft ein Mann herum, der nicht weiß, wer er ist, der aber mehr Geheiminformationen in seinem Kopf herumträgt, als zehn Abwehrcomputer!«
Dem erschöpften Direktor von Consular Operations gelang es erst nach Mitternacht, die Verbindung herzustellen; beinahe hätte er sie verpaßt. Der Erste Sekretär der Pariser Gesandtschaft hatte ihm auf die Drohung seiner sofortigen Entlassung hin Alexander Conklins Namen genannt, aber Conklin war nirgends zu finden. Er war am Morgen mit einer Militärmaschine aus Brüssel nach Washington zurückgekehrt, hatte aber Langley um dreizehn Uhr zweiundzwanzig verlassen und keine Telefonnummer — nicht einmal für Notfälle — hinterlassen. Nach allem, was der Direktor über Conklin erfahren hatte, war das eine außergewöhnliche Nachlässigkeit. Der CIA-Mann galt allgemein als das, was man in Fachkreisen einen Haifisch-Killer bezeichnete; er war für individuelle Strategien überall auf der Welt verantwortlich, wo man Verrat oder gar das Überlaufen von Schlüsselagenten befürchtete. Es gab zu viele Männer in zu vielen Stationen, die zu beliebiger Zeit seine Billigung benötigen konnten. Es war einfach nicht logisch, daß er sich auf die Dauer von zwölf Stunden völlig aus dem Verbindungsnetz ausschaltete. Ebenso ungewöhnlich war die Tatsache, daß seine Telefonlisten gelöscht waren; es gab keine für die letzten zwei Tage — und die Central Intelligence Agency hatte in Bezug auf diese Telefonbücher sehr genaue Vorschriften. Die neue Administration legte großen Wert darauf, daß die Verantwortlichkeit im Einzelfalle den richtigen Personen zugeschrieben werden konnte.
Aber eine Tatsache hatte der Direktor von Cons-Op erfahren: Conklin war mit Medusa in Verbindung gestanden.
Indem er die ganze Macht des State Department einsetzte, hatte der Direktor Einblick in die Telefonlisten Conklins für die letzten fünf Wochen erzwungen. Die Agency hatte sie höchst widerstrebend über eine sichere Leitung durchgegeben, und dann war der Direktor zwei Stunden lang vor einem Bildschirm gesessen und hatte die Bedienungspersonen in Langley aufgefordert, das Band immer wieder zu wiederholen, bis er ihnen schließlich befohlen hatte, es anzuhalten.
Sechsundachtzig logische Kontaktpersonen waren angerufen worden, und man hatte das Wort Treadstone erwähnt; keiner hatte reagiert. Dann wandte er sich den möglichen Kontakten zu; da gab es einen Mann aus dem Heer, den er nicht in Betracht gezogen hatte, weil seine Abneigung gegenüber der CIA geradezu sprichwörtlich war. Aber Conklin hatte ihn vor einer Woche zweimal im Zeitraum von zwölf Minuten angerufen. Der Direktor rief seine Gewährsleute im Pentagon an und fand, was er suchte: Medusa. Brigadegeneral Irwin Arthur Crawford, gegenwärtig dienstältester Offizier, dem die Datenbänke der Heeresabwehr unterstanden, ehemals in Saigon für sämtliche Untergrundaktivitäten zuständig — immer noch sicherheitsüberprüft. Medusa.
Der Direktor griff nach dem Telefon im Konferenzzimmer; es war so geschaltet, daß es an der Vermittlung vorbeiging. Er wählte die Privatnummer des Brigadegenerals in Fairfax, und Crawford meldete sich beim vierten Klingeln. Der Mann aus dem Außenministerium gab sich zu erkennen und fragte den General, ob er das Außenministerium zurückrufen und sich vermitteln lassen wolle, um damit eine Bestätigung der Identität des Anrufers zu haben.
«Warum sollte ich das wollen?«
«Es betrifft eine Angelegenheit, die unter das Thema Treadstone fällt.«
«Ich rufe zurück.«
Das tat er in achtzehn Sekunden, und im Laufe der nächsten zwei Minuten hatte der Direktor die großen Umrisse der ihm
zur Verfügung stehenden Informationen durchgegeben.
«Nichts, was uns nicht schon bekannt wäre«, sagte der Brigadier.»Es hat dafür von Anfang an einen Kontrollausschuß gegeben, und das Oval Office hat binnen einer Woche nach Aufnahme der Aktivitäten eine vorläufige Zusammenfassung erhalten. Unser Ziel rechtfertigte das Vorgehen, da können Sie sicher sein.«
«Ich bin bereit, mich überzeugen zu lassen«, erwiderte der Mann aus dem Außenministerium.»Gibt es irgendeine Verbindung mit dieser Geschichte in New York vor einer Woche? Elliot Stevens — dieser Major Webb und David Abbott? Wo die Umstände, nun, wollen wir sagen, beträchtlich abgeändert wurden?«
«Die Änderungen waren Ihnen bekannt?«
«Ich bin der Leiter von Cons-Op, General.«
«Ich verstehe… Ihr Mann, dieser Borowski, ist gestern morgen nach New York geflogen.«
«Ich weiß. Wir wissen es beide — Conklin und ich. Wir sind die Erben.«
«Sie waren mit Conklin in Verbindung?«
«Ich habe zuletzt gegen ein Uhr nachmittags mit ihm gesprochen. Unaufgezeichnet. Offen gestanden, er hat es so gewollt.«
«Er hat Langley verlassen. Es gibt keine Nummer, wo man ihn erreichen kann.«
«Das weiß ich ebenfalls. Versuchen Sie es nicht. Mit allem Respekt, sagen Sie dem Minister, er soll sich da raushalten. Sie auch. Schalten Sie sich nicht ein.«
«Wir sind bereits eingeschaltet, General. Wir fliegen die Kanadierin unter diplomatischem Schutz herüber.«
«Um Himmels willen, warum?«
«Man hat uns dazu gezwungen.«
«Dann halten Sie sie isoliert. Das müssen Sie!«
«Ich glaube, das müssen Sie mir erklären.«
«Wir haben es mit einem Geistesgestörten zu tun. Mehrfache Schizophrenie. Er ist ein wandelndes
Erschießungskommando; er könnte bei einem einzigen Ausbruch ein Dutzend unschuldige Leute töten, eine einzige Explosion in seinem Bewußtsein, und er würde nicht einmal wissen, weshalb er es getan hat.«
«Woher wissen Sie das?«
«Weil er bereits getötet hat. Dieses Massaker in New York
— das war er. Er hat Stevens, den Mönch und Webb getötet
— ausgerechnet Webb — und zwei andere, von denen Sie noch nie gehört haben. Wir verstehen das jetzt. Er war nicht verantwortlich dafür, aber das ändert nichts. Überlassen Sie ihn uns. Überlassen Sie ihn Conklin.«
«Borowski?«
«Ja. Wir haben Beweise. Fingerabdrücke. Sie sind vom FBI bestätigt. Er war es.«
«Ein solcher Mann hinterläßt Fingerabdrücke?«
«Ja, das hat er.«
«Unmöglich«, sagte der Mann vom Außenministerium.
«Was?«
«Sagen Sie, wie kommen Sie darauf, daß er geistesgestört ist. Diese multiple Schizophrenie oder wie, zur Hölle, Sie es sonst nennen.«
«Conklin hat mit einem Psychiater gesprochen — einem der besten, die es gibt —, einer Autorität auf diesem Gebiet. Alex hat alles geschildert — mit brutaler Offenheit. Der Arzt hat unseren Verdacht bestätigt, Conklins Verdacht.«
«Er hat ihn bestätigt?« fragte der Direktor benommen.
«Ja.«
«Auf dem basierend, was Conklin sagte? Das, was er seinen Worten entnehmen konnte?«
«Es gibt keine andere Erklärung. Überlassen Sie ihn uns. Er ist unser Problem.«
«Sie sind ein verdammter Narr, General. Sie hätten bei Ihren Datenbanken bleiben sollen, oder vielleicht der primitiveren Artillerie.«
«Das verbitte ich mir.«
«Verbitten Sie es sich ruhig. Wenn Sie das getan haben, was ich glaube, daß Sie es getan haben, bleibt Ihnen vielleicht gar nichts anderes mehr übrig, als sich alles zu verbitten.«
«Erklären Sie das gefälligst etwas näher«, sagte Crawford verärgert.
«Sie haben es nicht mit einem Verrückten oder einem Geistesgestörten zu tun oder mit mehrfacher Schizophrenie — wovon Sie wahrscheinlich genausowenig verstehen wie ich. Sie haben es mit einem Mann zu tun, der unter Amnesie leidet, einem Mann, der seit Monaten versucht, herauszubekommen, wer er ist und woher er kommt. Und aus dem Mitschnitt eines Telefongesprächs, den wir hier haben, können wir entnehmen, daß er versucht hat, Ihnen das zu sagen — versucht hat, es
Conklin zu sagen. Conklin wollte nicht auf ihn hören. Keiner von Ihnen wollte auf ihn hören… Sie haben einen Mann auf drei Jahre als Schläfer hinausgeschickt — drei Jahre — um Carlos in die Falle zu locken. Und als die Strategie dann aufflog, nahmen Sie das Schlimmste an.«
«Amnesie?… Nein, Sie haben unrecht! Ich habe mit Conklin gesprochen; er hat ihm zugehört. Sie verstehen das nicht. Wir wußten beide — «
«Ich will seinen Namen nicht mehr hören!«unterbrach ihn der Direktor von Consular Operations.
Der General hielt inne.»Wir haben beide… Borowski… vor Jahren gekannt. Ich nehme an, Sie wissen, von woher; Sie haben mir den Namen vorgelesen. Er war der eigenartigste Mann, der mir je begegnet ist, genauso paranoid wie jeder in diesem Verein. Er hat Missionen übernommen — Risiken —, die kein vernünftiger Mann angenommen hätte. Aber er hat nie etwas verlangt. Er war voller Haß.«
«Und das machte ihn zehn Jahre später zu einem Kandidaten für ein psychiatrisches Krankenhaus?«
«Sieben Jahre«, verbesserte Crawford.»Ich habe zu verhindern versucht, daß er für Treadstone ausgewählt wurde. Aber der Mönch hat gesagt, er wäre der Beste. Ich hatte kein Argument dagegen, wenigstens aus meiner persönlichen Erfahrung. Aber ich habe aus meinen Einwänden keinen Hehl gemacht. Psychologisch war er ein Grenzfall; wir kannten die Gründe. Jetzt liefert er uns den Beweis, daß ich recht hatte. Darauf bestehe ich.«
«Auf gar nichts werden Sie bestehen, General. Auf Ihren eiserner Arsch werden Sie fallen. Weil der Mönch recht hatte. Ihr Mann ist der Beste, mit oder ohne Gedächtnis. Er bringt Carlos her, liefert ihn vor Ihre verdammte Haustüre. Das heißt, er bringt ihn, soforn Sie Borowski nicht vorher töten.«
Crawfords scharfer Atem war genau das, was der Direktor zu hören befürchtet hatte. So fuhr er fort:»Sie können Conklin nicht erreichen, oder?«fragte er.
«Nein.«
«Er ist untergetaucht, nicht wahr? Hat seine eigenen Vorkehrungen getroffen, Gelder durch Dritte und Vierte kanalisiert, die einander nicht kennen, so daß die Geldquelle nicht aufgedeckt werden kann und alle Verbindungen zur Agency und Treadstone verborgen sind. Und jetzt gibt es bereits Fotografien in den Händen von Männern, die Conklin nicht kennt und nicht erkennen würde, wenn sie ihn überfallen. Reden Sie nicht von Erschießungskommandos. Das Ihre ist aufmarschiert, aber Sie können es nicht sehen — Sie wissen nicht, wo es ist. Aber es ist vorbereitet — ein halbes Dutzend Karabiner, die schußbereit sind, sobald der Verurteilte in Sichtweite kommt. Schildere ich das Szenario richtig?«
«Sie erwarten doch von mir keine Antwort«, sagte Crawford.
«Das brauchen Sie nicht. Sie sprechen hier mit Consular Operations; mir ist alles das nicht neu. Aber in einem Punkt hatten Sie recht. Das ist Ihr Problem, Sie haben es voll am Hals. Wir haben damit nicht das geringste zu tun. Das kann ich dem Minister versichern. Das Außenministerium kann sich nicht leisten, zu wissen, wer Sie sind. Betrachten Sie diesen Anruf als unregistriert.«
«Verstanden.«
«Es tut mir leid«, sagte der Direktor aufrichtig. Er hörte die Niedergeschlagenheit in der Stimme des Generals.»Alles fliegt einmal auf.«
«Ja. Das haben wir bei Medusa gelernt. Was werden Sie mit der Frau machen?«
«Wir wissen noch nicht einmal, was wir mit Ihnen machen werden.«
«Das ist einfach. Eisenhower bei der Gipfelkonferenz: >Was für U-Zwos?< Wir machen mit; keine vorläufige
Zusammenfassung, nichts. Wir können dafür sorgen, daß die Kanadierin in Zürich reingewaschen wird.«
«Das werden wir ihr sagen. Vielleicht hilft das. Wir werden uns ringsum entschuldigen. Und was die Frau angeht, so werden wir es mit einer beträchtlichen Entschädigung versuchen.«
«Sind Sie sicher?« unterbrach Crawford.
