Buch II

Kapitel 10

Keiner von beiden wußte, wann es geschehen war. Anfänglich hatte jeder noch seine Zweifel, ob er seinen Gefühlen trauen sollte. Es gab keine Konflikte, die zu überwinden, keine Barrieren, die zu übersteigen waren. Stumme Blicke und Gesten genügten oft, um sich zu verständigen.

Im Zimmer des Dorfgasthofes wurde Borowski von Marie ebenso intensiv gepflegt und betreut, wie das im Krankenhaus der Fall gewesen wäre. Untertags kümmerte sie sich um verschiedene praktische Dinge wie Kleider, Mahlzeiten, Landkarten und Zeitungen. Den gestohlenen Wagen hatte sie zu dem 15 Kilometer entfernten Städtchen Reinach gefahren, wo sie ihn einfach abgestellt hatte, und war dann mit einem Taxi nach Lenzburg zurückgefahren. Wenn sie nicht bei ihm war, konzentrierte Borowski sich darauf, auszuruhen und wieder zu Kräften zu kommen. Irgend etwas in seiner vergessenen Vergangenheit lehrte ihn, daß seine Genesung von seiner Disziplin abhing. Es war nicht das erste Mal, daß er sich in einer solchen Lage befand… schon vor Port Noir hatte er Ähnliches erlebt.

Wenn sie zusammen waren, redeten sie miteinander, zuerst verlegen. Zwei Fremde, die das Schicksal zusammengeworfen hatte, tasteten sich vorsichtig ab. Zu Anfang kreiste das Gespräch fast immer um die schrecklichen Ereignisse, die sie gemeinsam erlebt hatten.

Doch allmählich erfuhr Jason mehr über die Frau, die sein Leben gerettet hatte. Er wollte nicht, daß sie ebensoviel über ihn wußte wie er selbst, er aber nichts über sie. Woher stammte sie? Warum gab eine attraktive Frau mit dunkelrotem Haar und einer Haut, die ganz offensichtlich häufig Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war, vor, Doktor der Wirtschaftskunde zu sein?

«Weil sie das Leben auf der Farm leid war«, erwiderte Marie.

«Ohne Spaß? Sind Sie wirklich auf einer Farm groß geworden?«

«Nun, man muß wohl eher von einer kleinen Ranch

sprechen; klein im Vergleich mit den wirklich großen Farmen in Alberta.«

«Ihr Vater war also Rancher?«

Marie lachte.»Nein, eigentlich war er Buchhalter. Erst nach dem Krieg ist er Rancher geworden. Er war Pilot in der Royal Canadian Air Force. Wahrscheinlich kam ihm die Arbeit eines Buchhalters ein wenig langweilig vor, nachdem er so viel Himmel gesehen hatte.«

«Zu dem Schritt gehört aber ganz schön viel Mumm.«

«Mehr als Sie ahnen. Zuerst hat er fremdes Vieh auf Land, das ihm nicht gehörte, verkauft, ehe er die Ranch erwarb.«

«Ich glaube, ich könnte ihn mögen.«

«Das würden Sie auch.«

Sie hatte mit ihren Eltern und zwei Brüdern bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr in Calgary gelebt und war dann auf die McGill-Universität in Montreal gegangen. Dort hatte sich ihr Leben in eine Richtung entwickelt, wie sie es nie vorher geplant hatte. Sie, die vorher lieber hoch zu Roß über die Felder galoppierte, und an Schule und Paukerei keinerlei Interesse hatte, entdeckte plötzlich, wie aufregend es sein konnte, seinen Verstand zu gebrauchen.

«Früher hatte ich die Bücher als meine natürlichen Feinde angesehen, und plötzlich befand ich mich an einem Ort, umgeben von Leuten, die von ihnen besessen waren, und hatte selber mächtigen Spaß. Die ganze Zeit wurde geredet, Tag und Nacht, in den Seminaren, in überfüllten Lokalen beim Bier. Ich glaube, das viele Reden war es, das mich anzog. Klingt das einleuchtend für Sie?«

«Ich kann mich nicht an meine Studienzeit erinnern, aber ich kann es verstehen«, sagte Borowski.»Mir fällt das College nicht ein, aber ich bin ziemlich sicher, daß ich eines besucht habe. «Er lächelte.»Gespräche beim Bier hinterlassen ziemlich starke Eindrücke.«

Sie erwiderte sein Lächeln.»Was den Bierkonsum anbelangte, konnte ich gleich mit beeindruckenden Leistungen aufwarten. Ein junges Mädchen aus Calgary, das mit zwei älteren Brüdern aufgewachsen und dauernd mit ihnen im Wettbewerb gelegen hatte, vertrug mehr Bier als viele Jungs auf der Universität von Montreal.«

«Man muß Ihnen das übelgenommen haben.«

«Nein, man hat mich nur beneidet.«

Marie St. Jacques war fasziniert von der neuen Welt. Bald reiste sie nur noch selten zu ihren Eltern. Anfänglich galt ihr Interesse der Geschichte, bis sie erkannte, daß historische Prozesse meist von wirtschaftlichen Kräften gesteuert werden. Sie sattelte um auf Volkswirtschaft, und nach fünfjährigem Studium absolvierte sie ihr Examen mit so hervorragenden Noten, daß sie ein Stipendium der kanadischen Regierung nach Oxford erhielt.

«Das war ein Tag, kann ich Ihnen sagen. Ich dachte, meinen Vater würde der Schlag treffen. Ob Sie es glauben oder nicht, er überließ sein wertvolles Vieh meinen Brüdern, um nach Osten zu fliegen und mir das Ganze auszureden.«

«Warum? Er war doch Buchhalter; und Sie wollten Ihren Doktor in Volkswirtschaft machen.«

«Machen Sie ja nicht den Fehler«, rief Marie aus.»Buchhalter und Volkswirtschaftler sind von Natur aus verfeindet. Die einen sehen die Bäume, die anderen den Wald. Und die Schlüsse, die sie aus ihren Beobachtungen ziehen, sind in der Regel grundverschieden. Außerdem ist mein Vater nicht einfach Kanadier, er ist Frankokanadier. Ich glaube, er sah in mir eine Verräterin an Versailles. Als ich ihm dann erklärte, daß das Stipendium mich dazu verpflichte, mindestens drei Jahre für die Regierung zu arbeiten, besänftigte ihn das ein wenig. Er meinte, ich könne >der Sache von innen heraus besser dienen. Vive Quebec libre! Vive la France!«

Sie lachten beide.

Die dreijährige Verpflichtung für Ottawa wurde immer wieder verlängert: jedesmal, wenn sie sich mit dem Gedanken trug zu kündigen, wurde sie um eine Rangstufe befördert, bis sie schließlich ein großes Büro und eine Anzahl Mitarbeiter hatte.

«Macht korrumpiert natürlich«— sie lächelte —,»und niemand weiß das besser als eine hohe Beamtin, die von Banken und Firmen um Rat gefragt wird. Aber ich glaube, Napoleon hat das besser ausgedrückt: >Man stelle mir

genügend Orden zur Verfügung — und ich gewinne jeden Krieg.< Also blieb ich. Meine Arbeit macht mir ungeheuren Spaß, weil ich von der Sache was verstehe.«

Jason beobachtete sie, während sie sprach. Unter ihrer kühlen, kontrolliert wirkenden Fassade war da etwas Überschwengliches, Kindliches an ihr. Sie konnte sich schnell begeistern, zügelte aber ihren Enthusiasmus immer dann, wenn sie das Gefühl hatte, zu überschwenglich zu werden. Wahrscheinlich tut sie nie etwas, ohne mit Leib und Seele dabei zu sein, dachte er.»Ich bin sicher, daß Sie beruflich erfolgreich sind; aber das läßt Ihnen nicht viel Zeit für andere Dinge, oder?«

«Was für andere Dinge?«

«Oh, das übliche. Einen Mann, die Kinder, ein Haus mit Garten.«

«Vielleicht kommt das eines Tages noch; ich schließe es nicht aus.«

«Aber bis jetzt hat es sich noch nicht ergeben.«

«Nein. Einige Male war ich nahe davor, aber bis zur Heirat kam es nie.«

«Wer ist Peter?«

Das Lächeln verschwand.»Das hätte ich beinahe vergessen. Sie haben das Telegramm gelesen.«

«Es tut mir leid.«

«Das braucht es nicht. Das haben wir doch hinter uns… Peter? Ich bete ihn an. Wir haben fast zwei Jahre zusammengelebt, aber es hat nicht funktioniert.«

«Offenbar nimmt er Ihnen das nicht übel.«

«Das würde ich ihm auch nicht raten!«sie lachte wieder.»Er ist Abteilungsdirektor und hofft, bald ins Kabinett berufen zu werden. Wenn er nicht brav ist, erzähle ich dem Schatzministerium etwas, was er nicht weiß, und dann ist er wieder ein kleines Licht.«

«Er schrieb, er würde Sie irgendwann in den nächsten Tagen am Flughafen abholen. Sie sollten ihm besser telegrafieren.«

«Ja, ich weiß.«

Über ihre Abreise hatten sie bewußt nicht gesprochen, als wollten sie sich glauben machen, daß die Trennung in weiter Ferne läge. Marie hatte gesagt, sie wolle ihm helfen; er hatte akzeptiert, in der Annahme, sie würde von falscher

Dankbarkeit dazu getrieben, ein oder zwei Tage bei ihm zu

bleiben. Mehr erwartete er nicht. Alles andere war undenkbar.

Je länger sie miteinander sprachen oder sich schweigend

anblickten, desto wohler begannen sie sich zu fühlen.

Gelegentlich verspürten sie das Verlangen, den anderen zu berühren, und sie begriffen beide und zogen sich zurück. Alles andere war undenkbar.

Und so redeten sie immer wieder über die Ereignisse der Vergangenheit, die voller Brutalität und Schrecken gewesen waren und Marie St. Jacques aus ihrer heilen, geordneten Welt gerissen hatten. Das war zugleich aber auch eine Herausforderung für ihren ordnenden, analytischen Geist, der danach drängte, die Rätsel dieses Mannes, der sein Gedächtnis verloren hatte, zu ergründen. Ihr Suchen und Tasten wurde immer unnachgiebiger, ebenso eindringlich, wie Geoffrey Washburn auf der Ile de Port Noir seinen Patienten befragt hatte. Sie hatte jedoch nicht die Geduld des Arztes; denn sie hatte dafür keine Zeit; das wußte sie, und das trieb sie an den Rand der Hysterie.

«Wenn Sie die Zeitungen lesen, was fällt Ihnen dann auf?«

«Das Durcheinander, das Chaos. Aber das scheint überall das gleiche zu sein.«

«Seien Sie ernst. Was ist Ihnen vertraut?«

«Fast alles, aber ich kann Ihnen nicht sagen, weshalb.«

«Nennen Sie ein Beispiel.«

«Heute morgen habe ich eine Meldung über amerikanische Waffenlieferungen an Griechenland gelesen und von der anschließenden Debatte in den Vereinten Nationen; die Sowjets legten Protest ein. Ich verstehe, was das bedeutet, die machtpolitische Auseinandersetzung im Mittelmeer, die Folgen der Ereignisse im Mittleren Osten.«

«Noch ein Beispiel.«

«In einem anderen Artikel wurde davon berichtet, daß die Bonner Regierung in Ost-Berlin Protest eingelegt hat, weil die DDR den Interzonenverkehr behindert hat. Ostblock — westliche Allianz: ich begriff erneut.«

«Sie verstehen die politischen Zusammenhänge, nicht wahr?«

«Oder ich bin ganz einfach über die gegenwärtige Weltlage gut informiert. Ich glaube nicht, daß ich jemals Diplomat war. Das hohe Guthaben auf der Gemeinschaftsbank schließt eigentlich eine Beamtentätigkeit aus.«

«Das ist allerdings richtig. Immerhin sind Sie politisch auf dem laufenden. Wie ist es mit den Landkarten, die ich Ihnen auf Ihren Wunsch hin besorgt habe? Was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie sie sich anschauen?«

«In manchen Fällen lösen Namen von Hotels oder Straßen Bilder aus, so wie in Zürich. Manchmal tauchen auch Gesichter auf, aber nie Namen. Die Gesichter haben keine Namen.«

«Sie sind weit gereist.«

«Ja, ich denke schon.«

«Ich weiß, daß Sie viel gereist sind.«

«Also gut, dann bin ich eben gereist.«

«Wie sind Sie gereist? Mit dem Flugzeug oder per Auto? Genauer: Haben Sie Taxis benutzt, oder sind Sie selbst gefahren?«

«Beides, denke ich. Warum fragen Sie danach?«

«Nun, Flugzeuge würden bedeuten, daß Sie größere Entfernungen zurückgelegt haben. Hat man Sie abgeholt? Gibt es Gesichter auf Flughäfen oder in Hotels?«

«Straßen«, antwortete er unwillkürlich.

«Warum Straßen?«

«Ich weiß nicht. Gesichter sind mir in den Straßen begegnet… und an ruhigen Orten, finsteren Orten.«

«Waren das Restaurants oder Cafes?«

«Ja. Und Zimmer.«

«Hotelzimmer?«

«Ja.«

«Nicht Büros von irgendwelchen Firmen?«

«Manchmal. Aber eigentlich nur selten.«

«Also gut. Leute sind Ihnen begegnet. Männer? Frauen?«»Hauptsächlich Männer. Einige Frauen.«

«Worüber haben Sie geredet?«

«Keine Ahnung.«

«Versuchen Sie, sich zu erinnern.«

«Das kann ich nicht. Da sind keine Stimmen, keine Worte.«»Sie trafen sich mit Leuten; das bedeutet, daß Sie Verabredungen hatten. Wer hat die Termine für diese Treffen festgelegt? Jemand mußte das doch tun.«

«Telegramme. Telefongespräche.«

«Von wem? Von wo?«

«Ich weiß es nicht. Sie erreichten mich einfach.«

«In Hotels?«

«Ja. Meistens, denke ich.«

«Sie erzählten mir, der Empfangschef im >Carillon< hätte gesagt, Sie hätten Mitteilungen erhalten.«

«Dann wurden sie mir also ins Hotel geschickt.«

«Was verbinden Sie mit Seventy-One?«

«Treadstone.«

«Treadstone — das ist Ihre Firma, nicht wahr?«

«Das Wort hat keine weitere Bedeutung. Ich konnte den

Namen nirgendwo finden.«

«Konzentrieren Sie sich!«

«Tue ich ja. Er stand nicht im Telefonbuch. Ich habe in New York angerufen.«

«Sie halten den Namen für ungewöhnlich. Das ist er nicht.«

«Warum nicht?«

«Es könnte eine Abteilung sein oder eine Tochtergesellschaft, eine Firma, die man nur gegründet hat, um Einkäufe für eine Muttergesellschaft zu tätigen, deren Name den Preis in die Höhe treiben würde. So etwas geschieht jeden Tag.«

«Wen wollen Sie eigentlich überzeugen?«

«Sie. Es ist durchaus möglich, daß Sie der Beauftragte amerikanischer Geschäftsleute sind. Alles deutet darauf hin: die bereitgestellten Mittel, die vertrauliche Behandlung, die Ermächtigung durch einen Firmenbeauftragten, zu der es nie kam. Diese Fakten und Ihr offensichtliches Gespür für politische Veränderungen deuten darauf hin, daß Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit für einen Großaktionär oder Gesellschafter der Mutterfirma gearbeitet haben.«

«Sie reden schrecklich schnell.«

«Ich habe nichts gesagt, was nicht logisch ist.«

«Ihre Theorie kann nicht ganz stimmen.«

«Warum nicht?«

«Auf dem Konto sind keinerlei Entnahmen verbucht, nur Zugänge. Ich habe demnach nichts gekauft, sondern verkauft.«

«Das wissen Sie nicht; Sie können sich nicht erinnern. Man kann auch mit Termingeldern zahlen.«

«Ich weiß nicht einmal, was das bedeutet.«

«Ein Finanzexperte, der sich im Steuerrecht auskennt, würde das wohl wissen. Und wo ist der andere Widerspruch?«

«Man versucht jemanden nicht zu töten, nur weil er etwas zu einem billigeren Preis einkauft.«

«Das passiert, wenn der Betreffende einen folgenschweren Fehler gemacht hat. Was ich Ihnen zu erklären versuche, ist, daß Sie nicht sein können, was Sie nicht sind!«

«Sie sind sich aber Ihrer Sache verdammt sicher.«

«Allerdings. Ich habe drei Tage mit Ihnen verbracht. Sie haben mir viel erzählt, und ich habe Ihnen aufmerksam zugehört. Ein schrecklicher Fehler ist begangen worden. Oder es handelt sich um irgendeine Verschwörung.«

«Was für eine Verschwörung? Und gegen wen oder was?«

«Das ist es, was Sie herausfinden müssen.«

«Danke.«

«Sagen Sie mir, was kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Geld denken?«

Hören Sie auf! Tun Sie das nicht! Verstehen Sie denn nicht? Wenn ich an Geld denke, denke ich an Töten.

«Ich weiß nicht«, sagte er.»Ich bin müde, und möchte jetzt schlafen. Schicken Sie morgen Ihr Telegramm ab. Schreiben Sie Peter, daß Sie zurückkommen.«

Es war nach Mitternacht, am Anfang des vierten Tages, und der Schlaf wollte sich immer noch nicht einstellen. Borowski starrte zur Decke, auf das dunkle, glasierte Holz, das das Licht der Tischlampe auf der anderen Seite des Zimmers reflektierte. Das Licht blieb nachts eingeschaltet; Marie ließ es einfach brennen, ohne ihm weiter zu erklären, warum sie das tat.

Am Morgen würde sie nicht mehr dasein, und seine eigenen Pläne würden Gestalt annehmen müssen. Er würde noch ein paar Tage in dem Gasthof bleiben, den Arzt in Wohlen anrufen, damit er ihm die Fäden entfernte. Anschließend wollte er nach Paris. Das Geld war dort und auch noch etwas anderes; das wußte er, fühlte er. Eine endgültige Antwort auf seine Fragen würde er nur dort finden. Paris wartete auf ihn.

Sie sind nicht hilflos. Sie werden Ihren Weg finden.

Was würde er finden? Einen Mann namens Carlos? Wer war Carlos, und welche Beziehung hatte er zu Jason Borowski?

Er hörte, wie auf der Couch an der Wand Stoff raschelte. Er blickte hinüber und stellte überrascht fest, daß Marie nicht schlief. Vielmehr starrte sie ihn an.

«Sie haben unrecht«, sagte sie.

«Worin?«

«Mit dem, was Sie denken.«

«Sie wissen nicht, was ich denke.«

«Doch, das weiß ich. Ich habe diesen Blick in Ihren Augen gemerkt, wenn Sie Dinge sehen, bei denen Sie nicht sicher sind, ob sie überhaupt existieren, und Angst haben, daß sie existieren könnten.«

«Sie waren doch da«, erwiderte er.»Ich habe sie gesehen. Wie erklären Sie sich sonst die Ereignisse in der Brauerstraße oder im >Drei Alpenhäuser

«Dann finden Sie heraus, warum das alles passierte. Sie können nicht sein, was Sie nicht sind, Jason. Finden Sie es heraus.«

«In Paris«, sagte er.

«Ja, in Paris. «Marie erhob sich von der Couch. Sie trug ein gelbes Nachthemd mit Perlmuttknöpfen am Hals; es floß weich an ihrem Körper herunter, als sie barfuß auf sein Bett zuging. Als sie neben ihm stand, hob sie beide Hände und begann das Nachthemd aufzuknöpfen. Sie ließ es herunterfallen und setzte sich auf das Bett. Langsam beugte sie sich zu ihm herab, tastete nach seinem Gesicht, umschloß es mit beiden Händen, hielt ihn fast zärtlich fest, und ihre Augen suchten die seinen und ließen sie nicht mehr los.»Danke für mein Leben«, flüsterte sie.

«Danke für meines«, antwortete er und empfand dasselbe Verlangen wie sie. Er fragte sich, ob auch sie hinter ihrer Leidenschaft einen Schmerz verspürte. Er erinnerte sich an keine Frau, und vielleicht bedeutete sie deshalb alles für ihn, alles und mehr, viel mehr. Sie vertrieb die Finsternis für ihn. Sie ließ den Schmerz aufhören.

Für den Rest der Nacht gab sie ihm eine Erinnerung, weil auch sie sich nach Zärtlichkeit gesehnt hatte. Diese Stunde gehörte nur ihnen. Das war alles, was er wollte — dabei brauchte er sie mehr denn je.

Er griff nach ihrer Brust und zog ihren Kopf zu sich herunter. Das Feuchte ihrer Lippen erregte ihn, wischte alle Zweifel weg.

Sie hob die Decke und kam zu ihm.

Sie lag in seinen Armen, den Kopf auf seiner Brust, immer darauf bedacht, die Wunde an seiner Schulter nicht zu berühren. Sie glitt vorsichtig zurück, stützte sich auf ihre Ellbogen. Er sah sie an; ihre Augen verschmolzen ineinander, und beide lächelten. Sie hob die linke Hand und legte den Zeigefinger auf seine Lippen.

«Ich habe dir etwas zu sagen«, sprach sie mit leiser Stimme,»und ich möchte nicht, daß du mich unterbrichst. Ich schicke das Telegramm an Peter nicht ab. Noch nicht.«

«Einen Augenblick. «Er nahm ihre Hand von seinem Gesicht.

«Sei ruhig. Ich habe gesagt: >noch nicht<. Das heißt nicht, daß ich es nie abschicken werde, aber eine Weile werde ich damit noch warten. Ich bleibe bei dir. Ich werde mit dir nach Paris reisen.«

Er zwang sich, die Worte zu sprechen.»Und wenn ich nicht will, daß du das tust?«

Sie beugte sich vor, und ihre Lippen strichen über seine Wange.»Das glaube ich nicht.«

«Ich wäre an deiner Stelle nicht so sicher.«

«Aber du bist nicht ich. Ich bin ich, und ich weiß, wie du mich festgehalten hast und versucht hast, so viele Dinge zu sagen, die du nicht sagen konntest. Ich kann nicht erklären, was geschehen ist. Oh, wahrscheinlich gibt es da irgendwo eine psychologische Theorie, was geschieht, wenn zwei einigermaßen intelligente Leute gemeinsam in die Hölle gestürzt werden und wieder herauskriechen… gemeinsam. Vielleicht ist das wirklich alles. Aber im Augenblick ist da das Gefühl, bei dir bleiben zu müssen, und ich kann nicht davor weglaufen. Ich kann nicht vor dir weglaufen, weil du mich brauchst, weil du mir mein Leben zurückgegeben hast.«

«Was bringt dich auf den Gedanken, daß ich dich brauche?«

«Ich kann dir bei Dingen behilflich sein, die du nicht allein bewältigen kannst. Ich habe die letzten zwei Stunden über nichts anderes nachgedacht. «Sie richtete sich noch höher auf.»Irgendwie hast du mit einer Menge Geld zu tun, trotzdem glaube ich nicht, daß du Soll und Haben unterscheiden kannst. Vielleicht konntest du das früher einmal. Aber ich kann es. Und da ist noch etwas: Ich habe einen hohen Posten bei der kanadischen Regierung und habe daher Zugang zu geheimen Akten. Die internationale Finanzwelt hat sich in Kanada auf für uns unerfreuliche Weise eingenistet. Wir haben jetzt unsere eigenen Abwehrmaßnahmen ergriffen. Ich war eigentlich in Zürich, um herauszubekommen, wer sich mit wem zu gemeinsamen Aktionen verbündet, nicht um über abstrakte Theorien zu diskutieren.«

«Und die Tatsache, daß du Zugang zu wichtigen Akten hast, kann mir helfen?«

«Ja, ich glaube schon. Und der diplomatische Schutz durch unsere Botschaft ist vielleicht sogar das Wichtigste. Aber ich gebe dir mein Wort, daß ich das Telegramm beim ersten Anzeichen von Gewalt absende und verschwinde. Abgesehen von meinen eigenen Ängsten, will ich dir unter diesen Umständen keine Last sein.«

«Auf das erste Anzeichen hin«, wiederholte Borowski und musterte sie.»Und wann und wo das ist, entscheide ich?«

«Wenn du magst. Meine Erfahrung in diesen Dingen ist beschränkt. Ich werde mich nicht mit dir streiten.«

Er ließ ihre Augen nicht los. Schließlich sagte er:»Warum tust du das? Du hast doch gerade selbst gesagt, daß wir zwei einigermaßen intelligente Leute sind, die der Hölle entkommen sind. Das ist wohl alles.«

Sie saß da, ohne sich zu bewegen.»Ich habe noch etwas gesagt; vielleicht hast du das vergessen. Vor vier Tagen hat mir ein Mann das Leben gerettet und dabei riskiert, selber getötet zu werden. Ich glaube an diesen Mann — mehr als er an sich selbst, denke ich.«

«Einverstanden«, sagte er und griff nach ihr.»Ich sollte es nicht sein, aber ich bin es. Ich brauche diesen Glauben an mich.«

«Jetzt darfst du mich unterbrechen«, sagte sie und kam zu ihm.»Liebe mich, es gibt auch Dinge, die ich brauche.«

Drei weitere Tage und Nächte verstrichen, erfüllt von wärmender Liebe und erregender Zärtlichkeit. Sie lebten mit der Intensität zweier Menschen, die wußten, daß sie schon bald nicht mehr so ausgiebig Zeit füreinander haben würden.

Der Rauch ihrer Zigaretten kräuselte sich über dem Tisch, vermischte sich mit dem Dampf des heißen, bitteren Kaffees. Der Concierge, ein munterer Schweizer, dessen Augen mehr registrierten, als seine Lippen von sich geben würden, war vor einigen Minuten gegangen, nachdem er das petit dejeuner und die Züricher Zeitungen in Englisch und Französisch gebracht hatte. Jason und Marie saßen einander gegenüber; beide hatten die Nachrichten überflogen.

«Steht in deiner etwas?«fragte Borowski.

«Chernak ist vorgestern begraben worden. Die Polizei hat immer noch keine konkrete Spur. >Ermittlungen dauern an<, heißt es hier.«

«Hier wird davon etwas ausführlicher berichtet«, sagte Jason und schob sich die Zeitung unbeholfen mit der bandagierten linken Hand zurecht.

«Was macht die Hand denn?«fragte Marie und betrachtete sie.

«Besser. Ich kann die Finger jetzt schon ein bißchen bewegen.«

«Ich weiß.«

«Du hast eine schmutzige Phantasie. «Er legte die Zeitung zusammen.»Hier schreiben sie, daß Patronenhülsen und die

Blutspuren untersucht werden. «Borowski blickte auf.»Dann werden da noch Kleiderreste erwähnt.«

«Ist das ein Problem?«

«Für mich nicht. Ich habe meine Sachen in Marseille von der Stange gekauft. Wie steht es mit deinem Kleid? Hast du es anfertigen lassen oder im Laden gekauft?«

«Jetzt machst du mich verlegen. Alle meine Kleider werden von einer Frau in Ottawa geschneidert.«

«Dann kann man also den Hersteller und den Ort nicht feststellen.«

«Ich wüßte nicht, wie. Die Seide stammt von einem Ballen, den ein Beamter unserer Abteilung aus Hongkong einmal mitgebracht hat.«

«Hast du in den Geschäften im Hotel irgend etwas gekauft, das du vielleicht an dir hattest? Ein Halstuch vielleicht?«

«Nein. Ich mache selten solche Einkäufe.«

«Gut. Und man hat deiner Freundin keine Fragen gestellt, als sie auszog?«

«Nicht an der Rezeption, das habe ich dir bereits gesagt. Nur die zwei Männer, die du mit mir im Lift gesehen hast, haben sie angesprochen.«

«Die Männer von der französischen und der belgischen Delegation?«

«Ja. Alles lief bestens.«

«Wir wollen lieber noch einmal überlegen.«

«Da gibt es nichts zu überlegen. Paul — das war der aus Brüssel — hat nichts gesehen. Er wurde von seinem Stuhl zu Boden gestoßen und blieb dort liegen. Claude — er versuchte uns aufzuhalten, erinnerst du dich? — dachte zuerst, ich wäre das auf der Bühne im Scheinwerferlicht gewesen; aber ehe er zur Polizei gehen konnte, hatte er sich in dem Gedränge verletzt und wurde zu einem Arzt gebracht.«

«Und bis er etwas hätte sagen können«, unterbrach Jason sie,»war er nicht mehr sicher.«

«Ja. Aber ich habe so das Gefühl, daß er erkannt hat, weshalb ich bei der Konferenz zugegen war; meine Anwesenheit konnte ihn eigentlich nicht täuschen. Und wenn das so war, so hat ihn das sicherlich in seiner Entscheidung bestärkt, sich herauszuhalten.«

Borowski griff nach seiner Tasse.

«Laß mich das noch einmal wiederholen«, sagte er.»Du warst in Zürich, um… «

«Nun ja, eher Andeutungen solcher Bündnisse. Niemand wird sich hinstellen und offen eingestehen, daß es potente Finanzkreise in seinem Land gibt, die sich den Zugang zu den kanadischen Rohstoffen oder irgendwelchen anderen Märkten erkaufen wollen. Aber man sieht, wer mit wem in der Bar sitzt, wer mit wem zu Abend ißt. Manchmal hilft einem auch der pure Zufall, wenn zum Beispiel ein Delegierter aus, sagen wir, Rom — von dem man weiß, daß der Fiat-Chef Agnelli ihn bezahlt — auf einen zukommt und fragt, wie ernst es Ottawa mit seinen Deklarationsgesetzen nimmt.«

«Ich glaube, das verstehe ich noch nicht ganz.«

«Du solltest das eigentlich. Dein eigenes Land ist in diesem Punkt sehr empfindlich. Wer besetzt was? Wie viele amerikanische Banken werden von OPEC-Geldern kontrolliert? Wie groß ist der Anteil der Industrie, der sich im Besitz europäischer und japanischer Konsortien befindet? In Kanada sind Hunderttausende von Hektar Land mit Kapital erworben worden, das aus England, Italien und Frankreich abgezogen worden ist. Darüber machen wir uns große Sorgen.«

«Tun wir das?«

Marie lachte.»Natürlich. Nichts macht einen Menschen patriotischer als die Vorstellung, daß sein Land sich im Besitze von Ausländern befindet. Er kann sich nach einiger Zeit daran gewöhnen, einen Krieg verloren zu haben — das bedeutet nur, daß der Feind stärker war —, aber die eigene Wirtschaft zu verlieren, bedeutet, daß der Feind klüger war.«

«Du hast viel über diese Dinge nachgedacht, nicht wahr?«

Einen kurzen Augenblick lang blickten Maries Augen ernst, und dann antwortete sie mit fester Stimme:»Ja, das habe ich. Ich glaube, diese Dinge sind wichtig.«

«Hast du in Zürich etwas erfahren können?«

«Nichts Aufregendes«, sagte sie.»Geld kursiert überall. Mächtige Finanzgruppen suchen ständig nach neuen Anlagemöglichkeiten.«

«In dem Telegramm von Peter stand, deine Tagesberichte wären ausgezeichnet. Was meinte er damit?«

«Ich habe in Zürich gewisse Personen kennengelernt, von denen ich annehme, daß sie Kanadier als Strohmänner benutzen, um kanadischen Besitz aufzukaufen. Ich versuche nicht, dir etwas vorzuenthalten, ich glaube nur, daß die Namen dir nichts sagen werden.«

«Ich versuche nicht, mich in etwas einzumischen, was mich nichts angeht«, entgegnete Jason,»aber ich glaube, du siehst in mir ebenfalls einen Mann, der womöglich in seiner Vergangenheit einen einflußreichen Posten irgendwo in der Wirtschaft gehabt hat.«

«Ich schließe das nicht aus. Du könntest für ein Unternehmen gearbeitet haben, das alle möglichen illegalen Kaufmöglichkeiten sucht. Ich könnte das unauffällig überprüfen lassen, aber ich möchte das telefonisch veranlassen, nicht per Telegramm.«

«Jetzt werde ich neugierig. Was meinst du genau?«

«Sollte es in irgendeinem multinationalen Konzern eine Gesellschaft mit dem Namen Treadstone Seventy-One geben, werde ich Mittel und Wege finden, um herauszubekommen, um welche Firma es sich handelt. Ich möchte Peter von einer öffentlichen Telefonzelle in Paris anrufen. Ich werde ihm sagen, daß ich in Zürich auf den Namen Treadstone Seventy-One gestoßen bin, und ihn bitten, eine vertrauliche

Untersuchung durchzuführen.«

«Und wenn er etwas findet?«

«Wenn tatsächlich eine Firma Treadstone Seventy-One existiert, wird er Näheres über sie erfahren.«

«Dann nehme ich mit den autorisierten Direktoren< Verbindung auf.«

«Sehr vorsichtig«, fügte Marie hinzu.»Über Mittelsmänner. Über mich, wenn du willst.«

«Warum nicht direkt?«

«Sie — wer auch immer das sein mag — haben fast sechs Monate lang nicht versucht, dich zu erreichen.«

«Das weißt du noch nicht; ich ebensowenig.«

«Die Bank weiß es. Millionen von Dollar liegen unangetastet auf dem Konto, ohne daß jemand sich darum kümmert, und niemand hat sich die Mühe gemacht, die Gründe dafür herauszufinden. Das ist es, was ich nicht verstehen kann. Es ist gerade so, als hätte man dich aufgegeben. Dort ist vielleicht der Fehler begangen worden.«

Borowski lehnte sich im Sessel zurück. Als er auf seine bandagierte linke Hand blickte, fiel ihm die Waffe ein, die ein paarmal hintereinander in einem dahinrasenden Wagen in der Steppdeckstraße auf die Hand niedergesaust war.

«Vielleicht denken die Direktoren von Treadstone«, überlegte Marie weiter,»daß du sie in illegale Transaktionen hineingezogen hast — mit kriminellen Elementen —, die sie

Millionen mehr kosten können und womöglich die Enteignung ganzer Firmen zur Folge haben. Oder sie vermuten, daß du dich einem internationalen Verbrechersyndikat angeschlossen hast, vielleicht ohne es zu wissen. Alles ist möglich. Das würde erklären, warum sie so lange nicht an die Bank herangetreten sind. Sie möchten nicht zu Mitschuldigen gemacht werden.«

«Ich stehe also — egal, was dein Freund Peter in Erfahrung bringt — immer noch am Anfang. Tatsache ist, daß man mich töten will und ich weiß nicht, weshalb. Andere könnten sie daran hindern, aber das werden sie nicht tun. Der Mann im >Drei Alpenhäuser< hat gesagt, Interpol würde nach mir fahnden. Sollte man mich fassen und vor Gericht stellen, wäre ich schuldig im Sinne der Anklage, obwohl ich nicht weiß, wessen ich schuldig bin. Daß ich mich nicht erinnern kann, taugt als Verteidigung nicht viel.«

«Ich weigere mich, mir so etwas vorzustellen, und das mußt du auch.«

«Danke.«

«Ich meine das ernst, Jason. Hör auf!«

Hör auf — wie oft sage ich mir das? Du bist meine Liebe, die einzige Frau, die ich je gekannt habe, und du glaubst an mich. Warum kann ich nicht an mich glauben?

Borowski erhob sich und trat mehrere Male mit den Beinen auf. Langsam gewann er seine alte Beweglichkeit zurück, seine Wunden waren weniger schwer, als seine Phantasie ihm eingeredet hatte. Er war für heute Abend mit dem Arzt in Wohlen verabredet, der ihm die Fäden ziehen sollte. Morgen würde einfach alles anders sein.

«Paris«, sagte Jason,»die Antwort liegt in Paris. Ich weiß nur nicht, wo ich anfangen soll. Es ist verrückt. Ich warte auf ein Bild, ein Wort, das mir sagt, wohin ich gehen soll.«

«Warum willst du nicht warten, bis ich von Peter gehört habe? Wir können morgen in Paris sein. Von dort werde ich ihn anrufen.«

«Weil es nichts ändern würde, verstehst du nicht? Gleichgültig, worauf er auch stößt, das, was ich wissen muß, wird nicht dabei sein. Ich muß wissen, warum gewisse Männer mich töten wollen, warum jemand namens Carlos… wie war das doch… ein Vermögen für meine Leiche bezahlen will.«

Weiter kam er nicht, das Krachen auf dem Tisch unterbrach ihn. Marie hatte die Tasse fallen lassen und starrte ihn mit bleichem Gesicht an.»Was hast du gerade gesagt?«

«Was? Ich sagte, daß ich wissen muß…«

«Du hast gerade den Namen Carlos genannt.«

«Das stimmt.«

«In all den Stunden, die wir geredet haben, in all den Tagen, die wir jetzt zusammen sind, hast du ihn nie erwähnt.«

Borowski sah sie an, versuchte sich zu erinnern. Es stimmte; er hatte ihr alles gesagt, das ihm in den Sinn gekommen war, aber aus irgendeinem Grund hatte er Carlos nicht erwähnt, so als hätte er den Namen verdrängt.

«Ja, da hast du wahrscheinlich recht«, sagte er.»Du scheinst zu wissen, wer Carlos ist.«

«Machst du Witze?«

«Keineswegs. Also, wer ist Carlos?«

«Mein Gott — du weißt es wirklich nicht!«rief sie aus und schaute ihm prüfend in die Augen.

«Wer ist Carlos?«

«Ein Mörder! Ein Mann, der seit zwanzig Jahren von der Polizei gejagt wird. Man nimmt an, daß er an die sechzig Politiker und Militärs getötet hat. Niemand weiß genau, wie er aussieht… Man vermutet, daß er von Paris aus agiert.«

Borowski spurte, wie ihn ein kalter Schauer durchlief.

Der Schwiegersohn des Concierge hatte sie nach Wohlen gefahren. Auf der Rückfahrt saßen Jason und Marie hinten im Auto. Die dunkle Landschaft zog schnell an den Fenstern vorbei. Der Arzt hatte ihm die Fäden gezogen und an ihrer Stelle weiche Bandagen angebracht, die er mit Heftpflaster befestigt hatte.»Fahr zurück nach Kanada«, sagte Jason leise.

«Das werde ich auch, in ein paar Tagen. Erst möchte ich Paris sehen.«

«Ich will dich nicht in Paris haben. Ich rufe dich in Ottawa an. Du kannst selbst nach Treadstone suchen und mir die Information telefonisch durchgeben.«

«Ich dachte, du hättest gesagt, das änderte nichts. Du müßtest das Warum erfahren; das Wer sei bedeutungslos, solange du nicht die Hintergründe begreifst!«

«Ich brauche nur einen einzigen Mann aufzuspüren, und ich werde ihn finden.«

«Aber du weißt nicht, wo du beginnen sollst. Du wartest auf ein Bild, einen Satz, der dir den entscheidenden Hinweis gibt. Vielleicht sind sie gar nicht dort.«

«Etwas wird da sein.«

«Etwas ist da, aber du siehst es nicht. Ich schon. Deshalb brauchst du mich. Ich weiß, wie wir vorzugehen haben — du nicht.«

Borowski sah sie an.»Ich glaube, du solltest dich deutlicher ausdrücken.«

«Die Banken. Treadstones Verbindungen sind bei den Banken zu suchen, aber nicht so, wie du vielleicht denkst.«

In der Dorfkirche von Arpajon, zehn Meilen südlich von Paris, ging ein gebeugter alter Mann in einem zerschlissenen Mantel, die schwarze Baskenmütze in seiner Rechten, den Mittelgang hinunter. Die Glocken hallten durch das Mittelschiff. In Höhe der fünften Stuhlreihe blieb der Mann stehen und wartete, bis sie verstummten. Das war sein Signal. Während des Glockengeläutes hatte sich ein junger Mann, der so skrupellos war, wie ein Mensch nur sein konnte, in dem kleinen Gotteshaus umgesehen und jeden gemustert, den er drinnen oder draußen erspähen konnte. Hätte der Mann bei irgend jemandem Gefahr gewittert, hätte er sofort kurzen Prozeß gemacht und den Betreffenden umgelegt. Das war Carlos' Art, und nur Leute, die selbst verfolgt wurden, deren Leben keinen Pfifferling mehr wert war, arbeiteten als seine Helfershelfer.

Carlos vermied jegliches Risiko. Wenn man in seinen Diensten — oder von seiner Hand — starb, bestand der einzige Trost darin, daß dann ein nicht unerheblicher Geldbetrag seinen Weg zu trauernden Witwen und ihren Kindern finden würde — gewiß eine sehr eigenwillige Art, Mitleid zu zeigen.

Der Alte umklammerte seine Baskenmütze und lief weiter an den Stuhlreihen entlang, zu den Beichtstühlen an der linken Wand. Er ging zum fünften, schob den Vorhang auseinander und trat ein. Hinter dem hölzernen Trenngitter brannte eine einzelne Kerze. Er setzte sich auf die kleine Bank, und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er den Mann in der Mönchskutte, der die Kapuze tief in sein Gesicht gezogen hatte. Der Bote versuchte sich nicht auszumalen, wie jener Mann aussah; es war besser so…

«Angelus Domini«, sagte er.

«Angelus Domini, Kind Gottes«, flüsterte die kapuzenbedeckte Silhouette.»Sind deine Tage angenehm?«

«Sie neigen sich dem Ende zu«, erwiderte der alte Mann und hatte damit das Codewort genannt,»aber ich bin versorgt.«

«Gut. Es ist wichtig, wenn man in Ihrem Alter ein Gefühl der Sicherheit hat«, sagte Carlos.»Nun zur Sache. Haben Sie die Informationen aus Zürich bekommen?«

«Die Eule ist tot; zwei andere auch, vielleicht sogar ein Dritter. Einem anderen ist die Hand schwer verletzt worden; er kann nicht arbeiten. Cain ist verschwunden. Man vermutet, daß die Frau bei ihm ist.«

«Eine seltsame Wendung der Ereignisse«, sagte Carlos.

«Ich habe noch mehr Neuigkeiten: Man hat von dem, der die Anweisung hatte, die Frau zu töten, nichts mehr gehört. Er sollte sie zum Mythen-Quai bringen; niemand weiß, was dort geschehen ist.«

«Es ist möglich, daß sie nie eine Geisel war, sondern der Köder für eine Falle, die hinter Cain selbst zugeschnappt ist. Darüber will ich nachdenken. Hier sind meine weiteren Instruktionen. Sind Sie bereit?«

Der alte Mann griff in die Tasche und holte einen Bleistiftstummel und einen Fetzen Papier heraus.»Ja.«

«Rufen Sie Zürich an. Ich möchte, daß morgen ein Mann nach Paris kommt, der Cain gesehen hat und ihn wiedererkennt. Außerdem soll >Zürich< sich bei Koenig in der Gemeinschaftsbank melden und ihm sagen, daß er das Tonband nach New York schicken soll, an das Postfach im Village Station.«

«Bitte etwas langsamer«, unterbrach der alte Bote,»meine Hand schreibt nicht mehr so schnell wie früher.«

«Verzeihen Sie«, flüsterte Carlos.»Ich war in Gedanken und daher unhöflich. Entschuldigen Sie.«

«Keine Ursache. Bitte weiter.«

«Schließlich soll unser Team sich Zimmer in der Nähe der Bank an der Rue Madeleine nehmen. Diesmal wird die Bank Cains Untergang sein.«

Kapitel 11

Borowski beobachtete aus einiger Entfernung; wie Marie im Berner Bahnhof auf die Bahnsteige zuging. Es war fünf Uhr nachmittags. Zu dieser Zeit herrschte in dem Bahnhofsgelände mit seinen Geschäften und Restaurants ein unübersehbares Gedränge. Menschen eilten an Borowski vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Damit hatte er gerechnet. Und er hatte aufgepaßt. Niemand war ihnen von Lenzburg hierher gefolgt. Getrennt hatten sie den Bahnhof betreten.

Marie blickte noch einmal kurz zurück, bevor sie um die Ecke bog; nur für sie bemerkbar nickte er ihr ein letztes Mal zu, ein glückliches Lächeln spielte dabei um seinen Mund. In zwei Stunden etwa würde sie von Zürich aus nach Paris fliegen.

Nachdem Marie seinem Blickfeld entschwunden war, wartete er noch einige Minuten. Er wollte sicher sein, daß niemand ihr folgte. Dann begab er sich gemächlich zum Schalter und löste eine Fahrkarte nach Frankfurt. Von dort aus wollte er eine Maschine in die französische Hauptstadt nehmen.

Er würde Marie später in dem Cafe treffen, an das sie sich aus ihrer Oxford-Zeit erinnerte. Es nannte sich >Au Coin de Cluny< und lag am Boulevard Saint-Michel, einige Häuserblocks von der Sorbonne entfernt. Falls es das Cafe nicht mehr geben sollte, würde Jason sie gegen neun am Eingang zum Cluny-Museum finden.

Borowski würde sich verspäten, er würde in der Nähe sein, aber zu spät kommen. Die Sorbonne verfügte über eine der umfangreichsten Bibliotheken von ganz Europa, und irgendwo in dieser Bibliothek waren alte Zeitungen archiviert. Die Universitätsbibliothek war auch in den Abendstunden geöffnet. Sobald er nach Paris kam, wollte er sie aufsuchen. Es gab etwas, was er in Erfahrung bringen mußte.

Ich lese jeden Tag die Zeitungen. In drei Sprachen. Vor sechs Monaten ist ein Mann getötet worden; jede der drei Zeitungen meldete seinen Tod auf dem Titelblatt. Das hatte ein dicklicher Mann in Zürich gesagt.

Er gab seinen Koffer in der Garderobe der Bibliothek ab und ging ins Obergeschoß, wo sich der große Lesesaal befand. Nach längerem Suchen fand er die Regale, in denen die Zeitungen aufbewahrt wurden. Die Ausgaben reichten genau ein Jahr zurück.

Er konzentrierte sich auf die Nummern, die vor mehr als einem halben Jahr erschienen waren. Von diesem Zeitpunkt an verfolgte er sie zehn Wochen zurück. Er setzte sich an den nächsten freien Tisch und durchblätterte jede Zeitung von Anfang bis Ende.

Der Dollar war gefallen, der Goldpreis gestiegen; Streiks hatten die Wirtschaft einiger Länder fast zum Erliegen gebracht. Aber in dieser Zeitspanne war kein Mann ermordet worden, der Schlagzeilen verdient hätte. Nirgendwo fand er eine Meldung dieser Art.

Jason setzte seine Suche fort und nahm sich auch die noch älteren Ausgaben vor. Wieder nichts. Schließlich holte er sich die Zeitungen, die vor vier und fünf Monaten gedruckt worden waren. Aber erneut war die Mühe umsonst. Hatte ein schwitzender, fetter Mann in Zürich gelogen? War alles eine Lüge? Erlebte er einen Alptraum, der verschwinden würde, sobald…

Sein Blick fiel auf die Titelseite der letzten Nummer.

BOTSCHAFTER LELAND IN MARSEILLE ERMORDET!

Die riesigen Blockbuchstaben der Schlagzeile sprangen ihm förmlich ins Gesicht, taten seinen Augen weh. Das war kein eingebildeter Schmerz, sondern ein scharfes Stechen, das durch seine Augenhöhlen in seinen Kopf drang. Sein Atem stockte, seine Augen hafteten unverwandt an dem Wort LELAND. Er kannte diesen Namen, er konnte sich das Gesicht des Mannes genau vorstellen: Buschige Brauen unter einer hohen Stirn, eine kräftige Nase zwischen hohen Backenknochen und über auffallend schmalen Lippen ein säuberlich gestutzter grauer Schnurrbart. Er kannte das Gesicht, kannte den Mann, der durch einen einzigen Schuß getötet worden war. Der Schütze hatte ihn aus einem Fenster irgendwo im Hafengebiet abgefeuert. Botschafter Howard Leland war um fünf Uhr nachmittags an einem Pier in Marseille entlanggegangen, als ihn die Kugel traf.