«Mit der Entschädigung?«
«Nein. Der Amnesie. Ganz sicher?«
«Ich habe mir dieses Band wenigstens zwanzigmal angehört, ihre Stimme gehört. Ich bin mir in meinem ganzen Leben noch keiner Sache so sicher gewesen. Übrigens, sie ist vor ein paar Stunden eingetroffen. Sie ist jetzt im Pierre-Hotel unter Bewachung. Wir bringen sie morgen früh nach Washington, nachdem wir uns darüber klargeworden sind, was wir tun wollen.«
«Einen Augenblick!«Die Stimme des Generals klang plötzlich erregt.»Nicht morgen. Sie ist hier… Können Sie mir eine Genehmigung verschaffen, sie zu sehen?«
«Schaufeln Sie sich Ihr Grab nicht noch tiefer, General. Je weniger Namen sie kennt, desto besser. Sie war mit Borowski zusammen, als er die Botschaft anrief; sie weiß über den Ersten Sekretär und inzwischen wahrscheinlich auch über Conklin Bescheid. Könnte sein, daß selbst er dran glauben muß. Halten Sie sich raus.«
«Sie haben mir gerade gesagt, ich sollte es bis zum Ende weiterspielen.«
«Nicht so. Sie sind ein anständiger Mann, und ich bin das auch. Wir sind Profis.«
«Sie verstehen nicht! Wir haben Fotos, ja, aber die sind vielleicht nutzlos. Sie sind drei Jahre alt, und Borowski hat sich verändert, drastisch verändert, deshalb hat Conklin sich ja selbst eingeschaltet — wo, weiß ich nicht —, aber jedenfalls ist er dort. Er ist der einzige, der Borowski gesehen hat, aber es war Nacht und es regnete. Die Frau ist vielleicht unsere einzige Chance. Sie war mit ihm zusammen — hat wochenlang mit ihm gelebt. Sie kennt ihn. Es ist möglich, daß sie ihn vor irgend jemand anderem erkennen wird.«
«Ich verstehe nicht.«
«Dann will ich es Ihnen ganz deutlich sagen. Zu Borowskis vielen, vielen Talenten gehört die Fähigkeit, sein Aussehen zu verändern, in einer Menge unterzutauchen, oder in einem Feld oder zwischen Bäumen — einfach unsichtbar zu werden. Wenn das, was Sie sagen, zutrifft, erinnert er sich wahrscheinlich nicht, aber wir hatten bei Medusa einen Spitznamen für ihn. Seine Männer pflegten ihn… Chamäleon… zu nennen.«
«Das ist Ihr Cain, General.«
«Das war unser Delta. Es gab keinen wie ihn. Und deshalb kann die Frau helfen. Jetzt. Beschaffen Sie mir diese Genehmigung! Lassen Sie mich sie sehen, mit ihr sprechen.«
«Indem wir Ihnen die Genehmigung geben, ziehen wir Sie in die Sache rein. Ich glaube nicht, daß wir das tun können.«
«Um Himmels willen, Sie haben gerade gesagt, daß wir anständige Männer sind! Sind wir das wirklich? Wir können sein Leben retten! Vielleicht. Wenn sie mit mir zusammen ist, und wir ihn finden, können wir ihn dort herausholen!«
«Dort! Wollen Sie sagen, daß Sie wissen, wo er hingehen wird?«
«Ja.«
«Wie das?«
«Es gibt nur diesen einen Ort.«
«Und der Zeitpunkt?«fragte der ungläubige Direktor von Consular Operations.»Sie wissen, wann er dort sein wird?«»Ja. Heute. Am Datum seiner eigenen Hinrichtung.«
Aus dem Transistorradio hallte blechern Rockmusik, und der langhaarige Fahrer des Taxis schlug mit der Hand im Takt gegen das Steuerrad und wippte zu allem Überfluß auch noch mit dem Kinn. Das Taxi schob sich auf der Einundsiebzigsten Straße in östlicher Richtung dahin, in den Stau verkeilt, der schon an der Ausfahrt des Hast River Drive begann. Es kam zu Wutausbrüchen vereinzelter Autofahrer, wenn Motoren durchdrehten und einzelne Wagen wieder ein paar Zoll nach vorne ruckten, um dann erneut minutenlang zu stehen und zu warten. Es war acht Uhr fünfundvierzig morgens, und der Straßenverkehr in New York war wie gewöhnlich ein Fiasko.
Borowski zwängte sich auf dem Rücksitz in die Ecke und starrte unter der Hutkrempe durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille auf die von Bäumen gesäumte Straße hinaus. Er war schon hier gewesen; das hatte sich ihm unauslöschbar eingeprägt. Er war auf diesem Pflaster gegangen, hatte die Eingänge, die Läden und die mit Efeu bedeckten Mauern gesehen — die in diese Stadt eigentlich gar nicht paßten, der Einundsiebzigsten Straße aber einen noblen Anstrich gaben. Er hatte schon früher nach oben geblickt und die Dachgärten bemerkt und sie mit einem gepflegten Garten verglichen, der ein paar Straßen entfernt war in Richtung auf den Centralpark, einem Garten, der hinter den zeitlos eleganten französischen Türen am anderen Ende eines großen… komplizierten… Raumes lag. Und jener Raum befand sich in einem hohen, schmalen Gebäude aus braunem Backstein mit einer Reihe breiter, bleiverglaster Fenster, die sich vier Stockwerke über die Straße nach oben fortsetzten. Fenster aus dickem Glas, die das Licht in feinen Schattierungen von Purpur und Blau nach drinnen und draußen brachen. Antikes Glas vielleicht, Ornamentglas… kugelsicheres Glas. Eine Backsteinvilla mit einer massiven Außentreppe, die aus seltsamen Stufen bestand. Jede Trittfläche war kreuz und quer von schwarzen Erhebungen durchzogen, die ein Ausgleiten auf nassem oder vereistem Boden unmöglich machten. Außerdem lösten die Schritte von jemandem, der hinaufging, im Inneren des Hauses
eine elektronische Warnanlage aus.
Jason kannte jenes Haus. Das Klopfen in seiner Brust wurde heftiger, als sie die Straße erreichten. Er würde das Haus jetzt jeden Augenblick sehen, und während er mit seiner Rechten das linke Handgelenk umklammerte, wußte er, weshalb Parc Monceau so viele Erinnerungen in ihm ausgelöst hatte. Jenes kleine Stückchen Paris glich diesem kurzen Straßenzug an der oberen East Side so sehr. Sah man einmal von der einen oder anderen deplazierten weiß gestrichenen Fassade oder einem ungepflegten Vorgarten ab, wäre der Unterschied überhaupt nicht festzustellen gewesen.
Er dachte an Andre Villiers. Er hatte alles niedergeschrieben, woran er sich erinnern konnte, hatte alles in die Seiten eines Heftes geschrieben, das er hastig am Charles-de-Gaulle-Flughafen gekauft hatte. Vom ersten Augenblick, an dem ein lebender, von Kugeln durchsiebter Mann in einem feuchten, schlampigen Zimmer auf der Ile de Port Noir die Augen geöffnet hatte, über die erschreckenden Offenbarungen von Marseille, Zürich und Paris — ganz besonders Paris, wo das Phantom des Meuchelmörders Gestalt angenommen hatte, wo sich herausgestellt hatte, daß er über die Erfahrungen eines Killers verfügte. Wie man es auch betrachtete, es war ein Geständnis, die Dinge, die es nicht erklären konnte, waren ebenso niederdrückend wie die tatsächlichen Vorfälle. Aber es war die Wahrheit, so wie er die Wahrheit kannte. In den Händen von Andre Villiers würde es seine Anwendung finden; für Marie St. Jacques würden die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Dieses Wissen verschaffte ihm jetzt freie Hand. Er hatte das Heft in einen Umschlag gesteckt, diesen verklebt und ihn noch vom Kennedy-Flughafen aus nach Parc Monceau geschickt. Bis das Heft Paris erreichte, war er tot oder lebendig wie noch nie; entweder er würde Carlos töten oder Carlos würde ihn töten. Irgendwo auf jener Straße — die einer anderen, Tausende von Meilen entfernten Straße glich — würde ein Mann, dessen breite Schultern auf schmalen Hüften saßen und dessen Haut olivfarben war, auf ihn Jagd machen. Das war das einzige, dessen er sich völlig sicher war; und er würde nichts anderes tun. Irgendwo auf jener Staße…
Da war es! Dort, die Morgensonne spiegelte sich in der schwarz lackierten Türe und den glänzenden Messingbeschlägen, durchdrang die dicken, bleiverglasten
Fenster, die sich wie eine breite Säule aus glänzendem, purpurnem Blau in die Höhe reckten. Er war hier, und zwar aus einem Grund — aus einem Gefühl — das er sich nicht erklären konnte. Seine Augen begannen zu tränen, und er spürte, wie ihm die Kehle schwoll. Er fühlte, daß er an einen Ort zurückgekehrt war, der ebenso Teil seiner selbst war wie sein Körper oder das, was von seinem Bewußtsein übriggeblieben war. Kein Zuhause; wenn man die elegante Villa ansah, vermittelte sie nicht Wohlbehagen, nicht Beschaulichkeit. Es war etwas anderes — ein überwältigendes Gefühl der — Rückkehr. Er war zum Anfang zurückgekehrt, dem Anfang, zum Ort des Beginns und der Schöpfung, der schwarzen Nacht und des hervorbrechenden Morgens. Irgend etwas geschah mit ihm, er umfaßte sein Handgelenk fester, mühte sich verzweifelt ab, den fast unkontrollierbaren Drang unter Kontrolle zu halten, aus dem Taxi zu springen und über die Straße auf jenes monströse stumme Gebilde aus Stein und blauem Glas zu rennen, die Treppen hinauf zustürzen und mit der Faust gegen die schwere schwarze Türe zu schlagen.
Laßt mich hinein! Ich bin hier! Ihr müßt mich hineinlassen! Könnt ihr nicht verstehen?
ICH BIN DA!
Bilder stürmten auf ihn ein, dumpfe Geräusche drangen in seine Ohren. Ein bohrender, pochender Schmerz explodierte förmlich in seinen Schläfen. Er befand sich in einem dunklen Raum — jenem Raum — starrte wie auf eine Leinwand, sah Bilder in rasender Folge auf und ab blitzen.
Wer ist er? Schnell. Du kommst zu spät! Du bist ein toter Mann. Wo ist diese Straße? Was bedeutet sie dir? Wem bist du dort begegnet? Was? Gut. Es muß ganz einfach bleiben; sag so wenig wie möglich. Hier ist eine Liste: acht Namen. Welches davon sind Kontakte? Schnell! Hier ist noch eine. Methoden, Morde, zu vergleichen. Welches sind die deinen?… Nein, nein, nein! Delta könnte das tun, nicht Cain! Du bist nicht
Delta, du bist nicht du! Du bist Cain. Du bist ein Mann
namens Borowski. Jason Borowski! Konzentriere dich! Du
mußt alles andere löschen. Du mußt die Vergangenheit
wegwischen. Sie existiert für dich nicht. Du bist nur das, was du hier bist, hier geworden bist.
O Gott. Marie hatte es gesagt.
Vielleicht weißt du nur, was man dir gesagt hat… dir immer wieder und wieder eingehämmert hat. Bis da nichts anderes mehr war — Dinge, die man dir gesagt hat… die du aber nicht nachleben kannst… weil diese Dinge fremd sind, nicht du sind.
Der Schweiß rann ihm über das Gesicht, brannte in seinen Augen, und er umklammerte sein Handgelenk, versuchte, den Schmerz, die Geräusche, die Lichtblitze zu verdrängen. Er hatte Carlos geschrieben, daß er zurückkäme, um verborgene Dokumente abzuholen, die sein…»letzter Schutz «wären. Damals war ihm der Satz schwach vorgekommen; beinahe hätte er ihn ausgestrichen. Und doch hatte sein Instinkt ihm gesagt, daß er ihn stehenlassen mußte; er war irgendwie Teil seiner Vergangenheit… Jetzt verstand er. Seine Identität lag in jenem Haus. Seine Identität. Und ob Carlos ihm nun folgte oder nicht, er mußte sie finden. Das mußte er!
Plötzlich war alles wie verhext! Er schüttelte heftig den Kopf, versuchte diese innere Stimme, die aus ihm hervorbrach, zum Schweigen zu bringen. Vergiß Carlos. Vergiß die Falle. Du mußt in dieses Haus gehen! Dort war es; dort war der Anfang!
Hör auf!
Die Ironie des Ganzen war makaber. In jenem Haus gab es keinen letzten Schutz, nur eine letzte Erklärung für seine Person. Und ohne Carlos war diese Erklärung bedeutungslos. Jene, die Jagd auf ihn machten, kannten sie und beachteten sie nicht; sie wollten seinen Tod, wollten seinen Tod, weil sie die Erklärung kannten, die er nicht kannte, aber er war so nahe… er mußte sie finden. Sie war hier.
Borowski blickte auf; der langhaarige Fahrer beobachtete ihn im Rückspiegel.»Migräne«, sagte Jason kurz angebunden.»Fahren Sie um den Block herum. Noch einmal hierher. Ich bin verabredet, aber zu früh dran. Ich sage Ihnen, wo Sie mich aussteigen lassen sollen.«
«Ist ja Ihr Geld, Mister.«
Der Backsteinbau lag jetzt hinter ihnen, war in einer kurzen, plötzlichen Lockerung des Verkehrs schnell vorübergezogen. Borowski drehte sich im Sitz herum und blickte durch das Hinterfenster auf das Haus. Er war jetzt wieder ruhig. Die Bilder verschwanden; nur der Schmerz blieb, aber auch der würde nachlassen, das wußte er. Jetzt würde das Chamäleon in ihm wach werden.
Sechzehn Minuten später hatte sich alles verändert. Der Verkehr auf der Straße war langsamer geworden, ein weiteres
Hindernis war dazugekommen. Ein Umzugswagen hatte vor der Backsteinvilla geparkt; Männer in Overalls standen herum und rauchten Zigaretten und tranken Kaffee, schoben den Augenblick noch hinaus, in dem sie mit ihrer Arbeit beginnen würden. Die schwere schwarze Tür stand offen, und ein Mann in einer grünen Jacke mit der Plakette der Transportfirma über der linken Brusttasche stand mit einem Block in der Hand im Foyer. Treadstone wurde aufgelöst! In ein paar Stunden würde es nicht mehr existieren, würde vom Erdboden gelöscht sein! Das durfte nicht passieren! Sie mußten aufhören!
Jason beugte sich vor, Geld in der Hand. Der Schmerz in seinem Schädel hatte plötzlich nachgelassen. Er mußte Conklin in Washington erreichen. Nicht später — nicht, wenn die Figuren auf dem Schachbrett auf ihren Plätzen standen —, sondern jetzt gleich! Conklin mußte ihnen sagen, daß sie aufhören sollen!
Seine Strategie beruhte auf Dunkelheit… immer Dunkelheit. Der Strahl einer Taschenlampe, der zuerst aus einer Seitengasse schoß, dann aus einer anderen, dann an finsteren Wänden emporkroch und an abgedunkelten Fenstern verweilte. Lichtstrahlen, die von einem Punkt zum anderen huschten. Ein Mörder tritt nachts in Aktion. Nicht jetzt. Er stieg aus.
«Hey, Mister!«schrie der Fahrer durch das offene Fenster.
Jason beugte sich vor.»Was ist denn?«
«Ich wollte nur danke sagen. Damit habe ich — «
Ein trockenes Geräusch, wie wenn jemand ausspuckt. Über seiner Schulter! Und gleich dahinter ein Husten, mit dem ein Schrei begann. Borowski starrte den Fahrer an, den Blutstrom, der plötzlich über dem linken Ohr des Mannes hervorschoß. Der Mann war tot, von einer Kugel getötet, die für seinen Fahrgast bestimmt war, einer Kugel, die irgendwo aus einem Fenster in jener Straße abgefeuert worden war.
Jason ließ sich zu Boden fallen und sprang dann nach links, auf den Bürgersteig zu. Zwei weitere spuckende Geräusche, schnell hintereinander, die erste Kugel bohrte sich in die Seite des Taxis, die zweite ließ den Asphalt bersten. Es war unglaublich! Man hatte ihn schon markiert, ehe die Jagd begonnen hatte! Carlos war da. In Position! Er oder einer seiner Männer hatten an einem Fenster oder auf einem Dach, von dem aus man die ganze Straße überblicken konnte, Stellung bezogen. Und dabei war die Gefahr, einen
Unschuldigen zu töten, sehr groß; die Polizei würde kommen, und die Straße absperren. Carlos war doch nicht verrückt! Das Ganze gab einfach keinen Sinn. Und Borowski hatte keine Zeit, um Spekulationen anzustellen; er mußte der Falle entkommen… der Falle, die sich umgedreht hatte.
Er mußte ein Telefon finden. Carlos war hier! Vor den Türen von Treadstone! Er hatte ihn tatsächlich hierhergebracht! Das war Beweis genug.
Er stand auf und fing an zu laufen, schob die Fußgänger beiseite. Er erreichte die Ecke und bog nach rechts — die Telefonzelle war zwanzig Fuß entfernt und bot ein gutes Ziel. Er konnte sie nicht benutzen.
Auf der anderen Straßenseite war ein Feinkostgeschäft, über dessen Tür ein kleines, rechteckiges Schild mit der Aufschrift TELEPHONE hing. Er trat vom Bürgersteig und fing wieder zu rennen an, wich den erbost hupenden Autos aus. Vielleicht würde eines von ihnen die Arbeit übernehmen, die Carlos sich selbst vorbehalten hatte. Wieder eine makabre Ironie.
«Der Central Intelligence Agency, Sir, ist im Wesen eine Organisation, die sich der Ermittlung von Tatsachen widmet«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung herablassend.»Die Art von Aktivitäten, die Sie beschreiben, stellt in unserer Arbeit nur einen ganz kleinen Teil dar und wird, offen gestanden, von Filmen und schlecht informierten Schriftstellern häufig verzerrt wiedergegeben.«
«Verdammt noch mal, Sie sollen mir zuhören!« sagte Jason und legte die Hand halb über die Sprechmuschel des Apparates, um in dem überfüllten Feinkostgeschäft kein Aufsehen zu erregen.»Sie sollen mir bloß sagen, wo Conklin ist. Es ist wirklich wichtig!«
«Das hat Ihnen sein Büro ja schon gesagt, Sir. Mr. Conklin ist gestern nachmittag weggegangen, wir erwarten ihn Ende der Woche zurück. Da Sie sagen, daß Sie Mr. Conklin kennen, ist Ihnen ja auch seine Verletzung bekannt, die er sich im Dienst zugezogen hat. Er konsultiert oft Ärzte — «
«Würden Sie jetzt endlich aufhören! Ich habe ihn in Paris gesehen — in der Nähe von Paris — vor zwei Tagen. Er ist von Washington hinübergeflogen, um sich mit mir zu treffen.«
«Was das betrifft«, unterbrach der Mann in Langley,»so hatten wir das bereits überprüft, als Ihr Gespräch an dieses Büro weitergeleitet wurde. Es gibt keine Aufzeichnungen, daß Mr. Conklin das Land im Laufe des letzten Jahres verlassen
hätte.«
«Dann hat man das eben vertuscht! Er war dort! Sie suchen Codes«, sagte Borowski verzweifelt.»Die habe ich nicht. Aber jemand, der mit Conklin zusammenarbeitet, wird die Worte erkennen. Medusa, Delta, Cain… Treadstone! Irgend jemand muß sie einfach erkennen!«
«Niemand erkennt sie. Das hat man Ihnen doch gesagt.«
«Ja, jemand, der sie nicht kennt, hat das gesagt. Es gibt andere, und die kennen sie. Glauben Sie mir!«
«Es tut mir leid. Ich kann wirklich — «
«Legen Sie nicht auf!«Es gab noch eine andere Möglichkeit, bei der ihm zwar etwas mulmig zumute war, aber er hatte keine andere Wahl.»Vor fünf oder sechs Minuten stieg ich an der Einundsiebzigsten Straße aus einem Taxi. Man hat mich entdeckt und versucht, zu eliminieren.«
«Sie zu… eliminieren?«
«Ja. Der Fahrer hat etwas zu mir gesagt, und ich habe mich vorgebeugt. Diese Bewegung hat mir das Leben gerettet, aber der Fahrer ist tot, er hat eine Kugel im Schädel. Es ist die Wahrheit, und ich weiß, daß Sie über Mittel und Wege verfügen, das zu überprüfen. Inzwischen sind am Schauplatz der Tat wahrscheinlich ein halbes Dutzend Polizeiwagen. Prüfen Sie es nach. Das ist der beste Rat, den ich Ihnen geben kann.«
Auf der anderen Seite herrschte kurze Zeit Schweigen.»Da Sie Mr. Conklin verlangt haben — werde ich dem, was Sie mir gerade sagten, nachgehen. Wo kann ich Sie erreichen?«
«Ich bleibe in der Leitung. Mein Name ist Chamford.«
«Chamford? Sie sagten — «
«Bitte.«
«Ich komme wieder.«
Das Warten war unerträglich, aber bereits eine Minute später war der Mann in Langley wieder an der Leitung. Vorhin klang seine Stimme kompromißbereit, jetzt verärgert.
«Ich glaube, dieses Gespräch ist jetzt beendet, Mr. Chamford, oder wie immer Sie auch heißen mögen. Wir haben mit der Polizei von New York gesprochen; es gibt an der Einundsiebzigsten Straße keinen solchen Zwischenfall, wie Sie ihn schilderten. Ich muß Sie darauf hinweisen, daß auf solch irreführenden Anrufe, wie den Ihren, strenge Strafen stehen. Guten Tag, Sir.«
Ein Klicken; die Leitung war tot. Borowski starrte ungläubig auf den Apparat. Monatelang hatten die Leute in Washington ihn gesucht. Sie hatten versucht, ihn zu töten. Und jetzt schob man ihn einfach ab. Sie wollten ihn anscheinend immer noch nicht anhören! Es kam noch schlimmer, sie erdreisteten sich, einen Mord, der erst vor Minuten stattgefunden hatte, einfach zu leugnen. Das war unbegreiflich… vollkommen verrückt.
Jason hängte den Hörer auf, ruhig ging er auf die Türe zu, bahnte sich einen Weg durch die Menschen, die an der Theke standen. Draußen zog er den Mantel aus, legte ihn sich über den Arm und nahm die Sonnenbrille mit der Schildpattfassung ab. Er eilte quer über die Straße wieder auf die Einundsiebzigste Straße zu.
An der anderen Ecke schloß er sich einer Gruppe von Fußgängern an, die darauf warteten, daß die Ampel umschaltete. Das Taxi war verschwunden. Man hatte es mit chirurgischer Präzision vom Schauplatz des Geschehens entfernt, ein krankes, häßliches Organ, das man aus dem Körper operierte, aber die lebenswichtigen Körperfunktionen liefen weiter. Carlos hatte wieder einmal gründliche Arbeit geleistet.
Borowski drehte sich um. Er mußte einen Laden finden; er mußte sein Äußeres verändern. Das Chamäleon konnte nicht länger warten.
Marie St. Jacques war ärgerlich. Sie saß Brigadegeneral Irwin Arthur Crawford in der Suite im Pierre-Hotel gegenüber.»Sie haben mir nicht zugehört!«sagte sie vorwurfsvoll.»Keiner von Ihnen wollte zuhören. Wissen Sie überhaupt, was Sie ihm angetan haben?«
«Nur zu gut«, erwiderte der Offizier. Bedauern lag in seinen Worten.»Ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen schon sagte. Wir wußten einfach nicht, was wir glauben sollten.«
«Sieben Monate lang hat er verzweifelt versucht, der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Und ihnen fiel nichts anderes ein, als Männer auszuschicken, die ihn töten sollen! Was sind das für Menschen?«
«Miss St. Jacques. Deshalb bin ich doch hier. Ich will ihn retten, wenn wir das überhaupt noch können.«
«Herrgott, Sie machen mich verrückt!«Marie hielt inne, schüttelte den Kopf und fuhr dann mit ruhigerer Stimme fort.»Ich werde tun, was Sie von mir verlangen, das wissen Sie.
Können Sie diesen Conklin erreichen?«
«Ich bin sicher. Ich werde mich auf die Treppe dieses Hauses stellen, bis er keine andere Wahl mehr hat, als mich zu erreichen. Aber ich glaube nicht, daß Conklin unsere Hauptsorge ist.«
«Carlos?«
«Auch.«
«Was soll das heißen?«
«Das erkläre ich Ihnen unterwegs. Wir müssen Delta erreichen.«
«Jason?«
«Ja. Den Mann, den Sie Jason Borowski nennen.«
«Er ist von Anfang an einer von Ihren Leuten gewesen«, sagte Marie.»Was soll das also… ich verstehe nicht, warum
— ?«
«Sie werden zur rechten Zeit alles erfahren. Ich kann Ihnen jetzt nichts sagen. Ich habe veranlaßt, daß Sie in einem unmarkierten Regierungswagen schräg gegenüber dem Haus warten können. Sie bekommen einen Feldstecher. Sie kennen ihn jetzt besser als irgend jemand, vielleicht werden Sie ihn entdecken. Ich bete jedenfalls darum.«
Marie ging zum Schrank und holte ihren Mantel heraus.»Er hatte einmal zu mir gesagt, daß er ein Chamäleon sei…«
«Daran hat er sich erinnert?«unterbrach Crawford.