Borowski brauchte den zweiten Absatz gar nicht zu lesen, um zu wissen, daß Howard Leland Admiral der US-Marine gewesen war, ehe er zum Chef der Marineabwehr und schließlich zum Militärattache in Paris ernannt wurde. Er brauchte den Artikel nicht weiter zu lesen, um die Hintergründe des Mordes zu erfahren — er kannte sie bereits. Lelands wichtigste Funktion in Paris war es, der französischen Regierung die Genehmigung umfangreicher Waffenverkäufe auszureden — insbesondere die Lieferung ganzer Geschwader von Mirage-Düsenjägern, die für Afrika und den Mittleren Osten bestimmt waren. Er hatte in erstaunlichem Maße Erfolg gehabt, damit aber gleichzeitig den Zorn der Abnehmer erregt. Man vermutete, daß der Täter in ihrem Auftrag gehandelt hatte. Der Mord an Leland sollte zugleich als Warnung für andere dienen.

Und der Mann, der ihn getötet hatte, hatte ohne Zweifel für seine Dienste eine stattliche Geldsumme kassiert, weit weg vom Schauplatz des Verbrechens, und alle Spuren waren beseitigt worden. In Zürich hatte ein Bote einen Mann ohne Beine aufgesucht: ein zweiter hatte einen fettleibigen Mann in einem überfüllten Restaurant alarmiert.

Zürich.

Marseille.

Jason schloß die Augen, der Schmerz war jetzt unerträglich. Er war vor fünf Monaten aus dem Meer gefischt worden, und man vermutete, daß er sich in Marseille eingeschifft hatte. Und wenn es Marseille war, hatte er mit einem gemieteten Boot die Flucht ergriffen. Alles paßte zu gut, jedes einzelne Stück des Gedankenpuzzles paßte zum nächsten. Wie konnte er all die Dinge wissen, wenn er nicht der Mörder von Howard Leland war?

Er schlug die Augen auf, der Schmerz hinderte ihn am Denken, aber nicht völlig. Eine Entscheidung war so klar wie nur irgend etwas: Es würde in Paris kein Zusammentreffen mit Marie St. Jacques geben.

Vielleicht würde er ihr eines Tages einen Brief schreiben und die Dinge aussprechen, die er jetzt nicht sagen konnte. Erst mußte er Distanz zwischen ihnen schaffen, sie durfte nicht mit einem bezahlten Killer in Verbindung gebracht werden. Sie hatte unrecht gehabt, seine schlimmsten Ängste hatten sich bestätigt.

Die Titelseite mit der schrecklichen Schlagzeile, die so viel in ihm ausgelöst, so viele Dinge bestätigt hatte, trug das Datum Donnerstag, 26. August. An diesen Tag würde er sich erinnern können, solange er lebte.

Donnerstag, 26. August…

Etwas stimmte nicht. Was war es? Der Tag? Donnerstag bedeutete ihm nichts. Der 26. August?… Der Sechsundzwanzigste? Das konnte nicht stimmen. Wie oft hatte Washburn, der ausführlich Tagebuch über seinen Patienten geführt hatte, jede einzelne Tatsache wiederholt, jeden Satz, den Jason geäußert hatte.

Man hat Sie am vierundzwanzigsten August, einem Dienstagmorgen, zu meiner Tür gebracht; es war genau acht Uhr zwanzig. Ihr Zustand war…

Dienstag, 24. August.

24. August.

Er war also am 26. August nicht in Marseille gewesen! Er konnte kein Gewehr aus einem Fenster im Hafenviertel abgefeuert haben. Er hatte Howard Leland nicht getötet!

Vor sechs Monaten ist ein Mann getötet worden… Aber es waren nicht sechs Monate; das könnte nur ungefähr richtig sein. An jenem Tage hatte er halb tot im Haus eines Alkoholikers auf der Ile de Port Noir gelegen.

Die Nebel lichteten sich, der Schmerz wich zurück. Ein Hochgefühl erfüllte ihn; er hatte eine konkrete, nachweisbare Lüge gefunden! Und wenn es eine gab, würden da auch noch andere sein! Borowski sah auf die Uhr; es war Viertel nach neun. Marie hatte bestimmt inzwischen das Cafe verlassen und wartete jetzt vor dem Eingang des Cluny-Museums auf ihn.

Er verließ eilig die Bibliothek und lief den Boulevard Saint-Michel hinunter. Bei jedem Schritt wurde er schneller. Er hatte das Gefühl zu wissen, wie es war, wenn man zum Tode verurteilt war und begnadigt wurde. Für eine Weile hatte er die von Gewalt erfüllte Finsternis hinter sich gelassen, befand sich jenseits der grollenden Wogen. Plötzlich hatte er den Wunsch, seine Euphorie mit ihr zu teilen. Er mußte zu ihr, sie an sich drücken und ihr sagen, daß Hoffnung war.

Er sah Marie auf den Stufen stehen, die Arme auf der Brust verschränkt, um sich gegen den eisigen Wind zu schützen, der vom Boulevard herüberfegte. Zuerst bemerkte sie ihn nicht, ihre Augen suchten die von Bäumen gesäumte Straße ab. Sie war unruhig, besorgt um ihn.

Da entdeckte sie ihn. Ihr Gesicht begann zu leuchten, plötzlich war es von Leben erfüllt. Sie rannte auf ihn zu, als er die Treppen hinaufeilte. Sie umarmten sich und einen Augenblick lang schwiegen beide und spürten die Wärme des anderen.

«Ich habe gewartet und gewartet«, hauchte sie schließlich.»Ich hatte solche Angst, solche Sorge um dich. Ist etwas passiert? Ist bei dir alles in Ordnung?«

«Mir geht es gut, so wohl habe ich mich lange nicht mehr gefühlt.«

«Was?«

Er hielt sie an den Schultern fest.»Vor sechs Monaten ist ein Mann getötet worden… Erinnerst du dich?«

Ihr Blick verfinsterte sich.»Ja, ich erinnere mich.«

«Ich habe ihn nicht getötet«, sagte Borowski.»Ich kann ihn nicht getötet haben.«

Sie fanden ein kleines Hotel etwas abseits von dem lärmerfüllten Boulevard Montparnasse. Die Zimmer sahen heruntergekommen aus, aber trotzdem war ein Hauch von Eleganz geblieben, der dem Hotel ein Flair von Zeitlosigkeit verlieh.

Jason schloß die Tür und nickte dem weißhaarigen Pagen zu, dessen anfängliche Gleichgültigkeit sich nach Erhalt einer Zwanzigfrancnote in Nachsicht verwandelt hatte.

«Er hält dich für einen Geistlichen, der von der Vorfreude auf eine sündige Nacht erfüllt ist«, sagte Marie.»Ich hoffe, es ist dir aufgefallen, daß ich gleich zum Bett gegangen bin.«

«Er heißt Herve und wird sehr um unsere Bedürfnisse besorgt sein. «Er ging auf sie zu und nahm sie in die Arme.»Danke für mein Leben«, sagte er.

«Jederzeit, mein Freund. «Sie hielt sein Gesicht mit beiden Händen fest.»Aber laß mich nicht wieder so lange warten. Ich bin fast verrückt geworden; ich habe ständig denken müssen, daß dich jemand erkannt hatte… daß etwas Schreckliches passiert war.«

«Du vergißt, daß niemand weiß, wie ich aussehe.«

«Verlaß dich nicht darauf; das ist nicht wahr. In der Steppdeckstraße waren vier Männer, diesen Bastard am Guisan-Quai eingeschlossen. Sie leben, Jason. Sie erkennen dich bestimmt wieder.«

«Sie sahen einen dunkelhaarigen Mann, der hinkte und der am Kopf und am Hals verbunden war. Nur zwei waren in meiner Nähe: der Mann im Obergeschoß und dieses Schwein im Park. Der erste wird Zürich eine Weile nicht verlassen; er kann nicht gehen, und von seiner Hand ist nicht mehr viel übrig. Der zweite war von einer Taschenlampe geblendet.«

Sie ließ ihn los und runzelte die Stirn.»Du kannst trotzdem nicht sicher sein.«

Wenn Sie Ihr Haar ändern… dann verändert sich auch Ihr Gesicht.

«Ich wiederhole, sie haben einen dunkelhaarigen Mann in Erinnerung. Ich werde mir die Haare färben lassen, ganz einfach. Morgen werde ich zu einem Friseur gehen.«

Sie studierte sein Gesicht.»Ich versuche mir vorzustellen, wie du mit blonden Haaren aussehen wirst.«

«Anders. Nicht viel, aber es wird reichen.«

«Vielleicht hast du recht. «Sie küßte ihn auf die Wange.»Jetzt sag mir, was geschehen ist. Was hast du von diesem… Vorfall vor sechs Monaten erfahren?«

«Es war nicht vor sechs Monaten, und deshalb kann ich ihn nicht getötet haben. «Er erzählte ihr alles, abgesehen von den kurzen paar Augenblicken, in denen er geglaubt hätte, es wäre besser, sie nie wiederzusehen.

«Wenn du dich nicht so deutlich an das Datum hättest erinnern können, wärst du nicht zu mir gekommen, nicht wahr?«

Er schüttelte den Kopf.»Wahrscheinlich nicht.«

«Ich wußte es. Ich habe es gefühlt. Eine Minute lang, während ich vom Cafe zum Museum ging, konnte ich kaum atmen. Es war so, als erstickte ich.«

Sie saß auf dem Bett, er in dem Sessel daneben. Er griff nach ihrer Hand.»Ich bin immer noch nicht sicher, ob es richtig ist, daß wir wieder zusammen sind. Ich habe jenen Mann gekannt, ich habe sein Gesicht gesehen. Zwei Tage bevor er erschossen wurde, war ich in Marseille!«

«Aber du hast ihn nicht umgebracht.«

«Warum war ich dann dort? Warum glauben Leute, daß ich ihn getötet habe? Herrgott, das ist verrückt!«Er sprang auf, und in seinen Augen stand wieder der Schmerz.»Aber jetzt habe ich etwas vergessen: Ich bin ja nicht normal, oder? Ich habe Jahre, ein Leben vergessen.«

Marie sprach ganz sachlich, ohne Mitgefühl in der Stimme.»Die Antworten werden schon kommen. Du mußt Geduld haben. Schließlich wirst du sie dir selbst geben können.«

«Das ist vielleicht gar nicht möglich. Washburn sagte, es sei, wie wenn man Bausteine neu anordnet. «Jason ging ans Fenster und blickte auf die Lichter von Montparnasse hinunter.»Die Bilder sind nicht dieselben; sie werden es nie wieder sein. Irgendwo dort draußen sind Leute, die ich kenne, die mich kennen. Ein paar tausend Meilen entfernt sind andere Leute, die mir wichtig sind… o Gott, vielleicht eine Frau und Kinder; ich weiß es nicht. Ich drehe mich im Wind, werde hin und her geschleudert und kann nicht auf den Boden gelangen. Jedesmal, wenn ich es versuche, werde ich wieder in die Höhe gerissen.«

«In den Himmel?«fragte Marie.

«Ja.«

«Du bist aus einem Flugzeug gesprungen«, sagte sie, und es klang wie eine Feststellung.

Borowski drehte sich um.»Das habe ich dir nie gesagt.«

«Du hast neulich im Schlaf gesprochen. Du hast geschwitzt, dein Gesicht war gerötet.«

«Warum hast du nichts gesagt?«

«Ich habe dich gefragt, ob du ein Pilot wärst oder ob das Fliegen dich stört, besonders nachts.«

«Ich wußte nicht, wovon du geredet hattest. Warum hast du nicht weiter gefragt?«

«Davor hatte ich Angst. Du warst dicht vor einem hysterischen Anfall. Ich kann dir dabei helfen, daß du dich an weitere Einzelheiten erinnerst, aber mit deinem Unterbewußtsein setze ich mich besser nicht auseinander. Ich glaube, nur ein Arzt sollte dies versuchen.«

«Ein Arzt? Ich war fast sechs Monate mit einem zusammen.«

«Nach dem, was du über ihn erzählt hast, glaube ich, daß wir noch eine andere Ansicht brauchen.«

«Ich nicht!«erwiderte er, von seinem eigenen Ärger verwirrt.

«Warum nicht?«Marie erhob sich vom Bett.»Du brauchst Hilfe, mein Liebster. Ein Psychiater könnte…«

«Nein!«Er schrie es hinaus, ohne es zu wollen, wütend auf sich selbst.»Das tu ich nicht. Das kann ich nicht.«

«Bitte sag mir, warum«, fuhr sie ruhig fort. Sie stand jetzt direkt vor ihm.

«Ich… ich… kann das nicht.«

«Sag mir nur, warum, sonst nichts.«

Borowski starrte sie an, dann drehte er sich um und blickte wieder zum Fenster hinaus.

«Weil ich Angst habe. Jemand hat gelogen, und ich war dafür dankbarer, als ich dir sagen kann. Aber nimm einmal an, sonst seien da keine Lügen mehr, der Rest sei wahr. Was tue ich dann?«

«Willst du damit ausdrücken, daß du die Wahrheit gar nicht erfahren willst?«

«Nicht so. «Er hatte die Augen immer noch auf die Lichter in der Tiefe gerichtet.»Versuche, mich zu verstehen«, sagte er.»Ich muß bestimmte Dinge wissen, um eine Entscheidung treffen zu können… aber vielleicht nicht alles. Ich muß zu mir selbst sagen können, daß das, was einmal war, nicht länger ist, und die Möglichkeit besteht, daß es niemals war, weil ich keine Erinnerung daran besitze. Woran ein Mensch sich nicht erinnern kann, das existiert auch nicht für ihn. «Er wandte sich ihr wieder zu.»Was ich dir klarzumachen versuche, ist, daß es so vielleicht besser ist.«

«Du willst Hinweise, aber keinen Beweis; ist das richtig?«

«Ich suche Pfeile, die in die eine oder die andere Richtung weisen und mir sagen, ob ich fliehen soll oder nicht.«

«Dir sagen. Was ist mit uns?«

«Das wird schon mit den Pfeilen kommen. Das weißt du doch.«

«Dann laß sie uns finden«, erwiderte sie.

«Sei vorsichtig. Vielleicht kannst du mit dem, was dort draußen uns erwartet, nicht leben. Ich meine das ernst.«

«Ich kann mit dir leben. Das meine ich ebenso ernst. «Sie berührte sein Gesicht.»Komm jetzt, in Ontario ist es noch nicht einmal fünf Uhr nachmittags. Ich werde Peter noch in seinem Büro erreichen. Er soll gleich mit der Treadstone-Suche beginnen… und uns den Namen von jemandem in der Botschaft geben, der uns helfen wird.«

«Wirst du Peter sagen, daß du in Paris bist?«

«Er wird es ohnehin von der Vermittlung erfahren. Aber keine Sorge, ich werde alles ganz unauffällig machen. Ich bin auf ein paar Tage nach Paris gekommen, weil meine Verwandten in Lyon einfach zu langweilig sind. Das wird er akzeptieren.«

«Meinst du, er kennt jemanden hier in der Botschaft?«

«Peter sorgt dafür, daß er überall seine Beziehungen hat. Das ist eine seiner nützlicheren, aber weniger attraktiven Eigenschaften.«

«Wir werden ja sehen. «Borowski holte ihre Mäntel.»Ich glaube, nach deinem Anruf können wir beide ein warmes Essen und einen Schluck zu trinken gebrauchen.«

«Laß uns vorher an der Bank in der Rue Madeleine vorbeigehen. Ich möchte sehen, ob dort gleich in der Nähe eine Telefonzelle ist.«

Sie fanden eine. Sie befand sich auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber vom Eingang der Bank.

Der hochgewachsene, blonde Mann mit der Schildpattbrille, der in der Nachmittagssonne auf der Rue Madeleine stand, blickte auf seine Armbanduhr. Auf den Bürgersteigen herrschte dichtes Gedränge, der Autoverkehr war chaotisch, wie immer in Paris zu dieser Tageszeit. Er trat in die Telefonzelle und löste den Knoten in der Schnur, an der der Hörer frei heruntergehangen hatte. Das war ein freundliches Signal für den nächsten Benutzer, daß der Apparat außer Betrieb sei; das verringerte die Chance, daß die Zelle besetzt sein würde. Die kleine List hatte funktioniert.

Er schaute wieder auf die Uhr; die Zeit lief. Marie war in der Bank. Sie würde ihn in den nächsten paar Minuten in der Zelle anrufen. Er holte ein paar Münzen aus der Tasche, legte sie vor sich auf das Telefonbuch und blickte zur Bank auf der anderen Straßenseite hinüber. Eine Wolke dämpfte das Sonnenlicht, und er konnte sein Spiegelbild in der Glaswand sehen. Der Anblick befriedigte ihn, und er erinnerte sich an die verdutzte Reaktion eines Friseurs in Montparnasse, der ihn in eine von einem Vorhang abgeschirmte Nische komplimentiert hatte, um dort Jasons Haar zu blondieren. Die Wolke zog vorbei, die Sonne schien wieder, als das Telefon klingelte.

«Bist du's?«fragte Marie St. Jacques.

«Ja, ich bin's«, sagte Borowski.

«Paß auf, daß du den Namen und die genaue Adresse des Büros bekommst. Und rede mit starkem Akzent. Du mußt ein paar Worte falsch aussprechen, damit er merkt, daß du Amerikaner bist. Sag ihm, daß du die Telefone in Paris nicht gewöhnt bist. Und dann mußt du alles in der richtigen Reihenfolge tun, wie ich dir gesagt habe. Ich rufe dich in genau fünf Minuten wieder an.«

«Zeit läuft.«

«Zeit läuft… Viel Glück.«

«Danke. «Jason drückte den Hebel herunter und wählte die Nummer, die er sich gemerkt hatte.

«La Banque de Valois. Bonjour.«

«Ich habe kürzlich eine beträchtliche Geldsumme aus der Schweiz per Kurier an Ihre Bank überwiesen«, begann Borowski.»Nun möchte ich wissen, ob der Betrag eingegangen ist.«

«Ich verbinde Sie mit unserer Außenhandelsabteilung, Monsieur. Einen Augenblick.«

Ein Klicken, dann eine andere Frauenstimme.»Außenhandel.«

Jason wiederholte sein Anliegen.

«Darf ich Sie um Ihren Namen bitten?«

«Ich würde gerne mit einem Mitglied Ihrer Geschäftsleitung sprechen, ehe ich meinen Namen nenne.«

Ein paar Augenblicke war es still.»Wie Sie wünschen, Monsieur. Ich verbinde Sie mit dem Büro von Direktor d'Amacourt. «Die Sekretärin des Direktors war weniger entgegenkommend.»Ich beziehe mich auf eine Überweisung aus Zürich von der Gemeinschaftsbank. Es geht um eine siebenstellige Summe. Monsieur d'Amacourt, wenn ich bitten darf, ich habe sehr wenig Zeit.«

Sein forsches Auftreten hatte Erfolg. Ein etwas verwirrter Direktor kam ans Telefon.»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

«Sind Sie d'Amacourt?«fragte Jason.

«Ich bin Antoine d'Amacourt. Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«

«Gut! Man hätte mir in Zürich Ihren Namen geben sollen. Das nächste Mal werde ich dafür sorgen, daß das geschieht«, sagte er mit betont amerikanischem Akzent.

«Wie bitte? Wäre es Ihnen angenehmer, wenn wir englisch sprechen, Monsieur?«

«Ja«, erwiderte Jason und fuhr dann in Englisch fort:»Ich habe mit diesem verdammten Telefon schon genügend Schwierigkeiten. «Er schaute auf die Uhr; er hatte weniger als zwei Minuten zur Verfügung.»Mein Name ist Borowski, Jason Borowski. Vor acht Tagen habe ich viereinhalb Millionen Franc von der Gemeinschaftsbank in Zürich überwiesen. Man hat mir versichert, daß die Transaktion vertraulich abgewickelt würde.«

«Alle Transaktionen sind vertraulich, Sir.«

«Schön. Was ich wissen möchte, ist, ob alles glattgegangen ist.«

«Ich sollte Ihnen vielleicht erklären«, führ der Bankdirektor fort,»daß diese vertrauliche Behandlung auch die Bestätigung solcher Transaktionen gegenüber unbekannten Anrufern umfaßt.«

Mit diesem Augenblick hatte Jason gerechnet.

«Das hoffe ich. Aber wie ich schon Ihrer Sekretärin sagte, habe ich es wirklich sehr eilig. In ein paar Stunden verlasse ich Paris. Es ist sehr dringend.«

«Dann empfehle ich, daß Sie zur Bank kommen.«

«Das hatte ich ohnehin vor«, sagte Borowski, den es befriedigte, daß das Gespräch genau die Richtung nahm, die Marie vorhergesehen hatte.»Ich wollte nur, daß alles bereit ist, wenn ich komme. Wo ist Ihr Büro?«

«Im Flur im Erdgeschoß, Monsieur. Ganz hinten, hinter der Flügeltür. Eine Empfangssekretärin sitzt dort.«

«Und ich werde nur mit Ihnen zu tun haben?«

«Wenn Sie es wünschen, obwohl jeder andere leitende…«

«Hören Sie, Mister«, rief der Amerikaner aus,»wir reden hier von über vier Millionen Franc!«

«Also, nur mit mir, Monsieur Borowski.«

«Fein. «Jason legte die Finger auf die Gabel. Er hatte noch fünfzehn Sekunden Zeit.»Hören Sie, es ist jetzt vierzehn Uhr und fünfunddreißig Minuten… Hallo? Hallo?«

«Ich bin hier, Monsieur.«

«Verdammtes Telefon! Hören Sie mich? Hallo? Hallo?«

«Monsieur, bitte, wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben würden… «

«Ich kann Sie nicht verstehen!«Vier Sekunden, drei Sekunden, zwei Sekunden.»Warten Sie eine Minute, ich rufe Sie zurück. «Er drückte die Gabel herunter, so daß die Verbindung unterbrochen wurde. Drei weitere Sekunden verstrichen, dann klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab.»Er heißt d'Amacourt, sein Büro ist im Erdgeschoß hinter der Flügeltüre.«

«Verstanden«, sagte Marie und legte auf.

Borowski wählte erneut die Nummer der Bank.

«Ich sprach mit Monsieur d'Amacourt, als ich unterbrochen wurde.«

«Pardon, Monsieur.«

«Monsieur Borowski?«

«D'Amacourt?«

«Ja. Es tut mir schrecklich leid, daß Sie solche Schwierigkeiten mit dem Telefon haben.«

«Jetzt funktioniert es ja wieder. Es ist kurz nach halb drei. Ich bin bis drei Uhr bei Ihnen.«

«Ich freue mich darauf, dann Ihre Bekanntschaft zu machen, Monsieur.«

Jason verknotete die Telefonschnur wieder und ließ den Hörer frei herunterhängen, bevor er die Zelle verließ und schnell in den Schatten einer Markise vor einem Geschäft trat. Er drehte sich um und wartete, die Augen auf die Bank auf der anderen Straßenseite gerichtet. Eine andere Bank in der Züricher Bahnhofstraße fiel ihm ein, und er erinnerte sich an den Klang von Sirenen. Die nächsten zwanzig Minuten würden ihm sagen, ob Marie recht hatte oder nicht. Wenn ihre Vermutung richtig war, würde es in der Rue Madeleine keine Sirenen geben.

Die schlanke Frau mit dem breitkrempigen Hut, der die eine Gesichtshälfte teilweise verdeckte, legte den Hörer des öffentlichen Telefons an der rechten Seite des Bankeingangs auf die Gabel. Sie öffnete ihre Handtasche, entnahm ihr eine Puderdose, klappte sie auf und überprüfte scheinbar ihr Makeup, drehte den kleinen Spiegel zuerst nach links, dann nach rechts. Zufrieden klappte sie die Dose wieder zu, schob sie in die Handtasche und ging an den Kassenschaltern vorbei zum hinteren Ende des Erdgeschosses. An einem Tresen in der Mitte blieb sie stehen, nahm einen Kugelschreiber, der an einer Kette hing, und begann, ziellos Zahlen auf einem Überweisungsformular zu schreiben. Weniger als vier Meter von ihr entfernt war eine kleine Tür in einer niedrigen hölzernen Balustrade eingelassen, welche quer durch die ganze Schalterhalle lief. Dahinter standen die Schreibtische der Sekretärinnen. Die rückwärtige Wand hatte fünf Türen. Marie las den Namen, der in goldenen Lettern auf der mittleren Tür stand.

M.A.R. D'AMACOURT DIRECTEUR COMPTES A L'ETRANGER ET DE DEVISES

Jetzt mußte sie in Erfahrung bringen, wie Monsieur A. R. d'Amacourt aussah; er würde der Mann sein, den Jason erreichen und mit dem er reden konnte, aber nicht in der Bank.

Plötzlich rannte eine Sekretärin mit ihrem Stenoblock in d'Amacourts Büro, kam dreißig Sekunden später wieder zum Vorschein und griff sofort zum Telefon. Sie wählte drei Zahlen — ein internes Gespräch — und wiederholte leise das, was sie sich notiert hatte.

Zwei Minuten vergingen; die Türe von d'Amacourts Büro öffnete sich, und der Direktor persönlich trat heraus. Er war ein Mann in mittleren Jahren. Sein lichter werdendes schwarzes Haar hatte er so gekämmt, daß die kahlen Stellen verdeckt wurden; seine Augen waren von dicken Tränensäcken umgeben und ließen erkennen, daß er viele Stunden in der Gesellschaft guten Weines verbracht hatte. Aber dieselben Augen waren auch kalt und unruhig. Sie gehörten einem Mann, der seine Umgebung voller Mißtrauen beobachtet. In bellendem Ton stellte er seiner Sekretärin eine Frage; die drehte sich im Stuhl herum und gab sich redlich Mühe, ihre Fassung zu bewahren.

D'Amacourt ging in sein Büro zurück, ohne die Tür zu schließen.

Eine weitere Minute verstrich; nervös blickte die Sekretärin immer wieder nach rechts, wartete offensichtlich ungeduldig auf etwas.

Da leuchtete an der linken Wand ein grünes Licht über zwei Holzpaneelen auf; ein Lift war in Betrieb. Sekunden später öffnete sich die Tür, und ein älterer, elegant gekleideter Mann kam heraus, der ein schwarzes Etui trug, das nicht viel größer als seine Hand war. Marie starrte es an und empfand gleichzeitig Befriedigung und Furcht; sie hatte richtig vermutet. Das schwarze Etui war aus einer Registratur in einem bewachten Raum geholt worden.

Die Sekretärin erhob sich aus ihrem Stuhl, begrüßte den würdigen Herrn und führte ihn in d'Amacourts Büro. Gleich darauf kam sie wieder heraus und schloß die Tür hinter sich.

Marie sah auf die Uhr, die Augen auf dem Sekundenzeiger. Sie wollte noch ein einziges Beweisstück haben. Dazu mußte es ihr gelingen, durch die niedrige Tür in der Balustrade zu gelangen und einen Blick auf den Schreibtisch der Sekretärin zu werfen.

Sie ging an der Empfangssekretärin vorbei, die gerade telefonierte, lächelte ihr zu und sagte nur» d'Amacourt«.

Entschlossen beugte sie sich vor, öffnete die Tür und trat schnell ein.

«Pardon, Madame…« Die Empfangssekretärin hielt die Hand über die Sprechmuschel und redete schnell auf französisch auf die Kundin ein.»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

«Ich möchte zu Monsieur d'Amacourt. Ich habe mich leider verspätet. Ich gehe gleich zu seiner Sekretärin«, erwiderte sie und lief weiter.

«Bitte, Madame«, rief die Empfangsdame,»ich muß Sie melden… «

Das Summen der elektrischen Schreibmaschinen und die gedämpften Gespräche übertönten ihre Worte. Marie trat auf die Sekretärin des Direktors zu, die ebenso verwirrt wie die Empfangsdame aufblickte.

«Ja? Kann ich Ihnen behilflich sein?«

«Monsieur d'Amarcourt, bitte.«

«Er hat leider gerade eine Besprechung, Madame. Sind Sie mit ihm verabredet?«

«Natürlich«, sagte Marie und klappte ihre Handtasche auf.

Die Sekretärin blickte auf den Terminkalender, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag.»Für diese Uhrzeit habe ich niemanden eingetragen. Das muß ein Irrtum sein.«

«Oh, richtig!«rief die verwirrte Kundin der Valois-Bank aus.»Ich habe mich im Tag geirrt. Erst morgen ist ja die Verabredung. Es tut mir schrecklich leid!«

Sie machte kehrt und ging schnell wieder zurück in den Korridor.

Sie hatte gesehen, was sie sehen wollte. Auf d'Amacourts Telefon leuchtete ein einziger Knopf; ohne sich von seiner Sekretärin verbinden zu lassen, hatte er direkt eine auswärtige Nummer angewählt. Das Konto, das Jason Borowski gehörte, war mit ganz speziellen, vertraulichen Instruktionen versehen, die dem Kontoinhaber nicht mitgeteilt werden durften.

Im Schatten der Markise sah Borowski auf die Uhr; es war zehn vor drei. Marie würde jetzt wieder vor dem Münzapparat im Foyer der Bank warten. Die nächsten paar Minuten würden ihnen die Antwort liefern; vielleicht kannte sie sie bereits.

Von seinem Platz aus hatte er den Eingang der Bank im Blick. Er holte ein Päckchen Zigaretten heraus, zündete sich eine an und schaute erneut auf die Uhr: Acht Minuten vor drei.

Und dann sah er sie, die drei gutgekleideten Männer, die schnell die Rue Madeleine heraufkamen und dabei miteinander sprachen, die Augen aber geradewegs nach vorn gerichtet. Sie überholten die langsameren Fußgänger vor ihnen, entschuldigten sich mit einer Höflichkeit, die eigentlich nicht nach Paris paßte. Jason konzentrierte sich auf den Mann in der Mitte. Das war er. Ein Mann namens Johann.

Sagen Sie Johann, daß er hineingehen soll. Wir kommen dann zurück. Ein hochgewachsener, hagerer Mann mit einer goldgeränderten Brille hatte diese Worte in der Brauerstraße gesprochen. Johann — sie hatten ihn aus Zürich hierher geschickt; er hatte Jason Borowski gesehen und könnte ihn wiedererkennen. Daraus schloß er, daß es keine Fotografien von ihm gab.

Die drei Männer erreichten den Eingang der Bank. Johann und der Mann zu seiner Rechten gingen hinein; der dritte Mann blieb draußen stehen. Borowski eilte zu der Telefonzelle zurück; er würde vier Minuten warten und dann Antoine d'Amacourt ein letztes Mal anrufen.

«La Banque de Valois. Bonjour.«

Zehn Sekunden später war d' Amacourt am Apparat. Seine Stimme klang gequält.»Sind Sie es, Monsieur Borowski? Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie wären zu meinem Büro unterwegs.«

«Ich habe meine Pläne geändert, tut mir leid. Ich muß Sie morgen anrufen. «Jason beobachtete durch die Glastür, wie ein Wagen vor der Bank hielt. Der dritte Mann, der sich neben dem Eingang postiert hatte, nickte dem Fahrer zu.

«… ich tun kann?«D'Amacourt hatte eine Frage gestellt.

«Wie bitte?«

«Ich habe gefragt, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann? Ich habe Ihr Konto; alles ist hier für Sie bereit.«

Sicher ist es das, dachte Borowski.

«Hören Sie, ich muß heute nachmittag nach London fliegen, morgen bin ich wieder zurück. Dann werde ich Sie sofort aufsuchen.«

«Nach London, Monsieur?«

«Ich rufe Sie morgen an. Ich muß rasch ein Taxi nach Orly finden.«

Er legte auf und beobachtete den Eingang der Bank. Weniger als eine Minute später kamen Johann und sein Begleiter herausgerannt; sie sprachen mit dem dritten Mann, dann stiegen alle drei in die wartende Limousine. Ihr Ziel war klar: Flughafen Orly. Jason merkte sich die Nummer auf dem Zulassungsschild und wählte dann sein nächstes Gespräch. Wenn der Telefonautomat in der Bank nicht benutzt wurde, würde Marie sofort beim ersten Klingeln abnehmen.

Das tat sie auch.

«Ja?«

«Hast du etwas gesehen?«

«Eine ganze Menge. D'Amacourt ist dein Mann.«

Kapitel 12

Sie gingen im Laden herum, von einem Tresen zum anderen. Marie blieb in der Nähe des breiten Schaufensters und behielt den Eingang der Bank auf der anderen Seite der Rue Madeleine im Auge.

«Ich habe zwei Halstücher für dich ausgesucht«, sagte Borowski.

«Das solltest du nicht. Die Preise sind viel zu hoch.«

«Es ist fast vier Uhr. Wenn er bis jetzt noch nicht herausgekommen ist, dann verläßt er die Bank bestimmt nicht vor Büroschluß.«

«Wahrscheinlich nicht. Wenn er vorzeitig hätte weggehen wollen, um sich mit irgend jemandem zu treffen, hätte er das inzwischen getan.«

«Du kannst es mir glauben, seine Freunde sind jetzt in Orly und rennen von einer London-Maschine zur anderen. Sie können unmöglich feststellen, mit welcher ich fliege, weil sie nicht wissen, welchen Namen ich verwende.«

«Sie werden sich darauf verlassen, daß der Mann aus Zürich dich erkennt.«

«Aber der sucht nach einem dunkelhaarigen, hinkenden Mann.«

Marie packte Jason am Arm und sah zu der Bank hinüber.»Da ist er! Der in dem Mantel mit dem Samtkragen ist d'Amacourt.«

«Der gerade an seinen Ärmeln zieht?«

«Ja.«

«Ich habe ihn. Wir sehen uns später im Hotel.«

«Sei vorsichtig! Sehr vorsichtig!«

Jason verließ den Laden und eilte dem Bankdirektor hinterher. D'Amacourt war in eine Seitenstraße gebogen und schlenderte gemächlich dahin; das war kein Mann, der es eilig hatte, sich mit jemandem zu treffen. Er wirkte eher wie ein promenierender Pfau.

Als er ein Cafe mit dunklen Fenstern passierte, dessen schwere hölzerne Eingangstür mit massiven Messingbeschlägen geziert war, lief Borowski auf gleicher

Höhe mit ihm und sprach ihn auf französisch an, wobei er seinen amerikanischen Akzent besonders betonte.

«Bonjour, Monsieur. Sie heißen d'Amacourt, nicht wahr?«

Der Bankier blieb stehen. Seine kalten Augen bekamen einen verschreckten Ausdruck. Der Pfau schrumpfte noch weiter in seinen maßgeschneiderten Mantel.»Borowski?«flüsterte er.

«Ihre Freunde sind jetzt bestimmt sehr verwirrt. Ich stelle mir vor, wie sie am Flughafen vergeblich nach mir Ausschau halten und sich fragen, ob Sie ihnen vielleicht eine falsche Information gegeben haben — womöglich absichtlich.«

«Was?«Seine verängstigten Augen traten aus ihren Höhlen.

«Ich glaube, wir sollten miteinander reden«, sagte Jason und hielt d'Amacourt am Arm fest.

«Ich weiß absolut nichts! Ich habe nur die Vorschriften befolgt, die mit dem Konto verbunden waren.«

«Wohl doch nicht. Als ich das erste Mal mit Ihnen sprach, erklärten Sie mir, über ein Konto dieser Art dürften Sie telefonisch keine Auskunft geben. Aber zwanzig Minuten später sagten Sie, alles läge für mich bereit. Also kommen Sie, gehen wir in das Cafe hier.«

Sie setzten sich in eine Nische, abgeschirmt von den Blicken der übrigen Gäste.

«Trinken Sie einen Schluck«, sagte Jason.»Sie werden es brauchen können.«

«Sie werden anmaßend«, erwiderte der Bankier kühl.»Ich nehme einen Whisky.«

«Ich auch.«

Als der Kellner mit den Getränken kam, nutzte d'Amacourt die kurze Pause, um ein Päckchen Zigaretten unter seinem eng anliegenden Mantel hervorzuholen. Borowski riß ein Streichholz an und hielt es dem Bankier dicht vor das Gesicht.

«Merci.« D'Amacourt inhalierte, legte die Zigarette weg und kippte den Whisky zur Hälfte hinunter.»Ich bin nicht der Mann, mit dem Sie sprechen sollten«, sagte er.

«Und wer wäre das Ihrer Ansicht nach?«

«Einer der Eigentümer der Bank vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber ganz sicher nicht ich.«

«Erklären Sie das.«

«Es sind Arrangements getroffen worden. Eine Privatbank ist viel flexibler als ein öffentliches Institut mit Aktionären.«

«Wieso?«

«Weil sie größeren Spielraum hat, wenn es um die Wünsche gewisser Klienten geht. Außerdem wird eine Privatbank weniger kontrolliert als eine Gesellschaft, die an der Börse notiert ist. Die Gemeinschaftsbank in Zürich ist auch ein Privatinstitut.«

«Die Forderungen wurden von der Gemeinschaftsbank gestellt?«

«Forderungen… Bitten…ja.«

«Wer sind die Eigentümer der Valois?«

«Wer? Ein Konsortium. Zehn oder zwölf Männer und ihre Familien.«

«Dann sind Sie ja doch der Richtige, oder nicht? Ich meine, es wäre ein wenig albern, wenn ich in ganz Paris herumlaufen würde, um sie ausfindig zu machen.«

«Ich bin nur ein Angestellter. «D'Amacourt leerte sein Glas, drückte die halb verrauchte Zigarette aus und zog mit leicht zitternden Fingern die nächste aus der Schachtel.

«Und welcher Art sind diese Arrangements, die Sie vorhin angedeutet haben?«

«Ich könnte meine Stellung verlieren, Monsieur!«

«Sie könnten Ihr Leben verlieren«, erwiderte Jason, den es beunruhigte, daß ihm diese Worte so leicht über die Lippen kamen.

«Ich bin nicht so einflußreich, wie Sie denken.«

«Und nicht so unwissend, wie Sie mir einreden wollen«, fügte Borowski hinzu, dessen Augen den Bankier auf der anderen Tischseite nicht losließen.»Typen wie Sie gibt es überall, d'Amacourt. Man merkt das an Ihren Kleidern, an der Art und Weise, wie Sie Ihr Haar tragen, selbst an Ihrem Gang. Sie stolzieren wie ein Pfau. Ein Mann wie Sie wird nicht Direktor der Valois-Bank, ohne Fragen zu stellen; Sie haben sich ganz bestimmt abgesichert. Sie lassen sich nur auf illegale Machenschaften ein, wenn Sie überzeugt sind, daß Sie Ihre eigene Haut retten können. Jetzt sagen Sie mir, was das für Arrangements waren. Ihre Person interessiert mich nicht weiter, drücke ich mich klar genug aus?«

D'Amacourt riß ein Streichholz an und hielt es an seine Zigarette, während er Jason anstarrte.»Sie brauchen mir nicht zu drohen, Monsieur. Sie sind ein sehr reicher Mann. Weshalb zahlen Sie mich nicht?«Der Bankier lächelte nervös.»Sie haben übrigens ganz recht. Ich habe ein oder zwei Fragen gestellt. Paris ist nicht Zürich. Ein Mann in meiner Position muß sich in der Tat absichern.«

Borowski lehnte sich zurück und drehte sein Glas zwischen den Fingern. Das Klirren der Eiswürfel war d'Amacourt sichtlich unangenehm.»Nennen Sie einen vernünftigen Preis«, sagte er schließlich,»dann können wir darüber diskutieren.«

«Ich bin ein vernünftiger Mann. Wollen wir doch die Entscheidung vom Wert meiner Information für Sie abhängig machen. Den Preis sollten Sie bestimmen. Bankiers auf der ganzen Welt werden von dankbaren Klienten, die von ihnen gut beraten worden sind, für ihren Service entschädigt. Ich würde in Ihnen gerne einen Klienten sehen.«

«Sicher würden Sie das«, lächelte Borowski und schüttelte den Kopf über den Nerv des Mannes.»Ihnen ist es offensichtlich angenehmer, von einem Trinkgeld für persönliche Dienste zu reden als von Bestechung.«

D'Amacourt zuckte die Achseln.»Ich bin mit der Definition einverstanden und würde, wenn man mich je fragen sollte, Ihre Worte wiederholen.«

«Um welche Arrangements handelt es sich nun?«

«Die Überweisung aus Zürich begleitete une fiche confidentielle…«

«Une fiche?« unterbrach Jason und erinnerte sich an den Augenblick in Apfels Büro in der Gemeinschaftsbank, als Koenig hereingekommen war und diese Worte ausgesprochen hatte.»Das habe ich schon einmal gehört. Was ist das?«

«Eigentlich ein altmodischer Ausdruck. Er stammt aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als die großen Bankhäuser — in erster Linie die Rothschilds — die internationalen Geldströme überwachten.«

«Und worum handelt es sich genau?«

«Um versiegelte Instruktionen, die geöffnet und befolgt werden müssen, wenn das fragliche Konto abgerufen wird.«

«Abgerufen?«

«Wenn die Gelder abgehoben werden oder eingehen.«

«Angenommen, ich wäre einfach an einen Schalter gegangen, hätte dort ein Sparbuch vorgelegt und Geld verlangt?«

«Dann wären auf einem Bildschirm zwei Sternchen erschienen, und man hätte Sie zu mir gesandt.«

«Ihre Telefonvermittlung hat mich gleich mit Ihrem Büro verbunden.«

«Das war Zufall. Die Außenhandelsabteilung hat noch zwei

Direktoren. Hätte man Sie zu einem meiner Kollegen durchgestellt, hätte der fiche trotzdem vorgeschrieben, daß man Sie zu mir schickt. Ich bin der Leiter dieser Filiale.«

«Ich verstehe. «Dabei war Borowski keineswegs sicher, daß er die Zusammenhänge begriffen hatte. Es gab da eine Lücke im Ablauf.»Warten Sie einen Augenblick. Sie wußten doch überhaupt nichts von einem fiche, als Sie sich die Kontounterlagen in Ihr Zimmer bringen ließen.«

«Warum ich es trotzdem verlangt habe?«unterbrach ihn d'Amacourt, der die Frage vorhergesehen hatte.»Seien Sie doch vernünftig, Monsieur. Versetzen Sie sich in meine Lage. Ein Mann ruft an, nennt seinen Namen und sagt dann, er >spräche von über vier Millionen Franc.< Vier Millionen! Wären Sie da nicht auch äußerst hilfsbereit und geneigt, die eine oder andere Vorschrift außer acht zu lassen?«

Jason sah den eleganten Bankier an und begriff, daß er ganz und gar nichts Ungewöhnliches gesagt hatte.

«Wie lauteten die Instruktionen?«

«Zunächst sollte eine Telefonnummer angerufen werden — eine nicht registrierte natürlich — und alle Informationen an sie weitergegeben werden.«

«Erinnern Sie sich an die Nummer?«

«Ich mache es mir zur Gewohnheit, mir solche Dinge zu merken.«

«Das kann ich mir vorstellen. Und wie lautet die Nummer?«

«Ich muß mich schützen, Monsieur. Wie hätten Sie sie sonst bekommen können? Ich stelle diese Frage… wie sagt man?… rhetorisch.«

«Was bedeutet, daß Sie die Antwort bereits kennen. Wie habe ich die Nummer also erfahren?«

«In Zürich. Sie haben einen sehr hohen Preis dafür bezahlt, daß jemand nicht nur die äußerst strengen Vorschriften des Schweizer Bankgewerbes, sondern auch die Gesetze des Landes brach.«

«Jetzt habe ich den Mann«, sagte Borowski, vor dessen geistigen Augen plötzlich das Gesicht Koenigs auftauchte.»Er hat das Verbrechen bereits begangen.«

«In der Gemeinschaftsbank? Machen Sie Witze?«

«Keineswegs. Sein Name ist Koenig. Sein Schreibtisch steht im ersten Stock.«

«Das werde ich mir merken.«

«Sicher werden Sie das. Die Nummer?«D'Amacourt gab sie ihm. Jason schrieb sie auf eine Papierserviette.»Woher weiß ich, daß diese Nummer richtig ist?«

«Sie können einigermaßen sicher sein; ich bin noch nicht bezahlt worden.«

«Das genügt.«

D'Amacourt beugte sich vor.»Eine Fotokopie des Originalfiche traf mit dem Kontenkurier ein. Sie war in ein schwarzes Etui eingeschlossen und wurde vom Leiter der Registratur in Empfang genommen und quittiert. Die Karte in dem Etui war von einem Partner der Gemeinschaftsbank unterschrieben und von einem Schweizer Notar gegengezeichnet; die Instruktionen waren unmißverständlich: In allen Angelegenheiten, die das Konto von Jason C. Borowski betrafen, sollte sofort ein Telefonanruf in die Vereinigten Staaten erfolgen. Die Nummer in New York war unkenntlich gemacht worden, und statt dessen hatte man einen Anschluß in Paris eingetragen und abgezeichnet.«

«Woher wußten Sie, daß es eine New Yorker Nummer war?«fragte Borowski erstaunt.

«Die Vorwahlnummer war in Klammern vermerkt, sie war nicht ausgestrichen worden. Sie lautete 212. Als geschäftsführender Direktor der Auslandsabteilung führe ich fast täglich Gespräche mit New York.«

«Die Korrektur war also ziemlich oberflächlich.«

«Richtig. Vielleicht ist sie in Eile erfolgt, oder man hat sie falsch ausgeführt. Andererseits gab es keine Möglichkeit, die Instruktionen ganz zu tilgen, ohne die Karte erneut notariell beglaubigen zu lassen. Die Vorwahlnummer stehenzulassen, bedeutete kein besonders großes Risiko, wenn man bedenkt, wie viele Anschlüsse es in New York gibt. Jedenfalls sah ich mich infolge der Änderung dazu veranlaßt, ein oder zwei Fragen zu stellen. Bankiers reagieren allergisch auf solche Art von Änderungen. «D'Amacourt trank die letzten Tropfen aus seinem Glas.

«Noch einen Whisky?«fragte Jason.

«Nein, vielen Dank. Das würde unser Gespräch nur verlängern.«

«Sie haben es selbst unterbrochen.«

«Ich denke nach, Monsieur. Vielleicht sollten Sie eine ungefähre Summe nennen, ehe ich fortfahre.«

Borowski studierte den Mann.»Es könnte eine fünfstellige sein«, sagte er.

«Na gut, ich werde fortfahren. Ich sprach mit einer Frau

… «

«Einer Frau? Was haben Sie zu Anfang gesagt?«

«Die Wahrheit. Ich sei geschäftsführender Direktor der Valois und befolge Instruktionen der Gemeinschaftsbank in Zürich. Was hätte ich sonst sagen sollen?«

«Weiter.«

«Ich sagte, ich hätte mit einem Mann am Telefon geredet, der behauptete, Jason Borowski zu sein. Sie fragte mich, wann das gewesen wäre, worauf ich erwiderte, vor wenigen Minuten. Dann wollte sie den genauen Inhalt unseres Gesprächs wissen. An diesem Punkt erklärte ich ihr meine Bedenken gegen solche Auskunft.