«Woran erinnert?«
«Er besaß das Talent, sich gewissermaßen unsichtbar machen zu können. Das meinte ich.«
«Einen Augenblick. «Marie trat auf den General zu, und ihre Augen bohrten sich förmlich in den seinen fest.»Wir müssen Jason erwischen. Ich weiß eine Möglichkeit. Ich stelle mich auf die Treppe dieses Hauses. Er wird mich sehen, mir eine Nachricht zukommen lassen!«
«Das ist zu gefährlich für Sie. Das kann ich nicht zulassen.«
«Warum nicht? Bleiben Ihnen denn noch viele Möglichkeiten, wo Sie schon fast alles verpatzt haben!«
«Ich kann das nicht. Wenn Delta recht hat, und Carlos ihm gefolgt ist und jetzt auf der Straße lauert, ist das Risiko zu groß. Carlos kennt Sie von Fotografien. Er wird Sie töten.«
«Ich bin bereit, das Risiko auf mich zu nehmen.«
«Aber ich nicht. Ich glaube, im Namen meiner Regierung zu sprechen.«
«Dienstleistungen, Verwaltung«, verkündete eine
uninteressierte Telefonistin.
«Mr. Petrocelli, bitte«, sagte Alexander Conklin gereizt und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er mit dem Telefonhörer in der Hand am Fenster stand.»Schnell, bitte!«
«Alle Leute haben es so ei — «Während sie das sagte, hatte sie die Verbindung hergestellt und schnitt sich damit selbst den Satz ab. Ein Summen ertönte.
«Petrocelli, Rückführungsbüro, Rechnungsabteilung.«
«Was fällt Ihnen eigentlich ein?«explodierte der CIA-Mann, der mit der Überraschung des anderen gerechnet hatte.
Die Pause war kurz.»Was soll die dumme Frage?«
«Nun, hören Sie mich an! Mein Name ist Conklin, Central Intelligence Agency, Freigabe Vier-Null. Sie wissen doch, was das bedeutet?«
«Seit zehn Jahren habe ich aufgehört, über das nachzudenken, was man mir sagt.«
«Das sollten Sie jetzt aber ausnahmsweise mal tun! Fast eine Stunde hab' ich dazu gebraucht, den Sachbearbeiter einer Umzugsfirma hier in New York zu erreichen. Er sagte, er hätte einen von Ihnen unterschriebenen Lieferschein und den Auftrag, sämtliche Möbel aus einer Backsteinvilla an der Einundsiebzigsten Straße zu entfernen — Haus Nummer hundertneununddreißig, um es genau zu sagen.«
«Mhm, daran erinnere ich mich. Und?«
«Wer hat Ihnen diese Anweisung erteilt? Das ist unser Gebiet. Wir haben zwar unsere Gerate letzte Woche entfernt, aber wir haben keine — ich wiederhole: keine — anderen Aktivitäten verlangt.«
«Augenblick mal«, sagte der Bürokrat.»Ich habe diesen Lieferschein gesehen. Ich meine, ich habe ihn gelesen, ehe ich ihn unterschrieben habe; Sie und Ihre Kollegen machen mich neugierig. Die Anweisung kam direkt aus Langley mit einem Eilformular.«
«Von wem in Langley?«
«Augenblick, dann sag' ich es Ihnen. Ich hab' da eine Kopie bei meinen Akten; die muß hier auf meinem Schreibtisch sein. «Das Knistern von Papier war zu hören, dann verstummte es, und Petrocelli kam wieder.»Hier habe ich es, Conklin. Lassen Sie Ihre Wut gefälligst an Ihren eigenen Leuten in der Verwaltung aus.«
«Die wußten nicht, was sie tun. Streichen Sie diesen Auftrag. Rufen Sie die Umzugsfirma an und sagen Sie ihnen,
daß sie verschwinden sollen! Jetzt!«
«Lassen Sie Dampf ab, Mann.«
«Was?«
«Sorgen Sie dafür, daß ich vor drei Uhr heute nachmittag eine schriftliche Eilanforderung auf dem Schreibtisch habe, dann könnte es sein — könnte, habe ich gesagt — daß sie morgen bearbeitet wird. Dann schaffen wir alles zurück.«
«Zurück!«
«Genau. Wenn man uns sagt, daß wir etwas abholen sollen, holen wir es ab. Wenn Sie uns sagen, daß wir es wieder zurückbringen sollen, bringen wir es wieder zurück. Wir haben hier ganz genauso unsere Vorschriften wie Sie auch.«
«Die Geräte, die Einrichtung, alles — war geliehen! Das war — das ist — keine CIA-Operation.«
«Warum rufen Sie dann mich an? Was haben Sie dann damit zu tun?«
«Ich hab' jetzt keine Zeit, das zu erklären. Sorgen Sie bloß dafür, daß diese Leute dort verschwinden. Das ist eine VierNull-Anweisung.«
«Das ist mir scheißegal. Schauen Sie, Conklin, wir beide wissen ganz genau, daß Sie das, was Sie wollen, kriegen können, wenn ich das kriege, was ich will. Okay.«
«Ich kann die Agency nicht hineinziehen!«
«Mich werden Sie aber auch nicht hineinziehen.«
«Diese Leute dort müssen weg! Ich sage Ihnen — «Conklin verstummte, er hatte die ganze Zeit die Backsteinvilla auf der anderen Straßenseite nicht aus den Augen gelassen, und seine Gedanken waren plötzlich wie gelähmt. Ein hochgewachsener Mann in einem schwarzen Mantel war die Betonstufen hinaufgegangen; jetzt drehte er sich um und stand reglos vor der offenen Tür.
Das war Crawford.
Was machte er da? Was hatte er hier zu tun?
Er mußte den Verstand verloren haben; der Mann war verrückt!
«Conklin? Conklin…«Die Stimme schwebte noch aus dem Telefonhörer, als der CIA-Mann auflegte.
Conklin wandte sich einem kräftig gebauten Mann zu, der sechs Fuß von ihm entfernt an einem Fenster stand. Der Mann hielt einen Karabiner in der Hand, an dessen Lauf ein Zielfernrohr befestigt war. Alex kannte den Namen des Mannes nicht und wollte ihn auch nicht kennen; er hatte
schließlich genug dafür bezahlt.
«Sehen Sie diesen Mann dort unten in dem schwarzen Mantel, der vor der Türe steht?«fragte er.
«Ich sehe ihn. Er ist nicht der, den wir suchen. Er ist zu alt.«
«Gehen Sie hinüber und sagen Sie ihm, daß auf der anderen Straßenseite ein Krüppel ist, der ihn sprechen möchte.«
Borowski trat aus dem Gebrauchtkleiderladen an der Third Avenue und hielt kurz vor dem schmutzigen Schaufenster, um seine Erscheinung zu überprüfen. So würde es gehen; alles paßte zusammen. Der schwarze Strickhut bedeckte seinen Kopf bis mitten in die Stirn; die zerdrückte, mehrfach geflickte Militärjacke war ein paar Größen zu groß, das rotkarierte Flanellhemd, die weiten Khakihosen und die schweren Arbeitsschuhe mit den dicken Gummisohlen und den kräftigen abgerundeten Kappen paßten zusammen. Jetzt mußte er nur noch einen Gang finden, der zur Kleidung paßte. Den Gang eines kräftigen, etwas primitiven Mannes, dessen Körper angefangen hatte, die Auswirkungen eines Lebens körperlicher Anstrengung zu zeigen, der die tägliche schwere Arbeit als unvermeidbar akzeptierte, solange nur der Abend Belohnung in Gestalt von ein paar Dosen Bier brachte.
Er würde schon diese Gangart finden; das war kein Problem. Er mußte nur noch einen Telefonanruf erledigen; er sah schon aus der Ferne eine Zelle, unter deren verkratztem Blechtisch sogar ein zerfetztes Telefonbuch hing. Er setzte sich in Bewegung, und seine Beine wurden automatisch steifer, seine Füße drückten sein Gewicht auf das Pflaster und die Arme hingen schlaff von den Schultern, seine Finger waren leicht gespreizt, von Jahren der Plackerei gebogen. Der stumpfsinnige Gesichtsausdruck würde später kommen. Nicht jetzt.
«Belkins Umzüge und Lagerhäuser«, meldete sich eine Telefonistin irgendwo in der Bronx.
«Mein Name ist Johnson«, sagte Jason ungeduldig, aber freundlich.»Ich fürchte, ich habe da ein Problem und hoffe, daß Sie mir dabei helfen können.«
«Das will ich gern versuchen. Was kann ich für Sie tun?«
«Ich wollte gerade das Haus eines Freundes an der Einundsiebzigsten Straße besuchen — eines Freundes, der leider kürzlich starb —, um mir etwas abzuholen, was ich ihm geliehen hatte. Als ich hinkam, stand Ihr Möbelwagen vor dem
Haus. Mir ist das richtig peinlich, aber ich fürchte, daß Ihre Männer mein Eigentum wegtragen werden. Gibt es da jemanden, den ich sprechen könnte?«
«Da mußte ich Ihnen einen Sachbearbeiter geben, Sir.«
«Sagen Sie mir bitte seinen Namen?«
«Was?«
«Seinen Namen.«
«Sicher. Murray. Murray Schumach. Ich verbinde Sie.«
Es klickte zweimal, und dann war eine Weile ein tiefes Summen in der Leitung zu hören.
«Schumach.«
«Mr. Schumach?«
«Am Apparat.«
Borowski wiederholte sein Anliegen.»Ich könnte mir natürlich leicht einen Brief von meinem Rechtsanwalt besorgen, aber der betreffende Gegenstand hat nur geringen Wert — «
«Was ist es denn?«
«Eine Angel. Keine teure, aber es ist eine altmodische Rolle daran, eine von der Art, die sich nicht alle fünf Minuten verwirrt.«
«Yeah, ich weiß schon, was Sie meinen. Ich gehe immer in der Sheepshead-Bucht zum Fischen. Heute machen die wirklich keine solchen Rollen mehr. Wahrscheinlich sind das die Metallegierungen.«
«Ja, da werden Sie wohl recht haben, Mr. Schumach. Ich weiß genau, in welchem Schrank er die Angel immer aufbewahrt hat.«
«Ach, was soll's — eine Angel. Gehen Sie einfach hinein und verlangen Sie Dugan. Er ist der Vorarbeiter. Sagen Sie ihm, Sie hätten mit mir gesprochen, und ich sei einverstanden. Aber Sie müssen eine Quittung unterschreiben. Wenn er Ihnen Schwierigkeiten macht, dann sagen Sie ihm, er soll mich anrufen. Von einer Zelle aus. Das Telefon dort ist schon abgeklemmt.«
«Ein Mr. Dugan. Vielen Dank, Mr. Schumach.«
«Herrgott, ich dreh' heut noch durch!«
«Wie bitte?«
«Nichts. Irgend so ein Idiot hat angerufen und gesagt, wir sollten dort verschwinden. Und dabei ist das ein fester Auftrag mit Bargeldgarantie. Können Sie sich das vorstellen?«
Carlos. Jason konnte es sich vorstellen.
«Es ist schwierig, Mr. Schumach.«
«Petri Heil«, sagte der Mann von Belkins.
Borowski ging auf der Siebzigsten Straße in westlicher Richtung auf die Lexington Avenue zu. Drei Straßen weiter südlich fand er das, was er suchte: ein Geschäft, das alte Uniformen und Militärutensilien verkaufte. Er ging hinein.
Acht Minuten später kam er wieder mit vier braunen Decken und sechs breiten Segeltuchgurten mit Metallschnallen heraus. In den Taschen seiner Militärjacke steckten zwei ganz gewöhnliche Straßenfackeln. Er hatte sie auf der Theke liegen sehen. Sie erinnerten ihn an irgend etwas; aber er wußte nicht an was. Er schlang sich seine Käufe über die linke Schulter und marschierte weiter auf die Einundsiebzigste Straße zu. Das Chamäleon näherte sich dem Dschungel, einem Dschungel, der ebenso dicht war, wie Tam Quan, damals vor vielen Jahren.