Auf dem fiche stand ausdrücklich, daß New York, nicht Paris, angerufen werden sollte. Sie sagte natürlich, das sei nicht meine Angelegenheit, die Änderung sei durch Unterschrift autorisiert und ob ich etwa wolle, daß Zürich informiert werde, daß ein Mitglied der Geschäftsleitung der Valois-Bank sich weigere, den Instruktionen der Gemeinschaftsbank nachzukommen?«

«Augenblick«, unterbrach Jason.»Wer war sie?«

«Ich habe keine Ahnung.«

«Sie meinen, Sie redeten die ganze Zeit mir ihr, ohne zu wissen, wer sie war?«

«Das ist die Eigenart eines fiche. Wenn ein Name genannt wird, dann gut. Wenn nicht, stellt man keine Fragen.«

«Sie zögerten aber nicht, nach der Telefonnummer zu fragen.«

«Ein reines Manöver; ich wollte Informationen. Sie haben viereinhalb Millionen Franc überwiesen — einen sehr hohen Betrag — und waren daher ein wichtiger Klient mit vielleicht wichtigeren Verbindungen… Erst sträubt man sich, dann willigt man ein, sträubt sich wieder, um erneut einzuwilligen; auf diese Weise erfährt man etwas. Besonders dann, wenn der Gesprächspartner hörbar Angst hat. Und ich kann Ihnen versichern, daß sie verängstigt war.«

«Und was erfuhren Sie von der Frau?«

«Daß Sie ein gefährlicher Mann seien.«

«In welcher Hinsicht?«

«Das ließ sie offen. Aber allein die Tatsache, daß der Begriff benutzt wurde, genügte mir, um zu fragen, weshalb die Sürete nicht eingeschaltet sei. Ihre Antwort war äußerst interessant: Sein Fall geht über die Sürete und über Interpol hinaus«, erklärte sie.

«Was hat Ihnen das gesagt?«

«Daß alles höchst kompliziert war, und zwar aus vielen Gründen, die man am besten nicht näher untersucht. Aber seit Beginn unseres Gespräches weiß ich noch etwas.«

«Was?«

«Daß Sie mich wirklich gut bezahlen sollten, denn ich muß äußerst vorsichtig sein. Diejenigen, die Sie suchen, haben vielleicht ebensowenig mit der Sürete oder mit Interpol zu tun.«

«Darauf kommen wir noch. Sie sagten also dieser Frau, ich sei auf dem Wege zu Ihnen ins Büro?«

«Ja, ich sagte, Sie würden etwa in einer Viertelstunde da sein. Sie bat mich, ein paar Augenblicke am Telefon zu warten, sie würde gleich wieder zurück sein. Offensichtlich hat sie mit jemand anderem telefoniert. Dann gab sie mir die endgültigen Anweisungen durch. Sie sollten in meinem Büro festgehalten werden, bis ein Mann zu meiner Sekretärin käme, der sich nach einer Angelegenheit aus Zürich erkundigen würde. Wenn Sie dann mein Zimmer verließen, sollte ich Sie durch ein Kopfnicken oder eine Handbewegung identifizieren; ein Fehler müsse ausgeschlossen sein. Der Mann erschien natürlich, aber Sie tauchten nicht auf. Also wartete er mit einem Begleiter am Schalter. Als Sie schließlich anriefen und sagten, Sie wären nach Orly unterwegs, um ein Flugzeug nach London zu nehmen, verließ ich mein Büro, um den Mann zu finden. Meine Sekretärin zeigte ihn mir und ich erzählte ihm, was ich wußte. Der Rest ist Ihnen ja hinreichend bekannt.«

«Kam es Ihnen nicht eigenartig vor, daß ich identifiziert werden mußte?«

«Weniger eigenartig als maßlos übertrieben. Ein fiche ist eine Sache — Telefonanrufe, anonyme Informationen —, aber direkt involviert zu sein, sozusagen in aller Öffentlichkeit, ist etwas völlig anderes. Das sagte ich auch der Frau.«

«Und was hat sie geantwortet?«

D'Amacourt räusperte sich.»Sie machte mir klar, daß die Gruppe, die sie vertrat — deren Status tatsächlich durch fiche selbst bestätigt wurde — sich an meine Unterstützung erinnern würde. Sie sehen, ich halte nichts zurück… Anscheinend wissen die nicht, wie Sie aussehen.«

«Ein Mann war in der Bank, der mich in Zürich gesehen hat.«

«Dann haben seine Kollegen seiner Schilderung mißtraut.«

«Warum sagen Sie das?«

«Das ist nur eine Beobachtung, Monsieur; die Frau ließ sich nicht davon abbringen. Sie müssen verstehen, daß ich mich hartnäckig jeder direkten Beteiligung widersetzte; das ist nicht die Natur eines fiche. Sie sagte, es gäbe keine Fotografie von Ihnen. Eine offensichtliche Lüge natürlich.«

«Ist es das?«

«Natürlich. Alle Pässe tragen Fotos. Wo gibt es denn einen Grenzbeamten, den man nicht bestechen oder hinters Licht führen kann? So was läßt sich doch immer arrangieren. Nein, sie haben etwas sehr Wichtiges übersehen.«

«Ja, das haben sie wohl.«

«Und Sie«, fuhr d'Amacourt fort,»haben mir gerade etwas Wichtiges verraten. Sie müssen mich wirklich sehr gut bezahlen.«

«Was habe ich Ihnen gerade verraten?«

«Daß Sie in Ihrem Paß nicht unter dem Namen Jason Borowski eingetragen sind. Wer sind Sie, Monsieur?«

Jason antwortete nicht gleich, er drehte wieder sein Glas zwischen den Fingern.»Jemand, von dem Sie vielleicht eine Menge Geld bekommen werden«, sagte er.

«Das reicht völlig. Sie sind einfach ein Klient namens Borowski. Und ich muß vorsichtig sein.«

«Ich will diese Telefonnummer in New York haben. Können Sie mir die beschaffen? Das würde Ihnen eine beträchliche Prämie eintragen.«

«Ich wünschte, ich könnte das, aber ich sehe keine Möglichkeit.«

«Man könnte sie unter einem Mikroskop auf der Fiche-Karte erkennen.«

«Als ich sagte, man hat die Nummer unkenntlich gemacht, Monsieur, meinte ich nicht, ausgestrichen. Sie war ausgeschnitten worden.«

«Dann hat sie jemand in Zürich.«

«Oder man hat das Stück Papier vernichtet.«

«Letzte Frage«, sagte Jason, der gehen wollte.»Die betrifft übrigens Sie. Das ist die einzige Möglichkeit, daß Sie bezahlt werden.«

«Ich lasse die Frage natürlich zu. Wie lautet sie?«

«Wenn ich in der Valois-Bank auftauchte, ohne Ihnen vorher mein Erscheinen anzukündigen, würde man dann von Ihnen erwarten, daß Sie auch telefonieren?«

«Ja. Man setzt sich nicht über einen fiche hinweg; es kommt von ganz oben. Man würde mich entlassen.«

«Wie bekommen wir dann unser Geld?«

D'Amacourt schürzte die Lippen.»Es gibt eine Möglichkeit. Abhebung in absentia. Würden Sie mir briefliche Instruktionen mit Ihrer notariell beglaubigten Unterschrift schicken, hätte ich nicht die Möglichkeit, die Auszahlung zu verhindern.«

«Man würde aber trotzdem erwarten, daß Sie telefonieren.«

«Das ist eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Wenn mich ein Anwalt, mit dem die Valois häufig Geschäftsverbindungen hat, anrufen würde und verlangte, daß ich, sagen wir, eine Anzahl Barschecks auf eine Auslandseinzahlung ausstellen solle, deren Ausführung er mir bestätigt, würde ich das tun. Er würde erklären, daß er die ausgefüllten Anweisungsformulare an meine Bank schicken würde, und die Schecks wären natürlich als Überweisungsschecks kenntlich gemacht, um die Steuern zu umgehen. Ein Bote würde mit dem Brief zur Hauptgeschäftszeit erscheinen und meine Sekretärin, eine vertrauenswürdige, langjährige Angestellte — würde die Formulare zur Gegenzeichnung und den Brief zum Abzeichnen zu mir hereinbringen.«

«Ohne Zweifel mit mehreren anderen Papieren«, unterbrach ihn Borowski,»die Sie ebenfalls unterschreiben müssen.«

«Genau. Erst würde ich anrufen und wahrscheinlich dabei dem Boten zusehen, wie er mein Büro mit seiner Aktentasche verläßt.«

«Sie denken nicht zufällig an einen bestimmten Anwalt in Paris?«

«Mir ist tatsächlich gerade einer eingefallen.«

«Wieviel wird er kosten?«

«Zehntausend Franc.«

«Das ist teuer.«

«Ganz und gar nicht. Er war einmal Richter, eine honorige Persönlichkeit.«

«Und Sie? Wir wollen das doch genau festlegen.«

«Ich sagte ja, ich bin ein vernünftiger Mensch, und die Entscheidung liegt bei Ihnen. Da Sie eine fünfstellige Summe erwähnten, sollten wir, finde ich, dabei bleiben. Also fünfzigtausend Franc.«

«Das ist unerhört!«

«Das ist das, was Sie getan haben, bestimmt auch, Monsieur Borowski.«

«Une fiche confidentielle«, sagte Marie, die in dem Sessel am Fenster saß und auf die Dächer des Boulevard Montparnasse hinausblickte.»So sind die also vorgegangen. Ich weiß auch, woher die Bezeichnung kommt. «Jason füllte ein Glas aus der Weinflasche, die auf der Kommode stand, und trug es zum Bett; dann setzte er sich ihr gegenüber und sah sie an.»Willst du es hören?«

«Das ist mir bekannt«, antwortete sie und schaute in Gedanken versunken zum Fenster hinaus.»Aber ich bin irgendwie schockiert.«

«Warum? Ich dachte, du hättest so etwas erwartet.«

«Die Ergebnisse ja, nicht die Methode. Ein fiche ist etwas so Archaisches; es wird fast nur noch von Privatbanken auf dem Kontinent benutzt. Die amerikanischen, kanadischen und britischen Gesetze verbieten so etwas.«

Borowski erinnerte sich an d'Amacourts Worte und wiederholte sie.»>Es kommt von ganz oben< — das hat er gesagt.«

«Da hatte er recht. «Marie sah zu ihm hinüber.»Ich vermutete, jemand sei bestochen worden, um Informationen weiterzuleiten. Das ist nicht ungewöhnlich; Bankiers sind nicht gerade Heilige. Aber das hier ist etwas anderes. Jenes Konto in Zürich ist mit dem fiche eingerichtet worden. Vermutlich mit deinem Wissen.«

«Treadstone Seventy-One«, sagte Jason.

«Ja. Die Eigentümer der Bank mußten im Einvernehmen mit Treadstone arbeiten. Und wenn man bedenkt, wie leicht man dir den Zugang machte, dann ist durchaus möglich, daß du darüber Bescheid wußtest.«

«Aber jemand ist bestochen worden. Wahrscheinlich Koenig. Er hat eine Telefonnummer gegen eine andere ausgetauscht.«

«Er ist bestens honoriert worden, das kann ich dir versichern. In der Schweiz müßte er mit zehn Jahren Gefängnis rechnen.«

«Zehn? Das ist aber ziemlich hart.«

«So sind die Schweizer Gesetze eben… Man muß ihm ein kleines Vermögen bezahlt haben.«

«Carlos«, sagte Borowski,»Carlos… Was bin ich für ihn?

Das frage ich mich immer wieder. Ständig wiederhole ich den Namen! Aber ich komme nicht weiter.«

«Aber da ist doch etwas, nicht wahr?«Marie beugte sich vor.»Was ist es, Jason? Woran denkst du?«

«An nichts.«

«Dann fühlst du etwas. Was?«

«Angst vielleicht… Zorn. Ich weiß es nicht.«

«Konzentriere dich!«

«Verdammt noch mal, das tue ich schon die ganze Zeit!«Borowski ärgerte sich über seinen Ausbruch.»Tut mir leid.«

«Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Dies sind die versteckten Hinweise, nach denen du suchen mußt — nach denen wir suchen müssen. Dein Freund, der, Arzt in Port Noir, hatte recht: Bruchstückhaft kommen alte Erinnerungen zurück, die durch Worte oder visuelle Reize ausgelöst werden, durch ein Gesicht zum Beispiel oder durch die Fassade eines Restaurants. Wir haben selbst gesehen, wie das vor sich geht. Jetzt ist es ein Name, den auszusprechen du fast eine Woche lang vermieden hast, während du mir alles andere, das dir in den letzten fünf Monaten passiert ist, bis ins kleinste Detail erzählt hast. Nur Carlos hast du mit keinem Wort erwähnt. Das bedeutet dir etwas, verstehst du? Dieser Name regt Dinge in dir an, Dinge, die herausbrechen wollen.«

«Ich weiß«, sagte Jason und nahm einen Schluck Wein.

«Darling, am Boulevard Saint-Germain gibt es einen berühmten Buchladen, der vollgestopft ist mit Tausenden von alten Magazinen. Der Inhaber hat sogar Stichwortregister angelegt, wie es sonst eine Bibliothek zu bieten hat. Ich würde gerne herausfinden, ob Carlos in diesem Register enthalten ist. Was hältst du davon?«

Borowski durchzuckte ein stechender Schmerz in der Brust. Das hatte nichts mit seinen Wunden zu tun, das war Angst. Sie spürte es und begriff irgendwie — er fühlte es und konnte nicht begreifen.»Im Lesesaal der Sorbonne liegen alte Zeitungsausgaben aus«, sagte er und blickte zu ihr auf.»Eine davon hat mich eine Weile in Hochstimmung versetzt — bis ich gründlicher darüber nachdachte.«

«Eine Lüge wurde aufgedeckt. Das war das Wichtige. Und jetzt suchen wir die Wahrheit. Du darfst dich nicht vor ihr fürchten, Darling. Ich fürchte mich auch nicht.«

Jason stand auf.»Okay. Dann ist Saint-Germain eingeplant. Unterdessen kannst du den Mann in der Botschaft anrufen.«

Borowski griff in die Tasche und holte die Papierserviette mit der Telefonnummer heraus; er hatte die Zulassungsnummer des Wagens hinzugefügt, der von der Bank an der Rue Madeleine weggerast war.»Hier ist die Nummer, die d'Amacourt mir gegeben hat, und die Zulassungsnummer dieses Autos. Sieh mal, was er machen kann.«

Marie nahm die Serviette und ging ans Telefon. Daneben lag ein kleines Notizbuch mit einem Spiralrücken; sie blätterte darin.»Hier: Er heißt Dennis Corbelier. Peter hat gesagt, er wollte ihn bis heute mittag nach Pariser Zeit angerufen haben. Ich könnte mich auf ihn verlassen; als Attache sei er einer der bestinformierten Leute in der Botschaft.«

«Peter kennt ihn näher?«

«Sie waren Studienkollegen an der Universität von Toronto. Ich kann ihn doch von hier aus anrufen, oder?«

«Sicher. Aber sag ihm nicht, wo du bist.«

Marie nahm den Hörer ab, ließ sich ein Amt geben und wählte die Nummer der kanadischen Botschaft an der Avenue Montaigne. Fünfzehn Sekunden später hatte sie Dennis Corbelier am Apparat.

Marie kam sofort zur Sache.»Ich nehme an, Peter hat Ihnen erzählt, daß ich Hilfe brauche.«

«Mehr als das«, erwiderte Corbelier,»er hat mir auch erklärt, daß Sie in Zürich seien. Ich habe zwar nicht alles begriffen, was er sagte, aber ungefähr habe ich ihm folgen können. Anscheinend geht es in der Welt der Hochfinanz heutzutage hoch her.«

«Das kann man wohl behaupten. Die Schwierigkeit ist nur, daß niemand einem sagen will, wer wen manipuliert. Das ist ja mein Problem.«

«Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

«Ich habe eine Autonummer und eine Telefonnummer. Beide sind hier in Paris registriert. Der Anschluß ist nicht im Telefonbuch verzeichnet; es könnte peinlich sein, wenn ich anrufe.«

«Geben Sie mir die Nummer. «Das tat sie.»Wir haben ein paar Freunde an wichtigen Stellen, die uns gelegentlich behilflich sind oder wir ihnen. Haben Sie Lust, morgen mit mir zu Mittag zu essen? Ich versuche inzwischen was rauszukriegen.«

«Das würde ich gerne tun, aber morgen habe ich keine Zeit. Ich bin schon mit einem alten Freund verabredet. Vielleicht ein anderes Mal.«

«Peter hat gemeint, ich wäre verrückt, wenn ich es nicht probieren würde. Sie seien nämlich eine umwerfende Frau.«

«Er ist sehr lieb, und das sind Sie auch. Ich rufe Sie morgen nachmittag wieder an.«

«Fein.«

«Bis morgen dann und vielen Dank. «Marie legte auf und sah auf die Uhr.»Ich soll Peter in drei Stunden anrufen. Erinnere mich daran.«

«Glaubst du wirklich, daß er so bald etwas haben wird?«

«Er ganz bestimmt; er hat noch gestern nacht in Washington angerufen. Corbelier hat gerade gesagt, wir alle tauschen Gefälligkeiten aus: Für eine Information revanchiert man sich durch eine andere.«

«Das klingt aber verdächtig nach Verrat.«

«Im Gegenteil: Wir beschäftigen uns mit Geld, nicht mit Raketen. Mit Geld, das durch illegale Kanäle fließt, unter Ausschaltung von Gesetzen, die unser aller Interessen dienen. Es sei denn, du willst, daß die Scheichs aus Arabien plötzlich Eigentümer von Grumman Aircraft sind. Dann sprechen wir von Raketen… nachdem sie abgeschossen worden sind.«

«Ich ziehe meine Kritik zurück.«

«Wir müssen d'Amacourts Mann gleich morgen früh aufsuchen. Überleg dir, wieviel du abheben willst.«

«Alles.«

«Alles?«

«Richtig. Wenn du Vorstandsmitglied von Treadstone wärest, was würdest du tun, wenn du erfahren hättest, daß sechs Millionen Franc auf einem Firmenkonto fehlen?«

«Ich verstehe.«

«D'Amacourt hat eine Reihe von Barschecks vorgeschlagen, die auf den Überbringer ausgestellt sind.«

«Hat er wirklich von Schecks geredet?«

«Ja. Stimmt etwas nicht?«

«Allerdings. Die Nummern dieser Schecks könnten notiert und an sämtliche Banken geschickt werden. Du müßtest zu einer Bank, um sie einzulösen; dann würden die Zahlungen gestoppt werden.«

«Ein schlauer Bengel, was? Er läßt sich von beiden Seiten bezahlen. Was tun wir?«

«Nimm nur die Obligationen mit verschiedenen Laufzeiten. Die lassen sich viel leichter zu Geld machen.«

«Du hast dir gerade dein Abendessen verdient«, sagte Jason und strich ihr zärtlich über die Stirn.

«Ich versuche, mir meinen Unterhalt zu verdienen«, erwiderte sie und hielt seine Hand fest.»Zuerst Dinner, dann Peter… und danach der Buchladen auf der Rue Saint-Germain.«

«Ein Buchladen in Saint-Germain«, wiederholte Borowski; und plötzlich schoß ihm wieder der Schmerz durch die Brust.

Was war das nur? Warum hatte er solche Angst?

Sie verließen das Restaurant am Boulevard Raspail und gingen zum Telegrafenamt an der Rue Vaugirard. In der Mitte der Halle stand ein riesiger, kreisförmiger Tresen, wo Angestellte die Kunden bedienten und ihnen eine der gläsernen Zellen zuwiesen, die in den Wänden eingelassen waren.

«Wir haben augenblicklich sehr wenig Überseegespräche, Madame«, sagte die junge Frau hinter dem Schalter zu Marie.»Ihr Gespräch sollte in wenigen Minuten durchgeschaltet sein. Nummer zwölf, bitte.«

«Danke.«

Während sie zur Zelle gingen, hielt Jason ihren Arm.»Ich weiß, warum die Leute hierher kommen«, sagte er.»Die Verbindung klappt hundertmal schneller als in einem Hotel.«

«Das ist nur einer der Gründe.«

Als sie drinnen zweimal die Glocke anschlagen hörten, öffnete Marie die Tür und trat ein, das Notizbuch mit dem Spiralrücken und einem Bleistift in der Hand. Sie nahm den Hörer ab.

Sechzig Sekunden später sah Borowski mit Erstaunen, wie sie die Wand anstarrte und ihr Gesicht plötzlich kalkweiß wurde. Sie fing zu schreien an, ließ die Handtasche fallen, so daß ihr Inhalt sich über den Boden der kleinen Zelle verteilte; das Notizbuch blieb auf dem Sims liegen, der Bleistift zerbrach zwischen ihren Fingern. Er rannte hinein, sie war dem Zusammenbruch nahe.

«Hier ist Marie St. Jacques in Paris, Lisa. Peter erwartet meinen Anruf.«

«Marie? O mein Gott… «Die Stimme der Sekretärin wurde von anderen Stimmen im Hintergrund übertönt. Jemand legte die Hand über den Hörer. Dann raschelte es am anderen Ende der Leitung, als der Hörer aufgenommen wurde.

«Marie, hier ist Alan«, sagte der stellvertretende Abteilungsdirektor.»Wir sind alle in Peters Büro.«

«Was ist denn, Alan? Ich habe nicht viel Zeit; kann ich ihn bitte sprechen.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.»Ich wünschte, ich könnte dir das leichter machen, aber ich weiß nicht, wie. Er ist tot, Marie! «

«Er ist… was?«

«Die Polizei hat vor ein paar Minuten angerufen; sie sind hierher unterwegs.«

«Die Polizei? Was ist passiert?«

«Wir versuchen das mit Hilfe seiner Telefonnotizen herauszufinden; aber man hat uns gesagt, wir sollen nichts auf seinem Schreibtisch anrühren.«

«Alan, sag mir endlich was geschehen ist!«

«Das ist es ja gerade, wir wissen es nicht. Er hat keinem von uns gesagt, was er macht. Uns war nur bekannt, daß er heute morgen zwei Anrufe aus den Staaten bekam: einen aus Washington, den anderen aus New York. Gegen Mittag sagte er Lisa, er würde zum Flughafen fahren, um jemanden abzuholen; er sagte nicht, wen. Die Polizei fand ihn vor einer Stunde in einer Frachthalle. Es war schrecklich; man hat ihn erschossen. Durch eine Kugel in den Hals… Marie? Marie?«

Der alte Mann mit den tiefliegenden Augen und den weißen Bartstoppeln humpelte in den dunklen Beichtstuhl, blinzelte ein paarmal und bemühte sich, die kapuzenbedeckte Gestalt auf der anderen Seite des Trenngitters zu erkennen. Die Augen des Achtzigjährigen waren nicht mehr besonders scharf; aber sein Verstand war klar; das war alles, worauf es ankam.

«Angelus Domini«, sagte er.

«Angelus Domini, Kind Gottes«, flüsterte die Gestalt in der Mönchskutte.»Sind deine Tage angenehm?«

«Sie neigen dem Ende zu; doch man gestaltet sie mir angenehm.«

«Gut… Zürich?«

«Man hat den Mann vom Guisan-Quai gefunden. Er war verwundet; man hat ihn über einen Arzt ausfindig gemacht, der in der Unterwelt für seine prompten Dienste bekannt ist. Unter scharfem Verhör gab er zu, die Frau attackiert zu haben. Cain ist zurückgekommen zu ihr; Cain hat auf ihn geschossen.«

«Der Mann vom Guisan-Quai glaubt das nicht. Er war einer der beiden, die sie auf der Löwenstraße aufgegriffen haben.«

«Und ein Narr ist er auch. Warum verging er sich auch an der Frau?«

«Er sieht seinen Fehler ein.«

«Ist er noch im Besitz seiner Pistole?«

«Ihre Leute haben sie.«

«Gut. Bei der Züricher Polizei gibt es einen Präfekten. Man muß ihm die Waffe geben. Cain ist sehr geschickt und versteht es, immer wieder zu entwischen. Die Frau ist viel harmloser. Sie hat Verbindungsleute in Ottawa, mit denen sie ständig Kontakt hat. Wir werden die Frau in die Falle locken und ihn aufstöbern. Hast du einen Bleistift bereit?«

«Ja, Carlos.«

Kapitel 13

Borowski hielt sie in der engen Telefonzelle fest und ließ sie vorsichtig auf den Sitz heruntersinken, der aus der schmalen Wand hervorragte. Sie zitterte, ihr Atem ging unregelmäßig, ihre Augen waren glasig.

«Die haben ihn getötet. Getötet! Mein Gott, was hab' ich getan? Peter!«

«Du bist nicht schuld. Wenn jemand schuld ist an seinem Tod, ich — nicht du. Begreif das doch.«

«Jason, ich habe Angst. Eine halbe Welt von mir entfernt… und die haben ihn getötet!«

«Treadstone?«

«Wer sonst? Da waren zwei Telefonanrufe, Washington… New York. Er fuhr zum Flughafen, um jemanden abzuholen, und wurde getötet.«

«Wie?«

«Du großer Gott…«Tränen traten in Maries Augen.»Erschossen! In den Hals!«flüsterte sie.

Borowski spürte plötzlich einen stumpfen Schmerz; er konnte ihn nicht lokalisieren, aber er war da, schnitt ihm die Luft ab.»Carlos«, sagte er, ohne zu wissen, warum er den Namen aussprach.

«Was?«Marie starrte zu ihm hinauf.»Was hast du gesagt?«

«Carlos«, wiederholte er mit weicher Stimme.»Eine Kugel in den Hals. Carlos.«

«Was willst du damit ausdrücken?«

«Ich weiß nicht. «Er nahm ihren Arm.»Gehen wir hinaus. Bist du wieder in Ordnung?«

Sie nickte, schloß kurz die Augen, atmete tief.»Ja.«

«Wir nehmen irgendwo unterwegs einen Drink, den brauchen wir beide. Und dann werden wir ihn finden.«

«Was finden?«

«Den Buchladen in Saint-Germain.«

Unter dem Stichwort» Carlos «waren drei antiquarische Ausgaben von Zeitschriften vermerkt: ein drei Jahre altes Magazin von Potomac Quarterly und zwei französische

Ausgaben von Le Globe. Sie kauften alle drei Hefte und fuhren mit einem Taxi zum Hotel zurück. Dort begannen sie zu lesen, Marie auf dem Bett, Jason in dem Sessel am Fenster. Nach einigen Minuten schoß Marie in die Höhe.

«Hier ist es«, sagte sie, und ihre Stimme wie ihr Gesicht verrieten Furcht.

«Lies vor.«

«>Carlos und seine Gruppe sollen eine besonders brutale Form der Bestrafung anwenden. Sie töten ihre Opfer durch einen Schuß in den Hals und lassen sie häufig unter schrecklichen Schmerzen sterben. Diese Todesart ist jenen vorbehalten, die nicht schweigen können oder die Loyalität brechen…<«Marie hielt inne, sie konnte nicht weiterlesen. Sie legte sich zurück und schloß die Augen.»Er war nicht bereit, es ihnen zu sagen, und ist dafür getötet worden. O mein Gott!«

«Er konnte ihnen nicht sagen, was er nicht wußte«, sagte Borowski.

«Aber du hast es gewußt!«Marie setzte sich erneut auf, die Augen weit aufgerissen.»Du hast das von dem Schuß in den Hals gewußt!«

«Ja, das stimmt. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen.«

«Wie?«

«Ich wünschte, ich könnte das näher beantworten.«

«Gibst du mir einen Schluck zu trinken?«

«Sicher. «Jason erhob sich und ging zur Kommode. Er schenkte Whisky in zwei Gläser und sah zu ihr hinüber.»Willst du Eis haben?«

«Nein. «Sie warf die Zeitschrift aufs Bett und drehte sich zu ihm herum.»Ich werde verrückt!«

«Dann sind wir zwei Verrückte.«

«Ich will dir glauben; aber ich… ich…«

«Du bist nicht sicher«, sprach Borowski den Satz für sie zu Ende.»Ebensowenig wie ich. «Er brachte ihr das Glas.»Was soll ich denn sagen? Bin ich womöglich einer von Carlos' Soldaten? Habe ich etwa den Schwur gebrochen? Habe ich deshalb die Tötungsmethode gekannt?«

«Hör auf!«

«Das sage ich auch oft zu mir: >Hör auf.< Du darfst nicht denken, du mußt versuchen, dich zu erinnern; aber gehe behutsam vor. Es könnte sein, daß eine Lüge aufgedeckt wird, die zu zehn weiteren Fragen führt. Vielleicht ist es so, wie wenn man betrunken war und dann aufwacht und nicht mehr weiß, mit wem man sich gestritten hat oder… verdammt… wen man erschossen hat.«

«Nein…«Marie zog das Wort in die Länge.»Du bist du; du darfst mir den Glauben daran nicht rauben.«

«Das will ich nicht. Ich will ihn mir auch selbst nicht nehmen. «Jason ging zum Sessel zurück und setzte sich, das Gesicht zum Fenster gewandt.»Du bist auf den Artikel gestoßen, in dem geschildert wird, wie Carlos seine Leute liquidiert. Ich habe einen anderen entdeckt. Was darin steht, habe ich ebenso gewußt wie die Meldung über Howard Lelands Ermordung. Ich brauchte den Bericht nicht einmal zu Ende zu lesen.«

Borowski hob das drei Jahre alte Heft von Potomac Quarterly vom Boden auf und deutete auf das Porträt eines bärtigen Mannes. Es war in groben Strichen gehalten, irgendwie unfertig, so als wäre es nach einer vagen Beschreibung entstanden. Er hielt ihr die aufgeschlagene Seite hin.

«Da, lies«, sagte er.»Der Artikel beginnt oben links und hat die Überschrift >Mythos oder Monstrum<. Anschließend möchte ich ein Spiel mit dir spielen.«

«Ein Spiel?«

«Ja. Ich habe nur die ersten zwei Absätze gelesen.«

«Also gut. «Marie musterte ihn verwirrt. Sie griff nach der Zeitschrift und las.

MYTHOS ODER MONSTRUM

Ein Jahrzehnt lang ist der Name» Carlos «in den finsteren Vierteln so unterschiedlicher Städte wie Paris, Teheran, Beirut, London, Kairo und Amsterdam nur im Flüsterton ausgesprochen worden. Es gibt konkrete Beweise, daß er Exekutionen für extrem radikale Gruppen wie die PLO und die Baader-Meinhof-Bande durchgeführt hat.

Hört man von seinen Taten, so denkt man an eine Welt, die von Gewalt und Verschwörung beherrscht wird, in der schnelle Wagen und ebenso schöne wie kühne Frauen eine wichtige Rolle spielen.»Carlos «wird in diesen Darstellungen als blutrünstiges Monstrum beschrieben, das die Ware Tod mit der Nüchternheit eines Marktanalytikers verkauft und dabei ein klares Bild von Löhnen, Kosten und einer straffen

Organisation besitzt.

Der Mann, der dieses komplizierte Geschäft meisterhaft beherrscht, heißt Iljitsch Ramirez Sanchez. Man vermutet, daß er Venezolaner ist, der Sohn eines fanatischen, aber nicht sehr prominenten marxistischen Anwalts (der Vorname Iljitsch ist der Tribut des Vaters an Wladimir Iljitsch Lenin). Sein Vater soll ihn in jungen Jahren nach Rußland geschickt haben, um ihn dort für eine Agententätigkeit ausbilden zu lassen. Angeblich hat» Carlos «das sowjetische Ausbildungslager in Nowgorod besucht. Was dann weiter mit ihm geschah, ist relativ unklar. Gerüchten zufolge erkannte einer der Ausschüsse des Kreml, die regelmäßig ausländische Studenten daraufhin überprüfen, welche man für künftige Spionageaufgaben einsetzen könnte, welchen Charakter dieser Iljitsch Sanchez hatte. Für sie war er ein Paranoiker, der die wohlplazierte Kugel oder Bombe als einzige Lösung aller Probleme ansah. Die Empfehlung wurde ausgesprochen, den Jungen nach Caracas zurückzuschicken und sämtliche Verbindungen mit seiner Familie abzubrechen. Von Moskau abgelehnt und der westlichen Gesellschaft zutiefst abgeneigt, begann Sanchez, sich seine eigene Welt aufzubauen, eine Welt, in der er der absolute Herrscher war. So wurde er schließlich zum professionellen Killer, der seine Dienste allen möglichen politischen und weltanschaulichen Randgruppen zur Verfügung stellt.

Jetzt wird das Bild wieder klarer. Sanchez, der zahlreiche Sprachen fließend beherrscht, darunter seine Muttersprache Spanisch, dazu Russisch, Französisch und Englisch, benutzt nun seine in Rußland genossene Ausbildung als Sprungbrett dafür, seine Techniken zu verfeinern. In Kuba lernte er, mit allen Arten von Waffen und Explosivstoffen umzugehen. Es gibt keine Schußwaffe, die er nicht mit verbundenen Augen zerlegen und wieder zusammenmontieren kann; keinen Sprengstoff, den er nicht durch Geruch und Berühren identifizieren und auf die verschiedensten Arten zur Detonation bringen kann. Nun ist er bereit; er wählt sich Paris als Operationsbasis und sorgt dafür, daß man auf ihn aufmerksam wurde. Er stellte sein Killertalent zur Verfügung, wo andere das Risiko scheuten.

Viele Fragen bleiben offen: Wie alt ist»»Carlos«? Wie viele Morde kann man ihm zuschreiben und wie viele sind nur Mythos? Korrespondenten in Venezuela waren außerstande, irgendwo im Lande eine Geburtsurkunde für einen Iljitsch Ramirez Sanchez ausfindig zu machen. Andererseits gibt es dort Tausende und Abertausende von Leuten mit dem Namen Sanchez und Hunderte, die zusätzlich Ramirez heißen, aber niemand trägt den Vornamen Iljitsch. Hat man ihn später hinzugefügt, oder ist das Ganze nur ein Beweis für die Gründlichkeit von» Carlos«? Man kann nur vermuten, daß er zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt ist. Niemand weiß es mit Bestimmtheit.

Sicher ist jedoch, daß Sanchez mit dem» Honorar «für seine ersten Morde eine Organisation aufgebaut hat, um deren Schlagkräftigkeit ihn mancher General beneiden würde. Loyalität und Mitarbeit werden gleichermaßen durch Angst und Belohnung erzwungen. Abtrünnige werden kurzerhand liquidiert; folgsame Mitglieder seiner Terrorgruppe hingegen werden für treue Dienste großzügig belohnt. Das führt zu einer naheliegenden Frage. Woher kamen die Profite ursprünglich? Wer waren die ersten Opfer?

Der Mord, über den die häufigsten Spekulationen angestellt werden, ereignete sich vor dreizehn Jahren in Dallas. Sooft man auch den Mord an John F. Kennedy versucht hat zu rekonstruieren — bis jetzt ist es noch niemandem gelungen, zufriedenstellend ein Rauchwölkchen zu erklären, das von einem grasbedeckten, dreihundert Meter von der Wagenkolonne entfernten Hügel aufgestiegen war. Kameras erfaßten die Rauchwolke. Und doch wurden an der Stelle weder Patronenhülsen noch Fußabdrücke gefunden. Tatsächlich wurde der einzige Hinweis auf die Rauchwolke in jenem Augenblick für so unwichtig gehalten, daß er bei den polizeilichen Ermittlungen des FBI unterging und im Bericht der Warren-Kommission nicht berücksichtigt wurde. Die Information stammt von einem zufälligen Beobachter des Geschehens, K.M. Wright aus Dallas, der bei seinem Verhör die folgende Aussage machte:»Verdammt, der einzige, der weit und breit zu sehen war, war der alte Lumpen-Billy, und der war ein paar hundert Meter entfernt.«

Mit» Billy «meinte er einen alten Penner in Dallas, den man häufig vor touristischen Sehenswürdigkeiten beim Betteln ertappt hatte; das Wort Lumpen bezog sich auf seine Angewohnheit, seine Schuhe mit Stoffetzen zu umwickeln, um damit das Mitleid der Passanten zu erwecken. Nach Aussage unserer Korrespondenten wurde Wrights Erklärung nie

veröffentlicht.

Vor sechs Wochen brach ein inhaftierter libanesischer Terrorist in Tel Aviv beim Verhör zusammen. Um sich vor der drohenden Hinrichtung zu schützten, behauptete er, neue Informationen über den Meuchelmörder»»Carlos «zu besitzen. Die israelische Abwehr gab das Protokoll seiner Aussage nach Washington weiter; unsere Korrespondenten in der amerikanischen Hauptstadt konnten sich eine Abschrift beschaffen.

Aussage:»»Carlos war im November 1963 in Dallas. Er gab sich als Kubaner aus und lenkte Oswalds Mordeinsatz. Er war der Hintermann. Es war seine Operation.«

Frage:»»Welche Beweise haben Sie?«

Aussage:»»Ich habe selbst gehört, wie er es sagte. Er befand sich auf einem kleinen Grashügel. Sein Karabiner war mit einem Drahtgebilde versehen, das die Hülsen auffing.«

Frage:»»Davon gibt es keinerlei Augenzeugenberichte;

warum hat ihn niemand beobachtet?«

Aussage:»»Man hat ihn vielleicht bemerkt; doch niemand hätte ihn erkennen können. Er war als alter Mann verkleidet, trug einen schäbigen Mantel und hatte sich Stoffetzen um die Schuhe gewickelt, um keine Schuhabdrücke zu hinterlassen.«

Zw eifellos kann die Aussage eines Terroristen nicht als verbindlicher Beweis betrachtet werden, aber man sollte sie auch nicht einfach abtun — zumal sie einen Meister der Täuschung und Tarnung betrifft. Darüber hinaus wird diese Aussage in so erstaunlicher Weise von einem nicht veröffentlichten Zeugen bestätigt, dem die Ermittlungsbehörde nie nachgegangen ist. Wie so viele andere, die — und sei es noch so entfernt — mit den tragischen Ereignissen von Dallas irgendwie in Verbindung standen, fand man»»Rupfen-Billy «einige Tage später tot auf, gestorben an einer Überdosis Heroin. Man wußte, daß der alte Mann sich häufig mit billigem Fuselwein betrank, aber daß er Rauschgift benutzt hätte, war bisher unbekannt. Das Geld dazu hatte er gar nicht gehabt.

War»»Carlos «der Mann auf dem Grashügel? Was für ein außergewöhnlicher Beginn einer außergewöhnlichen Karriere! Wenn der Präsidentenmord in Dallas tatsächlich seine»»Operation «war, wie viele Millionen Dollar muß sie ihm dann eingetragen haben? Sicher mehr als genug, um ein Netz von Informanten aufzubauen, ein internationales

Terrorunternehmen.

Der Mythos hat zu viel Substanz; Carlos kann sehr wohl ein Monstrum aus Fleisch und Blut sein.

Marie legte die Zeitschrift beiseite.»Was für ein Spiel hast du jetzt vor?«

«Bist du fertig?«Jason wandte sich vom Fenster ab.

«Ja.«

«Ich vermute, daß der Artikel eine Menge Theorien und Hypothesen enthält. Wenn etwas hier geschah und die Wirkung sich dort zeigte, gab es eine Beziehung.«

«Du meinst Verbindungen«, sagte Marie.

«Gut, dann eben Verbindungen. So ist es doch, oder?«

«Ja, das könnte man in gewissem Maße sagen. Der Bericht ist voll von Spekulationen, Gerüchten und Informationen aus zweiter Hand.«

«Da sind auch Fakten genannt.«

«Daten.«

«Von mir aus Daten.«

«Was für ein Spiel willst du spielen?«wiederholte Marie.

«Es hat einen ganz einfachen Namen. Es nennt sich >Falle<.«

«Und wer soll in die Falle gehen?«

«Ich. «Borowski beugte sich vor.»Ich möchte, daß du mir Fragen stellst. Über irgendwelche Dinge in dem Artikel. Über den Namen einer Stadt, über Daten. Irgend etwas. Wir wollen hören, wie ich darauf reagiere — blind reagiere.«

«Darling, das ist kein Beweis für…«

«Tu es!«befahl Jason.

«Also gut. «Marie griff wieder nach der Zeitschrift.

«Beirut«, sagte sie.

«Botschaft«, antwortete er.»Stationsleiter des CIA, als Attache getarnt. Auf der Straße erschossen. Dreihunderttausend Dollar.«

Marie sah ihn an.»Ich erinnere mich…«, begann sie.

«Ich nicht!«unterbrach Jason sie.»Weiter.«

Sie erwiderte seinen Blick und wandte sich dann wieder dem Magazin zu.»Baader-Meinhof.«

«Stuttgart. Regensburg. München. Zwei Morde und eine Entführung. Gelder aus…«Borowski hielt inne und flüsterte dann erstaunt:»… den USA: Detroit… Welmington,

Delaware.«

«Jason, was…«

«Weiter. Bitte!«

«Der Name, Sanchez.«

«Der Name ist Iljitsch Ramirez Sanchez«, erwiderte er.»Er ist… Carlos.«

«Warum Iljitsch?«

Borowski hielt inne. Seine Augen wanderten im Zimmer herum.

«Ich weiß nicht.«

«Das ist russisch, nicht spanisch. War seine Mutter Russin?«

«Nein… ja, seine Mutter. Es muß seine Mutter gewesen sein… das glaube ich, wenigstens.«

«Nowgorod.«

«Spionageausbildung, Kommunikation, Chiffren,

Frequenzen. Sanchez hat die Schule absolviert.«

«Jason, das hast du hier gelesen.«

«Das habe ich nicht gelesen! Bitte, weiter.«

Maries Blick wanderte zu dem Blatt zurück.»Teheran.«

«Acht Morde. Unterschiedliche Auftraggeber: Khomeini und PLO. Honorar: zwei Millionen Dollar. Ursprung: südwestliche Sowjetunion.«

«Paris«, sagte Marie schnell.

«Alle Kontrakte werden über Paris bearbeitet.«

«Was für Kontrakte?«

«Die Kontrakte… Morde.«

«Wessen Morde? Wessen Kontrakte?«

«Sanchez… Carlos.«

«Carlos? Dann sind es Carlos' Kontrakte, seine Morde. Sie haben nichts mir dir zu tun.«

«Carlos' Kontrakte«, sagte Borowski wie in Trance.»Nichts zu tun mit… mir«, wiederholte er ganz leise, fast im Flüsterton.

«Du hast es gerade gesagt, Jason. Nichts von all dem hat etwas mit dir zu tun!«

«Nein! Das ist nicht wahr!«schrie Borowski und sprang vom Sessel auf, hielt sich an der Lehne fest, starrte auf sie herunter. »Unsere Kontrakte«, fügte er dann mit leiser Stimme hinzu.

«Du weißt nicht, was du redest!«

«Ich reagiere! Blind! Deshalb mußte ich nach Paris kommen!«Er fuhr herum und ging ans Fenster, klammerte sich am Rahmen fest.»Wir suchen keine Lüge, wir suchen die Wahrheit«, fuhr er fort.»Erinnerst du dich? Vielleicht haben wir sie gefunden; vielleicht hat das Fragespiel sie aufgedeckt.«

«Das ist kein richtiger Test! Das ist eine schmerzhafte Übung, die zufällige Erinnerungen wachruft. Wenn eine Zeitschrift wie der Potomac Quarterly den Bericht veröffentlicht hat, ist es durchaus möglich, daß ein Dutzend Zeitungen in der ganzen Welt den Artikel nachgedruckt haben. Du kannst ihn irgendwo gelesen haben.«

«Entscheidend ist, daß ich die Fakten behalten habe.«

«Nicht ganz. Du wußtest nicht, wo das Iljitsch herkommt, daß Carlos' Vater ein kommunistischer Rechtsanwalt in Venezuela war. Das ist wichtig, denke ich. Du hast nichts von den Kubanern erwähnt. Wenn du das getan hättest, hätte das zu der Spekulation geführt, die mich am meisten schockiert hat. Davon hast du kein Wort gesagt.«

«Wovon redest du?«

«Dallas«, sagte sie.»November 1963.«

«Kennedy«, erwiderte Borowski.

«Fällt dir nur Kennedy ein?«

«Seine Ermordung ist damals passiert. «Jason stand reglos da.

«Ja, aber das ist es nicht, wonach ich suche.«

«Ich weiß«, entgegnete Borowski, und seine Stimme war wieder ausdruckslos.»Ein grasbedeckter Hügel… LumpenBilly.«

«Das hast du gelesen!«

«Nein.«

«Dann hast du es einmal gehört, es früher gelesen.«

«Das ist möglich, aber nicht von Bedeutung, oder?«

«Hör auf, Jason!«

«Wieder diese Worte. Ich wünschte, ich könnte das.«

«Was versuchst du, mir klarzumachen? Daß du Carlos bist?«

«Herrgott, nein! Carlos will mich töten, und ich spreche nicht russisch, das weiß ich.«

«Was dann?«

«Was ich am Anfang sagte. Das Spiel. Das Spiel heißt >Dem-Soldaten-eine-Falle-stellen<.«

«Ein Soldat?«

«Ja. Einer, der Carlos abtrünnig geworden ist. Das ist die einzige Erklärung dafür, warum ich all diese Details kenne.«

«Warum sagst du: >abtrünnig geworden

«Weil er mich töten will. Das muß er; er glaubt, daß ich mehr als jeder andere Mensch über ihn weiß.«

Marie, die bis jetzt auf dem Bett gekauert hatte, schwang ihre Beine über den Bettrand.»Wenn das, was du sagst, stimmt, dann hast du es getan, dann bist… bist…«Sie hielt inne.

«Wenn man alles betrachtet, ist es ein wenig spät, um einen moralischen Standpunkt einzunehmen«, sagte Borowski und sah den Schmerz im Gesicht der Frau, die er liebte.»Ich könnte mir einige Gründe vorstellen, warum es zum Krach mit Carlos gekommen sein mag: Zum Beispiel wegen irgendwelcher Meinungsverschiedenheiten.«

«Sinnlos!«rief Marie.»Es gibt keinen einzigen Beweis dafür.«

«Massenhaft gibt es die, und das weißt du auch. Vielleicht habe ich von jemand anderem mehr bekommen können oder Honorare unterschlagen. Beides würde das Konto in Zürich erklären. «Er hielt kurz inne und starrte die Wand über dem Bett an.»Beides würde Howard Leland erklären und Marseille, Stuttgart… München. Die Fakten, an die ich mich nicht erinnere, und die nach und nach an die Oberfläche drängen; und besonders eine Tatsache: Warum ich bisher vermieden habe, seinen Namen auszusprechen. Ich habe Angst.«

Sie nickte.»Ich bin sicher, daß du an deine Erklärungen glaubst«, sagte sie,»und in gewisser Weise wünsche ich mir, daß sie wahr wären. Aber ich zweifle an ihnen. Du willst daran festhalten, weil es dir eine Antwort… eine Identität gibt. Vielleicht nicht die Identität, die du dir wünschst, aber immerhin eine, die besser ist, als blind durch das schreckliche Labyrinth zu gehen, das du jeden Tag erlebst. Alles wäre besser als das, denke ich. Doch du kannst nicht recht haben.

Wenn du der Mann wärst, wie du ihn schilderst, und vor Carlos Angst hättest — und die solltest du weiß Gott haben —, wäre Paris der letzte Ort auf der Welt, zu dem du dich hingezogen fühlen würdest. Wir würden irgendwo anders sein; das hast du selbst gesagt. Du würdest weglaufen, würdest das Geld auf der Bank in Zürich nehmen und untertauchen. Statt dessen aber strebst du auf geradem Wege auf Carlos zu. Ein Mann, der sich vor ihm fürchtet oder sich schuldig fühlt, würde das niemals tun.«

«Es gibt keine andere Erklärung: Ich bin nach Paris gekommen, um mich selbst zu finden; so einfach ist das.«

«Dann verschwinde jetzt. Morgen haben wir das Geld; es gibt nichts, was dich — was uns — noch aufhält. Auch das ist einfach.«

Marie beobachtete ihn scharf.

Jason sah sie an und wandte sich dann ab. Er ging an die Kommode und füllte sein Glas.»Da wäre noch Treadstone zu bedenken«, sagte er, wie um sich zu verteidigen.

«Da hast du die eigentliche Gleichung: Carlos und

Treadstone. Ein Mann, den ich einmal sehr geliebt habe, ist von Treadstone getötet worden. Ein Grund mehr für uns zu fliehen.«

«Ich hätte gedacht, du wärst daran interessiert, daß seine Mörder bestraft werden«, sagte Borowski.

«Das will ich auch. Sehr sogar. Aber andere können sie finden. Für mich gibt es Prioritäten, unser Schicksal ist mir weit wichtiger. Oder ist das nur meine Ansicht?«

«Das weißt du selber besser. «Er hielt das Glas fest in der Hand, so fest, daß seine Finger fast weiß wirkten, und sah zu ihr hinüber.»Ich liebe dich«, flüsterte er.

«Dann laß uns fliehen!«sagte sie mit erhobener Stimme und ging einen Schritt auf ihn zu.»Laß uns alles vergessen, wirklich vergessen und verschwinden, so schnell wir können!«

«Ich… ich«, stammelte Jason, als ein dunkler Schleier seine Gedanken verdüsterte.»Es gibt… Dinge.«

«Was für Dinge? Wir lieben uns. Wir können irgendwohin gehen. Es gibt nichts, das uns aufhält, oder?«

«Nur du und ich«, wiederholte er leise, und die Nebel zogen jetzt näher, drohten ihn zu ersticken.»Ich weiß. Ich weiß. Aber ich muß denken. Es gibt so viel zu lernen, so viel, das herauskommen muß.«

«Warum ist es so wichtig?«

«Es… ist es eben.«

«Weißt du es nicht?«

«Ja… nein, ich bin nicht sicher. Frag mich jetzt nicht.«

«Wenn nicht jetzt, wann dann? Wann darf ich dich fragen? Wann wird es vorüber sein? Und — wird es das je?!«

«Hör auf!«schrie er plötzlich und setzte das Glas krachend auf das Tablett.»Ich kann nicht weglaufen! Ich werde es nicht tun! Ich muß hierbleiben! Ich muß es wissen!«

Marie rannte auf ihn zu, legte die Hände zuerst auf seine Schultern, dann an seine Wangen, wischte ihm den Schweiß von der Stirn.»Jetzt hast du es gesagt. Hörst du dich, Liebster? Du kannst nicht weglaufen, weil es, je näher du kommst, desto quälender für dich wird. Und wenn du fliehen würdest, würde es nur schlimmer werden. Du würdest in einem ständigen Alptraum leben müssen. Das weiß ich sicher.«

Er griff nach ihrem Gesicht, berührte es, sah sie an.»Wirklich?«

«Natürlich. Aber du mußtest es aussprechen, nicht ich. «Sie hielt ihn fest, legte den Kopf an seine Brust.»Ich mußte dich zwingen. Das Komische ist, daß ich sofort bereit wäre, heute Abend in ein Flugzeug zu steigen und irgendwohin zu fliegen, wohin du willst, und ich wäre glücklicher als ich je zuvor in meinem Leben war. Aber du wärst nicht fähig dazu. Das was hier in Paris ist — oder nicht ist — würde an dir nagen, bis du es nicht mehr ertragen könntest. Das ist die verrückte Ironie, mein Liebling. Ich könnte damit leben, aber du nicht.«

«Du würdest einfach untertauchen?«fragte Jason.»Und was ist mit deiner Familie, deinem Beruf?«

«Ich bin kein Kind und auch kein Narr«, beteuerte sie schnell.»Ich würde mich beruflich absichern und unbezahlten Urlaub nehmen, aus gesundheitlichen Gründen etwa oder aus einem persönlichen Grund. Ich könnte immer wieder zurückkommen, meine Behörde würde das verstehen.«

«Peter?«

«Ja. «Einen Augenblick war sie stumm.»Die Beziehung, die wir zum Schluß miteinander hatten, war uns beiden wichtig, denke ich. Er war wie ein unvollkommener Bruder, für den man sich wünschte, daß er trotz seiner Fehler Erfolg hat, weil er tief in seinem Inneren so anständig war.«

«Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.«

Sie blickte zu ihm auf.»An dir ist derselbe Anstand. Bei der Art von Tätigkeit ist Aufrichtigkeit unentbehrlich. Nicht die bescheidenen Menschen regieren die Welt, Jason, sondern die korrupten. Und ich habe das Gefühl, daß die Distanz zwischen Korruption und Mord nicht sehr groß ist.«

«Treadstone Seventy-One?«

«Ja. Wir hatten beide recht: Ich will, daß man seine Mörder findet, damit sie für ihr Verbrechen bestraft werden. Und du kannst nicht weglaufen.«

Seine Lippen strichen über ihre Wange und ihr Haar. Er hielt sie fest.»Ich sollte dich hinauswerfen«, sagte er.»Ich sollte von dir verlangen, daß du aus meinem Leben verschwindest. Ich kann es nicht tun, aber ich weiß verdammt genau, daß es besser wäre.«

«Es würde nichts ändern. Ich würde nicht gehen.«

Das Anwaltsbüro lag am Boulevard de la Chapelle. Das von Bücherregalen gesäumte Besprechungszimmer wirkte eher wie eine Bühnenkulisse als ein Büro. In diesem Raum wurden krumme Geschäfte abgewickelt, keine legalen Verträge geschlossen; das war schnell spürbar. Was den Anwalt selbst anging, so vermochten weder der würdevolle weiße Kinnbart noch der silberne Zwicker über seiner Adlernase zu verbergen, daß der Mann seinem Wesen nach käuflich war. Er bestand sogar darauf, das Gespräch in seinem gebrochenen Englisch führen zu dürfen, um später behaupten zu können, etwas nicht verstanden zu haben.

Marie bestritt den größten Teil des Gesprächs, und Borowski ließ sie gewähren. Sie brachte ihre Wünsche vor, änderte die Barschecks in Obligationen, zahlbar in Dollar, in Beträgen von maximal zwanzigtausend Dollar. Sie wies den.Anwalt an, die Bank zu instruieren, daß keine fortlaufenden Seriennummern ausgegeben werden dürften und die internationalen Garantieträger für die Zertifikate möglichst viele sein mußten. Der Anwalt begriff ihre Absicht sehr wohl; auf diese Weise komplizierte sie die Ausgabe der Obligationen, so daß Banken oder Makler kaum die Möglichkeit hatten, ihre Herkunft ausfindig zu machen Außerdem würden sie sich in der Regel die zusätzliche Mühe oder gar die Kosten ohnehin nicht aufladen; schließlich waren die Zahlungen garantiert.

Als der Anwalt schließlich gereizt sein Telefongespräch mit Antoine d'Amacourt beendet hatte, hob Marie die Hand.

«Entschuldigen Sie, Monsieur Borowski verlangt zusätzlich, daß Monsieur d'Amacourt weitere zweihunderttausend Franc in bar hinzufügt; einhunderttausend soll er zu den Obligationen legen, die andere Hälfte persönlich überbringen. Er schlägt vor, daß dieser Betrag folgendermaßen aufgeteilt wird: fünfundsiebzigtausend Franc für Monsieur d'Amacourt und fünfundzwanzigtausend für Sie. Er ist sich darüber im klaren, daß er für Ihren Rat und die zusätzliche Muhe, die er Ihnen bereitet hat, tief in Ihrer beider Schuld steht. Es erübrigt sich wohl, darauf hinzuweisen, daß der zweite Betrag nirgendwo erwähnt zu werden braucht.«

Ärger und Verstimmung des Anwalts verschwanden bei ihren Worten und wichen einer Unterwürfigkeit, wie man sie seit den Tagen des Hofes von Versailles nicht mehr gesehen hatte. Alle Arrangements wurden gemäß den ungewöhnlichen — aber völlig verständlichen — Wünschen des Monsieur Borowski und seiner hochgeschätzten Beraterin durchgeführt.

Monsieur Borowski stellte einen ledernen Aktenkoffer für die Obligationen und das Geld zur Verfügung; er würde von einem bewaffneten Kurier getragen werden, der die Bank um 14.30 Uhr verlassen und sich mit Monsieur Borowski eine halbe Stunde später auf dem Pont Neuf treffen würde. Der geschätzte Klient würde sich mit einem kleinen Stück Leder aus der Verkleidung des Koffers ausweisen und dabei die Worte sprechen:»Herr Koenig läßt aus Zürich grüßen.«

So viel zu den Einzelheiten. Kurz vor Aufbruch erklärte Marie St. Jacques:»Es ist uns bewußt, daß die Vorschriften des fiche auf den Buchstaben genau erfüllt werden müssen, und wir gehen davon aus, daß Monsieur d'Amacourt entsprechend verfahren wird. Ebenso klar ist uns, daß der richtige Zeitablauf für Monsieur Borowski günstig sein muß. Darauf legen wir allergrößten Wert. Sollte ihm dieser Vorteil nicht gewährt werden, so fürchte ich, daß ich als bekanntes — wenn auch für den Augenblick anonymes — Mitglied der Internationalen Bankenkommission mich gezwungen sähe, gewisse Abweichungen von den üblichen Usancen des Bankwesens und ebenso von den juristischen Gepflogenheiten zu melden. Ich bin überzeugt, daß das nicht notwendig sein wird; schließlich sind Sie gut bezahlt worden, nicht wahr, Monsieur?«

«Selbstverständlich, Madame! Sie haben nichts zu befürchten.«

«Ich weiß«, sagte Marie.

Borowski untersuchte den Schalldämpfer, um sich zu vergewissern, daß er alle Staubfusseln entfernt hatte, die sich angesammelt hatten. Dann drehte er ihn mit einer ruckartigen Bewegung des Handgelenks am Lauf fest und drückte den Knopf, der das Magazin freigab; es war gefüllt. Zufrieden schob er sich die Waffe in den Gürtel und knöpfte die Jacke zu.

Marie hatte die Waffe nicht gesehen. Sie saß auf dem Bett, mit dem Rücken zu ihm und telefonierte mit dem Attache der kanadischen Botschaft, Dennis Corbelier. Der Rauch einer Zigarette kräuselte vom Aschenbecher neben ihrem Notizbuch empor. Sie notierte sich, was Corbelier ihr mitteilte. Als sie das Gespräch beendet hatte, blieb sie zwei oder drei Sekunden reglos sitzen, den Bleistift noch in der Hand haltend.»Er weiß das von Peter nicht«, sagte sie und wandte sich Jason zu.»Das ist seltsam.«

«Allerdings«, pflichtete Borowski ihr bei.»Ich hätte gedacht, daß er es als einer der ersten erfahren würde. Du sagtest doch, die hätten sich Peters Telefonliste angesehen; er hatte Paris angerufen, Corbelier. Man würde meinen, daß jemand dem nachgegangen ist.«

«Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich meinte die Zeitungen, die Nachrichtenagenturen. Peter ist… vor achtzehn Stunden gefunden worden. Er war ein wichtiger Mann in der kanadischen Regierung, wenn ich das auch nicht besonders hervorgehoben habe. Sein Tod an sich ist bereits eine Meldung wert, und die Tatsache, daß er ermordet wurde, noch viel mehr… aber es ist nichts darüber berichtet worden.«

«Rufe heute Abend in Ottawa an. Vielleicht kannst du den Grund erfahren.«

«Das werde ich tun.«

«Was hat Corbelier dir gesagt?«

Maries Blick wanderte zu ihrem Notizbuch.»Die Zulassungsnummer des Wagens vor der Bank in der Rue Madeleine hat nichts gebracht; das Auto ist am Flughafen Charles de Gaulle an einen Jean-Pierre Larousse vermietet worden. Bei der Telefonnummer, die d'Amacourt dir gegeben hat, handelt es sich um die Geheimnummer eines Modehauses an der Rue Saint-Honore: >Les Classiques<. Das ist ein sehr elegantes Geschäft. Es verkauft Haute-Couture-Modelle. Corbelier sagt, in Fachkreisen würde man es das Haus von Rene nennen.«

«Rene?«

«Rene Bergeron, ein Designer. Seit Jahren rechnet man mit seinem großen Durchbruch. Ich kenne ihn, weil meine Schneiderin zu Hause seine Entwürfe kopiert.«

«Hast du die Adresse bekommen?«

Marie nickte.»Warum hat Corbelier das von Peter nicht gewußt? Warum ist in der Presse über seine Ermordung nichts berichtet worden?«

«Vielleicht erfährst du das, wenn du anrufst. Könnte sein, daß es nur an der Zeitverschiebung liegt; die Nachricht kam zu spät für die Frühausgaben hier in Paris. «Als Borowski an den Schrank trat, um seinen Mantel herauszuholen, spürte er das zusätzliche Gewicht in seinem Gürtel.»Ich gehe zur Bank zurück und werde von dort dem Kurier bis zum Pont Neuf folgen. «Er zog den Mantel an und merkte, daß Marie ihm nicht zuhörte.»Das wollte ich noch fragen — tragen diese Leute Uniform?«

«Wer?«

«Geldboten.«

«Der Zeitunterschied würde erklären, warum die Zeitungen noch nichts gebracht haben, aber über die Agenturen müßte die Meldung gelaufen sein. Und Botschaften haben Fernschreiber. Es ist also nichts darüber verlautet worden, Jason.«

«Du kannst heute Abend anrufen«, sagte er.»Ich gehe jetzt.«

«Du hast gefragt, ob Geldboten Uniformen tragen. Meistens ja. Sie fahren auch gepanzerte Lieferwagen, aber für den Fall habe ich klare Anweisungen erteilt: Der Transporter soll einen Häuserblock von der Brücke entfernt abgestellt werden. Der Bote muß die letzten paar hundert Meter zu Fuß gehen.«

«Warum hast du das unbedingt so gewollt?«

«Ein uniformierter Kurier ist schon schlimm genug. Aber das ist notwendig; das verlangen die Versicherungen. Ein gepanzerter Lieferwagen ist einfach zu auffällig; dem könnte man zu leicht folgen. Du willst es dir nicht noch einmal anders überlegen und mich doch mitnehmen?«

«Nein.«

«Glaube mir, nichts wird schiefgehen; das würden diese beiden Diebe nicht zulassen.«

«Dann gibt es auch keinen Anlaß für dich, mich zu begleiten. Ich habe es eilig.«

«Ich weiß. Und ohne mich kommst du schneller voran. «Marie stand auf und ging auf ihn zu.»Ich verstehe. «Sie küßte ihn auf die Lippen und bemerkte plötzlich die Waffe, die er im Gürtel trug. Sie sah ihm in die Augen.»Du machst dir Sorgen, nicht wahr?«

«Nein, ich bin nur vorsichtig. «Er lächelte, tippte sie an.»Es ist wirklich viel Geld. Kann sein, daß wir lange Zeit damit auskommen müssen.«

«Das höre ich gern.«

«Was? Daß es eine Menge Geld ist?«

«Nein. Daß du >wir< sagtest.«

«Du redest in Rätseln.«

«Du kannst nicht Obligationen im Wert von mehr als einer Million Dollar in einem Hotelzimmer aufbewahren. Du brauchst einen Safe.«

«Das können wir morgen erledigen. «Er ließ sie los und wandte sich zur Tür.»Während ich weg bin, kannst du ja >Les Classiques< im Telefonbuch suchen und die normale Nummer anrufen. Stelle fest, wie lange sie geöffnet haben.«

Borowski saß auf dem Hintersitz eines geparkten Taxis und beobachtete den Eingang der Bank durch die

Windschutzscheibe. Der Fahrer summte eine Melodie und las Zeitung, zufrieden über den Fünfzigfrancschein, den er im voraus bekommen hatte. Der Motor des Wagens lief; darauf hatte der Fahrgast bestanden.

Der gepanzerte Lieferwagen war unmittelbar vor Jasons Taxi auf einem für die Bank reservierten Platz abgestellt. Zwei kleine rote Lichter leuchteten plötzlich über dem kreisförmigen kugelsicheren Fenster der Hecktür auf. Das Alarmsystem war eingeschaltet.

Borowski beugte sich vor und beobachtete den uniformierten Mann, der jetzt zur Seitentür herauskletterte und sich durch die zahlreichen Fußgänger auf den Eingang der Bank zubewegte. Er verspürte ein Gefühl der Erleichterung; es war keiner der drei gutgekleideten Herren, die gestern zur Valois-Bank geeilt waren.

Fünfzehn Minuten später kam der Kurier wieder heraus, den ledernen Aktenkoffer in der linken Hand, die rechte auf ein aufgeknöpftes Pistolenhalfter gestützt. Man konnte deutlich den ausgefransten Riß am Kofferdeckel erkennen. Jason fühlte das Lederstück in der Hemdtasche; damit würde er sich ein Leben weit weg von Carlos ermöglichen, wenn es ein solches Leben überhaupt gab und er es ohne des schrecklichen Labyrinths akzeptieren konnte, aus dem er bis jetzt nicht zu entrinnen vermochte.

Aber selbst dieses Labyrinth, in dem er ständig mit der Umwelt kollidierte, war eine Art Fortschritt für ihn. Denn sein persönliches Labyrinth hatte keine Wände, keine Gänge, durch die er rennen konnte. Wenn er nachts die Augen öffnete, sah er nur wirbelnde Nebelschwaden in der Finsternis.

Warum bloß wurde er immer wieder von Winden emporgeschleudert? Warum stürzte er immer wieder durch die Luft? Warum? Und dann kamen andere Worte zu ihm; er hatte keine Ahnung, woher sie stammten, aber sie waren da, und er hörte sie.

Was bleibt denn übrig, wenn Ihre Erinnerung weg ist? Und Ihre Identität, Mr. Smith?

Hör auf!

Der gepanzerte Lieferwagen bog in die Rue Madeleine ein. Borowski tippte den Fahrer an die Schulter.»Folgen Sie dem Wagen vor uns; lassen Sie wenigstens zwei andere Fahrzeuge zwischen uns«, sagte er auf Französisch.

Der Fahrer drehte sich erschreckt um.»Ich glaube, Sie haben das falsche Taxi, Monsieur. Nehmen Sie Ihr Geld zurück.«

«Ich arbeite für eine Geldtransportfirma, Sie Idiot. Das ist ein Sonderauftrag.«

«Entschuldigen Sie, Monsieur. Wir werden ihn nicht aus den Augen verlieren«, sagte der Fahrer und gab zügig Gas.

Der Lieferwagen schlug den schnellsten Weg zur Seine ein. Drei oder vier Blocks von der Brücke entfernt verlangsamte er seine Fahrt, hielt sich dicht am Bürgersteig, so als hätte der Kurier entschieden, daß er zu früh dran war. Dabei fand Borowski eher, daß er bereits im Begriff war, sich zu verspäten. Es war sechs Minuten vor drei, kaum genug Zeit für den Mann, den Wagen zu parken und den einen Häuserblock bis zur Brücke zu Fuß zu gehen. Warum aber hatte der Panzerwagen seine Fahrt verlangsamt? Verlangsamt? Nein, er hatte angehalten! Warum?

Der Verkehr!.. Großer Gott, natürlich — der Verkehr!

«Halten Sie hier«, sagte Borowski zu seinem Chauffeur.»Fahren Sie an den Rand. Schnell!«

«Was ist denn, Monsieur?«

«Sie haben Glück«, erwiderte Jason.»Meine Firma ist bereit, Ihnen zusätzliche einhundert Franc zu bezahlen, wenn Sie einfach zu diesem Wagen gehen und ein paar Worte zu dem Fahrer sagen.«

«Was, Monsieur?«

«Wissen Sie, wir überprüfen ihn. Er ist neu bei uns. Wollen Sie nun die hundert Franc?«

«Ich brauche bloß ein paar Worte zu dem Mann zu sagen?«

«Das ist alles. Das dauert höchstens fünf Sekunden, dann können Sie in Ihr Taxi steigen und wegfahren.«

«Es gibt keinen Ärger?«

«Meine Firma gehört zu den angesehensten in ganz Frankreich.«

«Ich weiß nicht… «

«Dann lassen Sie es!«Borowski griff nach der Türklinke.

«Was muß ich sagen?«

Jason hielt ihm die hundert Franc hin.»Nur dies: >Herr Koenig. Grüße aus Zürich.< Können Sie sich das merken?«

«>Koenig. Grüße aus Zürich. <«

«Richtig.«

Sie gingen schnell auf den Panzerwagen zu, drückten sich auf die rechte Seite der engen Straße, während links von ihnen der Verkehr vorbeirollte. Der Panzerwagen ist Carlos' Falle, dachte Borowski. Er hatte einen der bewaffneten Kuriere gekauft. Ein einziger Name und ein Treffpunkt, beide über eine überwachte Radiofrequenz durchgegeben, würden einem unterbezahlten Boten einen großen Batzen Geld einbringen. Borowski. Pont Neuf. So einfach war das. Dieser Kurier legte weniger großen Wert darauf, pünktlich zu sein, als sicherzustellen, daß die Soldaten von Carlos die Pont Neuf rechtzeitig erreichten. Jason hielt den Taxifahrer an, vier zusätzliche Zweihundertfrancnoten in der Hand; die Augen des Mannes saugten sich förmlich an den Scheinen fest.

«Monsieur?«

«Meine Firma wird sehr großzügig sein. Dieser Mann wird wegen Verletzung seiner Dienstpflicht von uns belangt werden.«

«Was soll ich tun, Monsieur?«

«Nachdem Sie gesagt haben, >Herr Koenig. Grüße aus Zürich<, fügen Sie noch hinzu: >Der Plan ist geändert worden. Ich habe einen Fahrgast in meinem Taxi, der Sie sprechen muß.< Behalten Sie das?«

Die Augen des Fahrers kehrten zu den Francsnoten zurück.»Was ist schwierig daran?«Er nahm das Geld.

Sie schoben sich an dem gepanzerten Lieferwagen entlang, Jasons Rücken gegen die Wagenwand gepreßt, die rechte Hand unter dem Mantel am Kolben der Pistole. Der Fahrer trat an das Fenster und klopfte gegen die Scheibe.

«Sie dort drinnen! Herr Koenig! Grüße aus Zürich!«schrie er.

Das Fenster wurde einen Spaltbreit heruntergekurbelt.»Was soll das?«schrie eine Stimme zurück.»Sie sollen doch am Pont Neuf sein, Monsieur!«

Der Taxifahrer war nicht dumm; er wollte aber auch so schnell wie möglich weg.»Nicht ich, Sie Esel!«schrie er, um sich in dem Verkehrslärm Gehör zu verschaffen.»Ich sage Ihnen nur, was man mir aufgetragen hat! Der Plan ist geändert. Ich habe einen Mann in meinem Auto sitzen, der Sie sprechen muß.«

«Sagen Sie ihm, er soll sich beeilen«, sagte Jason und hielt eine Fünfzigfrancnote in die Höhe.

Der Fahrer blickte auf das Geld und dann wieder auf den Kurier.»Beeilen Sie sich! Wenn Sie nicht sofort zu ihm gehen, verlieren Sie Ihren Job!«

«Und jetzt verschwinden Sie hier!«rief Borowski ihm zu. Der Fahrer machte kehrt, riß Jason im Vorbeirennen den Geldschein aus der Hand und raste zu seinem Taxi.

Borowski blieb stehen, wo er war. Was er trotz des Verkehrslärms aus dem Inneren des Geldtransporters dringen hörte, versetzte ihm einen gehörigen Schrecken. Der Kurier war nicht allein; da war noch ein zweiter Mann.

«Es waren die richtigen Worte. Sie haben es gehört.«

«Er sollte auf Sie zukommen. Er sollte sich selbst zeigen.«

«Das wird er auch tun. Und das Stück Leder präsentieren, das genau passen muß. Erwarten Sie von ihm, daß er das inmitten einer mit Autos vollgestopften Straße tut?«

«Mir gefällt das Ganze nicht.«

«Sie haben mich dafür bezahlt, daß ich Ihnen und Ihren Leuten helfe, jemanden zu finden. Nicht, damit ich meinen Job verliere. Ich gehe!«

«Vereinbart ist die Pont Neuf!«

«Sie können mich mal!«

Auf den Trittbrettern waren schwere Schritte zu hören.»Ich komme mit.«

Die Tür öffnete sich; Jason fuhr zurück, die Hand immer noch unter dem Mantel. Er sah, wie sich ein Kindergesicht gegen das Glas eines Wagenfensters drückte, die Augen zusammengekniffen, die jungen Gesichtszüge zu einer häßlichen Maske verzerrt. Das anschwellende Geräusch plärrender Hupen erfüllte die Straße; der Verkehr war zum Stillstand gekommen.

Der Kurier stieg vom Trittbrett, den Aktenkoffer in der linken Hand. Borowski war bereit; in dem Augenblick, in dem der Kurier den Fuß auf die Staße gesetzt hatte, warf er die Tür gegen den zweiten Mann, so daß sie gegen seine Kniescheibe und die ausgestreckte Hand prallte. Der Mann schrie, taumelte zurück in den Wagen. Jason schrie den Kurier an und hielt das Stück Leder in der Hand.

«Ich bin Jason Borowski. Lassen Sie ja die Pistole stecken, sonst verlieren Sie nicht nur Ihren Job, sondern auch Ihr Leben, Sie Schweinehund!«

«Ich hab' es nicht böse gemeint. Monsieur. Die wollten Sie finden! Die interessiert Ihr Geld nicht, darauf haben Sie mein Wort.«

Da flog die Tür auf, und der Lauf einer Pistole wurde auf Borowski gerichtet. Er sprang zur Seite. Dem Schuß folgte ein schrilles Klingeln, das plötzlich aus dem Panzerwagen hallte. Der Alarm war ausgelöst worden.

Wieder schmetterte Jason die Tür zu. Er hörte Metall auf Metall prallen; diesmal hatte er die Waffe getroffen. Er griff nach seinem Revolver, duckte sich und zog blitzschnell die Tür auf.

Er erkannte das Gesicht aus Zürich, den Killer, den sie Johann genannt hatten. Borowski feuerte zweimal; der Mann bäumte sich auf; Blut breitete sich auf seiner Stirn aus.

Der Bote hatte sich mit gezückter Waffe hinter dem Transporter verschanzt und schrie um Hilfe. Borowski sprang auf und warf sich mit einem Satz auf die ausgestreckte Waffe, bekam sie am Lauf zu fassen und riß sie dem Kurier aus der Hand. Dann packte er den Koffer und schrie.

«Nichts Böses, wie? Her damit, du Schwein!«

Er warf die Waffe des Mannes unter den Wagen, sprang auf und stürzte sich in die hysterische Menschenmenge auf dem Bürgersteig.

Kapitel 14

«Alles ist weisungsgemäß ausgeführt worden«, sagte Marie. Sie hatte die Obligationen nach Beträgen geordnet und einige Stapel Banknoten auf dem Tisch ausgebreitet.»Ich war mir ohnehin sicher.«

«Beinahe hätte es nicht geklappt.«

«Was?«

«Der Mann, den sie Johann nannten, der aus Zürich — er ist tot. Ich habe ihn getötet!«

«Jason, was ist passiert?«

Er erzählte es ihr.»Ich vermute, daß der zweite Wagen im Verkehr steckengeblieben ist und über Funk den Kurier aufgefordert hat, die Fahrt zu verlangsamen. Ich bin sicher, daß es so war.«

«O Gott, die sind überall!«

«Aber sie wissen nicht, wo ich bin«, sagte Borowski und blickte in den Spiegel über der Kommode und musterte sein blondes Haar, während er die Schildpattbrille aufsetzte.»Und zuallerletzt würden sie mich in diesem Augenblick — selbst wenn sie ahnten, daß ich davon weiß — in einem Modehaus an der Rue Saint-Honore vermuten.«

«>Les Classiques

«Richtig. Hast du angerufen?«

«Ja, aber das ist doch Wahnsinn!«

«Warum?«Jason wandte sich vom Spiegel ab.»Überleg doch. Vor einer halben Stunde ist ihr Plan geplatzt. Jetzt herrscht Verwirrung; einer wird dem anderen Vorwürfe machen. In diesem Moment sind sie mehr miteinander beschäftigt als mit mir; keiner will eine Kugel in den Hals. Es wird nicht lange dauern, bis sie sich wieder neu formiert haben; dafür wird Carlos sorgen. Aber während der nächsten Stunde, während sie versuchen, sich zusammenzureimen, was geschehen ist, werden sie nicht an einem Ort nach mir suchen, wo sich, geschickt getarnt, ihre Informationszentrale befindet. Sie haben nicht die leiseste Ahnung, daß ich von dem Modegeschäft weiß.«

«Jemand wird dich erkennen!«

«Wer? Sie haben einen Mann von Zürich kommen lassen, um mich zu identifizieren, und der ist tot. Sie können sich kein klares Bild von meinem Äußeren machen.«

«Der Geldbote hat dich gesehen.«

«Die nächsten paar Stunden wird der mit der Polizei beschäftigt sein.«

«D'Amacourt. Der Anwalt!«

«Ich vermute, beide haben inzwischen schon das Land verlassen.«

«Angenommen, man hat sie erwischt?«

«Und? Glaubst du, Carlos würde einen Laden auffliegen lassen, der ihm als Informationszentrale dient? Ganz bestimmt nicht.«

«Jason, ich habe Angst.«

«Ich auch. Aber nicht die Angst, daß man mich erkennt. «Borowski kehrte zum Spiegel zurück und starrte sein Gesicht an.»Welche Farbe haben meine Augen?«

«Was?«

«Nein, sieh mich nicht an. Sag mir, welche Augenfarbe ich habe. Deine sind braun mit grünen Flecken; welche Farbe haben meine?«

«Blau… bläulich… oder grau… wirklich, ich…. «Marie hielt inne.»Ich weiß nicht genau. Ist das nicht schrecklich von mir?«

«Das ist völlig normal. Eigentlich sind sie hellbraun, aber nicht immer. Selbst mir ist das aufgefallen. Wenn ich ein blaues Hemd oder eine blaue Krawatte trage, wirken sie blau; in Verbindung mit einem braunen Jackett oder einem braunen Mantel sind sie grau.«

«Das ist gar nichts Ungewöhnliches.«

«Schon möglich. Aber wie viele Menschen tragen Kontaktlinsen, wenn sie ganz normal sehen können?«

«Kontaktlinsen?«

«Ja, das habe ich gesagt«, bestätigte Jason.»Ich meine eine bestimmte Art von Kontaktlinsen, die man trägt, um die Augenfarbe zu verändern. Sie sind besonders wirksam bei hellbraunen Augen. Als Washburn mich das erste Mal untersuchte, stellte er fest, daß ich längere Zeit solche Linsen getragen haben muß. Das ist einer der Hinweise, nicht wahr?«

«Du kannst daraus machen, was du willst«, entgegnete Marie —»wenn es stimmt.«

«Warum sollte Washburn sich geirrt haben?«

«Weil er öfter betrunken als nüchtern war, wie du mir erzählt hast. Er hat von einer Vermutung auf die nächste geschlossen. Weiß der Himmel, wie sehr ihn der Alkohol dabei beeinflußt hat. Er hat sich nie eindeutig ausgedrückt. Das konnte er gar nicht.«

«In einem Punkt schon. Ich bin ein Chamäleon, wie dafür geschaffen, in eine flexible Form zu passen. Ich möchte herausfinden, wessen Form das ist; vielleicht kann ich das jetzt. Dank deiner Hilfe habe ich eine Adresse, vielleicht weiß dort jemand die Wahrheit über mich.«

«Ich kann dich nicht aufhalten, aber sei um Gottes willen vorsichtig! Wenn sie dich erkennen, werden sie dich töten!«

«Nein. Dort nicht; das wäre fatal für ihr Geschäft.«

«Ich finde das gar nicht komisch, Jason.«

«Ich auch nicht. Ich verlasse mich sehr ernsthaft darauf.«

«Was wirst du tun? Ich meine, wie wirst du vorgehen?«

«Das werde ich entscheiden, wenn ich dort bin. Ich werde sehen, ob jemand herumläuft und nervös oder verängstigt aussieht oder auf einen Telefonanruf wartet, als hinge sein Leben davon ab.«

«Und dann?«

«Dann werde ich mich wie bei d'Amacourt verhalten: vor dem Eingang warten und dem Betreffenden folgen. Ich werde ihm ganz nahe sein; er kann mir nicht entkommen. Und ich werde höllisch aufpassen.«

«Wirst du mich anrufen?«

«Ich werde es versuchen.«

«Das Warten wird mich verrückt machen.«

«Dann warte nicht. Du könntest inzwischen die Wertpapiere irgendwo deponieren.«

«Die Banken sind geschlossen.«

«Ein großes Hotel hat auch einen Safe.«

«Man muß dort ein Zimmer haben.«

«Dann nimm eines. Im >Meurice< zum Beispiel oder im >George Cinq<. Laß den Koffer an der Rezeption, aber komme wieder hierher zurück.«

Marie nickte.»Auf die Weise habe ich wenigstens etwas zu tun.«

«Anschließend rufst du Ottawa an. Versuche herauszufinden, was mit Peter geschehen ist.«

«Das werde ich.«

Borowski trat an den Nachttisch und steckte sich ein Bündel

Geldscheine in die Jackentasche.»Bestechung wäre einfacher«, sagte er.»Ich glaube nicht, daß es dazu kommen wird, aber es könnte ja sein.«

«Ja, durchaus«, pflichtete Marie ihm bei und fuhr im gleichen Atemzug fort:»Hast du dich gerade gehört? Du hast soeben die Namen von zwei Hotels genannt.«

«Ja, das habe ich. «Er drehte sich herum und sah sie an.»Ich bin schon hier gewesen. Viele Male. Ich habe hier gewohnt, aber nicht in diesen Hotels. In Nebenstraßen, denke ich. In solchen, die sich nicht sehr leicht finden lassen.«

Sie schwiegen. Die Angst, die sich im Raum ausgebreitet hatte, war fast körperlich zu spüren.

«Ich liebe dich, Jason.«

«Ich liebe dich auch«, sagte Borowski.

«Komm zu mir zurück. Gleichgültig, was geschieht, komm zu mir zurück.«

Die Spotlights, die an der dunkelbraunen Decke angebracht waren, tauchten die teuer gekleideten Kunden in ein warmes, schmeichelhaftes Licht. Die Vitrinen für Schmuck und Accessoires waren mit schwarzem Samt ausgeschlagen und mit einer raffinierten indirekten Beleuchtung versehen. Die Gänge wanden sich im Halbkreis und vermittelten die Illusion von räumlicher Großzügigkeit, die in Wirklichkeit gar nicht gegeben war, denn >Les Classiques< war zwar nicht klein, aber keineswegs ein großes Haus. Es war vielmehr ein elegant ausgestattetes Geschäft an einer der teuersten Straßen von Paris. Im hinteren Teil befanden sich die Umkleidekabinen mit Türen aus gefärbtem Glas. Auf der Empore darüber, über eine Freitreppe erreichbar, lagen die Büros der Geschäftsleitung. Am Fuße der Treppe war die Telefonzentrale eingerichtet, die von einem seltsam deplaziert wirkenden Mann in einem konservativen Straßenanzug besetzt war.

Das Bedienungspersonal bestand vorwiegend aus Frauen, deren schmale Gesichter und schlanke Figuren darauf hindeuteten, daß sie zuvor als Mannequins gearbeitet hatten. Die wenigen Männer waren ebenfalls schlank und trugen eng anliegende Anzüge. Mit tänzerischer Geschmeidigkeit bewegten sie sich durch die Verkaufsräume.

Romantische Musik ergoß sich aus versteckten Lautsprechern. Jason schlenderte durch die Gänge, schaute sich die ausgestellten Kleider an und befühlte ihre Stoffe. Das half ihm, seine Verblüffung zu verbergen. Wo war die

Verwirrung, die Angst, die er im Herzen von Carlos'

Informationszentrum zu finden erwartet hatte? Er blickte nach oben auf die Empore. Dort liefen Männer und Frauen über den Flur, manche blieben stehen und wechselten ein paar Sätze mit einem Kollegen. Nirgends war die geringste Andeutung von Nervosität zu verspüren; überhaupt keine Spur davon, daß ihr Plan gescheitert war, daß ein Killer — Carlos' einziger Mann in Paris, der ihre Zielperson hätte identifizieren können — von einer Kugel in den Kopf getötet worden war.

Es war unglaublich, und sei es nur, weil die ganze Atmosphäre das genaue Gegenteil von dem war, was er erwartet hatte. In diesem Laden bemerkte er Gesichter, keine huschenden Augen, keine abrupten Bewegungen, die Alarm bedeuteten; nichts war ungewöhnlich.

Und doch — irgendwo mußte es hier eine Person geben, die nicht nur Carlos' Vertrauen besaß, sondern auch autorisiert war, drei Killer einzusetzen. Eine Frau…

Da sah er sie; sie mußte es sein. Sie kam die teppichbelegte Freitreppe herunter, eine hochgewachsene, eindrucksvolle Frau mit einem Gesicht, das sich durch eine dicke Schicht Make-up in eine starre Maske verwandelt hatte. Sie wurde von einem gertenschlanken Angestellten aufgehalten, der ihr einen Verkaufsbeleg hinhielt; sie warf einen Blick darauf und sah dann hinunter auf den Verkaufstresen für Schmuck, vor dem ein nervöser Mann in mittleren Jahren stand. Der Blick war kurz, aber eindeutig. Was er ausdrückte, war ebenso klar: Also gut, mon ami, nimm die Klunker mit, aber bezahle deine Rechnung bald, sonst könnte es das nächste Mal peinlich für dich werden. Oder noch schlimmer: ich könnte deine Frau anrufen. Im Bruchteil einer Sekunde war der Tadel verflogen; ein Lächeln, so falsch wie es breit war, brach die Maske auf, und die Frau nahm mit einem Kopfnicken den Stift, den der Angestellte ihr hinhielt, und zeichnete schwungvoll den Beleg ab. Dann setzte sie ihren Weg die Treppe herunter fort, gefolgt von dem Angestellten, der sich im Gespräch zu ihr neigte. Es war offensichtlich, daß er ihr schmeichelte; sie blieb auf der untersten Stufe stehen, drehte sich herum, griff sich in das von hellen Strähnen durchzogene dunkle Haar und tippte, wie um sich für das Kompliment zu bedanken, mit dem Zeigefinger auf sein Handgelenk.

In den Augen der Frau war wenig Gelassenheit. Sie waren so wach wie das Paar Augen, das Borowski hinter goldgeränderten Brillengläsern in Zürich gesehen hatte.

Instinktiv fühlte er, daß sein Ziel sie war; blieb nur noch die Frage, wie er den Kontakt mit ihr finden sollte! Die ersten Schritte durften weder zu auffällig noch zu zaghaft sein. Geschickt mußte er ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken. Sie mußte zu ihm kommen.

Die nächsten paar Minuten erstaunten Jason, das heißt, er staunte über sich selbst. Ihn verblüffte die Leichtigkeit, mit der er in eine Rolle hineinschlüpfte, die ganz anders war als er selbst — so wie er sich kannte. Wo er noch vor Minuten nur Beschauer gewesen war, fing er jetzt an, den kritischen Kunden zu spielen. Er zog Blusen aus den Regalen, hielt die Stoffe ans Licht, musterte die Nähte, untersuchte Knöpfe und Knopflöcher, fuhr mit den Fingern über Kragen und hob sie hoch. Er war ein Kenner guter Kleidung, ein versierter Käufer, der wußte, was er wollte, und schnell das abtat, was nicht seinem Geschmack entsprach. Das einzige, worauf er nicht achtete, waren die Preisschilder — sie waren offensichtlich völlig nebensächlich für ihn.

Eben diese Tatsache erweckte das Interesse der stattlichen Frau, die immer wieder in seine Richtung schaute. Eine Verkäuferin tänzelte mit ihrem konkav geformten Körper auf ihn zu, um ihm behilflich zu sein. Er lächelte höflich und sagte, er zöge es vor, selbst herumzustöbern. Weniger als eine halbe Minute später stand er hinter drei Verkaufspuppen, die mit den teuersten Modellen drapiert waren, die im >Les Classiques< ausgestellt wurden. Er hob die Brauen, schob dann billigend die Lippen vor und spähte zwischen den Plastikfiguren zu der Frau hinter dem Tresen hinüber. Sie flüsterte der Verkäuferin, die ihn angesprochen hatte, etwas zu; das ehemalige Mannequin schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern.

Borowski stand mit verschränkten Armen da, blies die Backen auf und ließ langsam den Atem zwischen den Lippen entweichen, während sein Blick zwischen den drei Puppen hin und her wanderte; er war unsicher, ein Mann, der im Begriffe war, seine Entscheidung zu treffen. Und ein potentieller Kunde in dieser Lage, dazu einer, der nicht auf Preisschilder achtete, brauchte Hilfe von der cleversten Person in seiner Umgebung. Die arrogant wirkende Frau schob sich die Frisur zurecht und kam mit wiegendem Schritt auf ihn zu.

«Ich sehe, Sie sind bei den besseren Stücken angelangt, Monsieur«, sagte die Frau auf Englisch, was auf einen geschulten Blick schließen ließ.

«Das hoffe ich«, erwiderte Jason.»Sie haben eine interessante Kollektion, aber man muß ja wählerisch sein, nicht wahr?«

«Das zeichnet immer den aus, der das Besondere sucht, Monsieur. Alle unsere Modelle sind exklusiv.«

«Das sagt gar nichts, Madame.«

«Ah, Sie sprechen Französisch?«

«Ein wenig.«

«Sind Sie Amerikaner?«

«Ich bin selten hier«, sagte Borowski.»Die Kleider werden nur für Sie angefertigt?«

«O ja. Entworfen hat sie der Modeschöpfer Rene Bergeron. Ich bin sicher, daß Sie schon von ihm gehört haben.«

Jason runzelte die Stirn.»Ja, das habe ich. Er genießt hohen Respekt, aber der große Durchbruch ist ihm bisher noch nicht gelungen, oder?«

«Das kommt noch, Monsieur. Sein Ruf wächst von Kollektion zu Kollektion. Vor einigen Jahren hat er für St. Laurent gearbeitet, danach für Givenchy. Manche sagen, daß er viel mehr getan hat als nur die Schnitte angefertigt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

«Das ist nicht schwer.«

«Und wie die miese Konkurrenz versuchte, ihn in den Hintergrund zu drängen! Richtig übel ist das! Er betet Frauen an; er schmeichelt ihnen mit seiner Mode und macht keine kleinen Jungen aus ihnen. Sie wissen, was ich meine?«

«Absolut.«

«Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, wird er in der ganzen Welt berühmt sein.«

«Sie sprechen sehr überzeugt. Ich nehme diese drei. Die haben doch etwa Größe zwölf?«

«Vierzehn, Monsieur. Wir ändern sie natürlich.«

«Ich fürchte, die Zeit habe ich nicht, aber in Cap-Ferrat gibt es doch sicher gute Schneider.«

«Naturellement«, räumte die Frau schnell ein.

«Und dann…«Borowski zögerte und runzelte wieder die Stirn.»Weil ich schon mal hier bin, könnten Sie mir, um mir Zeit zu sparen, noch ein paar andere Sachen in einem ähnlichen Stil aussuchen?«

«Sehr gern, Monsieur.«

«Danke, das ist sehr liebenswürdig. Ich hatte einen langen Flug von den Bahamas und bin sehr erschöpft.«

«Würden Monsieur sich gerne setzen?«

«Offen gestanden, ich würde gerne einen Drink nehmen.«

«Das läßt sich natürlich arrangieren. Die Rechnung, Monsieur… «

«Ich zahle in bar, denke ich«, sagte Jason, wohl wissend, daß diese Zahlungsweise der Geschäftsführerin von >Les Classiques< am sympathischsten sein würde.»Mit Schecks ist das immer so eine Sache, nicht wahr?«

«Sie sind so klug, wie Sie wählerisch sind. «Das starre Lächeln ließ die Maske wieder aufspringen, ohne daß die Augen sich dabei veränderten.»Was den Drink angeht, warum nehmen Sie ihn nicht in meinem Büro? Dort sind Sie ganz für sich; Sie können sich entspannen, und ich bringe Ihnen eine Auswahl.«

«Ausgezeichnet!«

«Welche Preislage, Monsieur?«

«Suchen Sie das Beste aus, Madame.«

«Natürlich!«Eine schmale weiße Hand streckte sich ihm entgegen.»Ich bin Jacqueline Lavier, Mitinhaberin von >Les Classiques<.«

Borowski nahm die Hand, ohne einen Namen zu nennen. Vielleicht folgte der in weniger öffentlicher Umgebung, schien sein Gesicht auszudrücken, aber nicht im Augenblick.»Ihr Büro? Meines ist ein paar tausend Meilen von hier entfernt.«

«Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Monsieur. «Erneut flackerte das starre Lächeln auf. Madame Lavier wies zur Treppe.

Jason war überzeugt, daß die Frau neben ihm die Befehle zum Mord, die ein gesichtsloser Mann erteilt hatte, der absoluten Gehorsam forderte, weitergeleitet hatte. Und doch gab es nicht den geringsten Hinweis, daß auch nur eine Strähne ihres perfekt frisierten Haares von nervösen Fingern in Unordnung gebracht worden war, keine Blässe auf der gemeißelten Maske, die auf Angst schließen ließe. Ein Teil einer Gleichung fehlte… dafür war eine andere bestätigt worden, was ihn sehr beunruhigte.

Er selbst war ein Chamäleon. Die Scharade hatte ihren Zweck erfüllt; er befand sich im Lager des Feindes, überzeugt, daß man ihn nicht erkannt hatte. Dies war nicht das erste Mal, daß er solche Dinge tat. Er war ein Mann, der durch einen ihm unbekannten Dschungel rannte — und trotzdem fand er instinktiv seinen Weg, wußte, wo die Fallen lagen und wie man ihnen auswich. Das Chamäleon war ein Experte.

Während sie die Treppe hinaufgingen, sprach der konservativ gekleidete Mann in mittleren Jahren, der die Telefonanlage bediente, leise in ein Mikrophon und nickte fast müde mit dem grauhaarigen Kopf, als wolle er den

Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung davon überzeugen, daß ihre Welt so beschaulich und ruhig war, wie sie sein sollte.

Borowski blieb auf der siebten Stufe stehen, er tat es unwillkürlich. Der Kopf des Mannes, die Form seiner

Backenknochen, das lichter werdende graue Haar, die Art und Weise, wie es sich über das Ohr legte — all das verriet ihm, daß er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Irgendwo. In jener Vergangenheit, an die er sich nicht erinnerte, die jetzt aber schemenhaft Gestalt annahm, mit Dunkelheit… mit Blitzen von Licht; Explosionen; Nebel; Sturmböen, gefolgt von Stille. Was war das? Wo war es passiert? Warum war da jetzt wieder der Schmerz in seinen Augen? Der grauhaarige Mann drehte sich langsam in seinem Drehsessel herum. Jason blickte weg, ehe der andere sein Gesicht sehen konnte.

«Monsieur scheint unsere ungewöhnliche Telefonzentrale zu gefallen«, sagte Madame Lavier.»Das hebt >Les Classiques< von den anderen Geschäften auf der Rue Saint-Honore ab.«

«Wieso?«fragte Borowski, während sie weiter die Stufen hinaufgingen.

«Wenn eine Kundin >Les Classiques< anruft, meldet sich nicht eine nichtssagende Frauenstimme, sondern ein kultivierter Herr, der über sämtliche Informationen verfügt.«

«Eine nette Geste.«

«Andere Herren finden das auch«, fügte sie hinzu.»Besonders, wenn sie telefonisch Käufe tätigen, bei denen sie auf Vertraulichkeit Wert legen.«

Sie erreichten Jacqueline Laviers geräumiges Büro. Es war der Arbeitsplatz einer effizienten Führungspersönlichkeit. Auf dem Schreibtisch lagen Dutzende von Papieren, die zu verschiedenen Haufen gestapelt waren. An ein Brett waren Aquarellskizzen gepinnt, die in kräftigen Farben gemalt waren und ihre Initialen trugen. Die Wände waren bedeckt mit gerahmten Fotos der Beautiful People, wobei ihre Schönheit nur zu oft von aufgerissenen Mündern oder einem Lächeln entstellt wurde. Die parfümierte Luft drängte ihm den Gedanken auf, daß dies die Höhle einer älter werdenden, auf und ab schreitenden Tigerin war, jederzeit bereit, jeden anzugreifen, der ihren Besitz oder die Erfüllung ihrer Wünsche gefährdete. Aber sie war diszipliniert, und wenn man alles bedachte, eine sehr nützliche Verbindungsperson für Carlos.