Es war zehn Uhr achtundvierzig, als er die Ecke des von Straßen gesäumten Häuserblocks erreichte, der die Geheimnisse von Treadstone Seventy-One enthielt. Er kehrte zum Anfang zurück — seinem Anfang — und die Furcht, die er empfand, war nicht die Furcht vor körperlichem Unbill. Darauf war er vorbereitet, jede Sehne, jeder Muskel war gespannt; seine Knie und Füße, seine Hände und Ellbogen warteten auf den Augenblick, wo seine Augen die Gefahr registrierten und der Kampf beginnen konnte. Seine Furcht ging viel tiefer. Er war im Begriff, den Ort seiner Geburt zu betreten, und davor hatte er panische Angst.
Hör auf! Die Falle ist alles. Cain ist für Charlie, und Delta ist für Cain!
Der Verkehr war wesentlich dünner geworden, die Rushhour war vorüber, langsam breitete sich vormittägliche Ruhe in der Straße aus. Fußgänger schlenderten jetzt dahin, eilten nicht mehr; Autos bogen gemächlich um den Umzugswagen herum, und anstelle ärgerlicher Huptöne gab es jetzt nur noch ärgerliche Gesichter. Jason überquerte die Straße, als die Ampel auf Grün schaltete, und ging zur Treadstone-Seite hinüber; der hohe, schmale Bau aus braunem, ausgezacktem Backstein und dickem, blauem Glas war fünfzig Meter weiter unten an der Straße. Mit Decken und Gurten über der Schulter trottete ein etwas dümmlicher Taglöhner hinter einem gutgekleideten Paar schwerfällig auf das Haus zu.
Er erreichte die Betonstufen, als gerade zwei muskulöse
Männer, ein Weißer und ein Schwarzer, eine in Decken gehüllte Harfe zur Tür hinaustrugen. Borowski blieb stehen und rief den beiden etwas zu. Seine Stimme klang stockend und sein Dialekt breit.
«Hey! Wo ist Dooganl«
«Wo denkste wohl?«erwiderte der Weiße und drehte den Kopf halb zur Seite.»Der hockt irgendwo rum.«
«Der nimmt doch nichts in die Pfoten, was schwerer is' als 'n Block«, fügte der Schwarze hinzu.»Er is' ja Chef, was, Joey?«
«'n Arschlosch is' er. Was has'n da?«
«Schumach hat mich geschickt«, sagte Jason.»Er wollte noch 'n Mann hier und hat sich gedacht, ihr könntet das Zeug da gebrauchen. Hat mir gesagt, ich soll's herbringen.«
«Der schöne Murray!«lachte der Neger.»Bist du ein Neuer, Mann? Hab' dich noch nie gesehen.«
«Mhm.«
«Dann bring doch den Scheiß zum Chef«, brummte Joey und setzte sich in Bewegung.»Der kann's dann verteilen, nicht wahr, Pete?«
Borowski ging die rötlich-braunen Stufen hinauf, vorbei an den zwei Arbeitern, auf die Türe zu. Er trat ein und sah die Wendeltreppe zur Rechten und den langen, schmalen Korridor vor ihm, der zu einer weiteren Türe führte, die dreißig Fuß entfernt lag. Tausendmal war er diese Stufen hinaufgestiegen und viele tausend Male den Korridor entlanggegangen, so wie jetzt. Er war zurückgekommen, und ein unbeschreibliches Gefühl der Angst zog ihm die Kehle zusammen. Er konnte die Sonnenstrahlen sehen, die in der Ferne durch französische Türen hereinfielen. Er näherte sich dem Raum, wo Cain geboren worden war. Jenem Raum. Er klammerte sich an den Gurten fest, die er sich über die Schulter gelegt hatte, und versuchte, dem Zittern Einhalt zu gebieten, das ihn durchlief.
Marie beugte sich auf dem Rücksitz der gepanzerten Regierungslimousine nach vorne und hob den Feldstecher. Etwas war geschehen. Ein untersetzter, kräftig gebauter Mann war vor ein paar Minuten an der Treppe der Backsteinvilla vorbeigegangen und hatte seine Schritte verlangsamt, als er sich dem General näherte, hatte offensichtlich etwas zu ihm gesagt. Dann hatte der Mann seinen Weg fortgesetzt, und Sekunden darauf war Crawford ihm gefolgt.
Conklin war gefunden worden.
Marie stellte das Glas scharf. Ein Umzugsarbeiter trat auf die Treppe zu, Decken und Gurte über den Schultern, er ging hinter einem älteren Ehepaar, offenbar Bewohner der Straße, die einen Spaziergang machten. Der Mann in der Militärjacke und dem schwarzen Strickhut blieb stehen; er sprach zwei andere Packer an, die gerade einen dreieckigen Gegenstand zur Türe heraustrugen.
Was war das? Da war etwas… etwas Seltsames. Sie konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen; es war ihr abgewandt. Aber die Art, wie er den Kopf hielt… kam ihr irgendwie bekannt vor. Der Mann ging die Treppe hinauf, ein vierschrötiger Mann, schon müde, ehe der Tag begonnen hatte… schlampig gekleidet. Marie setzte das Glas wieder ab; sie sah schon Gespenster.
O Gott, mein Geliebter, mein Jason. Wo bist du? Komm zu mir. Laß mich dich finden. Laß mich nicht bei diesen Dummköpfen alleine zurück. Laß nicht zu, daß sie mich dir wegnehmen. Hilf mir, mein Geliebter.
Wo war Crawford? Er hatte versprochen, sie über jeden Schritt zu informieren, über alles. Sie war ihm gegenüber von brutaler Offenheit gewesen. Er wußte, daß sie ihm nicht vertraute, keinem von ihnen; hielt nichts von ihrer angeblichen Intelligenz. Aber er hatte ihr fest versprochen… Wo steckte er?
Sie wandte sich an den Fahrer.»Würden Sie bitte das Fenster öffnen. Hier drinnen ist es stickig.«
«Tut mir leid, Miss«, erwiderte der in Zivil gekleidete Beamte.»Aber ich schalte die Klimaanlage für Sie ein.«
Fenster und Türen wurden von Knöpfen kontrolliert, die nur der Fahrer erreichen konnte. Sie saß in einem Grab aus Glas und Metall, auf einer sonnigen, von Bäumen gesäumten Straße.
«Kein Wort davon glaube ich!«sagte Conklin und hinkte verärgert quer durch das Zimmer auf das Fenster zu. Er lehnte sich gegen den Sims und sah hinaus, die linke Hand am Gesicht, die Zähne am Knöchel seines Zeigefingers.»Kein Wort!«
«Sie wollen es nicht glauben, Alex«, konterte Crawford.»Die Lösung scheint Ihnen zu einfach zu sein.«
«Sie haben dieses Band nicht gehört. Sie haben Villiers nicht gehört!«
«Aber die Frau habe ich gehört; und das war für mich ausschlaggebend. Sie hat gesagt, daß wir nicht zugehört haben… Daß Sie nicht zugehört haben.«
«Dann lügt sie!«Conklin fuhr herum, so gut ihm das seine Fußverletzung erlaubte.»Herrgott, natürlich lügt sie! Warum sollte sie auch nicht lügen? Sie ist seine Geliebte. Sie wird alles tun, um ihm zu helfen.«
«Da haben Sie unrecht, und das wissen Sie. Die Tatsache, daß er hier ist, beweist, daß Sie unrecht haben.«
Conklins Atem ging schwer, und seine rechte Hand zitterte, als sie nach dem Stock griff.»Vielleicht… vielleicht haben wir, vielleicht…«Er sprach nicht weiter, sondern sah Crawford hilflos an.
«Vielleicht sollten wir alles weiterlaufen lassen?«fragte der Offizier leise.»Sie sind müde, Alex. Sie haben einige Tage nicht mehr geschlafen. Sie sind erschöpft, sie wissen nicht, was Sie reden. Ich habe nichts gehört.«
Der CIA-Mann schüttelte den Kopf, die Augen geschlossen, sein Gesicht spiegelte den Ekel wider, den er empfand.»Nein, Sie haben nichts gehört, und ich habe nichts gesagt. Ich wünschte nur, ich wüßte, wo, zum Teufel, ich anfangen soll.«
«Ich weiß es«, sagte Crawford und ging zur Tür, um sie zu öffnen.
«Kommen Sie bitte herein.«
Der untersetzte Mann trat ein, und seine Augen huschten zu dem Karabiner, der an der Wand lehnte. Er sah die beiden Männer an, schien zu überlegen.»Was ist?«
«Die Übung ist abgesagt«, sagte Crawford.»Wie Sie richtig vermuten.«
«Welche Übung? Man hat mich eingestellt, ihn zu schützen. «Der Mann sah zu Alex hinüber.»Sie meinen, Sie brauchen keinen Schutz mehr, Sir?«
«Sie wissen genau, was wir meinen«, unterbrach Conklin.»Die Situation hat sich geändert.«
«Was für eine Situation? Meine Vorschriften sind ganz klar. Ich schütze Sie, Sir.«
«Gut, schön«, sagte Crawford.»Jetzt müssen wir nur noch die anderen kennen, damit wir Borowski schützen können.«
«Welche anderen?«
«Die draußen auf der Straße, im Haus, im Wagen vielleicht. Wir müssen es wissen.«
Der untersetzte Mann ging zu seinem Karabiner und nahm ihn.»Ich fürchte, Sie haben da etwas mißverstanden, meine Herren. Ich bin auf individueller Basis eingestellt. Wenn auch andere beauftragt wurden, so weiß ich von denen nichts.«
«Sie kennen Sie doch!«schrie Conklin.»Wer sind sie? Wo sind sie?«
«Ich habe keine Ahnung… Sir. «Der höfliche Heckenschütze hielt den Karabiner im rechten Arm, den Lauf zu Boden gerichtet. Er hob ihn vielleicht zwei Zollbreit an, nicht mehr als das, eine kaum sichtbare Bewegung.»Wenn meine Dienste nicht mehr benötigt werden, gehe ich jetzt.«
«Können Sie nicht Kontakt mit ihnen aufnehmen?«unterbrach der General.»Wir zahlen großzügig.«
«Ich bin bereits großzügig bezahlt worden, Sir. Es wäre falsch, Geld für einen Dienst anzunehmen, den ich nicht leisten kann. Und sinnlos, das fortzusetzen.«
«Dort draußen steht das Leben eines Menschen auf dem Spiel!«schrie Conklin.
«Das meine auch«, sagte der Mann und ging zur Tür, wobei er die Waffe etwas höher hob.»Wiedersehn, Gentlemen. «Er ging hinaus.
«Herrgott!« brüllte Alex und drehte sich wieder zum Fenster, wobei sein Stock gegen einen Heizkörper schlug.»Was tun wir jetzt?«
«Zuallererst muß diese Umzugsfirma weg. Ich weiß nicht, welche Rolle sie in Ihrer Strategie spielte, aber sie kompliziert die Dinge nur.«
«Das kann ich nicht. Ich habe es versucht. Ich hatte nichts damit zu tun. Wir haben die Papiere abgegeben, als unsere Anlagen entfernt wurden. Die Verwaltung hat die Dienstleistungsbetriebe aufgefordert, das Zeug
wegzuschaffen.«
«Mit der gebotenen Eile«, sagte Crawford und nickte.»Der Mönch hat alles unterschrieben; seine Aussage spricht die Agency von aller Schuld frei. Das steht in seinen Akten.«
«Wenn wir nur vierundzwanzig Stunden Zeit hätten. Dabei wissen wir nicht einmal, ob wir überhaupt noch vierundzwanzig Minuten haben.«
«Die wir aber brauchen. Es wird eine Anfrage im Senat geben. Lassen Sie die Straße sperren!«
«Was?«
«Sie haben richtig gehört — die Straße sperren, mit Seilen! Rufen Sie die Polizei und verlangen Sie, daß alles mit Seilen abgesperrt wird.«
«Über die Agency? Das ist keine Auslandsangelegenheit, ich — «
«Dann erledige ich das. Über das Pentagon, die Vereinigten Stabschefs, wenn es sein muß. Wir stehen herum und suchen Gründe, und dabei spielt sich das vor unseren Augen ab! Wir müssen die Straße räumen, sie absperren, einen Wagen mit Lautsprecheranlage holen. Sie hineinsetzen, ihr ein Mikrophon in die Hand geben! Sie soll sagen, was sie will, sich die Kehle herausschreien. Sie hat recht gehabt. Zu ihr hat er Vertrauen!«
«Wissen sie, was Sie da sagen?«fragte Conklin.»Man wird Fragen stellen. Die Presse, die Massenmedien werden sich auf uns stürzen. Alles wird dann enthüllt werden, alles an die Öffentlichkeit gezerrt werden.«
«Das ist mir bewußt«, sagte der General.»Mir ist auch bewußt, daß das geschehen wird, wenn die Sache hier schiefgeht. Aber es geht jetzt darum, das Leben eines Mannes zu retten, den ich zwar von Anfang an nicht gebilligt habe, aber vor dem ich einmal Respekt hatte, und jetzt noch mehr.«
«Und was ist mit dem anderen Mann? Wenn Carlos wirklich in Erscheinung tritt, öffnen Sie ihm jetzt Tür und Tor, verschaffen ihm eine Fluchtmöglichkeit.«
«Carlos haben wir nicht erfunden. Cain haben wir erfunden und mißbraucht. Wir haben ihn zerstört. Das, was wir jetzt machen, sind wir ihm schuldig. Gehen Sie hinunter und holen Sie die Frau. Ich werde inzwischen telefonieren.«
Borowski betrat die große Bibliothek mit den breiten, eleganten französischen Türen, durch die das Sonnenlicht hereinströmte. Auf der ändern Seite der Glasscheiben waren die hohen Mauern des Gartens… rings um ihn Gegenstände, die zu betrachten ihm Schmerz bereitete; er kannte sie und kannte sie doch nicht. Sie waren Teile von Träumen — aber sie hatten Form und Gestalt, man konnte sie berühren, fühlen, benutzen —, sie waren nicht nur Schemen. Ein langer Klapptisch, auf dem man Gläser füllte, lederne Sessel, in denen Männer saßen und sich unterhielten, Regale, voller Bücher und anderer Dinge — die manches verbargen —, Gegenstände, die dann erschienen, wenn man Knöpfe drückte. Es war der Raum, in dem ein Mythos zur Welt gekommen war, ein Mythos, der in Südostasien geboren wurde und in Europa
zugrunde ging.