Wer war der Mann an der Telefonvermittlung? Wo hatte er ihn gesehen?

Sie wies auf eine Anzahl von Flaschen und bot ihm einen Drink an; er wählte Brandy.

«Setzen Sie sich doch, Monsieur. Ich werde Rene bitten, uns behilflich zu sein, wenn ich ihn finden kann.«

«Das ist sehr liebenswürdig, aber ich bin sicher, daß alles, was Sie wählen, zufriedenstellend sein wird. Ihr besonderer Geschmack ist hier in diesem Büro zu verspüren. Ich fühle mich wohl damit.«

«Sie sind zu großzügig.«

«Nur wenn es angebracht ist«, sagte Jason, der sich immer noch nicht gesetzt hatte.»Ich würde mir gerne die Fotos ansehen. Ich erkenne da eine ganze Anzahl Bekannte, wenn nicht gar Freunde. Viele dieser Gesichter sind auf den Bahamas nicht unbekannt.«

«Bestimmt nicht«, pflichtete Madame Lavier mit einem Tonfall bei, der erkennen ließ, daß ihr die Reiseziele ihrer reichen Kunden bestens vertraut waren.»Es dauert nicht lange, Monsieur.«

Gewiß nicht, dachte Borowski, als die Teilhaberin von >Les Classiques< aus dem Büro schwebte. Madame Lavier würde nicht zulassen, daß ein müdes, wohlhabendes Opfer sich zu viel Zeit zum Nachdenken ließ. Sie würde mit den teuersten Modellen zurückkommen, die sie so schnell wie möglich zusammenraffte. Wenn es daher in dem Raum etwas gab, das ein Licht auf die Agentin von Carlos — oder auf den Mörder selbst — werfen konnte, mußte er es schnell finden.

Jason warf einen konzentrierten Blick auf die Papiere, die auf dem Schreibtisch lagen: Rechnungen, Quittungen, unbezahlte Lieferantenrechnungen und Mahnbriefe an Kunden. Ein Adreßbuch war aufgeschlagen, so daß man vier Namen lesen konnte; er trat näher, um mehr erkennen zu können. Bei jeder Eintragung handelte es sich um eine Firma, und ihre Repräsentanten standen in Klammern dahinter, wobei die

Positionen der Betreffenden unterstrichen waren. Er überlegte, ob er sich die Firmen und die Personen einprägen sollte. Er war gerade im Begriff, das zu tun, als sein Blick auf den Rand einer Karteikarte fiel, die von dem Telefon fast verdeckt wurde. Und da war noch etwas — kaum zu erkennen: ein Streifen durchsichtiges Klebeband, das am Rand der Karte entlangführte und sie auf der Tischplatte festhielt. Das Klebeband selbst war relativ neu, erst vor kurzem über das Papier geklebt; es war ganz sauber, ohne jegliche Schmutzoder Staubspuren, die darauf hingedeutet hätten, daß es sich schon lange dort befand.

Instinkt.

Borowski griff nach dem Telefon, um es zur Seite zu schieben. In dem Moment klingelte es. Der schrille Klang ließ ihn zusammenzucken. Kaum hatte er den Apparat auf den Tisch zurückgestellt und einen Schritt gemacht, als ein Mann ohne Jackett durch die offene Tür vom Korridor hereinrannte. Er blieb stehen, starrte Borowski an; sein Blick wirkte verblüfft, aber ohne Argwohn. Das Telefon klingelte erneut, und der Mann trat schnell an den Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

«Allo?« Dann herrschte Schweigen, denn der Mann lauschte mit gesenktem Kopf. Er war braungebrannt und hatte eine muskulöse Figur. Auffallend waren die schmalen Lippen in seinem straffen Gesicht. Das kurz gestutzte Haar war dunkelbraun und sehr gepflegt. Die Muskeln seiner nackten Arme bewegten sich unter der Haut, als er den Hörer von einer Hand in die andere wechselte und mit harter Stimme sagte: »»Nicht hier… Weiß nicht… Ruf später an.« Er legte auf und sah Jason an.»Wo ist Jacqueline?«

«Etwas langsamer, bitte«, sagte Borowski in Englisch und tat, als hätte er nicht verstanden.»Mein Französisch ist nicht so gut.«

«Entschuldigung«, erwiderte der smarte Mann.»Ich habe Madame Lavier gesucht. Wo ist sie?«

«Damit beschäftigt, mein Konto zu plündern. «Jason lächelte und hob das Glas an die Lippen.

«Oh? Und wer sind Sie, Monsieur?

«Wer sind Sie?«

Der Mann studierte Borowski.»Rene Bergeron.«

«O Gott!«rief Jason aus.»Sie sucht Sie. «Borowski lächelte wieder.»Sollte ich mir von den Bahamas telegrafisch

Geld schicken lassen müssen, sind Sie der Grund dafür.«

«Sie sind sehr liebenswürdig, Monsieur. Ich muß um Entschuldigung bitten, daß ich so hereingeplatzt bin.«

«Es war schon besser, daß Sie das Telefon abgenommen haben — bei meinem dürftigen Französisch.«

«Mit wem, Monsieur, habe ich die Ehre zu sprechen?«

«Briggs«, sagte Jason, der keine Ahnung hatte, woher der Name kam und erstaunt war, daß er sich so schnell einstellte, so natürlich.»Charles Briggs.«

«Ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft zu machen. «Bergeron streckte ihm die Hand hin; sein Griff war fest.»Sie sagen, Jacqueline sucht mich?«

«Wegen mir, fürchte ich.«

«Ich werde sie finden. «Der Mann ging hinaus.

Borowski trat an den Schreibtisch, die Augen auf die Tür gerichtet, die Hand am Telefon. Er schob es beiseite. Er sah zwei Telefonnummern auf der Karteikarte: Die erste war ein Anschluß in Zürich, durch die Vorwahlnummer erkennbar, die zweite gehörte offensichtlich einem Teilnehmer in Paris.

Instinkt. Er hatte recht gehabt, dabei war ein Streifen durchsichtiges Klebeband die einzige Spur gewesen, die er gebraucht hatte. Er starrte die Nummern an, merkte sie sich und stellte das Telefon wieder zurück.

Er war gerade um den Schreibtisch herumgelaufen, als Madame Lavier mit einem halben Dutzend Kleidern über dem Arm ins Zimmer schwebte.»Ich bin Rene auf der Treppe begegnet. Er ist von meiner Wahl begeistert. Er hat mir auch gesagt, daß Ihr Name Briggs ist, Monsieur.«

«Ich hätte mich selbst vorstellen sollen«, meinte Borowski und erwiderte ihr Lächeln.»Aber ich glaube nicht, daß Sie mich gefragt haben.«

«Schon gut, Monsieur. «Sie legte die Kleider vorsichtig über einige Stühle.»Ich glaube wirklich, daß das, was ich hier habe, zu den schönsten Kreationen gehört, die Rene uns je gebracht hat.«»Ihnen gebracht hat? Er arbeitet also nicht hier?«

«Eine Redensart; sein Atelier ist am Ende des Korridors, aber es ist wie ein Heiligtum. Selbst ich zittere, wenn ich es betrete.«

«Die Modelle sind wirklich wunderschön«, schmeichelte Borowski der Frau und schritt von einem Kleid zum anderen.»Die nehme ich«, fügte er hinzu und deutete auf drei Kleider.

«Eine hervorragende Wahl, Monsieur Briggs!«

«Packen Sie sie mit den anderen ein, wenn Sie so liebenswürdig wären.«

«Natürlich. Die Dame ist zu beglückwünschen.«

«Sie ist ein guter Kamerad, aber ein verzogenes Kind, fürchte ich. Ich bin viel weggewesen und habe mich nur sehr selten um sie gekümmert; also denke ich, sollte ich Frieden machen. Das ist einer der Gründe, warum ich sie nach Cap-Ferrat geschickt habe. «Er lächelte und nahm seine Louis-Vuitton-Brieftasche heraus.»Würden Sie mir die Rechnung zusammenstellen?«

«Ich werde veranlassen, daß eines der Mädchen alles fertig macht. «Madame Lavier drückte einen Knopf an der Sprechanlage neben dem Telefon. Jason beobachtete sie scharf. Er war darauf vorbereitet, das Gespräch zu erwähnen, das Bergeron entgegengenommen hatte, falls der Frau auffiel, daß das Telefon nicht genau am gewohnten Platz stand. »»Faites venir Janine — avec les robes. La facture aussi.« Sie stand auf.»Noch einen Brandy, Monsieur Briggs?«

«Merci bien.« Borowski hielt ihr sein Glas hin; sie nahm es und trat an die Bar. Jason wußte, daß die Zeit für das, was er vorhatte, noch nicht gekommen war. Erst mußte er sich von seinem Geld getrennt haben. Aber er konnte sich weiter bemühen, die Mitinhaberin von >Les Classiques< für sich einzunehmen.»Dieser Bergeron«, sagte er,»arbeitet er ausschließlich für Ihr Geschäft?«

Madame Lavier drehte das Glas in der Hand.»Ja. Wir sind hier eine kleine Familie.«

Borowski nahm den Brandy entgegen, nickte dankend und setzte sich in den Lehnstuhl vor dem Schreibtisch.

Die hochgewachsene, hagere Angestellte, die ihn unten im Laden angesprochen hatte, kam mit einem Quittungsblock ins Zimmer. Schnelle Anweisungen wurden erteilt, Beträge eingetragen, die Kleider der Reihe nach auf einen Stuhl gelegt, während der Quittungsblock von einer Hand zur anderen wanderte. Schließlich hielt Madame Lavier Jason die komplette Rechnung hin.»Bitte, Monsieur«, sagte sie,»überprüfen Sie.«

Borowski schüttelte den Kopf.»Schon gut. Wie hoch ist der Betrag?«fragte er.

«Zwanzigtausendeinhundert Franc, Monsieur«, antwortete die Partnerin von >Les Classiques< und wartete auf seine

Reaktion.

Jason zog ungerührt die Geldscheine aus der Brieftasche und reichte sie ihr. Sie nickte und gab sie der schlanken Verkäuferin, die mit den Kleidern aus dem Büro stelzte.

«Alles wird eingepackt und mit Ihrem Wechselgeld hierher gebracht werden. «Sie trat an ihren Schreibtisch und setzte sich.»Sie reisen also jetzt nach Ferrat. Dort ist es bestimmt sehr schön.«

Er hatte bezahlt; die Zeit war jetzt da.»Ich habe noch eine Nacht in Paris, ehe ich in den Kindergarten zurückkehre«, sagte Jason und hob sein Glas, wie um sich selbst zu verspotten.

«Ja, Sie erwähnten, daß Ihre Freundin sehr jung ist.«

«Ein Kind, habe ich gesagt, und das ist sie. Sie ist eine gute Gefährtin, aber ich glaube, daß ich die Gesellschaft reiferer Frauen vorziehe.«

«Sie müssen sie sehr gerne mögen«, wandte die Frau ein, von seinen Worten geschmeichelt und betastete ihr perfekt frisiertes Haar.

«Sie kaufen ihr so reizende und offen gestanden sehr teure Dinge.«

«Ein geringer Preis, wenn man bedenkt, was sie tun könnte.«

«Wirklich?«

«Sie ist meine Frau, meine dritte, um genau zu sein, und auf den Bahamas ist es sehr wichtig, daß man den Schein wahrt. Aber das ist wohl überall das gleiche. Mein Leben ist ganz in Ordnung.«

«Sicher ist es das, Monsieur.«

«Weil wir gerade von den Bahamas sprechen, da ist mir vor ein paar Minuten etwas in den Sinn gekommen, deshalb habe ich sie wegen Bergeron gefragt.«

«Was denn?«

«Sie halten mich vielleicht für ungestüm; aber ich versichere Ihnen, daß ich das nicht bin. Wenn mir etwas in den Sinn kommt, muß ich das gleich untersuchen. Da Bergeron exklusiv für Sie arbeitet — haben Sie eigentlich je daran gedacht, eine Filiale auf den Inseln zu eröffnen?«

«Auf den Bahamas?«

«Ja, und auf anderen Inseln in der Karibik.«

«Monsieur, der Laden allein hier ist oft schon mehr, als wir schaffen können.«

«Nicht in Eigenregie, meinte ich. Ich dachte an Konzession für exclusive Modelle, an eine Zusammenarbeit mit Geschäftsleuten auf Provisionsbasis.«

«Dazu gehört beträchtliches Kapital, Monsieur Briggs.«

«Nur für den Anfang, um ins Geschäft zu kommen. In den besseren Hotels und Clubs hängt es normalerweise davon ab, wie gut man die Direktion kennt.«

«Und zu denen haben Sie gute Beziehungen?«

«Sehr gute sogar. Wie gesagt, das war nur so eine Idee, aber ich glaube, es lohnt sich, darüber nachzudenken. Ihre Etiketts würden viel Prestige haben: >Les Classiques< — Paris,

Bahamas… Caneel Bay, vielleicht. «Borowski leerte sein Glas.»Aber wahrscheinlich halten Sie mich für verrückt. Betrachten Sie es nur so als dahingeredet… obwohl ich schon manchmal ein paar Dollar mit spontanen Einfallen verdient habe, die auch nicht ohne Risiken waren.«

«Risiken?«Jacqueline Lavier griff sich wieder ins Haar.

«Ich verschenke Ideen nicht, Madame. Gewöhnlich verwirkliche ich sie selber.«

«Ich verstehe. Die Idee klingt schon verlockend.«

«Das denke ich auch. In dem Zusammenhang würde mich natürlich Ihre schriftliche Vereinbarung mit Bergeron interessieren.«

«Die könnte ich Ihnen zeigen, Monsieur.«

«Fein. Wenn Sie Zeit haben, konnten wir uns ja beim Dinner weiter darüber unterhalten. Heute ist mein einziger Abend in Paris.«

«Und Sie ziehen die Gesellschaft reiferer Frauen vor«, meinte Jacqueline Lavier, und die Maske verzog sich wieder zu einem Lächeln.

«Das ist wahr, Madame.«

«Das läßt sich arrangieren«, sagte sie und griff nach dem Hörer.

Das Telefon! Carlos!

Er würde sie töten, wenn er das wüßte. Er würde die Wahrheit erfahren.

Marie drängte sich durch die Menge, die den Telefonkomplex an der Rue Vaugirard bevölkerte, auf eine freie Kabine zu, die man ihr zugewiesen hatte. Sie hatte ein Zimmer im >Meurice< genommen, den Aktenkoffer an der Rezeption abgegeben und war fast eine halbe Stunde allein in dem Zimmer geblieben — bis sie es nicht mehr ertragen konnte. Sie hatte eine leere Wand angestarrt und über Jason nachgedacht, über den Wahnsinn der letzten acht Tage, der sie in eine Welt geschleudert hatte, die ihr Vorstellungsvermögen überstieg. Jason: rücksichtsvoll, beängstigend, verwirrend. Jason

Borowski: ein Mann, der soviel Gewalttätigkeit in sich hatte und doch soviel Mitgefühl; der sich auf so schreckliche Weise darauf verstand, sich mit einer Welt auseinanderzusetzen, mit der der gewöhnliche Mensch nie in Berührung kommt. Woher kam er? Wer hatte ihn gelehrt, sich in den dunklen Nebenstraßen von Paris, Marseille und Zürich zurechtzufinden? Was war der Ferne Osten für ihm? Waren ihm die Sprachen dort vertraut? Was für Sprachen?

Tao.

Che-sah.

Tam Quan.

Eine andere Welt, und sie war ihr völlig fremd. Aber sie kannte Jason Borowski, oder besser, den Mann, der sich Jason Borowski nannte, und hielt sich an dem Anstand in ihm fest, von dem sie wußte, daß er da war. Sie liebte ihn!

Iljitsch Ramirez Sanchez, genannt Carlos: was war er für Jason Borowski?

Hör auf! hatte sie sich angeschrien, während sie alleine im Hotelzimmer saß. Und dann hatte sie das getan, was sie Jason so viele Male hatte tun sehen: sie war vom Stuhl aufgesprungen, als würde die abrupte Bewegung die Nebel verjagen oder es ihr gestatten, sie zu durchbrechen.

Kanada. Sie mußte Ottawa telefonisch erreichen und herausfinden, weshalb der Mord an Peter auf so obskure Weise vertuscht wurde. Sein Tod gab keinen Sinn; denn auch Peter war ein anständiger Mann, und er war von Gangstern umgebracht worden. Man würde ihr entweder sagen, weshalb man seinen Tod geheimhielt — oder sie würde dafür sorgen, daß dieser Mord an die Öffentlichkeit kam.

Mit wütender Entschlossenheit hatte sie das >Meurice< verlassen, sich ein Taxi in die Rue Vaugirard genommen und das Gespräch nach Ottawa angemeldet. Jetzt wartete sie vor der Kabine, und ihr Ärger wuchs.

Endlich schlug die Glocke an. Sie öffnete die Glastür und trat in die Zelle.

«Bist du's, Alan?«

«Ja«, war die knappe Antwort.

«Alan, was, zum Teufel, geht hier vor? Peter ist ermordet worden — und in keiner Zeitung, keiner Nachrichtensendung wird auch nur ein einziges Wort davon erwähnt. Ich glaube nicht einmal, daß es die Botschaft weiß. Es ist gerade so, als wäre sein Tod allen gleichgültig! Was tut ihr denn?«

«Was man uns gesagt hat. Und das wirst du auch.«

«Was? Peter war dein Freund! Hör mir zu, Alan…«

«Nein! Hör du zu. Du mußt Paris verlassen. Jetzt! Nimm die nächste Direktmaschine nach Ottawa. Wenn du Schwierigkeiten hast, wird die Botschaft dir helfen — aber du darfst nur mit dem Botschafter sprechen, hast du verstanden?«

«Nein!«schrie Marie St. Jacques.»Ich habe nicht verstanden! Peter ist getötet worden, und das scheint alle völlig kaltzulassen. Du redest nur Bockmist! Bloß sich in nichts einlassen, um Himmels willen!«

«Halt dich heraus, Marie!«

«Aus was heraushalten? Das ist es ja, was du mir vorenthältst, nicht wahr? Du solltest… «

«Ich kann nicht!«Alans Stimme war leiser geworden.»Ich sage dir nur das, was man mir auf getragen hat, dir mitzuteilen.«

«Wer?«

«Das darfst du mich nicht fragen.«

«Ich frage dich aber!»

«Hör mir zu, Marie. Ich bin die letzten vierundzwanzig Stunden nicht nach Hause gegangen. Ich habe die letzten zwölf Stunden hier im Büro darauf gewartet, daß du anrufst. Versuche, mich zu verstehen — ich empfehle dir nicht zurückzukommen, sondern das ist ein Befehl deiner Regierung.«

«Befehl? Ohne Erklärung?«

«So ist es. Eines will ich dir sagen. Sie wollen dich dort herausholen; sie wollen, daß er isoliert ist… So liegen die Dinge.«

«Tut mir leid, Alan, so liegen sie nicht. Wiedersehn. «Sie knallte den Hörer auf die Gabel und verschränkte die zitternden Hände ineinander. O mein Gott, ich liebe ihn so…

und die versuchen, ihn zu töten. Jason, mein Jason, die alle wollen deinen Tod! Warum?

Der konservativ gekleidete Mann in der Telefonvermittlung legte den roten Schalter um, der sämtliche Leitungen von draußen blockierte, so daß alle Anrufer nur das Besetztzeichen hörten. Er tat das ein- oder zweimal die Stunde, und zwar nur, um wieder Klarheit in seine Gedanken zu bekommen, wenn er pausenlos belangloses Zeug mit irgendwelchen eitlen Kundinnen schwatzen mußte, die diesen oder jenen Extrawunsch erfüllt haben wollten.

An die Ironie seines Schicksals hatte er oft denken müssen. Es lag nämlich gar nicht so viele Jahre zurück, da hatten andere für ihn in einer Telefonzentrale gearbeitet: in seinen Firmen in Saigon und in der Verwaltung seiner riesigen Plantage im Mekong-Delta.

Er hörte Lachen auf der Treppe und blickte auf. Jacqueline verließ früh den Laden, begleitet wohl von einem ihrer prominenten und reichen Bekannten. Er konnte das Gesicht des Mannes an ihrer Seite nicht sehen; denn er hatte den Kopf seltsam abgewandt.

Dann sah er ihn einen Augenblick lang; ihre Blicke trafen sich. Der Kontakt war kurz und explosiv. Plötzlich stockte dem grauhaarigen Mann der Atem; er schwebte in einem Augenblick der Ungläubigkeit, starrte ein Gesicht an, das er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte und damals fast nur in der Dunkelheit, denn sie hatten nachts gearbeitet…

O mein Gott — er war es!

Der Mann erhob sich wie in Trance von seinem Stuhl. Er zog den Kopfhörer herunter und ließ ihn zu Boden fallen. Auf der Schalttafel leuchteten ankommende Gespräche auf, die keine Verbindung bekamen. Er stieg von der Plattform herunter und ging schnell auf den Mittelgang zu, um Madame Laviers Begleiter besser erkennen zu können, den Geist, der ein Killer war — skrupelloser als alle anderen Männer, die er je gekannt hatte. Sie hatten gesagt, daß es geschehen könnte, aber er hatte ihnen nie geglaubt.

Jetzt sah er ihn deutlich. Sie liefen durch den Mittelgang auf den Eingang zu. Er mußte sie aufhalten. Aber jetzt hinauszurennen und zu schreien, würde den Tod bedeuten. Eine Kugel in den Kopf.

Sie erreichten die Tür; er zog sie auf, ließ ihr den Vortritt. Der grauhaarige Mann schoß quer über den Gang zum Schaufenster. Draußen auf der Straße hatte er ein Taxi herbeigewinkt. Er öffnete die Tür, und ließ Jacqueline einsteigen.

Der grauhaarige Mann drehte sich um und rannte, so schnell er konnte, zur Freitreppe, hastete die Stufen hinauf, raste den Korridor hinunter zu der offenen Ateliertür.

«Rene! Rene!«schrie er.

Bergeron blickte erstaunt von seinem Zeichentisch auf.»Was ist denn?«

«Der Mann, der mit Jacqueline zusammen ist, wer ist er? Wie lange war er hier?«

«Oh. Sie meinen wahrscheinlich den Amerikaner«, sagte der Designer.»Er heißt Briggs. Ein gemästetes Kalb; gut für unseren Umsatz.«

«Wohin sind sie?«

«Ich wußte nicht, daß sie weggegangen sind.«

«Sie ist gerade mit ihm in ein Taxi gestiegen.«

«Unsere Jacqueline weiß schon, was sie tut.«

«Sie müssen sie finden!«

«Warum?«

«Er weiß es! Er wird sie töten!«

«Was?«

«Das ist er! Das schwöre ich! Dieser Mann ist Cain!«

Kapitel 15

«Der Mann ist Cain«, sagte Colonel Jack Manning herausfordernd, als hätte er erwartet, daß ihm wenigstens drei der Männer in Zivil widersprächen, die mit ihm an einem Konferenztisch im Pentagon saßen. Jeder von ihnen war älter als er, und jeder hielt sich für erfahrener. Keiner war bereit zuzugeben, daß die Army Informationen beschafft hatte, die seine eigene Organisation nicht hatte beibringen können. Den Ausführungen des Colonels lauschte noch ein weiterer Zivilist, aber seine Ansicht zählte nicht. Er war Mitglied eines Kongreßausschusses, der sich mit den Pannen ihrer Organisationen befaßte, und wurde daher sehr entgegenkommend behandelt, aber nicht ernstgenommen.»Wenn wir nicht etwas unternehmen«, fuhr Manning fort,

«selbst auf das Risiko hin, alles preiszugeben, was wir erfahren haben, könnte er uns erneut durchs Netz schlüpfen. Vor elf Tagen war er in Zürich. Wir sind überzeugt, daß er sich immer noch dort aufhält. Kein Zweifel, Gentlemen, er ist Cain.«

«Das ist eine mutige Behauptung«, sagte der fast kahlköpfige Akademiker mit dem Vogelgesicht, der Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat war, und überflog erneut das fotokopierte Blatt mit der Zusammenfassung der Vorgänge in Zürich, das jeder Delegierte am Tisch bekommen hatte. Sein Name war Alfred Gillette, er war Experte für

Personalbeurteilung und — auswahl. Das Pentagon schätzte seine hohe Intelligenz. Außerdem hatte er Freunde, die einflußreiche Posten bekleideten.

«Ich finde das sehr merkwürdig«, fügte Peter Knowlton, stellvertretender Direktor des CIA, hinzu. Der Mittfünfziger war betont korrekt gekleidet. Fast bieder wirkte sein Äußeres.»Nach unseren Informationen hat sich Cain zum gleichen Zeitpunkt, nämlich vor elf Tagen, in Brüssel, nicht in Zürich aufgehalten. Und unsere Gewährsleute irren sich selten.«

«Hört, Hört!«sagte der dritte Zivilist, der einzige Mann am Tisch, den Manning wirklich respektierte. Er war der älteste von ihnen und hieß David Abbott. Der ehemalige

Olympiateilnehmer im Schwimmen besaß einen Intellekt, der seinen athletischen Fähigkeiten in nichts nachstand. Er war jetzt Ende Sechzig und noch aufrecht, sein Geist war so scharf wie eh und je. Nur die vielen Falten in seinem Gesicht verrieten sein Alter und deuteten auf ein Leben hin, das von vielen Spannungen geprägt worden war. Er weiß, wovon er redet, dachte der Colonel. Obwohl Abbott im Augenblick Mitglied des allmächtigen Vierziger-Ausschusses war, hatte er dem CIA von Beginn an angehört.»Der schweigende Mönch des Geheimdienstes «hatten ihn seine Kollegen genannt.»Zu meiner Zeit beim CIA«, fuhr Abbott fort und lächelte,»waren Informationen der Gewährsleute oft genug widersprüchlich.«

«Wir haben andere Methoden der Überprüfung«, entgegnete der stellvertretende Direktor.»Ich will nicht respektlos sein, Mr. Abbott, aber unsere Sendeeinrichtungen arbeiten praktisch ohne Zeitverlust.«

«Das sind Geräte, keine Bestätigung. Nun gut. Wie es scheint, ist nicht klar, ob der Mann sich zu dem fraglichen Zeitpunkt in Brüssel oder Zürich aufgehalten hat.«

«Die Beweise für Brüssel sind einwandfrei«, beharrte Knowlton entschieden.

«Wir wollen sie hören«, sagte Gillette und schob sich die Brille zurecht.»Wir sollten uns die Zusammenfassung noch einmal vornehmen; sie liegt ja vor uns. Auch wir haben eine neue Erkenntnis gewonnen. Die Sache geschah vor ungefähr sechs Monaten.«

Der silberhaarige Abbott sah zu Gillette hinüber.»Vor sechs Monaten? Ich kann mich nicht erinnern, daß der Nationale Sicherheitsrat vor einem halben Jahr irgend etwas geliefert hätte, was Cain betrifft.«

«Unsere Information war nicht in allen Einzelheiten bestätigt«, erwiderte Gillette.»Wir versuchen, den Ausschuß nicht mit unbestätigten Daten zu belasten.«

«Mr. Walters«, sagte der Coionel und sah zum Mitglied des Kongreßausschusses hinüber,»haben Sie irgendwelche Fragen?«

«Verdammt, ja«, meinte der Politiker aus dem Staate Tennessee gedehnt, und seine intelligenten Augen musterten die Gesichter der anderen drei Teilnehmer.»Aber da ich hier neu bin, sollten Sie ruhig weitermachen, damit ich weiß, wo ich meine Fragen ansetzen muß.«

«Sehr gut, Sir«, sagte Manning und nickte Knowlton vom

CIA zu.»Was haben Sie da in bezug auf Brüssel vor elf Tagen?«

«Ein Mann ist in der Place Fontainas getötet worden, der im Diamantenhandel zwischen Moskau und dem Westen tätig war, im Untergrund natürlich. Er wickelte seine Geschäfte über ein Zweigbüro der sowjetischen Firma Russolmaz in Genf ab, die als Makler für solche Geschäfte tätig ist. Wir wissen, daß das eine der Methoden ist, mit der Cain sich seine Mittel beschafft.«

«Welche Verbindung besteht zwischen dem Mord und Cain?«fragte der mißtrauische Gillette.

«Eine direkte. Die Waffe war eine lange Nadel, die um die Mittagszeit auf einem überfüllten Platz mit chirurgischer Präzision dem Opfer ins Herz gestochen wurde. Das ist nicht das erste Mal, daß Cain sich dieser Methode bedient.«

«Stimmt«, sagte Abbott.»Auf die gleiche Weise sind in London vor einem Jahr zwei Rumänen getötet worden, im Abstand von nur ein paar Wochen. Beide Morde ließen sich auf Cain zurückführen.«

«Zurückführen, aber nicht bestätigen«, wandte Colonel Manning ein.»Es waren hochrangige Politiker, die übergelaufen waren; es ist ebensogut möglich, daß der KGB hinter den Morden steht.«

«Oder Cain, was für die Sowjets wesentlich weniger riskant wäre«, meinte Knowlton.

«Oder Carlos«, fügte Gillette hinzu, und seine Stimme wurde lauter.»Weder Carlos noch Cain machen sich Gedanken über ideologische Dinge; sie sind beide käuflich. Wie kommt es eigentlich, daß jedesmal, wenn ein Mord von einiger Bedeutung geschieht, wir ihn Cain zuschreiben?«

«Jedesmal, wenn wir das tun«, erwiderte Knowlton, und sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was er von dem Fragenden hielt,»geschieht das, weil unterschiedliche Quellen dieselbe Information geliefert' haben. Da die Informanten nichts voneinander wissen, kann es sich schwerlich um Fälschungen handeln.«

«Das ist alles so vordergründig«, sagte Gillette unbefriedigt.

«Zurück nach Brüssel«, unterbrach der Colonel.»Wenn es Cain war, warum sollte er dann einen Makler von Russolmaz töten? Er hat ihn doch benutzt.«

«Es handelte sich um einen heimlichen Makler«, verbesserte der CIA-Direktor.»Der Mann war ein Dieb, warum auch nicht? Die meisten seiner Klienten waren das auch; sie konnten nicht gut Anzeige gegen ihn erstatten. Vielleicht hatte er Cain betrogen. Oder er war so dumm, Spekulationen über Cains Identität anzustellen. Selbst die leiseste Andeutung in dieser Richtung wurde die Nadel erklären. Möglicherweise wollte Cain einfach nur seine Spuren verwischen. Doch wie dem auch sei, die näheren Umstände lassen nur wenig Zweifel daran, daß es Cain war.«

«Einen Augenblick, bitte«, sagte David Abbott und zündete sich dabei seine Pfeife an.»Ich glaube, unser Kollege vom Sicherheitsrat erwähnte eine Cain betreffende Episode, die sich vor sechs Monaten zutrug. Ich finde, wir sollten mehr darüber erfahren.«

«Warum?«fragte Gillette, und seine Augen blickten eulenhaft unter seiner randlosen Brille hervor.»Allein der Zeitpunkt läßt schon erkennen, daß das nichts mit Brüssel oder Zürich zu tun hat. Das erwähnte ich doch.«

«Ja, das taten Sie«, räumte der früher einmal gefährliche» Mönch des Geheimdienstes «ein.»Ich dachte nur, daß alles, was den Hintergrund aufklärt, hilfreich sein könnte. Auf jeden Fall sollten wir ausführlich über die Vorgänge in Zürich reden.«

«Danke, Mr. Abbott«, sagte der Oberst.»Fest steht, daß vor elf Tagen vier Männer in Zürich getötet wurden. Einer von ihnen war ein Wärter auf einem Parkplatz an der Limmat; man kann annehmen, daß er ein zufälliges Opfer ist. Die beiden Toten, die in einer Seitengasse am Westufer der Stadt gefunden wurden, sind Angehörige der Unterwelt von Zürich und München. Das vierte Opfer hatte ohne Zweifel Kontakt zu Cain.«

«Das ist Chernak«, sagte Gillette, der die Zusammenfassung in der Hand hielt.»Zumindest vermute ich das. Ich erkenne den Namen wieder und bringe ihn irgendwo mit der Akte Cain in nähere Verbindung.«

«Das sollten Sie auch«, erwiderte Manning.»Er tauchte zum erstenmal vor achtzehn Monaten in einem Bericht von G-Zwo auf und wurde ein Jahr später erneut erwähnt.«

«Also vor sechs Monaten«, warf Abbott mit leiser Stimme ein und sah zu Gillette hinüber.

«Ja, Sir«, fuhr der Oberst fort.»Wenn es je ein typisches Beispiel für das gegeben hat, was man den Abschaum der Erde nennt, dann war das Chernak. Während des Krieges war der gebürtige Tscheche als Bewacher ins Konzentrationslager von Dachau abkommandiert. Dort hat er mit brutalen Methoden verhört, Polen, Slowaken und Juden >Geständnisse< erpreßt. Er war zu allen Grausamkeiten fähig, wenn es galt, sich bei seinen Vorgesetzten ins gute Licht zu rücken — und selbst die sadistischsten Folterknechte hatten einige Mühe, es ihm gleichzutun. Sie wußten allerdings nicht, daß er ein Heft angelegt hatte, in dem er alle Schandtaten verzeichnete. Nach dem Krieg entkam er. Auf der Flucht verlor er beide Beine, als er auf eine Mine trat. Später konnte er mit Erpressungen, die auf das Material aus seiner Dachauer Zeit zurückgingen, ganz gut leben. Cain ließ sich über ihn die Honorare für seine Morde aushändigen.«

«Augenblick!«warf Knowlton ein.»Wir haben schon einmal über diesen Chernak gesprochen. Wenn Sie sich erinnern, war es der CIA, der ihn ursprünglich aufgespürt hatte. Sie vermuten, daß Cain Chernak benutzt hat, sie wissen ebensowenig wie wir, ob das stimmt.«

«Jetzt wissen wir es«, sagte Manning.»Vor siebeneinhalb Monaten erhielten wir einen Hinweis auf einen Mann, der ein Restaurant betrieb, das >Drei Alpenhäuser< heißt; man meldete uns, daß er Kontaktperson zwischen Cain und Chernak sei. Wir beobachteten ihn einige Wochen, aber es kam nichts dabei heraus; er war eine unbedeutende Figur in der Züricher Unterwelt, sonst nichts. Wir setzten die Beobachtung nicht lange genug fort. «Der Colonel hielt inne und vergewisserte sich, daß alle ihm zuhörten.»Als wir von dem Mord an Chernak erfuhren, versteckten sich zwei unserer Männer nach Restaurantschluß im >Drei Alpenhäuser<. Sie knöpften sich den Besitzer vor und beschuldigten ihn, mit Chernak zusammenzuarbeiten und auch für Cain tätig zu sein; sie zogen eine erstklassige Schau ab. Sie können sich ihre freudige Überraschung vorstellen, als der Mann weich wurde, buchstäblich auf die Knie fiel und darum bettelte, geschützt zu werden. Er gab zu, daß Cain in der Nacht, in der Chernak ermordet wurde, in Zürich gewesen war. Er hätte Cain tatsächlich vorher gesehen, und Chernak sei in ihrem Gespräch erwähnt worden — sehr negativ.«

Der Offizier hielt erneut inne.»Das ist wirklich ein Wort«, sagte David Abbott leise.

«Warum ist der CIA nicht vor sieben Monaten über diesen

Hinweis informiert worden?«fragte Knowlton mit schneidender Stimme.

«Weil er unbewiesen blieb.«

«Solange Sie nur davon wußten; wir hätten damit vielleicht mehr anfangen können.«

«Das ist möglich. Ich habe ja zugegeben, daß wir ihn nicht lange genug beobachtet haben. Unsere personellen Mittel sind beschränkt. Wer von uns kann es sich schon leisten, eine unproduktive Überwachung endlos lange fortzuführen?«

«Wenn Sie uns eingeweiht hätten, hätten wir uns die Arbeit ja teilen können.«

«Und wir hätten Ihnen die Mühe sparen können, die Akte Brüssel anzulegen, wenn Sie uns davon verständigt hätten.«

«Woher kam der Tip?«fragte Gillette ungeduldig, ohne Manning aus den Augen zu lassen.

«Er war anonym.«

«Wollen Sie etwa sagen, daß Sie nicht weiter nachgeforscht haben?«

«Natürlich haben wir das getan«, antwortete der Colonel gereizt.

«Offensichtlich ohne sehr großen Eifer«, fuhr Gillette verärgert fort.»Ist es Ihnen denn nicht in den Sinn gekommen, daß irgend jemand beim CIA oder im Sicherheitsrat vielleicht hätte helfen können, eine der Lücken zu füllen? Ich bin ganz Knowltons Meinung. Wir hätten informiert werden müssen.«

«Es gibt einen Grund dafür, warum das nicht geschehen ist. «Manning atmete tief.»Der Informant hat uns eindeutig erklärt, wenn wir eine andere Abteilung ins Spiel brächten, würde er den Kontakt mit uns abbrechen. Wir waren der Ansicht, uns dem fügen zu müssen; schließlich ist das nicht das erste Mal, daß wir so etwas getan haben.«

«Was haben Sie gesagt?«Knowlton starrte den PentagonBeamten fassungslos an.

«Das ist doch nichts Neues, Peter. Jeder von uns schafft sich seine eigenen Quellen und schützt sie.«

«Das weiß ich. Das ist auch der Grund, weshalb Sie nichts von Brüssel erfahren haben. Beide Informanten verlangten, daß das Militär nicht eingeschaltet werden dürfe.«

Nach einem kurzen Schweigen ertönte die schneidende Stimme von Alfred Gillette vom Sicherheitsrat.»Wie oft haben wir das schon getan, Colonel?«

«Was?«Manning sah Gillette an und spürte, daß David

Abbott sie beide scharf beobachtete.

«Ich hätte gerne gewußt, wie oft man von Ihnen verlangt hat, daß Sie Ihre Gewährsleute für sich behalten sollen. Ich beziehe mich damit natürlich auf Cain.«

«Recht häufig, denke ich.«

«Sie denken?«

«Meistens.«

«Und Sie, Peter? Was ist mit dem CIA?«

«Wir waren in puncto Tiefenverbreitung sehr eingeschränkt.«

«Um Himmels willen, was soll das denn bedeuten?«Die Unterbrechung kam von dem Gesprächsteilnehmer, von dem man sie am wenigsten erwartet hätte: vom

Kongreßabgeordneten.

«Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe noch gar nicht mit meinen Fragen angefangen. Ich möchte nur verstehen, was ich höre. «Er wandte sich dem CIA-Mann zu.»Was, zum Teufel, haben Sie gerade gesagt? Tiefen-was?«

«Verbreitung, Mr. Walters. Wir hätten riskiert, Informationen zu verlieren, wenn wir sie anderen Abwehreinheiten zur Kenntnis gebracht hätten. Ich kann Ihnen versichern, daß das üblich ist.«

«Ich bin nicht sicher, ob ich Sie verstanden habe.«

«Ich würde sagen, es ist verdammt klar, was Peter meint«, erwiderte Gillette und sah Colonel Manning und Peter Knowlton an.»Die beiden aktivsten Abwehrbehörden des Landes haben Informationen über Cain gesammelt und dabei nicht durch gegenseitige Konsultation überprüft, ob irgendwelche gezielten Falschmeldungen darunter sind. Wir haben einfach sämtliche Informationen als verläßliche Daten registriert.«

«Nun, ich bin ja schon ziemlich lang beim Fach — zugegeben, vielleicht zu lange — aber hier habe ich eigentlich bis jetzt noch nichts Neues gehört«, sagte der >Mönch<.»Gewährsmänner sind normalerweise schlaue und vorsichtige Leute; sie hüten ihre Kontakte eifersüchtig. Keiner von ihnen betreibt sein Geschäft als Wohltätigkeitsverein, ihn interessiert allein der Profit — und sein Überleben.«

«Ich fürchte, Sie übersehen da etwas. «Gillette nahm die Brille ab.»Ich sagte schon vorher, daß es mich beunruhigte, daß man so viele Morde der letzten Zeit Cain zugeschrieben hat — hier Cain zugeschrieben hat. Mir scheint, daß dabei dem raffiniertesten Mörder unserer Zeit — vielleicht der ganzen Geschichte — eine vergleichsweise unbedeutende Rolle zugedacht wird. Vielmehr ist Carlos der Mann, auf den wir uns konzentrieren sollten. Was ist aus Carlos geworden?«

«Da bin ich anderer Meinung, Alfred«, sagte der >Mönch<.»Die Zeiten von Carlos sind vorbei. Cain ist an seine Stelle getreten. Die alte Ordnung ändert sich; jetzt gibt es einen neuen und, wie ich vermute, viel gefährlicheren Hai in diesen Gewässern.«

«Dem kann ich nicht zustimmen«, sagte der Mann vom Sicherheitsrat, und seine Eulenaugen fixierten sein Gegenüber.»Sie müssen mir verzeihen, David, aber auf mich wirkt es so, als würde Carlos selbst diesen Ausschuß manipulieren. Er lenkt die Aufmerksamkeit von sich selbst auf eine Person von viel geringerer Wichtigkeit. Wir vergeuden unsere ganzen Energien damit, einen zahnlosen Sandhai zu jagen, während ein viel gefährlicheres Exemplar sich frei bewegen kann.«

«Niemand hat Carlos vergessen«, wandte Manning ein.»Er ist einfach nicht so aktiv, wie Cain das gewesen ist.«

«Vielleicht«, sagte Gillette mit eisiger Stimme,»ist es genau das, was Carlos uns glauben machen will. Und wir fallen auch noch darauf herein!«

«Die Liste von Cains Aktivitäten ist atemberaubend.«

«Ob ich daran zweifeln kann?«wiederholte Gillette.»Das ist eben die Frage, nicht wahr? Wir stellen jetzt fest, daß das Pentagon und der CIA praktisch unabhängig voneinander tätig waren, ohne sich über de Vertrauenswürdigkeit ihrer Gewährsleute abzustimmen.«

«Was wollen Sie damit sagen, Mr. Gillette?«

«Ich würde gerne mehr Informationen über die Aktivitäten eines gewissen Iljitsch Ramirez Sanchez haben. Das ist…«

«Carlos«, ergänzte der Kongreßabgeordnete.»Ich erinnere mich daran, von ihm gelesen zu haben. Ich verstehe. Danke. Bitte, fahren Sie fort, Gentlemen.«

Manning sagte schnell:»Kommen wir wieder auf Zürich zurück. Unsere Empfehlung ist, jetzt die Jagd auf Cain fortzusetzen. Wir sollten die Unterwelt auf ihn ansetzen, jeden Informanten, den wir besitzen, und verlangen, daß die Züricher Polizei uns unterstützt. Wir können es uns nicht leisten, auch nur noch einen Tag zu verlieren. Der Mann in Zürich ist Cain.«

«Was war dann in Brüssel?«Knowlton stellte die Frage ebenso sich wie den anderen am Tisch.

«Man hat Ihnen offensichtlich Falschmeldungen zugespielt«, sagte Gillette.»Und ehe wir irgendwelche dramatischen Schritte in Zürich unternehmen, empfehle ich, daß jeder von Ihnen die Cain-Akten gründlich studiert und jede einzelne Information überprüft. Veranlassen Sie Ihre Leute in Europa, sie sollen jeden Informanten gründlich unter die Lupe nehmen. Ich habe das Gefühl, daß Sie dann etwas feststellen werden, womit Sie nicht gerechnet haben: daß Ramirez Sanchez hinter all dem steckt und uns auf eine falsche Fährte gelockt hat.«

«Da Sie so auf Klärung erpicht sind, Alfred«, sagte Abbott,»warum erzählen Sie uns dann eigentlich nichts über den unbestätigten Zwischenfall, der sich vor sechs Monaten ereignet hat? Vielleicht hilft das uns weiter.«

Zum erstenmal während der ganzen Konferenz schien der Delegierte des Nationalen Sicherheitsrates nur zögernd Auskunft geben zu wollen.»Mitte August erhielten wir aus verläßlicher Quelle in Aixen-Provence die Nachricht, daß Cain nach Marseille unterwegs sei.«

«Im August?«rief der Oberst aus.»Marseille? Das war Leland! Botschafter Leland ist im August in Marseille erschossen worden.«

«Aber Cain hat diesen Schuß nicht abgegeben, sondern Carlos. Ballistische Untersuchungen, die man mit denen früherer Morde verglichen hat, haben das eindeutig bestätigt. Drei Zeugen haben einen dunkelhaarigen Mann im zweiten Stock der Lagerhalle im Hafen gesehen, der eine Tasche bei sich trug. Ihren Beschreibungen nach muß es sich um Carlos handeln. Es hat nie Zweifel daran gegeben, daß Leland von Carlos ermordet worden ist.«

«Herrgott!«schrie der Offizier.»Das ist nach der Tat! Gleichgültig, wer sie verübt hat, auf Leland war ein Kopfgeld ausgesetzt. War Ihnen das nicht in den Sinn gekommen? Hätten wir über Cain Bescheid gewußt, dann hätten wir Leland schützen können. Verdammt noch mal, er könnte heute noch am Leben sein!«

«Unwahrscheinlich«, erwiderte Gillette ruhig.»Leland war nicht der Typ Mann, der sich in einen Bunker verkriecht. Und wenn man bedenkt, welchen Lebensstil er pflegte, wäre eine Warnung ohnehin zwecklos gewesen. Auch mit einer abgestimmten Strategie hätten wir Leland nicht vor seinen

Verfolgern abschirmen können.«

«In welcher Hinsicht?«fragte der >Mönch< mit harter Stimme.

«Überlegen Sie doch. Unser Gewährsmann sollte am dreiundzwanzigsten August zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens in der Rue Sarrasin mit Cain Verbindung aufnehmen. Leland sollte erst am fünfundzwanzigsten eintreffen. Wie gesagt, wenn alles geklappt hätte, und Cain aufgetaucht wäre, hätten wir ihn erwischt. Aber er erschien nicht.«

«Und Ihr Gewährsmann bestand darauf, ausschließlich mit Ihnen zusammenzuarbeiten«, sagte Abbott.»Alle anderen lehnte er ab.«

«Ja«, erwiderte Gillette, der sich redliche Mühe gab, seine Verlegenheit zu verbergen, was freilich nicht gelang.»Nach unserer Einschätzung der Lage war die Gefahr für Leland beseitigt — was sich in bezug auf Cain auch als richtig erwies — und die Chancen, ihn festzunehmen, waren größer als je zuvor. Endlich hatten wir jemanden gefunden, der bereit war, Cain zu identifizieren. Hätte irgend jemand von Ihnen anders gehandelt?«

Die Vertreter der anderen Sicherheitsorgane reagierten mit Schweigen. Da wurde es dem Kongreßabgeordneten aus Tennessee zu bunt.

«Allmächtiger Jesus!.. Hier lügt doch einer mehr als der andere!«

Die Männer schauten sich irritiert an. David Abbott fand als erster die Sprache wieder.

«Erlauben Sie mir, Sir, daß ich Ihnen ein Lob ausspreche: Sie sind der erste aufrichtige Mann, den man uns bisher aus dem Kongreß geschickt hat. Die Tatsache, daß die ein wenig beklemmende Atmosphäre dieser von höchst sorgfältigen Sicherheitsvorkehrungen geprägten Umgebung Sie nicht einschüchtert, haben wir wohl bemerkt. Das ist sehr erfrischend.«

«Ich glaube nicht, daß Mr. Walters in vollem Umfang erkennt, wie empfindlich…«

«Schweigen Sie jetzt, Peter«, unterbrach ihn der >Mönch<.»Der Kongreßabgeordnete möchte etwas sagen.«

«Nur eine Kleinigkeit«, ergänzte Walters.»Ich dachte, Sie wären alle erwachsene Menschen. Sie sehen wenigstens alle so aus. In Ihrem Alter sollte man eigentlich ein wenig besser Bescheid wissen. Man erwartet von Ihnen, daß Sie intelligente

Gespräche führen und Informationen austauschen, ohne die nötige Vertraulichkeit zu brechen, und schließlich, daß Sie gemeinsam nach Lösungen suchen. Statt dessen gebärden Sie sich hier wie ein paar Halbstarke, die miteinander auf ein Karussell springen und sich streiten, wer die Freifahrt bekommt. Es ist wirklich eine Schande, wie das Geld der Steuerzahler vergeudet wird.«

«Sie stellen die Dinge zu einfach dar«, meinte Gillette.»Sie sprechen von einem utopischen Geheimdienstapparat.«

«Ich rede nur von vernünftigen Männern, Sir. Ich bin Anwalt, und ehe ich in diesen von Gott verlassenen Zirkus geriet, habe ich jeden Tag meines Lebens mit vertraulichen Dingen zu tun gehabt.«

«Worauf wollen Sie hinaus?«frage der >Mönch<.

«Eine Erklärung möchte ich. Achtzehn Monate lang habe ich in dem Unterausschuß gesessen, der sich mit den Mordanschlägen befaßte. Ich habe mich durch Tausende von Seiten hindurchgewühlt, die mit Hunderten von Namen und doppelt so vielen Theorien angefüllt waren. Ich kann mir nicht vorstellen, daß es eine Verschwörung oder einen mutmaßlichen Massenmörder gibt, von dem ich nicht weiß. Fast zwei Jahre habe ich mit diesen Namen und mit diesen Theorien gelebt, bis ich überzeugt war, ein fundiertes Bild von der Lage zu haben.«

«Ich würde sagen, das ist höchst beeindruckend«, unterbrach ihn Abbott.

«Schließlich habe ich auch den Vorsitz in diesem Ausschuß übernommen, weil ich dachte, ich könnte einen vernünftigen Beitrag leisten; aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher. Plötzlich beginne ich mich zu fragen, was ich jetzt tun soll.«

«Warum?«fragte Manning gespannt.

«Ich habe Ihnen zugehört, wie Sie vier eine Operation beschreiben, die seit drei Jahren in ganz Europa mit großem personellen Aufwand läuft. Alles dreht sich um einen Mörder, dessen >Erfolgsliste< atemberaubend ist. Stimmt das im wesentlichen?«

«Nur weiter«, erwiderte Abbott leise und hielt seine Pfeife fest.»Wie lautet Ihre Frage?«

«Wer ist er? Wer, zum Teufel, ist dieser Cain?«

Kapitel 16

Das Schweigen dauerte exakt fünf Sekunden, und während dieser Zeit musterten Augenpaare andere Augenpaare. Einige räusperten sich, und niemand bewegte sich auf seinem Stuhl. Es war, als sollte eine Entscheidung ohne Diskussion getroffen werden. Der Kongreßabgeordnete Efrem Walters, aus dem US-Staat Tennessee, Absolvent der Yale-Universität, ließ sich jedoch nicht mit allgemeinen Umschreibungen abspeisen. Mit schönen Worten war bei ihm nichts zu erreichen.

David Abbott legte seine Pfeife auf den Tisch, und das leise Klappern klang wie eine Ouvertüre zu seinen Worten.»Je weniger ein Mann wie Cain in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerät, desto besser ist es für alle.«

«Das ist keine Antwort«, sagte Walters.»Aber ich vermute, Sie wollen noch fortfahren.«

«Richtig. Er ist ein berufsmäßiger Killer, der alle Mordmethoden beherrscht, und politische oder persönliche Motive sind für ihn ohne Belang. Er ist ein Geschäftsmann, der ausschließlich ein Ziel verfolgt: Geld zu machen. Und je größer sein Ruf ist, desto mehr kann er für seine Dienste kassieren.«

Der Kongreßabgeordnete nickte.»Sie wollen also diesen Ruf nicht an die Öffentlichkeit dringen lassen, damit er möglichst wenig Propaganda bekommt.«

«Richtig. Es gibt auf dieser Welt zu viele Irre mit zu vielen echten oder eingebildeten Feinden, die leicht Kunden von Cain werden könnten, wenn sie von ihm wüßten. Unglücklicherweise sind das ohnehin schon mehr geworden, als uns lieb ist; bis zur Stunde kann man achtunddreißig Morde unmittelbar Cain zuschreiben und weitere zwölf bis fünfzehn mit einiger Wahrscheinlichkeit.«

«Und das ist seine >Referenzliste

«Ja. Und wir sind dabei, die Schlacht zu verlieren. Mit jedem neuen Mord wird sein Ruf weiter verbreitet.«

«Eine Weile war es still um ihn«, sagte Knowlton vom CIA.»Ein paar Monate lang dachten wir, es hätte ihn erwischt. Es gab ein paar Fälle, wo die Mörder selbst eliminiert wurden; wir nahmen an, er wäre einer davon gewesen.«

«Beispiele«, forderte Walters.

«Ein Bankier in Madrid, der Bestechungsgelder für die Europolitan Corporation für Regierungsgeschäfte in Afrika abzweigte. Er wurde aus einem fahrenden Auto auf dem Paseo de la Castellana erschossen. Sein Chauffeur und Leibwächter mähte den Fahrer und den Schützen um; eine Zeitlang glaubten wir, bei dem Schützen handle es sich um Cain.«

«Ich erinnere mich an den Zwischenfall. Wer könnte den Auftrag erteilt haben?«

«Eine beliebige Anzahl von Firmen«, antwortete Gillette,»die vergoldete Autos und Toilettensitze an Diktatoren verkaufen wollten.«

«Wer noch?«

«Scheich Mustafa Kalig in Oman«, sagte Colonel Manning.

«Es hieß doch, er sei bei einem gescheiterten Putschversuch getötet worden.«

«Stimmt nicht«, fuhr der Offizier fort.»Es gab gar keinen Putschversuch. G-Zwo-Informanten haben das bestätigt. Kalig war unpopulär. Mit dem angeblichen Putschversuch sollte seine Ermordung getarnt werden. Mitglieder des Offizierskorps wurden hingerichtet, um die Lüge glaubhaft erscheinen zu lassen. Eine Weile dachten wir, einer von ihnen sei Cain; der Zeitpunkt hätte gepaßt.«

«Wer würde Cain für die Ermordung Kaligs bezahlen?«

«Die Frage haben wir uns auch immer wieder gestellt«, sagte Manning.»Auf die einzig mögliche Antwort brachte uns ein Informant, der behauptete, Cain hätte die Tat begangen, einfach um zu beweisen, daß sie möglich war. Ihm möglich. Wenn Ölscheichs auf Reisen gehen, sind sie besser bewacht als sonst jemand auf der ganzen Welt.«

«Es gibt noch einige Dutzend weiterer Beispiele«, fügte Knowlton hinzu.»Darunter solche, bei denen in höchstem Grad geschützte Persönlichkeiten getötet wurden, und bei denen unsere Gewährsleute Cain als Täter nannten.«

«Ich verstehe. «Der Kongreßabgeordnete nahm das Blatt, das sich mit den Vorgängen in Zürich betaßte, in die Hand.»Aber nach dem, was ich bisher gehört habe, wissen Sie nicht, wer er ist.«

«Keine zwei Beschreibungen gleichen einander«, warf Abbott ein.»Cain versteht es offensichtlich meisterhaft, sich immer wieder ein neues Gesicht zu geben.«

«Und doch haben Ihre Gewährsleute, die Informanten, ihn gesehen, mit ihm gesprochen. Sie haben sie doch bestimmt verhört und nach ihren Angaben eine Phantomzeichnung angefertigt — irgend etwas.«

«Eine ganze Menge haben wir«, erwiderte Abbott,»aber dazu gehört keine detaillierte Beschreibung. Zunächst einmal läßt sich Cain nie bei Tageslicht blicken. Er hält seine Besprechungen in der Nacht ab, in abgedunkelten Räumen oder in finsteren Gassen. Wenn er je mit mehr als einer Person gleichzeitig gesprochen hat — als Cain — wissen wir davon nichts. Man hat uns gesagt, er würde bei der Unterhaltung nie stehen, immer sitzen — und das nur in schwach beleuchteten Restaurants oder auf einem Stuhl in einer Ecke oder in einem geparkten Wagen. Manchmal trägt er eine dunkle Brille, manchmal keine; bei einem Treffen hat er dunkles Haar, bei einem anderen weißes oder rotes oder trägt einen Hut.«

«Sprache?«

«Jetzt kommen wir der Sache näher«, sagte der CIA-Direktor, der offenbar großen Wert darauf legte, die gute Arbeit seiner Organisation ins rechte Licht zu rücken.»Englisch und Französisch beherrscht er fließend und ein paar orientalische Dialekte.«

«Was für Dialekte? Wäre da nicht zuerst eine Sprache zu erwähnen?«

«Natürlich. Vietnamesisch.«

«Vietnamesisch«, wiederholte Walters gedehnt und beugte sich vor.»Warum habe ich jetzt das Gefühl, daß ich damit auf etwas gestoßen bin, das Sie mir besser nicht gesagt hätten?«

«Weil Sie sich wahrscheinlich recht gut auf die Kunst des Kreuzverhörs verstehen.«

«Nun, passabel, würde ich sagen.«

«Wir wissen, woher Cain ursprünglich kam«, meldete sich Gillette zu Wort, und seine Augen musterten David Abbott kurze Zeit ganz seltsam.

«Woher?«

«Aus Südostasien«, antwortete Manning.»Soweit wir in Erfahrung bringen konnten, hat er sich die Dialekte, die man im Bergland an der kambodschanischen und laotischen Grenze spricht, hinreichend angeeignet, um sich verständigen zu können. Ebenso auch die von Nordvietnam. Wir nehmen das zunächst nur als Fakten auf — aber es paßt.«

«Paßt wozu?«

«Zur Operation Medusa. «Der Oberst griff nach einem schmalen Koffer, der links von ihm lag. Er öffnete ihn, entnahm ihm einen Ordner und legte ihn vor sich auf den Tisch.»Das ist die Akte Cain«, sagte er.»Die anderen Unterlagen im Koffer betreffen die Operation Medusa, genauer gesagt, diejenigen Aspekte, die in irgendeiner Weise Bezug zu Cain haben könnten.«

Der Mann aus Tennessee lehnte sich in seinem Sessel zurück, wobei sich seine Lippen zu einem zynischen Lächeln formten.»Wissen Sie, meine Herren, eigentlich machen Sie mir mit diesen hochtrabenden Namen richtig Spaß. Übrigens, Medusa klingt wirklich gut; ein wenig geheimnisvoll und höchst gefährlich. Ich kann mir vorstellen, daß Sie in Ihrer Branche einen Kurs in solchen Dingen absolvieren müssen. Weiter, Colonel. Was ist mit der Bezeichnung Medusa gemeint?«

Manning warf einen kurzen Blick zu David Abbott hinüber und sagte dann:»Während des Vietnam-Krieges, Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre, bildete man aus amerikanischen, französischen, britischen, australischen und eingeborenen Freiwilligen Einsatzkommandos, die in Gebieten operieren sollten, die von den Nordvietnamesen besetzt waren. Ihr Auftrag bestand in erster Linie darin, die feindlichen Verbindungs- und Versorgungslinien zu stören, Gefangenenlager ausfindig zu machen und nicht zuletzt auch die Dorfältesten zu töten, von denen man wußte, daß sie mit den Kommunisten kooperierten.«

«Es war ein Krieg im Krieg«, erläuterte Knowlton weiter.»Unglücklicherweise machte die rassische Eigenart und das Sprachproblem diese Operation so gefährlich, daß man überhaupt froh war, Freiwillige zu bekommen. Deshalb war die Wahl unter den Angehörigen westlicher Nationen nicht immer so sorgsam, wie es vielleicht hätte sein können.«

«Diesen Teams«, fuhr der Oberst fort,»gehörten Marineveteranen an, die die Küstenbereiche kannten, oder französische Plantagenbesitzer, die nur bei einem amerikanischen Sieg hoffen konnten, ihr Land zu behalten. Darunter waren auch ehrgeizige amerikanische Offiziere aus der Armee und den zivilen Abwehrorganisationen. Außerdem gab es natürlich, was in solchen Fällen immer unvermeidbar ist, unter ihnen eine erhebliche Anzahl von Kriminellen. Männer, die mit Waffenschmuggel, Drogenhandel, Gold und

Diamanten ihr Geld verdienten und ihre Waren im ganzen Südchinesischen Meer vertrieben. Sie wußten, wo man nachts unbehelligt mit dem Hubschrauber landen konnte, welche Dschungelpfade am Feind vorbeiführten.«

«Ein ganz schön bunter Haufen«, meinte Walters.»Wie, zum Teufel, haben Sie es fertiggebracht, daß die miteinander auskamen?«

«Da gab es keine nennenswerten Schwierigkeiten«, erläuterte der Oberst.»Wir haben ihnen verlockende Versprechungen gemacht: Beförderungen, Begnadigungen,

Geldprämien, je nachdem. Sehen Sie, die mußten alle ein wenig verrückt sein; das begriffen wir. Wir bildeten sie heimlich zu Einzelkämpfern aus. Wie Peter schon erwähnte, war das Risiko unglaublich groß — eine Gefangennahme führte gewöhnlich zu Folterung und Hinrichtung; der Preis war hoch, und sie bezahlten ihn. Die meisten Leute hätten Sie als Paranoide bezeichnet, aber wenn es um Störung der feindlichen Nachschublinien oder Tötungskommandos ging, waren sie genial. Besonders wenn es ums Töten ging.«

«Und wie hoch waren die Verluste?«

«Die Operation Medusa hatte mehr als neunzig Prozent Ausfälle zu beklagen. Unter denjenigen, die nicht zurückkamen, gab es allerdings einige, die das gar nicht beabsichtigten.«

«Sicherlich die Kriminellen.«

«Ja. Einige sind mit beträchtlichen Geldbeträgen untergetaucht, die für die Operation Medusa bereitgestellt waren. Wir glauben, daß Cain einer dieser Männer ist.«

«Warum?«

«Er hat später Codes, Finten und Tötungsmethoden benutzt, die beim Medusa-Training entwickelt worden sind.«

«Um Himmels willen«, unterbrach ihn Walters,»dann haben Sie ja einen direkten Draht zu seiner Identität!«

«Leider nicht. Wir haben alle Akten studiert, die wir über die Operation Medusa angelegt haben — ohne Erfolg. Wir sind nicht schlauer als zuvor.«

«Das ist unglaublich«, sagte der Kongreßabgeordnete.»Oder es zeugt von totaler Unfähigkeit.«

«Nein, keinesfalls«, wandte Manning ein.»Sehen Sie sich den Mann an. Nach dem Kriege agierte Cain überall in Ostasien: auf den Philippinen, in Malaysia, Japan,

Kambodscha und Laos. Vor etwa zweieinhalb Jahren erfuhren wir über unsere asiatischen Agenten und Gesandtschaften von Cain, der gegen Geld professionell und rücksichtslos jeden Mordauftrag ausführte. Die Berichte nahmen mit erschreckender Häufigkeit zu. Es schien, als hätte Cain bei praktisch jedem Mord von einiger Bedeutung die Hand im Spiel. Cain war überall. Und doch war niemand in der Lage, uns den entscheidenden Wink zu geben. Wo sollten wir da mit der Suche beginnen?«

«Hatten Sie unterdessen nicht schon festgestellt, daß er bei der Operation Medusa dabeigewesen war?«fragte der Mann aus Tennessee.

«Ja. Das ist eindeutig. «Der Oberst klappte den Aktendeckel auf.»Hier sind die Verlustlisten. Während der Operation Medusa sind dreiundsiebzig Amerikaner, sechsundvierzig Franzosen, neununddreißig Australier und vierundzwanzig Briten spurlos verschwunden. Darüber hinaus sind aber noch etwa fünfzig Weiße als vermißt gemeldet, die von neutralen Kräften in Hanoi angeheuert worden sind. Die meisten von ihnen kannten wir überhaupt nicht. Wer von diesen Männern lebt? Wer ist tot? Selbst wenn wir die Namen aller Überlebenden erführen, wüßten wir nicht, wo sie sich jetzt aufhalten. Wir sind uns nicht einmal in bezug auf Cains Staatsangehörigkeit sicher. Vermutlich ist er Amerikaner. Aber es gibt keine Beweise dafür.«

Walters hob die Hand.»Darf ich?«sagte er und wies mit einer Kopfbewegung auf die zusammengehefteten Seiten.

«Sicher. «Der Offizier sah den Kongreßabgeordneten an.»Sie sind sich natürlich darüber im klaren, daß alle Namen immer noch als Verschlußsache gelten, ebenso wie Operation Medusa selbst.«

«Wer hat diese Entscheidung getroffen?«

«Es handelt sich dabei um eine Anweisung aus dem Weißen Haus, die auf den Empfehlungen der Vereinigten Stabschefs beruht. Sie ist auch vom Militärausschuß des Senates unterstützt worden.«

«Ziemlich aufwendig, nicht wahr?«

«Man war der Ansicht, es läge im nationalen Interesse«, sagte der CIA-Mann.

«Dann will ich nichts sagen«, meinte Walters.»Wir würden uns nicht gerade mit Ruhm bekleckern, wenn die Sache herauskäme. Die Vereinigten Staaten bilden offiziell keine Killer aus, geschweige denn, daß sie sie für militärische

Zwecke einsetzen. «Er blätterte in der Akte.»Und irgendwo gibt es einen Mörder, den wir ausgebildet haben und nicht mehr finden können.«

«So ist es«, bestätigte der Oberst.

«Sie sagen, er hätte sich seinen Ruf in Asien erworben, und sei dann in Europa aktiv geworden. Wann war das?«

«Vor etwa einem Jahr.«

«Warum? Haben Sie eine Vorstellung?«

«Das liegt ja wohl auf der Hand«, meinte Peter Knowlton.»Er hat sich zu weit vorgewagt. Irgend etwas ist schiefgegangen, und er fühlte sich bedroht.«

David Abbott räusperte sich.»Ich möchte noch eine andere Möglichkeit zur Diskussion stellen. Eine Bemerkung von Alfred hat mich auf den Gedanken gebracht.«>Der Mönch< hielt inne und nickte Gillette freundlich zu.»Er sagte vorhin, wir würden uns auf einen >zahnlosen Hai< konzentrieren, während ein viel gefährlicheres Exemplar unbehindert zuschlagen kann. Ich glaube, so hatten Sie sich ausgedrückt, nicht wahr?«

«Ja«, sagte Gillette.»Damit meinte ich natürlich Carlos. Wir sollten nicht Jagd auf Cain machen — Carlos ist der entscheidende Mann.«

«Natürlich. Carlos ist der raffinierteste Killer in der modernen Geschichte, auf dessen Konto unzählige Morde gehen. Sie hatten ganz recht, Alfred, wir können uns nicht leisten, Carlos zu vergessen. Ich habe mir überlegt, welche Versuchung Europa für einen Mann wie Cain bedeutet haben muß, der in einem Gebiet operierte, das mit Flüchtlingen überschwemmt ist, in dem korrupte Regimes die politische Macht innehaben. Wie muß er Carlos beneidet haben, wie eifersüchtig muß er auf das reiche, verlockende Europa geblickt haben! Wie oft mag er sich gesagt haben: Ich bin besser als Carlos! Ganz gleich, wie kaltblütig diese Burschen auch sind, ihr Ego ist ungeheuer groß. Ich behaupte, er ging nach Europa, um jene bessere Welt zu finden… und um Carlos zu entthronen.«

Gillette starrte den >Mönch< an.»Eine interessante Theorie.«

«Wenn ich Sie richtig verstehe«, warf der Kongreßabgeordnete ein,»könnten wir schließlich Carlos finden, indem wir Cain jagen.«

«Genau das meine ich.«

«Ich bin nicht sicher, daß ich Ihnen folgen kann«, sagte der CIA-Direktor verärgert.

«Zwei Hengste in einer Koppel geraten aneinander«, drückte Walters es bildlich aus.

«Ein Champion gibt seinen Titel nie freiwillig ab. «Abbott griff nach seiner Pfeife.»Er kämpft mit allen Mitteln darum, ihn zu behalten. Wir bleiben Cain weiter auf den Fersen und halten gleichzeitig nach anderen Spuren Ausschau. Und wenn wir Cain gefunden haben, sollten wir uns so lange zurückhalten, bis auch Carlos ihn aufgespürt hat.«

«Und dann beide schnappen«, fügte der Colonel hinzu.

Die Besprechung war vorüber, die Teilnehmer brachen auf. David Abbott stellte sich neben den Oberst, während der die einzelnen Blätter der Medusa-Akte einsammelte; er wollte gerade die Liste mit den Opfern auf den Haufen legen, als

Abbott ihn fragte:»Darf ich mal sehen? Bei uns haben wir keine Kopie davon erhalten.«

«Das waren unsere Instruktionen«, erwiderte der Offizier und reichte dem älteren Mann die zusammengehefteten Blätter.»Ich dachte, die wären von Ihnen gekommen. Nur das Pentagon, der CIA und der Nationale Sicherheitsrat besitzen ein Exemplar.«

Der Oberst wandte sich ab, um eine Frage zu beantworten, die der Kongreßabgeordnete aus Tennessee gestellt hatte. David Abbott hörte nicht zu; seine Augen huschten über die Namensliste; er war beunruhigt. Einige waren ausgestrichen worden, um woanders registriert zu werden. Und das war etwas, das nicht hätte geschehen dürfen. Nie. Wo stand der

Name? Er war der einzige Mann im Raum, der ihn kannte, und er spürte das Pochen in seiner Brust, als er die letzte Seite erreichte. Da fand er ihn.

Borowski, Jason C.Letzter bekannter Aufenthaltsort: Tam Quan. Was, um Himmels willen, war passiert?

Rene Bergeron knallte wütend den Telefonhörer auf die Gabel.»Wir haben jedes Cafe, jedes Restaurant und jedes Bistro abgesucht, in dem sie je war.«

«In ganz Paris gibt es kein Hotel, in dem er eingetragen ist«, sagte der grauhaarige Telefonist, der an einem zweiten Telefon vor einem Zeichentisch saß.»Jetzt sind es schon mehr als zwei Stunden; sie könnte längst tot sein.Wenn nicht, dann wünscht sie vielleicht, daß sie es wäre.«

«Viel kann sie ihm nicht sagen«, sinnierte Bergeron.»Sie weiß nichts von den alten Männern.«

«Sie weiß genug; sie hat Parc Monceau angerufen.«

«Sie hat Nachrichten weitergegeben; an wen, weiß sie nicht.«

«Aber die Gründe kennt sie.«

«Die kennt Cain auch, davon bin ich überzeugt. Und mit Parc Monceau würde er einen grotesken Irrtum begehen. «Bergeron beugte sich vor, und seine kräftigen Unterarme spannten sich, als er die Hände ineinander verschränkte, ohne dabei den grauhaarigen Mann aus den Augen zu lassen.»Sagen Sie mir noch einmal alles, woran Sie sich erinnern. Warum sind Sie so sicher, daß er Borowski ist?«

«Das weiß ich nicht. Ich sagte, daß er Cain sei. Wenn Sie seine Methoden richtig beschrieben haben, ist er der Mann.«

«Borowski ist Cain. Wir haben ihn über die Medusa-Akten gefunden. Deshalb sind Sie ja eingestellt worden.«

«Dann ist er Borowski; aber das ist nicht der Name, den er benutzt hat. Natürlich, bei Medusa gab es eine ganze Anzahl von Leuten mit Vorstrafen, die nicht gestatteten, daß man ihre echten Namen gebrauchte. Für sie wurden neue Namen gefunden. Vielleicht war er einer von diesen Männern.«

«Warum gerade er? Andere sind auch verschwunden. Sie etwa.«

«Ich habe ihn in Aktion beobachtet. Ich war bei einem Einsatz dabei, den er leitete. Was da passierte, werde ich nie mehr vergessen. Dieser Mann könnte Ihr Cain sein, ist es wahrscheinlich auch.«

«Erzählen Sie.«

«Wir sprangen eines Nachts in einem Sektor, der Tam Quan hieß, mit dein Fallschirm ab. Unsere Aufgabe war es, einen Amerikaner namens Webb herauszuholen, der von den Vietcong festgehalten wurde. Wir wußten das vorher nicht. Die Chance, lebend davonzukommen, war minimal. Als wir unser Ziel erreichten, wurde der Hubschrauber in der Luft von Orkanböen erfaßt. Trotzdem befahl er uns abzuspringen.«

«Und Sie haben gehorcht?«

«Er bedrohte uns mit der Pistole. Er zielte auf jeden einzelnen von uns, als wir an die Luke traten.«

«Wie viele waren Sie denn?«

«Zehn.«

«Sie hätten ihn überwältigen können.«

«Sie kannten ihn nicht.«

«Weiter«, sagte Bergeron, der an seinem Schreibtisch saß und gespannt zuhörte.

«Acht von uns gruppierten sich auf dem Boden neu. Zwei hatten, wie wir annahmen, den Sprung nicht überlebt. Es überraschte mich selbst, daß ich heil runtergekommen bin. Ich war der Älteste und nicht gerade ein Bulle von Mann, aber ich kannte die Gegend sehr gut; deshalb hatte man mich mitgeschickt. «Er hielt inne und schüttelte den Kopf.»Kaum eine Stunde später erkannten wir, daß wir in eine Falle geraten waren. Wir rannten wie die Eidechsen durch den Dschungel. Und während der Nacht wagte er sich alleine hinaus, um zu töten, und kam immer wieder vor der Morgendämmerung zurück, um uns näher und näher an das Stützpunktlager zu scheuchen. Ich hielt das damals für reinen Selbstmord.«

«Warum haben Sie das getan? Er mußte Ihnen doch einen Grund nennen; Sie arbeiteten für Medusa, Sie waren keine regulären Soldaten.«

«Er sagte, es sei die einzige Möglichkeit, lebend herauszukommen, und darin lag eine gewisse Logik. Wir befanden uns weit hinter den Linien; wir brauchten die Vorräte, die wir in dem Lager finden konnten. Er sagte, wenn sich jemand widersetze, würde er ihm eine Kugel in den Kopf jagen. In der dritten Nacht nahmen wir das Lager ein und fanden den Mann namens Webb mehr tot als lebendig, aber er atmete noch. In dem Camp waren auch die zwei fehlenden Mitglieder unseres Teams: ein Weißer und ein Vietnamese. Die Vietcong hatten sie bezahlt, um uns in die Falle zu locken — ihn in die Falle zu locken, vermute ich.«

«Cain?«

«Ja. Der Vietnamese sah uns zuerst und entkam. Dem weißen Mann schoß Cain in den Kopf. So wie man mir erzählt hat, ging er einfach auf ihn zu und schoß.«

«Hat er Sie zurückgebracht? Durch die Linien?«

«Ja. Vier von uns und den schwerverwundeten Webb. Fünf Männer wurden getötet. Während jener schrecklichen Flucht zurück glaubte ich zu begreifen, warum die Gerüchte vielleicht zutreffen könnten, daß er der höchstbezahlte Söldner von Medusa wäre.«

«In weichem Sinne?«

«Er war der skrupelloseste Mann, den ich je gesehen habe, gefährlicher und unberechenbarer als alle anderen. Alle

Menschen waren seine Feinde, die mächtigen ganz besonders. «Wieder hielt der grauhaarige Mann inne, den Blick auf den Zeichentisch gewandt, die Gedanken offensichtlich Tausende von Meilen entfernt.»Bedenken Sie, Medusa bestand aus höchst unterschiedlichen, verzweifelten Männern. Gemein war ihnen der Haß auf die Kommunisten. Einigen — so wie mir — hatten die Viet Minh ein Vermögen gestohlen. Die einzige Chance, es wiederzugewinnen, bestand darin, daß die Amerikaner den Krieg gewannen. Frankreich hatte uns in Dien Bien Phu im Stich gelassen. Aber es gab Dutzende, die sahen, daß man mit Medusa ein Vermögen verdienen konnte. Die Kuriertaschen enthielten oft bis zu fünfundsiebzigtausend amerikanische Dollar. Ein Kurier, der bei zehn, fünfzehn Einsätzen jeweils die Hälfte davon wegnahm, konnte sich in Singapur oder Kuala Lumpur zur Ruhe setzen oder einen Rauschgifthandel im Dreieck aufbauen. Abgesehen von der exorbitanten Bezahlung oder der Begnadigung für ehemalige Verbrechen, waren die Möglichkeiten unbeschreiblich. Cain war ein moderner Pirat.«

Bergeron löste die Hände voneinander.»Warten Sie einen Augenblick. Sie verwendeten die Formulierung: >einen

Einsatz, den er befehligte<. Sind Sie wirklich sicher, daß er kein amerikanischer Offizier war?«

«Sicher Amerikaner, aber kein Berufssoldat.«

«Warum?«

«Er haßte alles Militärische. Der Abscheu, den er für das Kommando in Saigon empfand, war aus jeder Entscheidung zu entnehmen, die er traf; er hielt die Militärs für Narren und für unfähig. Einmal erhielten wir über Funk in Tam Quan Befehle. Er unterbrach die Leitung und erklärte einem Brigadegeneral, er könne ihn mal — er würde den Anweisungen nicht folgen. Ein Offizier hätte so etwas nie getan.«

«Es sei denn, er war im Begriff, seinen Beruf aufzugeben«, sagte Bergeron.»So wie Paris Sie im Stich gelassen hat, und Sie haben sich größte Mühe gegeben, so viel Geld wie möglich von Medusa zu stehlen und ihre eigenen, nicht gerade patriotischen Aktivitäten vorzubereiten — wo immer Sie das konnten.«

«Mein Land hat mich verraten, ehe ich es verraten habe, Rene.«

«Zurück zu Cain. Sie sagen, Borowski sei nicht der Name gewesen, den er benutzte. Welchen dann?«

«Ich erinnere mich nicht. Wie gesagt, für viele waren Familiennamen nicht wesentlich. Für mich war er einfach >Delta<.«

«Abgeleitet vom Mekongdelta?«

«Nein, aus dem Alphabet, denke ich.«

«Alpha, Bravo, Charlie… Delta«, sagte Bergeron nachdenklich in englischer Sprache.»Aber in vielen Operationen wurde das Codewort >Charlie< durch >Cain< ersetzt, weil >Charlie< ein Synonym für die Vietcong geworden war. Aus >Charlie< wurde >Cain<.«

«Ganz richtig. Ebensogut hätte er >Echo< oder >Foxtrott< oder >Zulu< auswählen können. Worauf wollen Sie hinaus?«

«Er hat Cain ganz bewußt gewählt. Es war symbolisch. Er wollte es von Anfang an klarstellen.«

«Was klarstellen?«

«Daß Cain Carlos ersetzen würde. Überlegen Sie doch: >Carlos< ist das spanische Wort für Charles oder Charlie. Das Codewort >Cain< wurde für >Charlie< — Carlos eingesetzt. Das war von Anfang an seine Absicht. Cain würde Carlos verdrängen, und er wollte, daß Carlos es wußte.«

«Und weiß es Carlos?«

«Natürlich. In allen westeuropäischen Hauptstädten ist das bekannt. Cain bietet seine Dienste an. Sein Preis ist niedriger als das Honorar, das Carlos verlangt. Damit zerstört er konstant Carlos' Prestige.«

«Zwei Matadore im selben Ring. Einer muß weichen.«

«Das wird Cain sein. Wir haben diesem aufgeblasenen Spatzen eine Falle gestellt. Er befindet sich irgendwo in Paris.«

«Aber wo?«

«Schwer zu sagen. Wir werden ihn schon finden. Schließlich hat er uns gefunden. Er wird zurückkommen und dann wird der Adler herunterstoßen und den Sperling greifen. Carlos wird ihn töten.«

Der alte Mann schob sich die Krücke unter dem linken Arm zurecht, zog den schwarzen Vorhang zur Seite und trat in den Beichtstuhl. Er fühlte sich nicht wohl; die Blässe des Todes stand ihm ins Gesicht geschrieben, und er war froh, daß die Gestalt im Priestertalar jenseits der Gitterwand ihn nicht klar sehen konnte. Der Mörder würde ihm vielleicht keine weitere Arbeit geben, wenn er zu erschöpft wirkte, um sie durchzuführen; aber er brauchte jetzt Arbeit. Es blieben ihm nur noch Wochen, und er trug Verantwortung.

«Angelus Domini«, sagte er.

«Angelus Domini, Kind Gottes«, flüsterte die Stimme.»Sind deine Tage angenehm?«

«Sie neigen dem Ende zu, aber sie werden mir angenehm gemacht.«

«Ja? Ich glaube, daß das Ihre letzte Aufgabe für mich sein wird. Sie ist jedoch von solcher Wichtigkeit, daß Ihr Lohn das fünffache des Normalen betragen wird. Ich hoffe, das hilft Ihnen.«

«Danke, Carlos. Sie wissen es also.«

«Ja. Sie müssen folgendes dafür tun und die Information muß diese Welt mit Ihnen verlassen. Für Irrtum ist jetzt kein Platz.«

«Ich bin immer genau gewesen. Ich werde auch jetzt sorgfältig ausführen, was Sie verlangen.«

«Sterben Sie in Frieden, alter Freund. So ist es leichter… Sie werden zur vietnamesischen Botschaft gehen und sich nach einem Attache namens Phan Loc erkundigen. Wenn Sie alleine mit ihm sind, sprechen Sie die folgenden Worte zu ihm: Ende März 1968; Medusa; der Tam-Quan-Sektor. Cain war dort. Und noch ein anderer. Wiederholen Sie.«

«Ende März 1968; Medusa; der Tam-Quan-Sektor. Cain war dort. Und noch jemand.«

«Er wird Ihnen sagen, wann Sie zurückkehren sollen. Es kann sich nur um Stunden handeln.«

Kapitel 17

«Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, daß wir uns über einen Fiche confidentielle aus Zürich unterhalten.«

«Mein Gott!«

«Ich bin nicht der Mann, den Sie suchen.«

Borowski packte die Hand der Frau und hielt sie fest, um sie zu hindern, aus dem eleganten Restaurant in Argenteuil, ein paar Meilen außerhalb von Paris, zu rennen. Sie waren alleine in der Nische.

«Wer sind Sie?«Jacqueline Lavier versuchte ihre Hand wegzuziehen. Die Adern an ihrem gepflegten Hals traten hervor.

«Ein reicher Amerikaner, der auf den Bahamas lebt. Glauben Sie das nicht?«

«Ich hätte es wissen müssen«, sagte sie.»Keine Kreditkarten, kein Scheck — nur Bargeld. Sie haben sich die Rechnung nicht einmal angesehen.«

«Die Preisschilder auch nicht. Das war es ja, was Sie zu mir geführt hat.«

«Ich war eine Närrin. Die Reichen sehen sich die Preise immer an, und sei es nur, weil sie es genießen, eigentlich nicht auf sie achten zu müssen. «Während die Frau redete, sah sie sich um. Sie suchte nach einem Fluchtweg, nach einem Kellner, den sie herbeirufen konnte.

«Nicht!«sagte Jason, der ihre Augen beobachtete.»Das wäre unsinnig. Es ist besser für uns beide, wenn wir uns unterhalten.«

Die Frau starrte ihn an. Das Summen in dem großen, von Kandelabern dezent erleuchteten Raum und das gelegentliche Aufflackern von leisem Gelächter an den umliegenden Tischen betonte das feindselige Schweigen noch, das sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte.

«Ich frage Sie noch einmal«, sagte sie.»Wer sind Sie?«

«Mein Name ist nicht wichtig. Belassen wir es bei dem, den ich Ihnen genannt habe.«

«Briggs? Der ist falsch.«

«Das ist Larousse auch, der auf dem Mietvertrag des

Wagens steht, mit dem drei Killer von der Valois-Bank weggefahren sind. Dort haben sie mich verpaßt. Und heute nachmittag am Pont Neuf auch.«

«O Gott!«rief sie und versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen.

«Nicht, habe ich gesagt!«Borowski hielt sie fest, zog sie zurück.

«Und wenn ich schreie, Monsieur?«In der gepuderten Maske waren jetzt Risse sichtbar, und ihr böser, giftiger Blick, dazu die grellroten Lippen, verstärkten den Eindruck eines in die Enge getriebenen Tieres.

«Dann schrei ich noch lauter«, erwiderte Jason.»Man würde uns beide hinauswerfen, und sobald wir einmal draußen sind, bin ich sicher, daß ich mit Ihnen fertig werden würde. Warum wollen Sie denn nicht reden? Wir könnten etwas voneinander erfahren. Schließlich sind wir Angestellte, keine Arbeitgeber.«

«Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«

«Dann will ich anfangen. Vielleicht ändern Sie noch Ihre Meinung. «Er lockerte vorsichtig seinen Griff. Die Spannung blieb in ihrem weißen gepuderten Gesicht.»Sie haben in Zürich einen Preis bezahlt. Wir auch. Offensichtlich mehr als Sie. Wir sind hinter demselben Mann her; wir wissen, warum wir ihn haben wollen. «Er ließ sie los.»Und warum wollen Sie ihn?«

Die Frau musterte ihn stumm mit verärgerten und doch zugleich verängstigten Augen. Borowski merkte, daß er die Frage richtig formuliert hatte; es wäre ein gefährlicher Fehler von Jacqueline Lavier, weiter zu schweigen.

«Wer ist >wir

«Eine Firma, die ihr Geld will. Eine stattliche Summe. Er hat es.«

«Dann hat er sie sich nicht verdient?«

Jason mußte vorsichtig sein. Man rechnete damit, daß er wesentlich mehr wußte, als ihm tatsächlich bekannt war.»Nun, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen.«

«Wie ist das möglich? Entweder hat er sich das Geld verdient oder nicht. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.«

«Jetzt bin ich an der Reihe«, sagte Borowski.»Sie haben meine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet, und ich bin Ihnen nicht ausgewichen. Jetzt wollen wir den Spieß umdrehen: Warum wollen Sie ihn haben? Warum steht die Geheimnummer eines der besseren Geschäfte von Saint-

Honore auf einem fiche in Zürich?«

«Das war eine Gefälligkeit, Monsieur.«

«Für wen?«

«Sind Sie wahnsinnig?«

«Also gut, lassen wir das für den Augenblick. Wir glauben ohnehin, daß wir es wissen.«

«Unmöglich!«

«Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es war also eine Gefälligkeit… vielleicht einen Menschen zu töten?«

«Ich habe nichts zu sagen.«

«Und doch versuchten Sie vor zwei Minuten wegzulaufen, als ich den Wagen erwähnte. Das sagt ja auch etwas.«

«Eine völlig natürliche Reaktion. «Jacqueline Lavier berührte den Stiel ihres Weinglases.»Ich habe den Mietvertrag veranlaßt. Es macht mir nichts aus, Ihnen das zu erzählen, weil es keine Beweise dafür gibt. Sonst weiß ich von nichts. «Plötzlich packte sie das Glas fester, und ihr maskenhaftes Gesicht verriet Wut und Angst.»Wer sind Sie eigentlich, Sie und die Leute, die hinter Ihnen stehen?«

«Das sagte ich Ihnen bereits: eine Firma, die ihr Geld zurück haben möchte.«

«Sie stören! Verschwinden Sie aus Paris! Lassen Sie die Finger davon!«

«Warum sollten wir das tun? Schließlich sind wir diejenigen, die einen finanziellen Schaden erlitten haben; wir wollen nur, daß die Bilanz ausgeglichen wird, darauf haben wir ein Recht.«

«Auf gar nichts haben Sie ein Recht!«fuhr die Frau ihn an.»Sie haben den Irrtum begangen, und Sie werden dafür zahlen!«

«Irrtum?«Er mußte sehr vorsichtig sein. Er war dem Ziel nahe.

«Hören Sie doch auf! Es gibt keinen Irrtum, den das Opfer begehen kann.«

«Der Irrtum lag in Ihrer Wahl, Monsieur. Sie haben den falschen Mann gewählt.«

«Er hat Millionenbeträge gestohlen«, sagte Jason.»Das ist Ihnen bekannt. Und wenn Sie glauben, daß Sie es ihm wegnehmen können — was das gleiche wäre, als wenn Sie es uns wegnehmen —, dann machen Sie einen großen Fehler.«

«Wir wollen kein Geld!«

«Das freut mich zu wissen. Wer ist >wir

«Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie wüßten das.«

«Ich sagte, wir hätten eine Ahnung. Unsere Informationen reichen aus, um einen Mann namens Koenig in Zürich und d'Amacourt hier in Paris auffliegen zu lassen. Wenn wir uns entscheiden, das zu tun, könnte sich das als ziemlich peinlich erweisen, nicht wahr?«

«Peinlich? Das ist völlig unwichtig. Sie verzehren sich förmlich vor Dummheit, Sie alle! Ich sage es Ihnen noch einmal: Verlassen Sie Paris! Lassen Sie die Finger davon! Das betrifft Sie nicht mehr.«

«Und wir sind nicht der Meinung, daß es Sie betrifft. Offen gestanden, wir glauben nicht, daß Sie die Kompetenz dazu besitzen.«

«Kompetenz?«wiederholte sie, als könnte sie das, was sie gehört hatte, nicht glauben.

«Ja, richtig.«

«Haben Sie denn eine Ahnung, was Sie da sagen? Über wen Sie hier reden?«

«Wenn Sie sich jetzt nicht zurückziehen, werde ich empfehlen, alles auffliegen zu lassen. Wir brauchen bloß die Machenschaften der Valois-Bank den richtigen Leuten zukommen zu lassen, um eine großangelegte Fahndung auszulösen.«

«Sie sind wirklich wahnsinnig und ein Narr obendrein.«

«Ganz und gar nicht. Wir haben Freunde an sehr wichtigen Positionen; wir bekommen die Informationen immer als erste. Wir werden zur richtigen Zeit am richtigen Ort warten. Dann schnappen wir ihn uns.«

«Das werden Sie nicht! Er wird wieder verschwinden. Können Sie das denn nicht verstehen? Er ist in Paris, und ein ganzes Netz von Leuten, die er unmöglich kennen kann, macht Jagd auf ihn. Er mag einmal entkommen sein, zweimal meinetwegen, aber ein drittes Mal wird das nicht passieren! Er sitzt jetzt in der Falle. Wir haben ihn umzingelt.«

«Wir wollen nicht, daß Sie ihm eine Falle stellen. Das liegt nicht in unserem Interesse. «Das war jetzt fast der richtige Augenblick, dachte Borowski — fast, aber nicht ganz. Ihre Angst mußte die gleiche Intensität erreichen wie ihr Ärger.»Hier ist unser Ultimatum, und wir machen Sie dafür verantwortlich, daß Sie es übermitteln — andernfalls geht es Ihnen wie Koenig und d'Amacourt. Blasen Sie die Jagd für heute Abend ab. Wenn nicht, schlagen wir morgen in aller

Frühe zu. >Les Classiques< wird plötzlich ganz neue Kunden bekommen. Ich glaube allerdings nicht, daß Sie sich über diese Art von Popularität freuen werden.«

«Das würden Sie nicht wagen! Wer sind Sie, daß sie mir damit drohen?«

Er wartete einen Augenblick und schlug dann zu.»Ich gehöre zu einer Gruppe von Leuten, die nicht viel von Ihrem Carlos halten.«

Ihr gepudertes Gesicht erstarrte; ihre Augen waren geweitet.»Sie wissen es also«, flüsterte sie.»Und Sie glauben, Sie können sich gegen ihn stellen? Sie meinen wirklich, daß Sie Carlos gewachsen sind?«

«Ja.«

«Sie sind wahnsinnig! Einem Carlos kann man kein Ultimatum stellen.«

«Das habe ich aber gerade getan.«

«Dann sind Sie demnächst ein toter Mann. Sie brauchen bloß zu irgend jemandem ein Wort zu sagen — und Sie überleben den Tag nicht mehr. Er hat überall seine Leute; die werden Sie auf der Straße erschießen.«

«Das könnte durchaus sein. Dazu müßten sie aber wissen, wen sie umlegen sollen«, sagte Jason.»Doch mich kennt niemand. Aber wer Sie sind, wissen sie. Und Koenig. Und d'Amacourt. Wir brauchen Sie bloß auffliegen zu lassen, und schon würden die Sie erledigen. Carlos könnte Sie sich nicht mehr leisten.«

«Jetzt vergessen Sie etwas, Monsieur: Ich kenne Sie.«

«Das ist meine geringste Sorge. Sie halten schon den Mund, weil Sie Ihre eigene Haut retten wollen.«

«Das ist totaler Irrsinn! Sie tauchen aus dem Nichts auf und sprechen wie ein Irrer. Sie können das nicht tun.«

«Schlagen Sie einen Kompromiß vor?«

«Das wäre vorstellbar«, sagte Jacqueline Lavier.»Alles ist möglich.«

«Sind Sie in der Position, darüber zu verhandeln?«

«Ich bin in der Position, etwas weiterzuleiten… Andere werden es jemandem übermitteln, der dann die Entscheidung trifft.«

«Sehen Sie wir können also doch miteinander reden.«

«Sicher, Monsieur«, pflichtete sie bei, und in ihren Augen flackerte die Angst.

«Dann wollen wir mit dem anfangen, was auf der Hand liegt.«

«Und das wäre?«

Jetzt! Die Wahrheit!

«Was bedeutet Borowski für Carlos? Warum will er ihn?«

«Was Borowski…«Die Frau hielt inne. Der Schock hatte ihr die Sprache verschlagen. »»Sie können das fragen?«

«Ich werde die Frage sogar wiederholen«, sagte Jason und hörte das Echo in seiner Brust.»Was bedeutet Borowski für Carlos?«

«Er ist Cain! Das wissen Sie ebensogut wie wir. Er war Ihre Wahl! Sie haben den falschen Mann gewählt!«

Cain. Er hörte den Namen und das Echo zerbarst in betäubendem Donner. Und bei jedem Donnerschlag durchzuckte ihn ein stechender Schmerz. Da waren wieder die Nebel. Die Dunkelheit, der Wind, die Explosionen.

Alpha, Bravo, Cain, Delta, Echo, Foxtrott… Cain, Delta.

Delta, Cain. Delta… Cain.

Cain ist Charlie.

Delta ist Cain!

«Was ist los? Was haben Sie denn?«

«Nichts. «Borowski hatte mit der Rechten sein linkes Handgelenk erfaßt, hielt es krampfhaft umklammert. Er mußte erreichen, daß das Zittern aufhörte, der Lärm geringer wurde, mußte den Schmerz zurückdrängen. Er mußte jetzt klar denken.»Weiter«, sagte er und zwang seiner Stimme eine Selbstbeherrschung auf, die zu einem Flüstern führte; er konnte nicht anders.

«Ist Ihnen nicht gut? Sie sind kalkweiß und…«

«Schon gut«, unterbrach er sie.»Weiter, habe ich gesagt.«

«Was soll ich Ihnen denn erzählen?«

«Alles! Ich will es von Ihnen hören.«

«Warum? Es gibt nichts, das Sie nicht bereits wissen. Sie haben Cain gewählt. Sie glauben, daß Sie Carlos ausschalten können. Damit haben Sie einen folgenschweren Irrtum begangen, dem Sie auch jetzt noch unterlegen sind.«

Ich werde Sie töten. Ich werde Sie am Hals packen und den Atem aus Ihnen herauswürgen. Reden Sie! Um Himmels willen, reden Sie! Ich muß es wissen.