Er sah die lange, röhrenförmige Ausbuchtung in der Decke, und da kam wieder die Dunkelheit auf ihn zu; Lichtblitze und Bilder wie auf einer Leinwand, und Stimmen, die ihm ins Ohr schrien.
Wer ist das? Schnell. Das war zu langsam! Jetzt wären Sie schon ein toter Mann! Wo ist diese Straße? Was bedeutet sie Ihnen? Wem sind Sie dort begegnet?… Tötungsmethoden. Was sind die Ihren? Nein!.. Sie sind nicht Delta!.. Sie sind das, was Sie hier sind, hier geworden sind!
«Hey! Wer zum Teufel bist du denn?«Ein rotgesichtiger Mann, der in einem Lehnsessel neben der Türe saß, mit einem Block auf den Knien, schrie ihn an. Jason war einfach an ihm vorbeigegangen.
«Sind Sie Doogan!« fragte Borowski.
«Yeah.«
«Schumach schickt mich. Er hat gesagt, daß hier noch einer gebraucht wird.«
«Wozu denn! Ich hab' schon fünf, und die Gänge in dieser Scheißbude sind so eng, daß man kaum durchkommt.«
«Ich weiß nicht. Schumach hat mich geschickt, mehr weiß ich nicht. Er hat gesagt, ich soll das Zeug hier mitbringen. «Borowski ließ die Decken und Gurte auf den Boden fallen.
«Noch mehr so Kram? Warum denn! So, so, und Schumach hat dich geschickt. Ich soll ihn fragen?«
«Geht jetzt nicht. Er hat gesagt, er fährt nach Sheepshead. Heut nachmittag ist er wieder da.«
«Na Klasse! Er geht zum Fischen, und mich läßt er in der Scheiße hocken… Du bist neu. Anfänger aus der Packerschule?«
«Yeah.«
«Dieser Murray ist vielleicht 'n Typ. Zwei alte Besserwisser, die dauernd meckern, und vier neue.«
«Soll ich hier anfangen? Ich könnte gleich…«
«Nein, du Arschloch! Neue fangen immer oben an, haben die dir das nicht beigebracht? Da zeigt sich, was du kannst, kapiert!«
«Yeah, kapiert.« Jason bückte sich nach den Decken und Gurten.
«Laß den Kram hier — den brauchst du nicht. Geh nach oben, oberstes Stockwerk, und nimm die schweren Holztrümmer. So schwer du sie schleppen kannst. Und daß du
mir ja nicht mit irgendwelchem Scheiß von der Gewerkschaft kommst.«
Borowski ging die Treppe in den ersten Stock hinauf und stieg dann die schmalen Stufen weiter ins zweite Stockwerk. Es war, als zöge ihn eine magnetische Kraft, die sein Begriffsvermögen überstieg, ganz nach oben in einen bestimmten Raum der Backsteinvilla, einen Raum, den er nur aus seinen Bildern kannte. Der Treppensims war düster, keine Lichter brannten, und nirgends kam die Sonne durch die Fenster. Er hatte jetzt die oberste Stufe erreicht, stand einen Augenblick lang stumm da. Welches Zimmer war es? Da waren drei Türen, zwei an der linken Seite des Ganges, eine an der rechten. Er setzte sich langsam auf die zweite Türe links in Bewegung, er konnte sie in dem schlechten Licht kaum sehen. Das war es; von dort kamen die Gedanken in der Dunkelheit… Erinnerungen, die ihn plagten, Schmerz bereiteten. Sonne und der Gestank des Flusses, des Dschungels… heulende Maschinen am Himmel, Maschinen, die aus dem Himmel herunterschossen. O Gott, wie das wehtat!
Er legte die Hand auf den Türknopf, drehte ihn herum und öffnete die Tür. Finsternis, aber nicht völlige Finsternis schlug ihm entgegen. Am anderen Ende des Raumes war ein kleines Fenster, ein schwarzer Vorhang war vorgezogen, der es bedeckte, aber nicht ganz. Er konnte einen dünnen Lichtspalt sehen, so schmal, daß das Licht kaum durchbrach, dort, wo der Vorhang den Fenstersims berührte. Er ging auf das Fenster zu, auf den dünnen, winzigen Lichtspalt.
Ein Scharren! Ein Scharren in der Finsternis! Er wirbelte herum. Ein diamantenähnliches Blitzen war in der Luft, Licht, das sich in Stahl spiegelte.
Ein Messer schoß auf sein Gesicht zu.
«Für das, was Sie getan haben, würde ich am liebsten zusehen, wie Sie langsam sterben«, sagte Marie und starrte Conklin an.»Und diese Erkenntnis stößt mich wiederum ab.«
«Darauf kann ich Ihnen nichts sagen«, erwiderte der CIA-Mann und hinkte durch das Zimmer auf den General zu.»Es hätte auch anders kommen können — Sie und er hätten sich was einfallen lassen können.«
«Was denn? Wo denn? Als dieser Mann in Marseille ihn zu töten versuchte? In der Rue Sarrasin? Als sie ihn in Zürich jagten? Als sie in Paris auf ihn schossen? Und er wußte die
ganze Zeit nicht, warum. Was hätte er tun sollen?«
«Sich zeigen! Verdammt, sich zeigen!«»Das hat er getan. Kürzlich, als Sie versuchten, ihn zu töten.«»Sie waren doch bei ihm. Sie hatten doch ein Gedächtnis.«»Angenommen, ich hätte gewußt, an wen ich mich wenden sollte — hätten Sie mir überhaupt zugehört?«
Conklin erwiderte ihren Blick.»Ich weiß nicht«, antwortete er und senkte dann den Kopf. Dann wandte er sich Crawford zu.»Was geschieht jetzt?«
«Washington will, daß ich binnen zehn Minuten zurückkehre.«
«Aber was geschieht!«
«Ich bin nicht sicher, daß Sie das hören wollen. Einmischung des Bundes in staatliche und städtische Polizeioperationen. Das erfordert Freigabebescheide.«
«Herrgott!«
«Schauen Sie!«Der Offizier beugte sich plötzlich ans Fenster.»Der Möbelwagen fährt weg.«
«Jemand ist durchgekommen«, sagte Conklin.
«Wer?«
«Das werden wir gleich haben. «Der CIA-Mann hinkte zum Telefon. Auf dem Tisch lagen ein paar Papier fetzen mit hastig hingekritzelten Telefonnummern. Er nahm einen der Zettel und wählte.»Geben Sie mir Schumach… bitte… Schumach? Hier spricht Conklin, Central Intelligence. Wer hat Sie verständigt?«
Die Stimme des anderen konnte durch das halbe Zimmer gehört werden, so laut schrie er ins Telefon.»Was heißt verständigt? Jetzt lassen Sie mich endlich in Frieden! Wir haben diesen Auftrag übernommen und führen ihn zu Ende! Verdammt, ich glaube wirklich, Sie spinnen — «
Conklin knallte den Hörer auf die Gabel.»Herrgott…!«Seine Hand zitterte, als er wieder nach dem Hörer griff. Er nahm ihn ab und wählte erneut, wobei er diesmal auf ein anderes Stück Papier sah.»Petrocelli. Rückführung!«befahl er.»Petrocelli? Noch mal Conklin.«
«Sie waren plötzlich weg. Was war los?«
«Keine Zeit. Jetzt einmal ganz offen. Dieser eilige Lieferschein — wer hat ihn unterschrieben?«
«Was soll das heißen, wer ihn unterschrieben hat? Der Oberbonze, der die Scheine immer unterschreibt, McGivern.«
Conklins Gesicht wurde weiß.»Das hatte ich befürchtet«, flüsterte er und ließ den Hörer sinken. Er wandte sich zu Crawford und seine Lippen zitterten, als er sprach.»Die Anweisung an die Dienstleistungsabteilung ist von einem Mann unterzeichnet, der vor zwei Wochen pensioniert wurde.«
«Carlos… «
«O Gott!«schrie Marie.»Der Mann mit den Decken und Gurten! Die Art, wie er den Kopf hielt, den Hals. Etwas nach rechts. Das war er! Wenn er Kopfschmerzen hat, legt er den Kopf immer etwas nach rechts. Das war Jason! Er ist hineingegangen.«
Alexander Conklin wandte sich wieder dem Fenster zu und sah zu der schwarz lackierten Tür auf der anderen Straßenseite hinüber. Sie war verschlossen.
Die Hand! Die Haut… die dunklen Augen in dem dünnen Lichtstreifen. Carlos!
Borowski riß den Kopf zurück, als die rasiermesserscharfe Schneide ihm die Haut unter dem Kinn aufriß, und das Blut über die Hand spritzte, die das Messer hielt. Sein rechter Fuß schoß vor und traf den unsichtbaren Angreifer an der Kniescheibe. Dann wirbelte er herum und trat dem Mann mit dem linken Absatz in den Unterleib. Carlos drehte sich, und wieder zuckte die Klinge aus der Finsternis, hob sich ihm entgegen, fuhr direkt auf seinen Leib zu. Jason sprang zurück, überkreuzte die Handgelenke, stieß nach unten, blockierte den dunklen Arm, der eine Verlängerung des Messergriffs war. Er verdrehte die Finger nach innen, so daß seine Hände eine Zange bildeten, die den Unterarm unter seinem blutbeschmierten Hals packte und schräg nach oben reißen konnte. Das Messer schnitt in den Stoff seiner Militärjacke, fuhr quer über seine Brust. Borowski drückte den Arm nach unten, verdrehte das Handgelenk, das er jetzt festhielt, rammte dem anderen die Schulter in den Leib und riß Carlos, als er das Gleichgewicht verlor und seitwärts stürzte, den Arm halb aus dem Gelenk.
Jason hörte das Messer auf dem Boden klirren. Er stürzte auf das Geräusch zu und griff gleichzeitig in seinen Gürtel, um die Pistole herauszuholen. Als sie sich im Stoff verfing, ließ er sich zu Boden fallen, aber nicht schnell genug. Die Stahlspitze eines Schuhs schmetterte ihm gegen die Schädelseite — die Schläfe — und rasender Kopfschmerz durchzuckte ihn. Wieder wälzte er sich zur Seite, schneller, immer schneller, bis er gegen die Wand stieß; dort richtete er sich halb auf und versuchte, in der fast völligen Dunkelheit etwas zu sehen. Der Umriß einer Hand fing sich in dem dünnen Lichtfaden, der durch das Fenster hereinfiel — er warf sich darauf, und seine eigenen Hände waren jetzt Klauen, die Arme Rammen. Er packte die Hand, bog sie nach hinten, brach das Handgelenk. Ein Schrei erfüllte den Raum.
Ein Schrei, und das hohle, tödliche Klacken eines Pistolenschusses, ein eisiger Schnitt links oben in Borowskis Brustkasten, die Kugel hatte sich irgendwo in der Nähe seines Schulterblattes festgebohrt. In seiner Agonie duckte er sich und sprang wieder, drängte den Killer über einem scharfkantigen Möbelstück an die Wand. Carlos bog sich zur Seite, während zwei weitere halb erstickte Schüsse ziellos abgegeben wurden. Jason warf sich nach links, bekam endlich die Waffe frei und richtete sie auf den Ort, von dem die Schüsse gekommen waren. Er feuerte, eine betäubende Explosion, aber ohne Wirkung. Er hörte die Tür krachend zufliegen; der Killer war nach draußen gerannt, in den Korridor.