«Das hat nichts zu sagen«, meinte er.»Wenn Sie ein Arrangement mit mir suchen — und wäre es nur, um Ihr Leben zu retten —, dann erzählen Sie mir, warum wir zuhören sollten. Warum ist Carlos, was Borowski betrifft, so hartnäckig… geradezu paranoid? Sie müssen mir das so erklären, als ob ich es noch nie gehört hätte. Wenn Sie sich weigern, werde ich dafür sorgen, daß jene Namen, die besser nicht erwähnt werden sollten, in ganz Paris verbreitet werden. Dann erleben Sie den morgigen Abend nicht mehr.«

Die Frau war wie erstarrt.»Carlos wird Cain bis ans Ende der Welt folgen und ihn toten.«

«Das wissen wir. Den Grund wollen wir erfahren.«

«Weil er es muß. Sehen Sie doch sich an, Leute wie Sie.«

«Das sagt mir nichts. Sie wissen nicht, wer wir sind.«

«Das brauche ich auch nicht zu wissen. Ich weiß, was Sie getan haben.«

«Dann sprechen Sie es aus!«

«Das habe ich bereits. Sie haben Cain Carlos vorgezogen — das war Ihr Fehler. Sie haben den falschen Mann gewählt, den Mörder bezahlt.«

«Den falschen… Mörder.«

«Sie waren nicht der erste, aber Sie werden der letzte sein. Der dreiste Herausforderer wird hier in Paris getötet werden, ob es nun einen Kompromiß gibt oder nicht.«

«Wir haben den falschen Mörder gewählt…«Die Worte schwebten durch die parfümierte Atmosphäre des Restaurants. Der alles betäubende Donner wurde schwächer, wich zurück, klang immer noch grollend, war aber weit entfernt, rollte hinter den Sturmwolken; die Nebel lösten sich. Er begann zu sehen, und das, was er sah, waren die Umrisse eines Ungeheuers. Keine Legende, kein Mythos, sondern ein Ungeheuer. Noch ein Ungeheuer! Es gab zwei.

«Körinen Sie daran zweifeln?«fragte die Frau.»Stören Sie Carlos nicht. Lassen Sie ihm Cain, hindern Sie ihn nicht daran, Rache zu nehmen. «Sie hielt inne und hielt beide Hände abwehrend über dem Tisch. Sie erinnerte Borowski in diesem Augenblick an nichts so sehr wie an eine miese Ratte.»Ich verspreche nichts, aber ich werde für Sie sprechen und mich darum bemühen, daß der Verlust, den Ihre Leute erlitten haben, wenigstens zum Teil ersetzt wird. Es ist möglich… nur möglich, verstehen Sie mich richtig… daß der, den Sie von vorneherein hätten auswählen sollen, Ihren Kontrakt honoriert.«

«Der, den wir hätten auswählen sollen… weil wir den Falschen gewählt haben.«

«Das verstehen Sie doch, oder nicht, Monsieur? Man muß

Carlos sagen, daß Sie es einsehen. Vielleicht — nur vielleicht— könnte er Verständnis für Ihre Lage empfinden, wenn er überzeugt wäre, daß Sie Ihren Fehler erkannt haben.«

«Und das ist Ihr Angebot?«fragte Borowski mit ausdrucksloser Stimme und bemühte sich noch immer, seine Gedanken zu ordnen.

«Alles ist möglich. Aus Ihren Drohungen kann nichts Gutes erwachsen, das kann ich Ihnen gleich sagen. Für keinen von uns. Ich will offen zugeben, daß das mich einschließt. Es würde nur zu nutzlosen Morden führen, und Cain würde sich im Hintergrund halten und sich ins Fäustchen lachen. Sie würden der Verlierer sein, nicht nur einmal, sondern gleich zweimal.«

«Wenn das stimmt…«— Jason schluckte und spürte seine ausgetrocknete Kehle —,»dann muß ich meinen Leuten erklären, warum wir… den… falschen Mann… gewählt haben.«Sprich den Satz zu Ende! Reiß dich zusammen!» Sagen Sie mir alles, was Sie über Cain wissen.«

«Wozu?«

«Wenn wir den falschen Mann gewählt haben, dann nur, weil wir die falschen Informationen hatten.«

«Sie haben gehört, daß er Carlos ebenbürtig sei. Nein? Daß sein Honorar günstiger war, sein Apparat überschaubarer. Hat Sie das zu Ihrer Entscheidung bewogen?«

«Vielleicht.«

«Natürlich war es das. Das hat man allen gesagt, und es ist eine Lüge. Carlos' Stärke liegt in seinen weit verstreuten Informationsquellen, die absolut zuverlässig sind. In seinem ausgeklügelten System ist die richtige Person genau im richtigen Augenblick im Einsatz.«

«Mir klingt das nach zu vielen Leuten. In Zürich waren zu viele und hier in Paris auch.«

«Die sind alle blind, Monsieur. Jeder einzelne.«

«Blind?«

«Um es ganz deutlich zu sagen: Ich arbeite schon seit einigen Jahren für die Organisation und habe auf verschiedene Weise Dutzende kennengelernt, die ihre kleinen Rollen spielten. Dabei habe ich bis jetzt noch niemanden getroffen, der je mit Carlos gesprochen hat, geschweige denn auch nur die leiseste Ahnung hat, wer er ist.«

«Das ist Carlos. Ich möchte mehr über Cain wissen. Was wissen Sie über Cain?«Du mußt beherrscht bleiben! Du darfst dich nicht abwenden! Sieh sie an!

«Wo soll ich beginnen?«

«Mit dem, was Ihnen als erstes einfällt. Woher kommt er?«Den Blick nicht abwenden!

«Aus Südostasien natürlich.«

«Natürlich…«O Gott!

«Bei Medusa war er…«

Medusa! Die Winde, die Finsternis, die Blitze, der Schmerz… Er war jetzt eine Welt weit entfernt. Der Schmerz. O Gott! Der Schmerz.

Tao!

Che-sah!

Tam Quan!

Alpha, Bravo, CainDelta.

Delta… Cain!

Cain ersetzt Charlie.

Delta ist Cain.

«Was ist denn?«Die Frau wirkte verstört; sie musterte sein Gesicht.»Sie transpirieren, Ihre Hände zittern.«

«Das geht gleich vorbei. «Jason zog die Hand von seinem Handgelenk und griff nach einer Serviette, um sich die Stirn abzuwischen.

«Weiter! Es ist nicht viel Zeit; man muß Leute verständigen, Entscheidungen treffen. Eine davon betrifft wahrscheinlich Ihr Leben. Zurück zu Cain. Sie sagten, er komme von… Medusa.«

«Die Söldner des Teufels haben die Kolonialherren in Indochina die Männer genannt, die bei Medusa dabeiwaren. Ziemlich treffend, finden Sie nicht?«

«Was ich finde oder was ich weiß, ist hier ohne Belang. Ich möchte hören, was Sie denken, was Sie über Cain wissen.«

«Jetzt werden Sie unhöflich.«

«Nein, ungeduldig. Sie sagen, wir hätten den falschen Mann gewählt; wenn das so ist, hatten wir die falsche Information. Wollen Sie mit dem Hinweis auf Medusa ausdrücken, daß Cain Franzose ist?«

«Ganz und gar nicht. Ich habe das nur erwähnt, um anzudeuten, wie viele Leute von uns in Indochina gekämpft haben.«

«Wenn Cain nicht Franzose ist, was ist er dann?«

«Ohne Zweifel Amerikaner.«

O Gott!» Warum?«

«Alle seine Aktionen tragen den Stempel amerikanischer Vordergründigkeit. Er agiert ohne jedes Raffinement, gibt Operationen als die seinen aus, wenn er überhaupt nichts mit ihnen zu tun hatte. Er hat die Methoden und Verbindungen von Carlos wie kein anderer studiert. Man sagt uns, er würde sie potentiellen Kunden lückenlos vortragen und dabei häufig den Platz von Carlos einnehmen und Leichtgläubige davon überzeugen, daß er, nicht Carlos, es war, der die Aufträge ausgeführt hat. «Die Lavier hielt inne.»Er hat es mit Ihnen und Ihren Leuten genauso gemacht, nicht wahr?«

«Vielleicht. «Jason umklammerte wieder sein linkes Handgelenk und erinnerte sich an das, was er bereits vorher erfahren hatte.

Stuttgart. Regensburg. München. Zwei Morde und eine Entführung. Verbindung mit Baader. Honorare von amerikanischen Quellen…

Teheran? Acht Morde. Unterschiedliche Verbindungen: Khomeini und PLO. Honorar: zwei Millionen Dollar.

Paris?… Alle Kontrakte werden durch Paris bearbeitet.

Wessen Kontrakte?

SanchezCarlos.

«Er hat dieselbe Taktik bei Ihnen benutzt. So holt er sich seine Aufträge.«

«Aufträge?«Borowski spürte den bohrenden Schmerz in seiner Brust.»Er bekommt also Aufträge«, sagte er ziellos.

«Und führt sie mit beachtlichem Geschick aus; das leugnet niemand. Seine Mordliste ist eindrucksvoll. Er steht zwar nicht auf gleicher Stufe wie Carlos, trotzdem ist er ein Mann mit außergewöhnlichen Gaben und höchst erfindungsreich: eine tödliche Waffe von höchster Präzision. Aber seine Arroganz, seine Lügen auf Kosten von Carlos werden sein Untergang sein.«

«Und das macht ihn zum Amerikaner? Oder ist das nur Ihr Vorurteil? Ich habe das Gefühl, daß Sie amerikanische Dollars mögen, aber weiter geht Ihre Zuneigung zu Amerika nicht.«Ungemein geschickt; höchst erfinderisch; eine tödliche Waffe von größter Präzision… Port Noir. La Ciotat, Marseille, Zürich, Paris.

«Sie irren sich, Monsieur. Seine Nationalität steht zweifelsfrei fest.«

«Wieso?«

Die Frau berührte den Stiel ihres Weinglases, und ihr

Zeigefinger mit der roten Spitze krümmte sich um das Glas.»Ein unzufriedener Mann in Washington ist gekauft worden.«

«Washington?«

«Die Amerikaner suchen Cain auch — mit einer Intensität, die auch nicht geringer ist als die von Carlos, nehme ich an. Medusa ist der Öffentlichkeit nie zur Kenntnis gebracht worden, und wenn über Cain etwas an die Öffentlichkeit gelangte, könnte das höchst peinlich werden. Dieser unzufriedene Mann war in der Lage, uns viele Informationen zu liefern, darunter auch die Medusa-Akten. Es war ganz einfach, die Namen mit denen in Zürich zu vergleichen — einfach für Carlos, sonst für niemanden.«

Zu einfach, dachte Jason, ohne zu wissen, weshalb ihm der Gedanke gekommen war.»Ich verstehe«, sagte er.

«Und Sie? Wie haben Sie Borowski gefunden?«

Durch die Nebel der Angst erinnerte sich Jason an etwas anderes, was er gehört hatte. Marie hatte es gesagt.»Viel einfacher«, sagte er.»Wir haben das Honorar nur zum Teil auf ein Konto überwiesen und den Restbetrag blind auf ein anderes. Auf diese Weise konnten wir den Kontoinhaber ermitteln.«

«Und Cain?«

«Er wußte nichts davon. Wir haben ein paar Leute in der Bank bezahlt… wie Sie für verschiedene Telefonnummern auf einem fiche bezahlt haben.«

«Ich muß Sie loben.«

«Erzählen Sie mir lieber, was Sie über Cain wissen.«

Du mußt vorsichtig sein und darauf achten, daß deine Stimme nicht nervös klingt. Du bist nur damit beschäftigt, Daten auszuwerten. Marie, das hast du gesagt. Liebe, liebe Marie! Gott sei Dank, daß du nicht hier bist.

«Unsere Informationen über ihn sind lückenhaft. Er hat es fertiggebracht, den größten Teil der wichtigen Akten zu entfernen, etwas, das er ohne Zweifel von Carlos gelernt hat. Aber nicht alle; wir haben uns aus dem Rest ein skizzenhaftes Bild zusammenfügen können. Ehe Medusa ihn rekrutiert hat, war er vermutlich ein französisch sprechender Geschäftsmann, der in Singapur lebte und eine Gruppe amerikanischer Importeure vertrat, bis die ihn beschuldigten, sich um Hunderttausende von Dollars bereichert zu haben. Nun versuchten sie, ihn in die Staaten ausliefern zu lassen, um ihn vor Gericht stellen zu können. In Singapur galt er als

Einzelgänger, der im blühenden Schleichhandel aktiv war und vor brutalen Methoden nicht zurückschreckte.«

«Und vorher?«unterbrach Jason sie und spürte wieder, wie ihm Schweißtropfen auf die Stirne traten.»Vor Singapur. Woher kam er?«Vorsichtig! Die Bilder! Er konnte die Straßen von Singapur sehen: die Prince Edward Road, Kim Chuan, Boon Tat Street, Maxwell, Cuscaden.

«Das muß in den Akten stehen, die niemand finden konnte. Es gibt nur Gerüchte, und die sind bedeutungslos. So hieß es zum Beispiel, er sei ein ausgestoßener Jesuit, der verrückt geworden sei. Eine andere Spekulation besagt, er sei ein junger, aggressiver Anlagenberater gewesen, den man überführt hat, Kundengelder veruntreut zu haben. Vor Singapur gibt es keine konkrete Spur, nichts, das man überprüfen kann.«

Sie haben unrecht, da war eine ganze Menge. Aber nichts, das damit zu tun hat… Da ist eine Leere, und sie muß ausgefüllt werden, und Sie können mir nicht helfen. Vielleicht kann das niemand; vielleicht sollte das niemand!

«Bis jetzt haben Sie mir noch nichts gesagt, was sensationell gewesen wäre; nichts, was mit den Informationen in Zusammenhang steht, die mich interessieren.«

«Dann weiß ich nicht, was Sie wollen! Sie verlangen Einzelheiten, und wenn ich Details liefere, sagen Sie, die seien unwichtig.«

«Was wissen Sie über Cains… Arbeit? Sie sollten mir schon einen Grund dafür liefern, Sie schonend zu behandeln. Also wann fiel er Ihnen zum erstenmal auf? Wann wurde Carlos auf ihn aufmerksam?«

«Vor zwei Jahren«, begann Jacqueline Lavier, die Jasons Ungeduld beunruhigte und verängstigte,»erfuhr man von einem Weißen in Asien, der Mord auf Bestellung lieferte — wie Carlos. Und sein Name wurde schnell zu einem Markenbegriff für präzises Töten. Ein Botschafter wurde in Moulmein ermordet; zwei Tage später wurde ein japanischer Politiker in Tokio getötet. Eine Woche darauf kam ein Zeitungsredakteur in Hongkong ums Leben, als sein Wagen in die Luft gesprengt wurde. Und knapp achtundvierzig Stunden später erschoß man einen Bankier in einer Straße in Kalkutta. Jeden dieser Morde hat Cain begangen. «Die Frau hielt inne und versuchte, Borowskis Reaktion richtig einzuschätzen. Doch der reagierte nicht.»Verstehen Sie denn nicht? Er war überall! Bald hatte er sich einen Ruf erworben, der selbst die abgebrühtesten Killer beeindruckte. Keiner zweifelte daran, daß da ein ausgekochter Profi am Werk war, am allerwenigsten Carlos. Hellhörig geworden, wies er seine Leute an, soviel Einzelheiten wie möglich über diesen Mann zu erfahren. Carlos ahnte die Gefahr, die von diesem Mann eines Tages auch für ihn ausgehen konnte. Binnen eines Jahres sollte sich seine Vermutung bestätigen. Aus verläßlichen Quellen erfuhr er, Cain käme nach Europa und wolle Paris zu seiner Operationsbasis machen. Die Herausforderung war offensichtlich. Cain war im Begriff, Carlos zu vernichten. Er hatte den Ehrgeiz, der neue Carlos zu werden. Ihn sollte man aufsuchen, wenn man die Dienste in Anspruch nehmen wollte, die er bieten konnte. So wie Sie ihn aufgesucht haben, Monsieur.«

«Moulmein, Tokio, Kalkutta…«Jason hörte, wie die Namen von seinen Lippen kamen, wie er sie flüsterte.»Manila, Hongkong…«Er hielt inne, versuchte, die Nebel zu durchdringen, spähte nach den Umrissen seltsamer Gebilde, die vor seinem geistigen Auge vorüberzogen.

«In diesen Orten und vielen anderen war er aktiv«, fuhr die Frau fort.»Carlos mag viele Feinde haben, aber unter all jenen, die aus seinem Vertrauen und seiner Großzügigkeit Nutzen gezogen haben, herrscht Loyalität. Seine Informanten und Helfershelfer sind nicht so leicht käuflich, wie Cain sich das gern gewünscht hätte. Es heißt, Carlos würde schnell harte Urteile fällen, aber es heißt auch, besser ein Satan, den man kennt, als ein Nachfolger, den man nicht kennt. Cain begreift immer noch nicht, daß das Netz, das Carlos sich aufgebaut hat, ungeheuer weitgespannt ist. Als Cain nach Europa kam, wußte er nicht, daß seine Aktivitäten in Berlin, Lissabon und Amsterdam… sogar in Oman erkannt worden sind.«

«Oman«, sagte Borowski unwillkürlich.»Scheich Mustafa Kalig«, flüsterte er wie im Selbstgespräch.

«Daß Cain der Mörder gewesen war, ist nie bewiesen worden«, warf die Frau ein.»Der Auftrag selbst ist eine pure Erfindung. Den rein internen Mord hat er einfach auf sein Konto gebucht; dabei hätte kein Fremder zu dem schwer bewachten Scheich vordringen können. Das Ganze ist eine Lüge!«

«Eine Lüge«, wiederholte Jason.

«Er hat viele solcher Lügen verbreitet«, fügte Jaqueline

Lavier verächtlich hinzu.»Geschickt läßt er hier und dort eine Andeutung fallen, die andere begierig aufgreifen und als wahre Geschichte weitererzählen. Er provoziert Carlos, indem er sich auf dessen Kosten groß herausstellt. Aber er ist Carlos nicht gewachsen; er nimmt Aufträge an, die er nicht erfüllen kann. Davon hat es schon einige gegeben. Es heißt, dies sei der Grund, weshalb er Monate im Hintergrund geblieben sei und Leuten wie uns ausgewichen ist.«

«Leuten ausgewichen ist…«Jason griff nach seinem Handgelenk; das Zittern hatte wieder angefangen, das Grollen fernen Donners vibrierte in seinem Kopf.»Sind Sie… dessen sicher?«

«Vollkommen! Er war nicht tot; er hat sich versteckt gehalten. Cain hat mehr als einen Auftrag nicht bewältigen können. Das war unvermeidlich, weil er zu viele innerhalb kurzer Zeit annahm. Und nach jedem gescheiterten Mord führte er einen spektakulären aus, um seinen Ruf zu wahren. Er pflegte sich dafür stets eine prominente Persönlichkeit auszuwählen. Der Botschafter in Moulmein war ein Beispiel dafür. Niemand hatte seinen Tod verlangt. Das gleiche gilt für zwei andere Fälle: Ebenso willkürlich hat er einen russischen Kommissar in Shanghai und erst kürzlich einen Bankier in Madrid umgebracht.«

Die Worte kamen von den hellroten Lippen, die sich in der gepuderten Maske bewegten. Er hörte sie nicht das erste Mal. Er hatte sie schon gelebt. Sie lösten keine Schatten mehr aus, sondern Erinnerungen an jene vergessene Vergangenheit. Sie begann keinen Satz, den er nicht hätte zu Ende führen können, noch konnte sie irgendeinen Namen oder eine Stadt oder ein Ereignis nennen, mit dem er nicht instinktiv vertraut war.

Sie redete von ihm!

Alpha, Bravo, Cain, Delta…

Cain ersetzt Charlie, und Delta ist Cain.

Jason Borowski war der Mörder namens Cain!

Es gab noch eine letzte Frage:»Was geschah in Marseille?«

«Marseille?«Die Frau fuhr zurück.»Wie konnten Sie? Was für Lügen hat man Ihnen erzählt? Was für Lügen sonst noch!«

«Sagen Sie mir nur, was damals passierte.«

«Sie meinen natürlich Leland. Carlos hatte den Mordauftrag angenommen.«

«Und wenn ich Ihnen jetzt sage, daß es Leute gibt, die Cain dahinter vermuten?«

«Das ist es, was er alle glauben machen wollte! Das war die höchste Beleidigung für Carlos — ihm den Mord zu stehlen. Das Geld war Cain unwichtig; er wollte nur der Welt— unserer Welt — beweisen, daß er den Auftrag selbst erledigen konnte, für den man Carlos bezahlt hatte. Aber er hat es nicht getan, müssen Sie wissen. Er hatte nichts mit Leland zu tun.«

«Er war dort.«

«Er ist in eine Falle gegangen, zumindest ist er nie aufgetaucht. Einige meinten, er sei getötet worden, aber da es keine Leiche gab, hat Carlos das nie geglaubt.«

«Wie ist Cain nur getötet worden?«

Madame Lavier lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf.»Zwei Männer im Hafen versuchten, sich dafür bezahlen zu lassen. Einer von ihnen ist seitdem spurlos verschwunden; man kann annehmen, daß Cain ihn getötet hat, wenn es Cain war.«

«Was war das für eine Falle?«

«Eine angebliche Falle, Monsieur. Sie behaupteten, sie hätten erfahren, Cain wolle sich mit jemandem ein oder zwei Nächte vor der Tat in der Rue Sarrasin treffen. Sie sagten, sie hätten entsprechende Gerüchte ausgestreut und den Mann, den sie für Cain hielten, zu den Piers zu einem Fischerboot hinuntergelockt. Weder der Trawler noch der Skipper wurden je wieder gesehen. Also kann es sein, daß sie recht hatten — aber ich sage, daß es keine Beweise gab, nicht einmal eine hinreichende Beschreibung von Cain, die auf den Mann gepaßt hätte, den man von der Rue Sarrasin weggeführt hat. Jedenfalls endet dort alles.«

Sie haben unrecht. Dort fing es für mich an.

«Ich verstehe«, sagte Borowski und gab sich wieder Mühe, natürlich zu sprechen.»Unsere Information ist hier natürlich unterschiedlich. Wir haben nach dem, was wir zu wissen glaubten, eine Wahl getroffen.«

«Die falsche Wahl, Monsieur. Was ich Ihnen jetzt erzählt habe, ist die Wahrheit.«

«Ja, ich weiß.«

«Sind wir beide uns also einig?«

«Warum nicht?«

«Fein!«Erleichtert hob die Frau das Weinglas an die Lippen.»Sie werden sehen, es wird für alle Beteiligten das beste sein.«

«Das… ist jetzt eigentlich gar nicht wichtig. «Er sprach so leise, daß sie ihn kaum hören konnte. Was hatte er gerade gesagt? Warum hatte er es gesagt?… Die Nebel begannen ihn wieder einzuhüllen, der Donner wurde lauter. In seinen Schläfen bohrte wieder der Schmerz.»Ja, Sie haben recht. «Er spürte, wie die Frau ihn mit skeptischem Blick musterte.»Es ist eine vernünftige Lösung.«

«Natürlich ist es das. Fühlen Sie sich nicht wohl?«

«Ich sagte doch, es ist nicht weiter schlimm.«

«Da bin ich erleichtert. Würden Sie mich jetzt einen

Augenblick entschuldigen?«

«Nein. «Jason packte sie am Arm.

«Ich will zur Toilette, das ist alles. Wenn Sie wollen, können Sie vor der Tür stehenbleiben.«

«Wir brechen jetzt auf. Sie können beim Hinausgehen auf die Toilette gehen. «Borowski winkte den Ober herbei.

Er stand in dem schwach beleuchteten Korridor. Auf der anderen Seite war der Eingang zur Damentoilette. Elegante Frauen und gepflegte Männer liefen an ihm vorbei. Das

Ambiente des Lokals glich dem von >Les Classiques<. Jaqueline Lavier war hier zu Hause.

Nun war sie schon fast zehn Minuten in der Damentoilette. Eine Tatsache, die Jason sicherlich beunruhigt hätte, wenn er sich auf die Zeit hätte konzentrieren können. Aber der Lärm und der Schmerz in seinem Kopf betäubten ihn. Er starrte vor sich hin und wußte hinter sich eine Folge toter Männer. Cain… Cain.

Er schüttelte den Kopf und blickte zu der schwarzen Decke auf. Er mußte funktionieren, er konnte nicht zulassen, daß er fiel, daß er in den finsteren, windumtosten Abgrund stürzte. Es galt, Entscheidungen zu treffen… Nein, sie waren schon getroffen; jetzt kam es nur noch darauf an, sie auszuführen.

Marie! O Gott, meine Liebe, alles war falsch!

Er atmete tief und schaute auf die Uhr, die er für ein dünnes Schmuckstück eingetauscht hatte, das einem Marquis in Südfrankreich gehört hatte. Er ist ein ungeheuer geschickter Mann, höchst erfinderisch…

Wo war Jacqueline Lavier? Warum kam sie nicht heraus? Was konnte sie sich davon erhoffen, wenn sie drinnen blieb? Er war so geistesgegenwärtig gewesen, den Geschäftsführer zu fragen, ob es dort ein Telefon gäbe; das hatte der Mann verneint und auf eine Kabine am Eingang gedeutet.

Plötzlich blendete ihn ein greller Lichtblitz. Er taumelte rückwärts, stieß gegen die Wand, hielt sich die Hände vor die Augen. Der Schmerz! Seine Augen brannten!

Und dann hörte er die Worte, die das höfliche Lachen und die leise Konversation der gutgekleideten Männer und Frauen übertönte, die durch den Flur schlenderten.

«Zur Erinnerung an Ihr Diner bei >Roget's<, Monsieur«, sagte eine Hostess und hielt ihre Kamera an der Schiene des Blitzgeräts fest.»Das Foto ist in ein paar Minuten fertig. Eine Aufmerksamkeit des Hauses.«

Borowski blieb wie erstarrt stehen, er wußte daß er die Kamera nicht zerschlagen konnte, und die Angst vor der nächsten Erkenntnis überflutete ihn.»Warum gerade ich?«fragte er.

«Ihre Verlobte hat darum gebeten, Monsieur«, erwiderte das Mädchen und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Toilettentür.»Wir haben drinnen miteinander gesprochen. Sie können sich glücklich preisen; sie ist eine reizende Dame. Sie hat mich gebeten, Ihnen das zu geben. «Die Hostess hielt ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier hin; Jason nahm es ihr ab, worauf sie sich sofort entfernte.

Ihre Krankheit beunruhigt mich, so wie sie ganz bestimmt auch Sie beunruhigt, mein neuer Freund. Mag sein, daß Sie sind, was Sie behaupten. Vielleicht haben Sie mich aber auch getäuscht. In einer halben Stunde werde ich die Antwort kennen. Eine Dame mit Mitgefühl hat einen Telefonanruffür mich erledigt; und das Foto ist nach Paris unterwegs. Sie können das jetzt ebensowenig verhindern wie die Ankunft der Leute, die jetzt schon nach Argenteuil unterwegs sind. Sollten wir wirklich zu unserem Arrangement kommen, wird keines von beiden Sie so sehr in Panik versetzen, wie Ihre Krankheit mich beunruhigt — und wir werden wieder miteinander sprechen, wenn meine Kollegen eintreffen.

Es heißt, Cain trete in verschiedenen Masken auf und dies höchst überzeugend. Man erzählt sich weiter, daß er zu Gewalttätigkeit neigt und gelegentlich zu

Temperamentsausbrüchen. Das ist auch eine Krankheit, nicht wahr?

Als er aus dem Lokal rannte, sah er gerade noch ein Taxi um die nächste Ecke biegen. Er blieb stehen, atmete schwer, sah sich nach allen Seiten nach einem anderen um. Es dauerte einige Minuten, bis wieder ein Taxi auftauchte. Er lief hinterher. Er mußte es aufhalten; er mußte nach Paris zurück, zu Marie.

Er war wieder in das Labyrinth zurückgekehrt und wußte, daß es kein Entrinnen gab. Aber er würde weiter nach seiner wahren Identität forschen — ohne Marie. Die Entscheidung war unumstößlich. Es würde keine Diskussionen, keine Debatte geben, keine Vorwürfe. Er wußte, wer er war… was er gewesen war; er war schuldig im Sinne der Anklage — wie er das vermutet hatte.

Eine Stunde oder zwei würde er sie nur ansehen. Ganz ruhig würden sie über alles mögliche reden, nicht von der Wahrheit. Sich lieben. Und irgendwann würde er weggehen; sie würde nie wissen, wann, und er konnte ihr nie sagen, warum. Das war er ihr schuldig. Eine Weile würde sie darunter leiden, aber der Schmerz würde weit geringer sein als der, den das Stigma von Cain verursachen würde.

Cain!

Marie. Marie! Was habe ich getan?

«Taxi! Taxi!«

Kapitel 18

Du mußt Paris verlassen! Jetzt! Was auch immer du gerade tust, hör auf und verlaß die Stadt! Das sind Anweisungen deiner Regierung.

Marie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher auf dem Nachttisch aus, dabei fiel ihr Blick auf das drei Jahre alte Heft von Potomac Quarterly. Ihre Gedanken befaßten sich kurz mit dem schrecklichen Spiel, das Jason sie zu spielen gezwungen hatte.

«Ich will nicht zuhören!«sagte sie laut und erschrak über den Klang ihrer Stimme in dem leeren Hotelzimmer. Sie ging ans Fenster, das gleiche Fenster, zu dem er hinausgesehen hatte, verängstigt, verzweifelt, in dem Versuch, sie zu erreichen.

Ich muß gewisse Dinge wissen… Genug davon, um eine Entscheidung zu treffen. Aber vielleicht nicht alles. Ein Stück von mir muß imstande sein… einfach zu verschwinden. Ich bin ein Mensch ohne Erinnerungsvermögen; das bedeutet, ich habe nie existiert…

«Mein Liebling, mein Liebling. Paß auf, daß sie dir nichts tun!«Jetzt erschreckten sie ihre Worte nicht mehr, denn es war so, als befände er sich mit ihr im Zimmer und wäre bereit, wegzulaufen, zu verschwinden… mit ihr. Aber im Inneren fühlte sie, daß es unmöglich war; er durfte sich nicht mit einer halben Wahrheit und einer halben Lüge zufriedengeben.

In Bezug auf Paris hatte Jason recht; des Rätsels Kern lag hier. Er war der Sündenbock, und sein Tod sollte einen anderen vor dem Tode bewahren. Wenn er das nur sehen könnte; wenn sie ihn nur überzeugen könnte. So drohte die Gefahr, ihn zu verlieren. Sie würden ihn ihr wegnehmen; ihn toten.

Sie.

«Wer bist du?«schrie sie das Fenster an und die Lichter von Paris. »Wo bist du?«

Sie konnte den kalten Wind im Gesicht spüren, als wären die Glasscheiben zerschmolzen, als wehte die Nachtluft herein. Und es war ihr plötzlich, als verengte sich ihre Kehle, und einen Augenblick lang konnte sie nicht schlucken… nicht atmen. Doch es ging vorüber, und sie atmete wieder. Sie hatte Angst; das war ihr schon einmal passiert, nach ihrer ersten Nacht in Paris, als sie das Cafe verlassen und ihn auf den Stufen des Cluny gefunden hatte. Sie war schnell den Boulevard Saint-Michel hinuntergegangen, als es geschehen war: der kalte Wind, das Anschwellen in ihrer Kehle… in jenem Augenblick hatte sie auch nicht atmen können. Später glaubte sie zu wissen, weshalb; in jenem Augenblick war Jason auf eine Entscheidung zugerast, die er binnen weniger Minuten umstoßen würde — aber da hatte er sie getroffen. Er hatte sich entschlossen, nicht zu ihr zurückzukommen.

«Hör auf!«schrie sie.»Das ist verrückt«, fügte sie hinzu, schüttelte den Kopf und sah auf die Uhr. Er war jetzt mehr als fünf Stunden weg. Wo war er nur?

Borowski stieg vor dem verblichen-eleganten Hotel in Montparnasse aus dem Taxi. Die nächste Stunde würde die schwierigste in seinem kurzen, neuen Leben sein — einem Leben, das vor Port Noir leer war und seitdem ein Alptraum. Der Alptraum würde bleiben, und er würde alleine mit ihm leben müssen; er liebte sie viel zu sehr, als daß er sie bitten könnte, diesen Alptraum mit ihm zu leben. Er würde schon eine Möglichkeit finden, um zu verschwinden. Sie mußte aus all dem Dreck herausgehalten werden. Er würde einfach weggehen zu einem nicht existierenden Rendezvous und nicht zurückkehren. Und irgendwann im Lauf der nächsten Stunde würde er ihr schreiben:

Es ist vorbei. Ich habe meine Pfeile gefunden. Geh zurück nach Kanada und sag um unser beider willen nichts. Ich weiß, wo ich dich erreichen kann.

Der letzte Satz war unfair — er würde sie nie erreichen —, aber die kleine, gefiederte Hoffnung mußte da sein und wäre es nur, um dafür zu sorgen, daß sie tatsächlich das Flugzeug nach Ottawa bestieg. Mit der Zeit würden ihre gemeinsamen Wochen zu einem dunkel gehüteten Geheimnis verblassen, so wie eine kostbare Kette von Juwelen, die man in stillen Augenblicken herausholte und berührte. Irgendwann würde es vorbei sein, denn man lebte das Leben in aktiven Erinnerungen; die schlafenden verloren ihre Bedeutung.

Niemand wußte das besser als er.

Er ging durch das Vestibül, nickte dem Portier zu, der hinter der Marmortheke auf seinem Hocker saß und eine Zeitung las. Der Mann blickte kaum auf, registrierte nur, daß der Eindringling hierher gehörte.

Die Liftkabine polterte und ächzte ins fünfte Stockwerk. Jason atmete tief und griff nach der schmiedeeisernen Lifttüre; in allererster Linie mußte vermieden werden, die Szene zu dramatisieren — weder durch Worte noch durch Blicke. Er wußte, was er sagen mußte; er hatte sorgfältig darüber nachgedacht, ebenso sorgfältig wie über den Brief, den er schreiben würde.

«Den größten Teil der Nacht herumgelaufen«, sagte er und hielt sie an sich gedrückt. Er strich über ihr dunkelrotes Haar, spürte ihren Kopf an seiner Schulter…. und litt,»hinter fahlgesichtigen Angestellten hergelaufen, mir Unsinn angehört und Kaffee getrunken, der wie Spülwasser schmeckte. Les Classiques war Zeitvergeudung; das ist der reinste Zoo. Die Affen und die Pfauen haben eine grandiose Schau abgezogen, aber ich glaube nicht, daß irgend jemand dort etwas weiß. Die Möglichkeit besteht natürlich. Es gibt dort einen Mann, der an der Telefonzelle sitzt, aber ebensogut ein cleverer Franzose sein kann, der sich einfach einen Amerikaner, den er ausnehmen kann, als Opfer sucht. Ich will mich mit ihm gegen Mitternacht am Bastringue an der Rue Hautefeuille treffen.«

«Was hat er gesagt?«

«Sehr wenig, aber genug, um mein Interesse zu wecken. Ich sah, daß er mich beobachtete, während ich Fragen stellte. Der Laden war ziemlich voll, und ich konnte mich daher einigermaßen frei bewegen und mit den Angestellten sprechen.«

«Fragen? Was für Fragen hast du denn gestellt?«

«Alles, was mir in den Sinn kam. Hauptsächlich über die Geschäftsführerin oder wie man sie nennt. In Anbetracht dessen, was heute nachmittag geschah, hätte sie — wenn sie eine Verbindungsperson zu Carlos ist — fast hysterisch sein müssen. Ich habe sie gesehen. Sie war keineswegs hysterisch; sie verhielt sich völlig normal.«

«Aber d'Amacourt glaubt, daß sie eine Verbindungsperson ist, wie du das nennst.«

«Indirekt. Sie bekommt einen Anruf, wo sie Instruktionen erhält. «Tatsächlich, dachte Jason, beruhte die von ihm erfundene Einschätzung der Situation auf Wirklichkeit. Jacqueline Lavier war eine indirekte Verbindungsperson.

«Du konntest doch nicht einfach herumgehen und Fragen stellen, ohne Argwohn zu erwecken«, wandte Marie ein.

«Doch das kann man«, antwortete Borowski,»wenn man amerikanischer Journalist ist und für ein bekanntes Magazin einen Artikel über die Geschäfte an der Rue Saint-Honore schreibt.«

«Das ist raffiniert, Jason.«

«Es hat funktioniert. Alle waren ganz wild darauf.«

«Was hast du erfahren?«

«Nun, Les Classiques hat wie die meisten Geschäfte dieser Art seinen eigenen Kundenkreis, alles wohlhabende Leute, die sich untereinander meistens kennen. Da gibt es natürlich auch die üblichen Intrigen und Heimlichkeiten, die in dieser Szene auf der Tagesordnung stehen. Hauptsächlich dieser Bergeron und die Geschäftsführerin scheinen Schlüsselfiguren zu sein. Nach allem, was ich erfahren habe, ist sie geradezu eine Fundgrube für gesellschaftliche Informationen.«

«Warum gehst du eigentlich heute nacht nach Bastringue?«

«Als ich hinausgehen wollte, kam Bergeron auf mich zu und sagte etwas sehr Seltsames. «Diesen Teil der Lüge brauchte Jason nicht zu erfinden. Er hatte die Worte vor nicht einmal einer Stunde in einem eleganten Restaurant in Argenteuil auf einem Zettel gelesen.»Er hat gesagt, >mag sein, daß Sie sind, was Sie vorgeben, vielleicht aber auch nicht<. Und dann schlug er mir vor, später gemeinsam einen Drink zu nehmen, aber nicht in der Rue Saint-Honore. «Borowski sah, wie ihre Zweifel zerstreut wurden. Er hatte es geschafft; sie akzeptierte sein Lügengeflecht. Und warum auch nicht? Er war ein Mann von außergewöhnlicher Geschicklichkeit und höchst erfinderisch. Schließlich hieß er ja Cain.

«Vielleicht ist er es, Jason. Du hast doch gesagt, du brauchtest nur einen; er könnte es sein!«

«Wir werden sehen. «Borowski sah auf die Uhr. Der Countdown für seinen Abgang hatte begonnen; er konnte jetzt nicht mehr zurück.»Wir haben fast zwei Stunden Zeit. Wo hast du den Aktenkoffer hingebracht?«

«Ins >Meurice

«Holen wir ihn uns und gehen wir essen. Du hast doch Hunger?«

«Nein…«Marie sah ihn verwirrt an.»Warum lassen wir den Koffer nicht, wo er ist? Dort ist er doch in Sicherheit.«

«Und was ist, wenn wir schnell verschwinden müssen«, sagte er beinahe brüsk und ging zu der Kommode. Er durfte nicht die Gewalt über sich verlieren. Die Spuren von Gereiztheit, die sich langsam in seine Wort einschlichen, mußte er sich abgewöhnen. Sie würde später genug Zeit haben, alles zu begreifen, wenn sie seine Worte las.»Es ist vorbei, ich habe meine Pfeile gefunden….«

«Was ist denn, Darling?«

«Nichts. «Das Chamäleon lächelte.»Ich bin nur müde und vielleicht ein wenig enttäuscht.«

«Du lieber Gott, warum denn? Ein Mann will sich mitten in der Nacht vertraulich mit dir treffen. Ein Mann, der eine Telefonzentrale bedient. Er könnte dich weiterbringen. Du bist doch überzeugt, daß diese Frau eine Kontaktperson von Carlos ist; sie muß dir doch irgend etwas sagen können, ob sie nun will oder nicht. Ich hätte gedacht, daß du auf eine makabre Weise glücklich sein müßtest.«

«Ich bin nicht sicher, ob ich das erklären kann«, sagte Jason und sah ihr Bild im Spiegel.»Du müßtest als Frau verstehen, was ich dort gefunden habe.«

«Was du gefunden hast?«

«Was ich gefunden habe. Es ist eine andere Welt«, fuhr Borowski fort und griff nach der Scotchflasche und einem Glas,»andere Leute. Diese Welt ist weich und schön und frivol, mit unzähligen winzigen Scheinwerfern und dunklem Samt. Nichts wird dort ernst genommen, nur Klatsch und Wohlleben. Jeder einzelne dieser unwirklichen Leute — jene Frau eingeschlossen — könnte eine Kontaktperson für Carlos sein, ohne es überhaupt zu wissen, ja es auch nur zu vermuten. Ein Mann wie Carlos könnte solche Leute benutzen; das würde wahrscheinlich jeder tun, ich eingeschlossen… Es ist deprimierend.«

«Nein, es ist unvernünftig. Solche Leute treffen im allgemeinen sehr überlegte Entscheidungen. Das ist der Preis für den Wohlstand, von dem du sprichst. Aber ich glaube, daß du wirklich müde bist und hungrig und einen Drink brauchst. «Sie ging auf das Badezimmer zu.»Ich mach' mich ein wenig frisch, dann können wir gehen. Trink einen Schluck, Darling. Es tut dir gut.«

«Marie?«

«Ja?«

«Du mußt versuchen, das zu verstehen. Was ich dort fand, hat mich beunruhigt. Ich dachte nicht, daß es so schwierig sein würde.«

«Während du unterwegs warst, habe ich gewartet, Jason. Ich wußte nicht, wo du steckst. Das war auch nicht schön.«

«Ich dachte, du rufst in Kanada an. Hast du das nicht getan?«

Sie blieb stehen.»Nein«, sagte sie.»Es war schon zu spät.«

Dann schloß sich die Badezimmertür hinter ihr; Borowski ging zum Schreibtisch. Er zog die Schublade auf, entnahm ihr ein Blatt Hotelbriefpapier, griff nach dem Kugelschreiber und schrieb:

Es ist vorbei. Ich habe meine Pfeile gefunden. Geh zurück nach Kanada und sag um unser beider willen nichts. Ich weiß, wo ich dich erreichen kann.

Er faltete den Bogen zusammen, schob ihn in einen Umschlag und griff nach seiner Brieftasche. Er entnahm ihr die französischen und die Schweizer Banknoten, schob sie hinter das Blatt und verklebte den Umschlag. Dann schrieb er vorne MARIE darauf.

Er hätte so gerne meine Liebe, meine große Liebe hinzugefügt.

Aber das tat er nicht. Das konnte er nicht.

Die Badezimmertüre öffnete sich. Er schob den Umschlag in die Jackentasche.»Das ist aber schnell gegangen.«

«Ja wirklich? Das fand ich nicht. Was hast du denn gemacht?«

«Ich habe einen Kugelschreiber gesucht«, antwortete er und griff danach.»Wenn mir dieser Bursche etwas sagen kann, möchte ich es mir aufschreiben.«

Marie stand jetzt an der Kommode und blickte auf das trockene, leere Glas.»Du hast ja fast nichts getrunken.«

«Doch, ich habe nur das Glas nicht benutzt.«

«Ach so. Gehen wir?«

Sie warteten im Korridor auf den polternden Lift, und das Schweigen, das zwischen ihnen stand, war unerträglich. Er griff nach ihrer Hand. Als seine Finger die ihren berührten, hielt sie sie fest, blickte ihn an, und ihre Augen verrieten ihm, daß sie schon ahnte, was er nun vorhatte.

O Gott, wie ich dich liebe. Du stehst neben mir, wir berühren uns, und ich sterbe. Aber du kannst nicht mit mir sterben. Das darfst du nicht. Ich bin Cain.

«Alles wird gut«, sagte er.

Die schmiedeeiserne Liftkabine kam vibrierend zum Stillstand. Jason zog das Gitter auf und stieß dann plötzlich einen halblauten Fluch aus.»Mein Gott, jetzt habe ich es vergessen!«

«Was denn?«

«Meine Brieftasche. Ich habe sie heute nachmittag in der Schublade gelassen, falls es in Saint-Honore Ärger geben sollte. Warte in der Halle auf mich.«

Er schob sie mit leichtem Druck in die Liftkabine und drückte mit der freien Hand den Knopf.»Ich komme gleich nach. «Er schob das Gitter zu und konnte daher ihre verstörten Augen nicht mehr sehen. Er wandte sich ab und ging schnell zu ihrem Zimmer zurück.

Drinnen holte er den Umschlag aus der Tasche und legte ihn vor die Stehlampe auf dem Nachttisch. Er starrte ihn an, und der Schmerz war unerträglich.

«Leb wohl, meine Liebe«, flüsterte er.

Borowski wartete in dem leichten Nieselregen vor dem Hotel >Meurice< auf der Rue de Rivoli und blickte Marie durch die Glastüre nach. Sie stand an der Rezeption und hatte soeben den Aktenkoffer in Empfang genommen. Im Augenblick bat sie offenbar einen etwas verblüfften Empfangschef nach der Rechnung. Sie war im Begriff, ein Zimmer zu bezahlen, das weniger als sechs Stunden in Benutzung gewesen war. Zwei Minuten verstrichen, ehe man ihr die Rechnung gab. Widerstrebend; man schätzte es nicht, wenn Gäste im >Meurice< sich so benahmen.

Marie kam wieder heraus, trat neben ihn und gab ihm den Koffer, ein gezwungenes Lächeln um die Lippen, die Stimme etwas außer Atem.

«Dieser Mann war gar nicht mit mir einverstanden. Ich bin sicher, daß er jetzt überzeugt ist, daß ich das Zimmer mit ein paar Freiern mißbraucht habe.«

«Was hast du ihm gesagt?«fragte Borowski.

«Daß ich es mir anders überlegt hätte, sonst nichts.«

«Gut, je weniger man sagt, desto besser. Dein Name steht auf der Meldekarte. Überleg dir einen Grund, weshalb du dort warst.«

«Überleg dir?… Ich soll mir das überlegen?«Sie sah ihm in die Augen, ihr Lächeln war verflogen.

«Ich meine, wir werden uns etwas überlegen. Natürlich.«

«Natürlich.«

«Gehen wir. «Sie gingen auf die Ecke zu, neben ihnen hallte der Verkehr auf der Straße. Der Nieselregen hatte sich verstärkt, der Nebel war dichter geworden. Er nahm ihren Arm— nicht, um sie zu führen, nicht einmal aus Höflichkeit — nur um sie zu berühren, um ein Stück von ihr zu halten. Es blieb ihnen nur noch so wenig Zeit.

Ich bin Cain. Ich bin der Tod.

«Können wir nicht langsamer gehen?«fragte Marie gereizt. Sie war ganz außer Atem.

«Was?«Jetzt erst bemerkte Jason, daß er gerannt war; ein paar Sekunden lang war er wieder in dem Labyrinth gewesen, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Er blickte nach vorne. An der Ecke war ein leeres Taxi neben einem grellbunten Zeitungskiosk zum Stillstand gekommen, und der Fahrer schrie dem Händler durch sein offenes Fenster etwas zu.»Ich will dieses Taxi erwischen«, sagte Borowski, ohne seine Schritte zu verlangsamen.»Es wird gleich scheußlich regnen.«

Sie erreichten die Ecke, beide außer Atem, während das leere Taxi davonrollte und nach links in die Rue de Rivoli einbog, Jason sah Marie im grellen Licht des Zeitungskiosks an; sie zuckte unter dem plötzlichen Wolkenbruch zusammen. Nein. Sie zuckte nicht zusammen; sie starrte etwas an… ungläubig, erschreckt. Und dann schrie sie ohne Warnung auf, das Gesicht verzerrt, die Finger ihrer rechten Hand gegen den Mund gepreßt. Borowski packte sie, zog ihren Kopf an seine Mantelbrust; aber sie hörte nicht auf zu schreien.