Borowski versuchte, sich die Lungen voll Luft zu pumpen, und kroch auf die Türe zu. Als er sie erreichte, drängte ihn sein Instinkt, an der Seite zu bleiben und die Faust gegen das Holz am Boden zu schmettern. Was folgte, war ein Alptraum. Eine kurze Salve aus einer Maschinenwaffe, die Holzvertäfelung splitterte, Trümmer flogen durch den Raum. Kaum hatte der Feuerstoß aufgehört, als Jason die eigene Waffe hob und schräg durch die Tür feuerte; der Feuerstoß wurde wiederholt. Borowski wirbelte zur Seite, preßte den Rücken gegen die Wand; die Eruption hörte auf, und er feuerte wieder. Da standen zwei Männer, nur wenige Zoll voneinander entfernt, die von keinem anderen Wunsch beseelt waren, als einander zu töten. Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain. Du mußt Carlos unschädlich machen. Ihn in die Falle locken. Carlos töten!
Dann hörte Jason schnelle Schritte und das Geräusch eines zersplitternden Geländers, als eine Gestalt die Treppe hinuntertaumelte. Carlos rannte nach unten, das Tier wollte Hilfe, war verletzt. Borowski wischte sich das Blut vom Gesicht, von der Kehle, und trat durch die herausgerissene Türfüllung in den schmalen Korridor hinaus, die Waffe schußbereit in der Hand. Mühsam tastete er sich auf die
Treppe zu. Plötzlich hörte er unten Rufe.
«Was zum Teufel machst du da, Mann? Pete! Pete!«
Zwei metallisch klingende, hustende Laute erfüllten die Luft.
«Joey! Joey!«
Wieder einer dieser hustenden Laute; dann krachten irgendwo unten Körper auf den Boden.
«Herrgott! Jesus Christus, Mutter —!«
Wieder zwei metallisch hustende Laute, gefolgt von einem gutturalen Todesschrei. Ein dritter Mann war tot.
Was hatte dieser dritte Mann gesagt? Zwei alte Besserwisser und vier Neue. Der Umzugswagen war eine Carlos-Operation! Der Mörder hatte zwei Soldaten mitgebracht — die ersten drei Anfänger aus der Möbelpackerschule. Drei Männer mit Waffen, und er war alleine und besaß nur eine Pistole. Belagert im obersten Stockwerk der Backsteinvilla. Aber Carlos befand sich im Haus. Im Haus. Wenn er entkommen konnte, dann würde Carlos derjenige sein, der belagert würde, der in die Ecke Getriebene! Wenn er hinauskam. Hinaus!
Am vorderen Ende des Korridors war ein Fenster, das ein dunkler Vorhang verdeckte. Jason arbeitete sich darauf zu, stolperte, hielt sich den Hals, schob die Schulter vor, um den Schmerz an seiner Brust erträglich zu machen. Er riß den Vorhang von der Stange; das Fenster war klein, und das Glas war auch hier dick und von prismatischen purpurnen und blauen Lichtern durchzogen. Es war unzerbrechlich, und der Rahmen war fest in die Mauer eingelassen; unmöglich, die Scheibe einzuschlagen. Und dann wanderte sein Blick nach unten zur Einundsiebzigsten Straße. Der Möbelwagen war verschwunden! Jemand mußte ihn weggefahren haben… einer von Carlos' Soldaten! Blieben zwei. Zwei Männer, nicht drei. Und er war ganz oben; es war immer von Vorteil, oben zu sein.
Das Gesicht von Schmerz verzerrt, den Körper zusammengekrümmt, arbeitete Borowski sich zur ersten Türe links vor; sie stand parallel zur Treppe. Er öffnete sie und trat ein. Nach dem Bild, das sich ihm bot, handelte es sich um ein gewöhnliches Schlafzimmer: Lampen, schwere Möbel, Bilder an den Wänden. Er packte die nächststehende Lampe, riß die Schnur aus der Wand und trug sie zum Geländer. Er hob sie über den Kopf und schleuderte sie nach unten, trat zurück, als Metall und Glas drunten zersplitterten. Wieder ein Feuerstoß, die Kugeln bohrten sich in die Decke, hinterließen eine gerade Linie im Verputz. Jason schrie, ließ seinen Schrei in ein Stöhnen und dann ein verzweifeltes Jammern ausklingen, dann war Stille. Er schob sich hinter das Geländer, wartete. Stille.
Da geschah es. Er konnte die langsamen, vorsichtigen Schritte hören; der Killer war im ersten Stock auf dem Treppenabsatz gewesen. Die Schritte kamen näher, wurden lauter; an der dunklen Wand tauchte ein schwacher Schatten auf. Jetzt. Borowski sprang aus seiner Deckung vor und gab schnell hintereinander vier Schüsse auf die Gestalt auf der Treppe ab; eine Reihe von Einschußlöchern und Bluteruptionen zog sich schräg über den Kragen des Mannes. Der Killer fuhr herum, stieß einen brüllenden Schrei aus, in den sich Wut und Schmerz mischten, dann stürzte er die Treppe hinunter und blieb verdreht, mit dem Gesicht nach oben, auf den untersten drei Stufen liegen. In den Händen hielt er immer noch die tödliche Maschinenpistole.
Jetzt. Jason rannte auf die Treppe zu, raste hinunter, hielt das Geländer, versuchte, mit letzter Kraft das Gleichgewicht zu halten. Er durfte keinen Augenblick vergeuden; jeder konnte sein letzter sein. Wenn er das erste Stockwerk erreichen würde, dann jetzt; unmittelbar nach dem Tod des Soldaten. Und als er über die Leiche sprang, wußte Borowski, daß es ein Soldat war, nicht Carlos. Der Mann war hochgewachsen, und seine Haut war weiß, sehr weiß, seine Züge waren nordisch, oder jedenfalls nordeuropäisch, keineswegs südländisch.
Jason rannte in den Korridor des ersten Stockes, suchte die Schatten, preßte sich gegen die Wand. Jetzt blieb er stehen, lauschte. In der Ferne war ein scharfes Scharren zu hören, jetzt auch eines von unten. Er wußte, der Mörder bewegte sich im Erdgeschoß. Und das Geräusch war nicht absichtlich gewesen; es war nicht laut und auch nicht lang genug gewesen, um auf eine Falle zu deuten. Carlos war verletzt — eine zerschlagene Kniescheibe oder ein gebrochenes Handgelenk würden seine Orientierung genügend behindern, um ihn mit einem Möbelstück kollidieren oder mit einer Waffe in der Hand gegen eine Wand stoßen zu lassen und dabei das Gleichgewicht zu verlieren, wie Borowski das seine verlor. Das war es, was er wissen mußte.
Jason duckte sich und kroch zur Treppe zurück, zu der
Leiche, die über den drei untersten Stufen lag. Er mußte einen Augenblick innehalten; er spürte, wie die Kräfte ihn verließen, er hatte zu viel Blut verloren. Er versuchte, das Fleisch an seinem Hals zusammenzuquetschen und seine Brustwunde zu pressen — alles, um nur die Blutung zu stillen. Aber das war sinnlos; um am Leben zu bleiben, mußte er aus der Villa heraus, den Ort verlassen, an dem Cain zur Welt gekommen war. Jetzt ging sein Atem wieder etwas regelmäßiger, und er griff nach der Maschinenpistole und nahm sie dem Toten weg. Er war bereit zu sterben und bereit, Carlos in die Falle zu locken… Carlos zu töten! Er konnte das Haus nicht verlassen; das wußte er; die Zeit stand nicht auf seiner Seite. Bis dahin würde er zu viel Blut verloren haben. Das Ende war der Anfang: Cain war für Carlos und Delta war für Cain. Nur eine quälende Frage blieb: wer war Delta? Es hatte nichts zu besagen. Das lag jetzt hiner ihm; bald würde Dunkelheit um ihn sein. Nicht gewalttätige, sondern friedliche Dunkelheit… Freiheit von jener Frage.
Und mit seinem Tode würde Marie frei sein, seine Liebe würde frei sein. Anständige Männer würden dafür sorgen, wie Villiers, dessen einziger Sohn auf der Rue du Bac getötet worden war und dessen Leben von der Hure eines Verbrechers zerstört worden war.
Im Laufe der nächsten paar Minuten, dachte Jason und prüfte lautlos den Ladestreifen in der Automatikwaffe, würde er das Versprechen erfüllen, das er jenem Mann gegeben hatte, die Übereinkunft erfüllen, die er mit Männern getroffen hatte, die er nicht kannte. Indem er beides tat, lieferte er den Beweis. Jason Borowski war einmal an diesem Tag gestorben; er würde erneut sterben, aber er würde Carlos mitnehmen. Er war bereit.
Er ging in die Knie und kroch auf den Ellbogen zur Treppe zu. Er konnte das Blut unter sich riechen. Die Zeit verrann. Er erreichte die oberste Stufe, zog die Beine an, griff in die Tasche und holte eine der Straßenfackeln heraus, die er in dem Laden an der Lexington Avenue gekauft hatte. Jetzt wußte er, was ihn gedrängt hatte, sie zu kaufen. Er war wieder in Tam Quan, an das er sich nicht erinnerte, das er vergessen hatte. Die Fackeln hatten es ihm ins Gedächtnis gerufen; sie würden jetzt wieder einen Dschungel beleuchten.
Er wickelte den wachsgetränkten Zünder aus der kleinen, runden Vertiefung an der Fackelspitze, führte ihn zum Mund und biß den Docht auf einen knappen Zoll ab. Er griff in die andere Tasche und holte ein Plastikfeuerzeug heraus, drückte es gegen die Fackel und packte beides mit der linken Hand. Dann preßte er die Schulterstütze der Waffe gegen die rechte Schulter und schob den gebogenen Metallstreifen in das Tuch seiner blutdurchtränkten Militärjacke; hier war er sicher. Er streckte die Beine aus und schob sich wie eine Schlange die letzte Treppe hinunter, den Kopf unten, die Füße oben, so daß sein Rücken an der Wand streifte.
Er erreichte die Mitte der Treppe. Schweigen, Dunkelheit, sämtliche Lichter waren gelöscht worden… Lichter? Licht? Wo waren die Sonnenstrahlen, die er erst vor wenigen Minuten im Korridor gesehen hatte? Sie waren durch zwei französische Türen am anderen Ende des Raumes — jenes Raumes — am Ende des Korridors gekommen, aber er konnte jetzt nur Dunkelheit sehen. Die Türen waren geschlossen worden; die Tür unter ihm, die einzige andere Tür im Korridor, war ebenfalls verschlossen und nur durch einen dünnen Lichtstrahl ganz unten zu erkennen. Carlos zwang ihn zur Wahl. Hinter welcher Türe? Oder gebrauchte der Meuchelmörder eine bessere Strategie? Hielt er sich in der Finsternis des schmalen Ganges selbst verborgen?
Borowski spürte einen stechenden Schmerz am Schulterblatt und dann eine Bluteruption, die das Flanellhemd unter seiner Militärjacke durchtränkte. Eine weitere Warnung; es war nur noch sehr wenig Zeit.
Er preßte sich gegen die Wand, die Waffe auf die dünnen Streben des Geländers gerichtet, nach unten in die Finsternis des Korridors zielend. Jetzt! Er betätigte den Abzug. Das
Stakkato der Explosionen riß die Geländerstreben weg, und das Geländer selbst fiel hinunter, während die Kugeln Wände und Tür unter ihm zerfetzten. Er ließ den Abzug los, fuhr mit der Hand unter den glühend heißen Lauf, packte das
Plastikfeuerzeug mit der rechten Hand und die Fackel mit der linken. Er drehte das Rädchen; der Docht fing Feuer, er hielt ihn an den kurzen Zünder. Dann zog er die Hand wieder weg,
griff wieder nach der Waffe und feuerte erneut, blies unten
alles weg. Ein Glaskandelaber krachte irgendwo zu Boden; das Pfeifen von Querschlägern erfüllte die Dunkelheit. Und dann
— Licht! Blendendes Licht, als die Fackel Feuer fing, den Dschungel mit Flammen erfüllte, die Bäume und die Wände beleuchtete, die verborgenen Wege und die mit Mahagoni vertäfelten Korridore. Der Gestank des Todes und des Dschungels war überall, und er befand sich mittendrin.
Almanach an Delta. Almanach an Delta. Aufgeben. Aufgeben!
Niemals. Nicht jetzt. Nicht am Ende. Cain ist für Carlos und Delta ist für Cain. Carlos in die Falle locken. Carlos töten!
Borowski erhob sich, preßte den Rücken gegen die Wand, hielt die Fackel in der linken Hand und die knatternde Waffe in der rechten. Er stürzte sich hinunter in das mit Teppichen belegte Unterholz, trat die Tür vor sich auf, zerschmetterte Silberrahmen und Trophäen, die von Tischen und Regalen in die Luft flogen. In die Bäume. Er blieb stehen; in jenem stillen, schallgedämpften, eleganten Raum war niemand. Niemand auf dem Dschungelpfad.
Er wirbelte herum, taumelte in den Korridor zurück, jagte einen Feuerstoß über die Wände. Niemand.
Die Tür am Ende des schmalen, finsteren Korridors. Dahinter war der Raum, in dem Cain geboren war. Wo Cain sterben würde, aber nicht allein.
Er hörte auf zu schießen, klemmte die Fackel jetzt in die rechte Hand unter der Waffe und griff in die Tasche, um die zweite Fackel herauszuholen. Er zog sie heraus, wickelte wieder den Zünder auf, biß die Schnur ab, nur Millimeter von der Kontaktstelle der gelatineartigen Brandmasse entfernt. Er hielt die erste Fackel hin; die Lichtexplosion war so hell, daß seine Augen schmerzten. Jetzt hielt er ungeschickt beide Fackeln in der linken Hand, kniff die Augen zusammen und näherte sich langsam der Tür, wobei seine Beine und Arme anfingen, den Kampf um das Gleichgewicht zu verlieren.
Sie war offen, die schmale Fuge reichte auf der Schloßseite von ganz oben bis unten. Der Mörder kam ihm entgegen, aber als Jason die Türe ansah, wußte er instinktiv etwas über sie, das Carlos nicht wußte. Sie war ein Teil seiner Vergangenheit, ein Teil des Raumes, in dem Cain zur Welt gekommen war. Er griff mit der rechten Hand nach unten, quetschte sich die Waffe zwischen Unterarm und Hüfte und griff nach dem Türknopf.
Jetzt. Er schob die Tür sechs Zoll weit auf und warf die Fackeln hinein. Ein langer Feuerstoß aus einer Sten-Maschinenpistole hallte durch den Raum, durch das ganze Haus. Tausend tote Töne, die unter ihm einen Akkord bildeten, als der Kugelhagel sich in ein Schild aus Blei bohrte, hinter
dem eine Stahlplatte in die Tür eingelassen war.
Die Salve hörte auf, der letzte Ladestreifen war verbraucht. Jetzt. Borowskis Hand fuhr an den Abzug, er warf sich mit der Schulter gegen die Tür, stürzte sich hinein, feuerte im Kreise, während er sich auf dem Boden wälzte und die Beine im Gegensinn des Uhrzeigers schwang. Ungezielte Schüsse antworteten ihm, während Jasons Waffe die Herkunft jener Schüsse suchte. Ein wilder Wutschrei hallte ihm aus der Finsternis entgegen; Borowski hatte bereits erkannt, daß man die Vorhänge zugezogen hatte und damit dem Licht den Zutritt versperrte. Warum war dann hier so viel Licht… grelles Licht? Es war überwältigend, verursachte Explosionen in seinem Kopf, einen scharfen, bohrenden Schmerz in seinen Schläfen.
Die Leinwand! Die riesige Leinwand war aus der Decke gezogen, bis zum Boden gespannt, und die weite, glänzende Silberfläche war wie ein weißglühender Schild eiskalten Feuers. Er stürzte sich hinter den großen Klapptisch, wo die Bar ihm Schutz bieten sollte. Dort richtete er sich auf und drückte wieder ab, noch mal ein Feuerstoß. Sein letzter Ladestreifen war verbraucht. Er schleuderte die Waffe am Kolben auf die Gestalt im weißen Overall mit dem weißen Seidentuch, das über das Gesicht heruntergerutscht war.
Das Gesicht! Er kannte es! Er hatte es schon einmal gesehen! Wo… wo? War es in Marseille? Ja… nein! Zürich? Paris? Ja und nein! Und dann wurde es ihm in jenem Augenblick in dem blendenden, vibrierenden Licht klar, daß das Gesicht auf der anderen Seite des Zimmers vielen bekannt war, nicht nur ihm. Aber von wo? Wo? Wie so vieles andere wußte er es und wußte es auch wieder nicht. Aber er würde es immer wiedererkennen.
Er warf sich zu Boden, hinter die schwere kupferne Bar. Pistolenschüsse, zwei… drei, und die zweite Kugel riß ihm am linken Unterarm das Fleisch auf. Er zog die Automatic aus dem Gürtel; drei Schüsse hatte er noch. Einer davon mußte sein Ziel finden — Carlos. Es gab eine Schuld in Paris zu begleichen, einen Kontrakt zu erfüllen. Und die Frau, die er liebte, würde erst in Sicherheit sein, wenn der Killer tot war. Er holte das Plastikfeuerzeug aus der Tasche, zündete es an und hielt es unter einen Wischlappen, der hinter der Bar an einem Haken hing. Das Tuch fing Feuer; er packte es und warf es nach rechts, während er sich gleichzeitig nach links stürzte.
Carlos feuerte auf den brennenden Fetzen, während Borowski sich aufrichtete, die Waffe hob und zweimal abdrückte.
Die Gestalt krümmte sich, stürzte aber nicht. Jetzt duckte er sich und sprang dann schräg nach vorne, die Hände ausgestreckt. Was machte er nur? Und dann wußte es Jason. Carlos packte den Rand der riesigen silbernen Leinwand, riß sie von ihrer Halterung in der Decke und zog sie unter Aufbietung all seiner Kraft nach unten.
Sie schwebte über Borowski, füllte sein Gesichtsfeld, verdrängte alles andere aus seinem Bewußtsein. Er schrie, als das schimmernde Silber ihn begrub, und verspürte davor plötzlich mehr Angst als vor Carlos oder irgendeinem anderen menschlichen Wesen auf Erden. Es erschreckte ihn, machte ihn wütend, spaltete sein Bewußtsein in viele Stücke; Bilder schwammen vor seinen Augen, wütende Stimmen schrien ihm in die Ohren. Er hob die Waffe und feuerte auf das schreckliche Leichentuch. Und als er wild mit der Hand danach schlug, das rauhe Silbertuch wegzerrte, begriff er. Er hatte seinen letzten Schuß abgefeuert, seinen letzten. Ebenso wie er, kannte auch Carlos jede Waffe auf Erden, wenn er sie einmal gesehen oder gehört hatte; er hatte die Schüsse gezählt.
Der Mörder ragte über ihm auf, die Automatic in seiner Hand war auf Jasons Kopf gerichtet.»Ihre Hinrichtung, Delta. Am geplanten Tag. Für alles, was Sie getan haben.«
Borowski krümmte seinen Rücken, warf sich wild nach rechts; zumindest würde er bis zuletzt kämpfen. Schüsse erfüllten den Raum, heiße Nadeln wanderten über seinen Hals, durchbohrten seine Beine, schnitten bis zu seiner Hüfte herauf. Du mußt rollen, rollen!
Plötzlich verstummten die Schüsse, und er konnte aus der Ferne gleichmäßige hämmernde Laute hören, Schläge auf Holz und Stahl, die lauter wurden, eindringlicher. Aus dem finsteren Korridor vor der Bibliothek war ein letztes, betäubendes Krachen zu hören, dann das Schreien von Männern, Schritte und dahinter irgendwo in der unsichtbaren Welt draußen das ohrenbetäubende Heulen von Sirenen.
«Hier drinnen! Er ist hier drinnen!«schrie Carlos.
Es war wahnsinnig! Der Meuchelmörder lenkte die Eindringlinge direkt zu ihm, zu ihm! Ein hochgewachsener Mann in einem schwarzen Mantel trat die Türe ein, jemand war bei ihm, aber Jason konnte nichts sehen. Die Nebel erfüllten seine Augen, Umrisse und Laute wurden undeutlich,
verschwommen. Er drehte sich im Raum. Weg… weg.
Aber dann sah er etwas, das ihn mit Entsetzen erfüllte. Ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit dunklem Haar und olivfarbener Haut rannte aus dem Raum, den schwach beleuchteten Korridor hinunter. Carlos. Seine Schreie hatten die Falle gesprengt! Er hatte sie umgedreht! In dem Chaos hatte er die Verfolger in die Falle gelockt. Er entkam!
«Carlos…«Borowski wußte, daß man ihn nicht hören konnte; was sich seiner blutenden Kehle entrang, war nur ein Flüstern. Er versuchte es noch einmal, zwang das Geräusch aus den Tiefen seiner Brust. »»Er ist es. Das ist… Carlos!«
Um ihn herum herrschte Verwirrung, Befehle wurden wild durcheinander gerufen, Anweisungen verworfen. Und dann tauchte eine Gestalt auf. Ein Mann hinkte auf ihn zu, ein Krüppel, der in einem Friedhof in der Nähe von Paris versucht hatte, ihn zu töten. Nichts blieb ihm erspart! Jason taumelte, kroch auf die zischende, blendende Fackel zu. Er packte sie und hielt sie, als wäre sie eine Waffe, zielte mit ihr auf den Killer mit dem Stock.
«Komm nur! Komm her! Näher, du Bastard! Ich brenne dir die Augen aus! Du glaubst, du wirst mich töten, aber das wirst du nicht! Ich töte dich! Die Augen brenne ich dir aus!«
«Sie verstehen nicht«, sagte die zitternde Stimme des hinkenden Killers.»Ich bin es, Delta. Ich — Conklin. Ich habe mich getäuscht.«
Die Fackel versengte ihm die Hände, die Augen!.. Wahnsinn. Eine Explosion löste die andere ab, sie blendeten ihn, jagten ihm Angst und Schrecken ein, waren von ohrenbetäubenden, kreischenden Lauten aus dem Dschungel durchsetzt, die mit jeder Detonation hervorbrachen.
Der Dschungel! Tam Quan! Der nasse, heiße Gestank war überall, aber sie hatten es erreicht! Das Stützpunktlager gehörte ihnen!
Eine Explosion zu seiner Linken; er konnte sie sehen. Hoch über dem Boden, zwischen zwei Bäumen hängend, ein Bambuskäfig. Die Gestalt in dem Käfig bewegte sich. Er lebte! Er mußte zu ihm kommen, ihn erreichen!
Ein Schrei kam von rechts. Keuchend, in dem Rauch hustend, hinkte ein Mahn auf das dichte Unterholz zu, ein Gewehr in der Hand. Er war es, auf sein blondes Haar fiel Licht, er hatte sich bei einem Fallschirmabsprung den Fuß gebrochen. Der Bastard! Ein Stück Dreck, das mit ihnen nach
Norden geflogen war…. und die ganze Zeit die Falle vorbereitet hatte, in die sie gehen sollten! Ein Verräter mit einem Radio, der dem Feind genau sagte, wo er in dem undurchdringlichen Dschungel von Tam Quan nach ihnen suchen mußte.
Es war Borowski! Jason Borowski. Verräter, Abschaum!
Er mußte ihn erwischen! Er durfte nicht zulassen, daß er die anderen erreichte! Mußte ihn töten! Jason Borowski töten! Er ist dein Feind! Feuer!
Er fiel nicht! Der Kopf, der in Stücke gerissen worden war, war immer noch da, kam auf ihn zu! Was geschah hier? Wahnsinn. Tam Quan…
«Kommen Sie mit uns«, sagte die hinkende Gestalt und trat aus dem Dschungel in die Überreste eines elegahten Zimmers.»Wir sind nicht Ihre Feinde. Kommen Sie mit uns.«
«Gehen Sie weg!« Wieder warf Borowski sich vor, jetzt zurück zu der Leinwand, die von der Decke gefallen war. Sie war seine Zuflucht, sein Leichentuch, die Decke, die man bei der Geburt über einen Menschen legt, die Decke, womit man seinen Sarg ausschlägt.»Sie sind mein Feind! Verstehen Sie denn nicht! Ich bin Delta. Cain ist für Charlie und Delta ist für Cain! Was wollen Sie noch mehr von mir? Ich war und ich war nicht! Ich bin und ich bin nicht! Bastarde, Bastarde! Kommt nur! Näher!«
Jetzt war eine andere Stimme zu hören, tiefer, ruhiger, weniger eindringlich.»Holt sie. Bringt sie herein.«
Irgendwo in der Ferne schwollen die Sirenen zu einem Crescendo an und verstummten dann. Dunkelheit kam, und die Wellen trugen Jason hinauf in den Nachthimmel, nur um ihn erneut in die Tiefe zu reißen, ihn in einen Abgrund wäßriger Gewalt zu schleudern. Er drang in eine Ewigkeit der Gewichtslosigkeit ein… der Erinnerung. Jetzt erfüllte eine Explosion den Nachthimmel, ein feuriges Diadem erhob sich über den schwarzen Wassern. Und dann hörte er die Worte, sie kamen aus den Wolken und erfüllten die Erde.
«Jason, mein Geliebter. Meine einzige Liebe. Nimm meine Hand. Halt sie fest. Ganz fest, Jason. Fest, mein Geliebter.«
Und mit der Dunkelheit kam Friede.