Er drehte sich herum und versuchte, die Ursache ihrer Hysterie zu erkennen. Dann sah er es und wußte in jener unglaublichen halben Sekunde, daß der Countdown abgebrochen werden mußte. Er hatte das letzte Verbrechen begangen; er konnte sie nicht verlassen, nicht jetzt, noch nicht.

Ganz oben an dem Zeitungskiosk hing eine Morgenzeitung, deren schwarze Schlagzeilen im grellen Licht herausplärrten:

MÖRDER

FRAU WEGEN MORD IN ZÜRICH GESUCHT VERDÄCHTIG DES MILLIONENDIEBSTAHLS

Unter den Balkenlettern war ein Foto von Marie St. Jacques abgebildet.

«Hör auf!«flüsterte Jason und schob sich so vor sie, daß der neugierige Zeitungshändler sie nicht sehen konnte, griff nach Münzen in die Tasche. Er warf das Geld auf den Zahlteller, packte sich zwei Zeitungen und schob sie in die finstere, vom Regen gepeitschte Straße.

Jetzt hatte das Labyrinth sie beide.

Borowski öffnete die Tür und führte Marie hinein. Sie stand bewegungslos da, sah ihn an, das Gesicht bleich und erschreckt, ihr Atem unregelmäßig, eine hörbare Mischung aus Furcht und Wut.

«Ich hol dir was zu trinken«, sagte Jason und ging an die Kommode. Während er einschenkte, wanderten seine Augen zum Spiegel und er empfand den übermächtigen Drang, das Glas zu zerschmettern, so verabscheuungswürdig war ihm sein eigenes Abbild. Was, zum Teufel, hatte er getan? O Gott!

Ich bin Cain. Ich bin der Tod.

Er hörte sie aufstöhnen und fuhr herum, zu spät, um sie aufzuhalten, zu weit entfernt, um einen Satz zu machen und ihr das schreckliche Ding aus der Hand zu reißen. Herrgott, das hatte er vergessen! Sie hatte den Umschlag auf dem Nachttisch gefunden und las jetzt seinen Brief. Der Schrei, den sie ausstieß, war ein durchdringender, schrecklicher Schmerzensschrei.

«Jasonnnn!…«

«Bitte! Nein!«Er rannte zu ihr, packte sie.»Das bedeutet jetzt nichts mehr! Nichts!«Er schrie sie hilflos an, sah die Tränen aus ihren Augen strömen, über ihre Wangen laufen.»Hör mir zu! Das stimmt jetzt nicht mehr.«

«Du wolltest mich verlassen! Mein Gott, du wolltest mich verlassenl« Ihre Augen wurden glasig, zwei blinde Kreise der Panik.»Ich habe es gewußt. Gespürt!«

«Ich wollte, daß du es spürst!«sagte er und zwang sie, ihn anzusehen.»Aber das ist jetzt vorbei. Ich werde dich nicht verlassen. Hör mir zu. Ich werde dich nicht verlassen!«

Wieder schrie sie.»Ich konnte nicht atmen… es war so kalt!«

Er zog sie an sich, nahm sie in die Arme.»Wir müssen ganz von vorne beginnen. Versuch zu begreifen. Die Situation ist jetzt ganz anders — und ich kann nicht ungeschehen machen, was war — aber ich werde dich nicht verlassen.«

Sie drückte die Hände gegen seine Brust, versuchte, ihn von sich zu schieben. Und ihr von Tränen überströmtes Gesicht bettelte:»Warum, Jason? Warum?«

«Später. Nicht jetzt. Sag gar nichts. Halt mich nur fest; laß mich dich festhalten.«

Die Minuten verstrichen, ihre Hysterie verging, und sie beide konnten wieder klare Gedanken fassen. Borowski führte sie zum Stuhl; ihr Ärmel verfing sich in den Spitzen. Dann lächelten sie beide, und er kniete neben ihr nieder und hielt schweigend ihre Hand.

«Wie wär's mit einem Drink?«sagte er schließlich.

«Ja, bitte«, erwiderte sie, und der Druck ihrer Hand auf der seinen verstärkte sich, als er aufstand.»Du hast ihn schon vor einer Weile eingeschenkt.«

«Das macht nichts. «Er ging zu der Kommode und kam mit zwei Gläsern zurück, die zur Hälfte mit Whisky gefüllt waren. Sie nahm das ihre.»Fühlst du dich jetzt besser?«fragte er.

«Ruhiger. Zwar immer noch verwirrt… und verängstigt natürlich. Vielleicht auch ärgerlich, ich weiß nicht genau. Ich habe zu viel Angst, um darüber nachzudenken. «Sie trank, schloß die Augen, legte den Kopf gegen die Stuhllehne.»Warum hast du das getan, Jason?«

«Um dich zu schützen.«

«Schützen — «

Er hob die Hand, unterbrach sie.»Das kommt später. Alles, wenn du willst. Aber zuerst müssen wir wissen, was geschehen ist — nicht mir — sondern dir. Dort müssen wir beginnen. Kannst du das?«

«Die Zeitung.«

«Ja.«

«Hier. «Jason ging zu dem Bett, auf das er die beiden Zeitungen hatte fallen lassen.

Sie lasen den langen Artikel schweigend. Hie und da stöhnte Marie auf, schockiert von dem, was sie las; dann schüttelte sie wieder ungläubig den Kopf. Borowski sagte nichts. Er sah die Hand von IIjitsch Ramirez Sanchez. Carlos wird Cain bis zum Ende der Welt folgen. Carlos wird ihn töten. Marie St. Jacques war überflüssig, ein Köder, der in der Falle sterben würde, die Cain fing.

Ich bin Cain. Ich bin der Tod.

Der Artikel bestand in Wirklichkeit aus zwei Artikeln — ein seltsames Gemisch aus Fakten und Vermutungen, das mit Spekulationen aufwartete, wo greifbare Beweise fehlten. Zuerst wurde eine Angestellte der kanadischen Regierung vorgestellt, eine Volkswirtschaftlerin namens Marie St. Jacques. Sie war am Schauplatz zweier Morde gewesen, die kanadische Regierung bestätigte ihre Fingerabdrücke. Ferner fand die Polizei einen Hotelschlüssel des >Carillon du Lac<, der offensichtlich während des Geschehens am Mythen-Quai verlorengegangen war. Es war der Schlüssel zum Zimmer von Marie St. Jacques, den der Hotelangestellte ihr gegeben hatte, ein Angestellter, der sich gut an sie erinnerte — an einen Gast in einem Zustand höchster Verwirrung und Angst. Das letzte Beweisstück war eine Pistole, die man unweit der Brauerstraße gefunden hatte, in einer Seitengasse nahe dem Schauplatz zweier weiterer Morde. Die Ballistikfachleute hielten sie für die Mordwaffe. Sie trug die Fingerabdrücke von Marie St. Jacques. An diesem Punkt wich der Artikel von den Tatsachen ab. Er berichtete von Gerüchten in der Bahnhofstraße, daß viele Millionen Dollar gestohlen worden wären, und zwar ein Computerverbrechen, ein vertrauliches Nummernkonto, das einer amerikanischen Firma gehörte, die sich Treadstone Seventy-One nannte. Auch die Bank wurde genannt; natürlich die Gemeinschaftsbank. Aber alles andere war nebulös, obskur, eher Spekulation als Tatsachen.

Nach namentlich nicht bekannten Gewährsleuten hatte ein Amerikaner, der im Besitze der entsprechenden Codes auftrat, Millionen an eine Bank in Paris überwiesen, und das neue Konto Personen zugänglich gemacht, die bereits in Paris warteten und die Millionen sofort nach Eintreffen abhoben und verschwanden. Der Erfolg der Operation ging darauf zurück, daß der Amerikaner sich die richtigen Codes für das Konto in Zürich beschafft hatte, etwas, das ihm nur dadurch möglich war, daß er die Nummernsequenz der Bank ausfindig machte, die Jahr, Monat und Tag der Einzahlung ausdrückte — die übliche Vorgehensweise für geheime Konten. Eine solche Analyse war nur durch Einsatz komplizierter Computertechniken und gründliches Wissen um Schweizer Bankpraktiken möglich. Auf Befragen bestätigte ein leitender Angestellter der Bank, Herr Walther Apfel, daß Nachforschungen über die amerikanische Firma eingeleitet worden seien, aber gemäß Schweizer Gesetz >würde die Bank keine weiteren Kommentare abgeben<.

An dieser Stelle wurde die Verbindung zu Marie St. Jacques offensichtlich. Sie wurde als Volkswirtschaftlerin in Regierungsdiensten geschildert, die man in den internationalen Bankgepflogenheiten ausgebildet hatte, und die darüber hinaus Erfahrung als Computerprogrammiererin hatte. Man argwöhnte, daß sie eine Komplizin des Täters wäre, deren spezielle Erfahrung für den Coup notwendig gewesen sei. Einen männlichen Verdächtigen, hieß es, hätte man in ihrer Gesellschaft im >Carillon du Lac< gesehen.

Marie hatte den Artikel zu Ende gelesen und ließ die Zeitung zu Boden fallen. Auf das Geräusch hin blickte Borowski auf. Sie starrte die Wand an und wirkte plötzlich seltsam ruhig. Er war über ihre Reaktion erstaunt und las schnell zu Ende. Einen Augenblick lang war er sprachlos. Dann fand er seine Stimme wieder und sagte:

«Lügen, die man meinetwegen verbreitet hat. Die wollen dich ausräuchern, um mich zu finden. Es tut mir leid. Ich bin schuld.«

Marie wandte den Blick von der Wand und sah ihn an.»Die Gründe gehen tiefer, Jason«, sagte sie.»Alles enthält ein Quentchen Wahrheit, das bewußt verdreht wurde.«

«Wahrheit? Das einzige, das stimmt ist, daß du in Zürich warst. Du hast nie eine Pistole berührt, du warst nie in einer Seitengasse in der Nähe der Brauerstraße. Du hast keinen Hotelschlüssel verloren, du warst nie in der Gemeinschaftsbank.«

«Richtig, aber das ist nicht die Wahrheit, von der ich spreche.«

«Was ist es dann?«

«Die Gemeinschaftsbank, Treadstone Seventy-One, Apfel. Das ist die Wahrheit, und die Tatsache, daß man das erwähnt— insbesondere die Aussage Apfels — ist unglaublich. Schweizer Bankiers sind vorsichtige Leute. Sie machen sich nicht über die Gesetze lustig, nicht auf diese Art; dazu sind die Gefängnisstrafen zu streng. Die Statuten, die die Vertraulichkeit der Bankgeschäfte schützen, sind heilig in der Schweiz. Apfel könnte auf Jahre ins Gefängnis wandern, für das, was hier steht, auch nur die Andeutung, daß es ein solches Konto gibt, geschweige denn, daß er Namen nennt, ist strafbar. Es sei denn, eine Autorität, die stark genug war, um die Gesetze zu umgehen, hat ihn dazu gezwungen. «Sie hielt inne, und ihre Augen wanderten wieder zur Wand.»Warum? Warum hat man die Gemeinschaftsbank, Treadstone oder Apfel in die Geschichte hineingezogen?«

«Das habe ich dir doch gesagt. Sie wollen mich, und sie wissen, daß wir zusammen sind. Carlos weiß, daß wir zusammen sind. Wenn er dich findet, hat er auch mich gefunden.«

«Nein, Jason, das hat mit Carlos nichts mehr zu tun. Du kennst die Gesetze in der Schweiz wirklich nicht. Nicht einmal ein Carlos könnte erreichen, daß man sich so über sie hinwegsetzt. «Sie sah ihn an, aber ihre Augen sahen nicht ihn, sie blickte jetzt in ihre eigenen Nebel.»Das ist nicht nur eine Geschichte, das sind zwei. Beide sind aus Lügen aufgebaut, und die erste ist durch nebulöse Spekulation mit der zweiten verbunden — einer Spekulation über eine Bankkrise, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblickte, solange nicht eine gründliche und sorgfältige Untersuchung die Fakten bewiesen hätte. Und die andere Geschichte — jene offenkundig falsche Aussage, daß der Gemeinschaftsbank Millionen gestohlen worden waren — ist an die ebenso falsche Geschichte angehängt, daß man mich wegen Mordes an drei Männern in Zürich sucht. Man hat sie hinzugefügt, absichtlich.«

«Das mußt du bitte erklären.«

«Das steht hier, Jason. Glaube mir, wenn ich dir das sage: das steht hier vor unseren Augen.«

«Was denn?«

«Jemand versucht, uns eine Nachricht zukommen zu lassen.«

Kapitel 19

Die Militärlimousine jagte in südlicher Richtung auf dem East River Drive von Manhattan dahin, und ihre Scheinwerfer beleuchteten die durcheinander wirbelnden Flocken eines spätwinterlichen Schneefalles. Der Major auf dem Rücksitz döste, hatte sich in seiner ganzen Länge in die Ecke gezwängt, die Beine schräg im Fond ausgestreckt. Auf seinem Schoß lag eine Aktentasche, an deren Handgriff vermittels eines Metallhakens eine dünne Nylonschnur befestigt war. Die Schnur führte durch seinen rechten Ärmel und unter dem Umformrock bis zu seinem Gürtel. In den letzten neun Stunden war die Sicherheitsschnur nur zweimal abgenommen worden. Einmal während des Abflugs des Majors in Zürich und dann, als er am Kennedy-Airport eintraf. An beiden Orten hatten Beamte der US-Regierung die Zollangestellten beobachtet — genauer gesagt, die Aktentasche beobachtet. Sie kannten nicht die Gründe; sie hatten einfach Anweisung, die Untersuchung zu beobachten; bei der geringsten Abweichung von der üblichen Vorgehensweise — also auffälligem Interesse an der Aktentasche — sollten sie einschreiten. Wenn nötig, mit Waffengewalt.

Plötzlich war ein leises Summen zu hören; der Major riß die Augen auf und hob die linke Hand vors Gesicht. Das Geräusch kam aus seiner Armbanduhr; er drückte den Knopf und sah mit zusammengekniffenen Augen auf das zweite Zifferblatt des auf zwei Zeitzonen ausgelegten Chronometers. Das erste Zeigerpaar war auf Züricher Zeit eingestellt, das zweite auf New Yorker; der Alarm war vor vierundzwanzig Stunden eingestellt worden, als der Offizier seine telegrafischen Anweisungen erhalten hatte. Die Sendung würde innerhalb der nächsten drei Minuten kommen. Das heißt, dachte der Major, sie würde dann kommen, wenn Eisenarsch ebenso präzise war, wie er das von seinen Untergebenen erwartete. Der Offizier streckte sich, balancierte dabei die Aktentasche auf den Knien und beugte sich nach vorne, um zu dem Fahrer etwas zu sagen.»Sergeant, schalten Sie den Zerhacker auf 1430 Megahertz, bitte.«»Yes, Sir. «Der Sergeant legte zwei Schalter unter dem

Armaturenbrett um und drehte die Skala dann auf die Frequenz 1430.»Eingestellt, Major.«

«Danke. Reicht das Mikrophon bis nach hinten?«

«Das weiß ich nicht. Habe ich nie versucht, Sir. «Der Fahrer nahm das kleine Plastikmikrophon vom Haken und streckte die Spiralschnur über den Sitz.»Müßte gehen«, meinte er dann.

Ein Knacken kam aus dem Lautsprecher, während der Zerhacker elektronisch die Frequenz abtastete und in ihre Bestandteile zerlegte. Die Nachricht würde binnen weniger Sekunden eintreffen. Das tat sie.

«Treadstone? Treadstone, bitte melden.«

«Treadstone auf Empfang«, sagte Major Gordon Webb.»Empfang klar. Sprechen, bitte.«

«Melden Sie Ihre Position!«

«Etwa eine Meile südlich der Triborough, East River Drive«, sagte der Major.

«Ihr Timing ist akzeptabel«, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher.

«Das freut mich zu hören. Macht mich glücklich… Sir.«

Eine kurze Pause, offenbar wußte die Stimme auf der anderen Seite mit der Bemerkung des Majors nichts anzufangen.»Fahren Sie nach 139 East Seventy-first. Bestätigen Sie.«

«Eins-drei-neun East Seventy-first.«

«Lassen Sie Ihr Fahrzeug außerhalb. Gehen Sie zu Fuß.«

«Verstanden.«

«Ende.«

«Ende. «Webb schob den Sendeknopf zurück und reichte das Mikrophon wieder dem Fahrer.»Vergessen Sie die Adresse, Sergeant. Ihr Name ist jetzt registriert.«

«Kapiert, Major. Ich kriege über den Kasten ohnehin bloß Störungen rein. Aber, da ich nicht weiß, wo es ist, und diese Kiste auch nicht dahin soll — wo soll ich Sie denn rauslassen?«

Webb lächelte.»Höchstens zwei Blocks entfernt. Ich würde im Rinnstein einschlafen, wenn ich weiter gehen müßte.«

«Wie war's mit der Lex und der Einundsiebzigsten?«

«Sind das zwei Blocks?«

«Höchstens drei.«

«Wenn es drei Blocks sind, sind Sie wieder gewöhnlicher Schütze.«

«Dann könnte ich Sie nachher nicht abholen, Major. Gewöhnliche Schützen sind für diesen Dienst nicht freigegeben.«

«Wie Sie meinen, Captain. «Webb schloß die Augen. Nach zwei Jahren sollte er Treadstone Seventy-One zum erstenmal persönlich zu Gesicht bekommen. Er wußte, daß das eigentlich ein Gefühl der Erwartung in ihm auslösen sollte; aber das tat es nicht. Es löste nur Müdigkeit und ein Gefühl der Sinnlosigkeit in ihm aus. Was war los?

Das beständige Dröhnen der Reifen auf dem Straßenpflaster wirkte hypnotisch, aber es kam immer wieder zu kurzen Stößen, wenn der Wagen über ein Schlagloch rollte. Diese Geräusche erweckten Erinnerungen an die Vergangenheit in ihm, Erinnerungen an kreischende Dschungelgeräusche, die in eine einzige Melodie verwoben waren. Und dann die Nacht — jene Nacht — in der rings um ihn blendende Lichter und ein Stakkato von Explosionen war, um ihn und unter ihm und ihm meldeten, daß er gleich sterben würde. Aber er starb nicht; ein Wunder in Gestalt eines Mannes hatte ihm sein Leben zurückgegeben… und die Jahre gingen weiter seit jener Nacht, aber er würde jene Tage nie vergessen. Was zum Teufel war los mit ihm?

«Hier sind wir, Major.«

Webb schlug die Augen auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er sah auf die Uhr, griff nach seiner Aktentasche und mit der anderen Hand nach der Türklinke.

«Ich werde zwischen dreiundzwanzig Uhr und dreiundzwanzig Uhr dreißig hier sein, Sergant. Wenn Sie nicht parken können, fahren Sie einfach ein paarmal um den Block, dann finde ich Sie schon.«

«Yes, Sir. «Der Fahrer drehte sich in seinem Sitz herum.»Könnten Herr Major mir sagen, ob wir noch eine größere Strecke fahren?«

«Warum? Haben Sie noch eine Fahrt zu machen?«

«Ach kommen Sie, Sir. Ich bin Ihnen zugewiesen, bis Sie sagen, daß Sie mich nicht mehr brauchen. Das wissen Sie doch. Aber diese gepanzerten Kästen brauchen genausoviel Benzin wie die alten Shermans. Wenn wir weit fahren müssen, sollte ich tanken.«

«Entschuldigung. «Der Major hielt inne.»Okay. Sie müssen ohnehin ausfindig machen, wo es ist, weil ich es nämlich nicht weiß. Wir fahren zu einem Privatflugplatz in Madison, New

Jersey. Ich muß spätestens um ein Uhr dort sein.«

«Ich kann es mir ungefähr vorstellen«, sagte der Fahrer.»Wenn Sie erst um halb zwölf Uhr kommen, wird das ziemlich knapp, Sir.«

«Okay — also elf Uhr. Und vielen Dank. «Webb stieg aus, schloß die Tür und wartete, bis die braune Limousine sich in den Verkehrsfluß der Zweiundsiebzigsten Straße eingereiht hatte. Dann ging er in südlicher Richtung auf die Einundsiebzigste zu.

Vier Minuten später stand er vor einem gepflegten Backsteinbau, dessen eleganter Stil sich dem der anderen Häuser in der von Bäumen gesäumten Straße anpaßte. Es war eine stille Straße, eine, die nach Geld roch — altem Geld. Wahrscheinlich gab es in ganz Manhatten keinen Ort, an dem man weniger eine der empfindlichsten Abwehrorganisationen im ganzen Land vermutet hätte. Und bis vor zwanzig Minuten war Major Gordon Webb einer unter acht oder zehn Leuten im ganzen Land gewesen, die von ihrer Existenz wußten.

Treadstone Seventy-One.

Er ging die Treppe hinauf und wußte, daß der Druck, den sein Gewicht auf die Eisengitter ausübte, die in den Stein eingelassen waren, elektronische Geräte ansprechen ließ, die ihrerseits Kameras einschalteten, die auf Bildschirmen im Haus sein Bild wiedergaben. Darüber hinaus wußte er wenig, nur daß Treadstone Seventy-One nie schloß; es arbeitete vierundzwanzig Stunden am Tage und wurde während der vierundzwanzig Stunden von einigen wenigen überwacht, deren Identität unbekannt war.

Er erreichte die oberste Stufe und klingelte, drückte eine ganz gewöhnliche Klingel; die Tür allerdings war nicht so ganz gewöhnlich, das konnte der Major sehen. Das massive Holz war mit einer Stahlplatte vernietet, und die schmiedeeiserne Dekoration diente in Wirklichkeit dazu, die Nieten zu verbergen, während der große Bronzeknopf eine Platte tarnte, die dafür sorgte, daß eine Reihe stählerner Bolzen durch Berührung einer menschlichen Hand in stählerne Fassungen schossen, wenn Alarm ausgelöst wurde. Webb blickte zum Fenster empor. Er wußte, daß jede Glasscheibe einen Zoll dick war und so selbst direktem Beschuß mit.30-Kaliber Widerstand leisten konnte. Treadstone Seventy-One war eine Festung.

Die Tür öffnete sich, und der Major lächelte unwillkürlich, als er die Gestalt sah, die hier so völlig unpassend wirkte. Eine pagenhaft schlanke, elegant aussehende, grauhaarige Frau mit weichen, aristokratischen Zügen und einer Haltung, die auf alten Geldadel schließen ließ. Ihre Stimme entsprach dem ersten Eindruck; sie sprach jenes elegante >mid-Atlantic<, ein Amerikanisch, das eher in Boston als New York zu Hause war und selbst in den besten Kreisen Londons akzeptiert wurde. Diese Art zu sprechen wurde auf vornehmen Colleges und bei Polospielen gepflegt.

«Wie schön, daß Sie gekommen sind, Major. Jeremy hat Sie schon angemeldet. Kommen Sie doch bitte herein. Es ist wirklich eine Freude, Sie wiederzusehen.«

«Ganz meinerseits«, erwiderte Webb und trat in das geschmackvoll ausgestattete Foyer. Er beendete den Satz erst, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte.»Aber ich bin nicht sicher, wo wir uns schon einmal begegnet sind.«

Die Frau lachte.»Oh, wir haben manchmal miteinander zu Abend gegessen.«

«Mit Jeremy?«

«Natürlich.«

«Wer ist Jeremy?«

«Ein sehr ergebener Neffe, der auch ein guter Freund von Ihnen ist. Wirklich ein reizender junger Mann; wie schade, daß es ihn nicht gibt. «Sie griff nach seinem Ellbogen, als sie den langen Korridor hinuntergingen.»Das ist alles nur wegen der Nachbarn, die vielleicht zuhören könnten. Kommen Sie jetzt bitte, man wartet.«

Sie gingen an einem Bogen vorbei, der in ein großes Wohnzimmer führte; der Major blickte hinein. Am Fenster stand ein Flügel und daneben eine Harfe, und überall — auf dem Flügel und auf polierten Tischen, die sich im gedämpften Licht spiegelten — standen silbergerahmte Fotografien, Erinnerungen an eine Vergangenheit, die mit Wohlstand und Eleganz verbunden war. Segelboote, Männer und Frauen auf den Decks von Ozeandampfern, einige Militärporträts. Und tatsächlich zwei Schnappschüsse von einem Polospieler im Sattel. Es war ein Raum, wie er in ein geschmackvolles Backsteingebäude an dieser Straße paßte.

Sie erreichten das Ende des Korridors; es gab dort eine mächtige Mahagonitür mit Halbreliefschnitzereien und schmiedeeisernen Dekorationsteilen, die ebenfalls wieder ihrem Schutz dienten. Wenn es hier irgendwo eine

Infrarotkamera gab, konnte Webb das Objektiv nicht entdecken. Die grauhaarige Frau drückte einen unsichtbaren Klingelknopf, und der Major konnte ein leises Summen hören.

«Ihr Freund ist hier, Gentlemen. Hören Sie auf, Poker zu spielen und machen Sie sich an die Arbeit. Reißen Sie sich zusammen, Jesuit.«

«Jesuit?«fragte Webb verblufft.

«Ein alter Witz«, erwiderte die Frau.»Er reicht in die Zeit zurück, in der Sie wahrscheinlich mit Murmeln spielten und kleine Mädchen anfauchten.«

Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf die alte, aber immer noch kerzengerade Gestalt von David Abbott frei.»Freut mich, Sie zu sehen, Major«, sagte der ehemalige stumme >Mönch< der Geheimdienste und streckte ihm die Hand hin.

«Freut mich, hier zu sein, Sir. «Webb schüttelte ihm die Hand. Ein weiterer älterer, imposant wirkender Mann trat neben Abbott.

«Ein Freund von Jeremy, ohne Zweifel«, sagte der Mann mit einem Lächeln in der Stimme.»Tut mir schrecklich leid, daß die Zeit keine richtige Vorstellung zuläßt, junger Freund. Kommen Sie, Margaret. Oben brennt ein wärmendes Feuer im Kamin. «Er wandte sich Abbott zu.»Sie sagen mir doch Bescheid, wenn Sie gehen, David?«

«Um meine übliche Zeit, vermute ich«, erwiderte der >Mönch<.»Ich werde diesen beiden zeigen, wie man Ihnen klingelt.«

Erst jetzt merkte Webb, daß noch ein dritter Mann im Raum war; er stand am anderen Ende im Schatten, der Major erkannte ihn sofort. Es war Elliot Stevens, der Seniorratgeber des Präsidenten der Vereinigten Staaten — einige sagten, sein zweites Ich. Er war ein Mann um die Vierzig, schlank, Brillenträger, von seiner Körperhaltung ging eine Aura unauffälliger Autorität aus.

«… schon gut. «Der eindrucksvolle ältere Mann, der keine Zeit gehabt hatte, sich vorzustellen, hatte etwas gesagt. Webb hatte ihn nicht verstanden, weil er auf den Mann aus dem Weißen Haus geachtet hatte.»Ich warte dann.«

«Bis zum nächsten Mal«, fuhr Abbott fort und musterte die grauhaarige Frau freundlich.»Danke, Schwester Meg. Und daß Sie mir Ihr Ordenskleid gut gebügelt halten. Passen Sie auf.«

«Sie sind ein böser, alter Mann, Jesuit.«

Die beiden verließen den Raum und schlossen die Türe hinter sich. Webb stand einen Augenblick da und schüttelte lächelnd den Kopf. Der Mann und die Frau von 139 East Seventy-first gehörten in den Raum am Ende des Korridors ebenso wie jener Raum in das Backsteingebäude gehörte, und wie das Ganze ein Teil der stillen, wohlhabenden, von Bäumen gesäumten Straße war.»Sie kennen die beiden schon lange Zeit, nicht wahr?«

«Ein Leben lang, könnte man sagen«, erwiderte Abbott.»Er war Yachtsegler, und wir konnten ihn in der Adria gut für Donovans Operationen in Jugoslawien einsetzen. Mikhailowitsch hat einmal gesagt, keiner hätte sich bei schlechtem Wetter so wie er aufs Wasser gewagt. Und lassen Sie sich ja nicht von Schwester Megs gepflegter Eleganz täuschen. Sie war eines der Mädchen von Intrepids, ein Piranha mit scharfen Zähnen.«

«Legendär.«

«Aber eine Legende, die nie erzählt werden wird«, sagte Abbott und schloß das Thema damit ab.»Ich möchte Sie mit Elliot Stevens bekannt machen. Ich brauche Ihnen, glaube ich, nicht zu sagen, wer er ist. Webb, Stevens. Stevens, Webb.«

«Klingt ja wie ein Anwaltsbüro«, sagte Stevens liebenswürdig und ging mit ausgestreckter Hand durchs Zimmer auf Webb zu.»Nett, Sie kennenzulernen, Webb. Gute Reise gehabt?«

«Ich hätte eine Militärmaschine vorgezogen. Ich hasse diese verdammten Fluggesellschaften. Ich dachte schon, ein Zollbeamter im Kennedy wollte mir das Kofferfutter aufschneiden.«

«Sie wirken in dieser Uniform zu ehrfurchtgebietend«, lachte der >Mönch<.»Sie sind ganz offensichtlich ein Schmuggler.«

«Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich die Uniform verstehe«, sagte der Major und trug seine Aktentasche zu einem langen Klapptisch an der Wand und löste die Nylonschnur von seinem Gürtel.

«Ich brauche Ihnen wahrscheinlich nicht zu sagen, daß die schärfsten Sicherheitsvorkehrungen manchmal höchst auffällig wirken«, antwortete Abbott.»Ein Offizier der Militärischen Abwehr, der sich inkognito in Zürich herumtreibt, würde im Augenblick ganz bestimmt Unruhe auslösen.«

«Dann verstehe ich überhaupt nichts mehr«, sagte der Mann aus dem Weißen Haus und trat neben Webb und sah ihm zu, wie er sein Schloß betätigte.»Würde denn das offene Auftreten eines solchen Mannes nicht einen noch schrilleren Alarm auslösen? Ich dachte, die Geheimoperation sei deshalb durchgeführt worden, weil man annahm, daß die Gefahr der Entdeckung geringer wäre.«

«Webbs Reise nach Zürich war eine Routineüberprüfung des Konsulats und bereits auf den beiden Zeitplänen von G-Zwo eingetragen. Niemand macht irgend jemand in bezug auf diese Reisen etwas vor; sie sind das, was sie sind und sonst nichts. Die Versicherung neuer Gewährsleute und die Zahlung von Informanten. Die Sowjets tun das die ganze Zeit; sie machen sich nicht einmal die Mühe, es zu verbergen. Wir tun das, offen gestanden, auch nicht.«

«Aber welchen Zweck hatte denn diese Reise nicht!« sagte Stevens, der zu begreifen begann.»Das Offensichtliche verbirgt also das Nicht-Offensichtliche.«

«So ist es.«

«Kann ich Ihnen behilflich sein?«Der Präsidentenberater schien von der Aktentasche fasziniert.

«Danke«, sagte Webb,»ziehen Sie einfach die Schnur durch.«

Das tat Stevens.»Ich dachte immer, das wären Ketten ums Handgelenk«, sagte er.

«Dabei würden zu viele Hände abgeschnitten«, erklärte der Major und lächelte, als er die Reaktion des anderen bemerkte.»In der Nylonschnur ist ein Stahldraht. «Er hatte jetzt die Aktentasche von der Schnur gelöst und öffnete sie auf dem Tisch. Kurz sah er sich in der elegant ausgestatteten Bibliothek um. Am Ende des Raums gab es Türen, die offenbar in einen Garten führten. Durch die dicken Glasscheiben konnte man die Umrisse einer hohen Steinmauer erkennen.»Das also ist Treadstone Seventy-One. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt.«

«Ziehen Sie wieder die Vorhänge zu, bitte, Elliot«, sagte Abbott. Der Mann aus dem persönlichen Stab des Präsidenten ging zu der Terrassentüre und tat, worum man ihn gebeten hatte. Abbott trat an einen Bücherschrank, öffnete das Kästchen darunter und griff hinein. Ein leises Summen war zu hören; dann löste sich der ganze Bücherschrank aus der Wand und drehte sich langsam nach links. Auf der anderen Seite war eine elektronische Radiokonsole zu sehen, Gordon Webb hatte selten eine ähnlich komplizierte Anlage gesehen.»Kommt das dem, was Sie sich vorgestellt hatten, näher?«fragte der >Mönch<..

«Herrgott…«Der Major pfiff leise durch die Zähne, während er die Skalen, Register, Steckerverbindungen und sonstigen Geräte studierte. Die Kriegsräume des Pentagon waren besser ausgestattet, aber man konnte ohne Übertreibung sagen, daß das hier etwa der Einrichtung einer mittleren Abwehrstation gleichkam.

«Da würde ich auch pfeifen«, sagte Stevens, der vor dem dichten Vorhang stand.»Aber Mr. Abbott hat mir bereits meine persönliche Show geliefert. Das ist erst der Anfang. Noch fünf weitere Knöpfe, und das hier sieht aus wie ein Stützpunkt des strategischen Luftkommandos in Omaha.«

«Dieselben Knöpfe verwandeln diesen Raum aber auch in eine elegante Bibliothek an der East-Side. «Der alte Mann griff in das Schränkchen, und binnen weniger Sekunden war die riesige Konsole wieder durch Bücherregale ersetzt. Dann trat er an den Bücherschrank daneben, öffnete wieder das Schränkchen darunter und schob erneut die Hand hinein. Wieder summte es; der Bücherschrank schob sich heraus, und kurz darauf standen an seiner Stelle drei hohe Ablagekästen. Der >Mönch< holte einen Schlüssel aus der Tasche und zog eine Schublade heraus.»Ich will ja hier nicht angeben, Gordon. Wenn wir fertig sind, möchte ich, daß Sie sich das hier ansehen. Ich zeige Ihnen den Schalter, wie man sie wieder zurückschiebt. Wenn Sie irgendwelche Probleme haben, wird unser Gastgeber sich um alles kümmern.«

«Wonach soll ich denn suchen?«

«Darauf kommen wir; im Augenblick interessiert mich Zürich. Was haben Sie erfahren?«

«Entschuldigen Sie, Mr. Abbott«, unterbrach Stevens.»Wenn ich ein wenig langsam bin, dann weil mir das alles so neu ist. Aber ich habe über etwas nachgedacht, was Sie vor ein oder zwei Minuten über Major Webbs Reise sagten.«

«Was denn?«

«Sie sagten, die Reise sei in die Zeitpläne von G-Zwo eingetragen gewesen.«

«Richtig.«

«Warum? Der Aufenthalt des Majors in Zürich diente doch dazu, die Leute dort zu verwirren, nicht Washington. Oder nicht?«

Der >Mönch< lächelte.»Ich begreife schon, daß der Präsident nicht auf Sie verzichten will. Wir hatten nie angezweifelt, daß Carlos sich hier in Washington in den einen oder anderen Kreis eingekauft hat. Er findet unzufriedene Männer und lockt sie mit etwas, das sie nicht besitzen. Ein Carlos könnte ohne solche Leute nicht existieren. Sie dürfen nicht vergessen, daß er nicht nur den Tod verkauft, er verkauft auch die Geheimnisse einer Nation. Viel zu häufig an die Sowjets, und sei es auch nur, um ihnen zu beweisen, wie vorschnell es war, ihn aus der Organisation hinauszuwerfen.«

«Der Präsident würde das gerne wissen«, sagte der Assistent,»um einige Dinge zu klären.«

«Deshalb sind Sie ja hier, oder nicht?«meinte Abbott.

«Ja, ich denke schon.«

«Das ist ein guter Ausgangspunkt«, sagte Webb und trug seine Aktentasche zu einem Armsessel vor den Aktenschränken. Er setzte sich, klappte seine Tasche auf und entnahm ihr einige Blätter.»Mag sein, daß Sie es schon wissen, aber ich kann bestätigen, daß Carlos in Washington ist.«

«Wo? Bei Treadstone?«

«Dafür gibt es keine klaren Beweise, aber ausschließen kann man es auch nicht. Er hat den Hinweis entdeckt und verändert.«

«Du großer Gott, wie?«

«Dazu kann ich nur Vermutungen anstellen; wer es getan hat, weiß ich.«

«Wer?«

«Ein Mann namens Koenig. Bis vor drei Tagen war er für Überprüfungen in der Gemeinschaftsbank zuständig.«

«Wo ist er jetzt?«

«Tot. Ein verrückter Autounfall auf einer Straße, die er wie seine Westentasche kannte. Hier ist der Polizeibericht; ich habe ihn übersetzen lassen. «Abbott griff nach den Papieren und setzte sich auf einen Sessel, der in der Nähe stand. Elliot Stevens blieb stehen. Webb fuhr fort:»Interessanterweise sagt er uns zwar nichts Neues, aber es gibt hier einen Hinweis, dem ich gerne nachgehen würde.«

«Was denn?«fragte der >Mönch<, ohne mit Lesen aufzuhören.»Der Unfall wird genau beschrieben: Die

Geschwindigkeit des Fahrzeugs und wie es aus der Kurve kam; ein Ausweichmanöver.«

«Das steht ganz am Ende. Der Mord in der Gemeinschaftsbank wird erwähnt und die schnelle Flucht.«

«Aha!«Abbott blätterte um.

«Lesen Sie doch selbst die letzten paar Sätze. Verstehen Sie dann?«

«Nicht ganz«, erwiderte Abbott und runzelte die Stirn.»Hier steht nur, daß Koenig ein Angestellter der Gemeinschaftsbank war, wo vor kurzem ein Mord stattgefunden hatte… Und er war Augenzeuge dieses Schußwechsels. Das ist alles.«

«Ich glaube nicht, daß das >alles< ist«, sagte Webb.»Jemand fing an, Fragen zu stellen: Fragen jedoch wurden im Keim erstickt. Ich würde gerne erfahren, wer bei den Zürcher Polizeiberichten den Rotstift ansetzt. Das kann nur einer von Carlos' Leuten sein!«

Der >Mönch< lehnte sich im Sessel zurück und hatte immer noch die Stirn gerunzelt.»Angenommen, Sie haben recht, warum ist dann der ganze Hinweis nicht einfach gelöscht worden?«

«Weil das zu auffällig wäre. Der Mord hat ja stattgefunde; Koenig war tatsächlich Zeuge; der Beamte, der die Untersuchungen durchführte und den Bericht schrieb, tat nur seine Pflicht. Im Schweizer Bankwesen sind gewisse Bereiche offiziell unverletzbar, sofern nicht Beweise vorgelegt werden.«

«Wie ich höre, hatten Sie mit den Zeitungen großen Erfolg.«

«Inoffiziell. Ich habe an den Sensationshunger der Journalisten appelliert und Walther Apfel — wenn es ihm auch beinahe das Leben gekostet hätte — dazu gebracht, es halbwegs zu bestätigen.«

«Da muß ich unterbrechen«, sagte Elliot Stevens.»Ich glaube, das ist jetzt der Punkt, wo sich das Oval Office einschalten muß. Ich vermute, daß Sie, wenn Sie Zeitung sagen, die kanadische Frau meinen.«

«Eigentlich nicht. Die Story war bereits draußen; wir konnten das nicht verhindern. Carlos hat Verbindung zur Züricher Polizei; die hat jenen Bericht ausgegeben. Wir sind nur noch ein Stück weiter gegangen und haben sie mit einer ebenfalls falschen Geschichte in Verbindung gebracht, wonach Millionen von der Gemeinschaftsbank gestohlen worden seien. «Webb hielt inne und sah Abbott an.»Darüber müssen wir übrigens sprechen; vielleicht ist das gar nicht falsch.«

«Das kann ich nicht glauben«, sagte der >Mönch<.

«Würde es Ihnen etwas ausmachen, das alles noch mal zu wiederholen?«fragte der Mann aus dem Weißen Haus und nahm gegenüber dem Major Platz.

«Lassen Sie mich erklären«, unterbrach Abbott, der die Verwirrung in Webbs Gesicht sah.»Elliot ist auf Anweisung des Präsidenten hier. Es geht um den Mord am Flughafen in Ottawa.«

«Eine scheußliche Angelegenheit«, sagte Stevens.»Der Premierminister war nahe dran, dem Präsidenten zu sagen, er solle unsere Stationen aus Nova Scotia herausholen.«

«Wie ist das denn passiert?«fragte Webb.

«Wir wissen nur, daß jemand im Schatzamt diskrete Nachforschungen nach einer nicht im Telefonbuch stehenden amerikanischen Firma angestellt hat und dafür umgebracht wurde. Um die Dinge noch schlimmer zu machen, sagte man der kanadischen Abwehr, sie solle sich heraushalten, es handle sich um eine US-Operation von hohem Vertraulichkeitsgrad.«

«Und was, zum Teufel, hat das bewirkt?«

«Ich glaube, ich habe hier und dort schon den Namen Eisenarsch gehört«, sagte der >Mönch<.

«General Crawford? Ein blöder Hund — ein wirklich blöder Hund mit einem eisernen Arsch!«

«Können Sie sich das vorstellen?«warf Stevens ein. »Ihr Mann wird umgebracht, und wir besitzen die Frechheit, ihnen Vorschriften zu machen.«

«Er hatte natürlich recht«, verbesserte Abbott.»Es mußte schnell etwas geschehen. Für Mißverständnisse blieb keine Zeit. Ich habe sofort versucht, MacKenzie Hawkins zu erreichen — Mac und ich waren zusammen in Burma; er ist bereits pensioniert, aber immer noch einflußreich. Jetzt fängt die Sache immerhin an zu laufen.«

Stevens wandte sich wieder an Webb.»So, bitte, und jetzt noch einmal. Genau, was haben Sie getan und warum? Welche Rolle spielt diese Kanadierin in unseren Überlegungen?«

«Ursprünglich überhaupt keine; Carlos kam auf die Idee. Jemand, der in der Züricher Polizei ziemlich weit oben sitzt, wird von Carlos bestochen. Die Züricher Polizei hat das sogenannte Beweismaterial, das die Frau mit den Morden in Verbindung bringt, getürkt. Die Kanadierin ist keine Mörderin.«

«Schon gut, schon gut«, sagte der Mann aus dem Stab des Präsidenten ungeduldig.»Das war Carlos. Warum hat er es getan?«

«Um Borowski aufzuscheuchen. Marie St. Jacques und Borowski stecken zusammen.«

«Und Borowski ist dieser bezahlte Killer, der sich Cain nennt, stimmt das?«

«Ja«, sagte Webb.»Carlos hat geschworen, ihn umzubringen. Cain hat sich in ganz Europa und im Mittleren Osten in Carlos' Revier gedrängt; aber es gibt keine Fotografie von Cain, niemand weiß genau, wie er aussieht. Indem man also ein Bild der Frau in Umlauf bringt — und ich kann Ihnen versichern, das finden Sie im Augenblick dort drüben in jeder verdammten Zeitung —, könnte jemand sie entdecken. Und wenn man sie findet, besteht die Chance, daß Cain — Borowski — ebenfalls gefunden wird. Carlos wird sie beide töten.«

«Gut. Da sind wir wieder bei Carlos. Aber was haben Sie getan?«

«Genau was ich sagte. Ich ging zur Gemeinschaftsbank, um die Angestellten dort auf die Spur der Frau zu hetzen und ihnen einzubleuen, daß die Frau möglicherweise — wohlgemerkt, möglicherweise — in Verbindung mit einem umfangreichen Diebstahl stehen könnte. Das war nicht leicht, aber schließlich hat man ihren Mitarbeiter Koenig bestochen. Dann rief ich die Zeitungen an und hetzte sie Walther Apfel auf den Hals. Geheimnisvolle Frau, Mord, Millionendiebstahl— die haben sich förmlich darauf gestürzt.«

«Um Himmels willen, warum?«schrie Stevens.»Sie haben den Bürger eines anderen Landes für eine Maßnahme der amerikanischen Abwehr eingesetzt! Die Angestellte einer eng befreundeten Regierung. Sind Sie denn alle wahnsinnig?«

«Da irren Sie«, sagte Webb.»Wir versuchen, ihr Leben zu retten. Wir haben Carlos' Waffe gegen ihn selbst gerichtet.«

«In welcher Hinsicht?«

Der >Mönch< hob die Hand.»Etwas anderes. Vor wenigen Augenblicken habe ich den Major gefragt, wie Carlos' Komplize Borowski gefunden haben konnte. — Bitte, Major!«

Webb beugte sich vor.»Die Medusa-Akten«, sagte er leise und widerstrebend.

«Medusa…?«Stevens Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß Medusa Gegenstand vertraulicher Gespräche im Weißen Hause gewesen war.»Die sind doch vergraben«, sagte er.

Abbott schaltete sich ein.»Es gibt ein Original und zwei Kopien, und die liegen in den Safes im Pentagon, dem CIA und dem Nationalen Sicherheitsrat. Der Zugang zu ihnen beschränkt sich auf eine auserwählte Gruppe, von denen jeder einzelne dieser Einheit angehört. Borowski kommt von Medusa… Carlos jedenfalls kennt seinen Namen…«

Stevens starrte den >Mönch< an.»Wollen Sie damit sagen, daß Carlos… mit solchen Männern… in Verbindung steht? Das ist eine schwere Anschuldigung.«

«Aber die einzige Erklärung«, sagte Webb.

«Warum sollte Borowski denn seinen eigenen Namen gebrauchen?«

«Aus Gründen der Authentizität«, erwiderte Abbott.

«Wieso?«

«Vielleicht verstehen Sie jetzt«, fuhr der Major fort.»Indem wir die St. Jacques mit den Millionen, die angeblich aus der Gemeinschaftsbank gestohlen wurden, in Verbindung bringen, sagen wir Borowski, daß er ans Licht treten soll. Er weiß ja, daß das nicht stimmt.«

«Borowski soll ans Licht treten!«

«Der Mann, der sich Jason Borowski nennt«, sagte Abbott, stand auf und ging langsam auf die Vorhänge zu,»ist ein amerikanischer Abwehrbeamter. Es gibt keinen Cain, nicht den Cain, an den Carlos glaubt. Er ist ein Köder, eine Falle für Carlos.«

Kurzes Schweigen. Dann meldete sich der Mann aus dem Weißen Haus wieder zu Wort.»Ich glaube, Sie sollten uns das besser erklären. Der Präsident muß das wissen.«

«Ja, wahrscheinlich«, sinnierte Abbott, schob die Vorhänge auseinander und blickte geistesabwesend nach draußen.

«Vor drei Jahren haben wir eine Anleihe bei den Briten aufgenommen. Wir schufen einen Mann, den es nie gab. Vielleicht erinnern Sie sich noch: Vor der Invasion in der Normandie ließ die britische Abwehr eine Leiche an der Küste Portugals antreiben und hoffte, daß die bei der Leiche verborgenen Dokumente ihren Weg zur deutschen Botschaft in Lissabon finden würden. Ein Leben wurde für jene Leiche geschaffen; ein Name, ein Rang als Marineoffizier; Schulen, Ausbildung, Reisebefehle, Führerschein, Mitgliedskarten in exklusiven Londoner Clubs und ein halbes Dutzend persönlicher Briefe, die voller Andeutungen steckten und auch ein paar exakte Informationen enthielten. Alles wies darauf hin, daß die Invasion hundert Meilen von dem eigentlichen Zielgebiet in der Normandie entfernt stattfinden sollte, und zwar sechs Wochen später als tatsächlich geplant war. In panischer Angst überprüften deutsche Agenten in England die Angaben — während sie übrigens von MI Fünf beobachtet wurden — dann handelte das Oberkommando in Berlin dementsprechend und verlegte einen großen Teil seiner Defensivtruppen. So viele Opfer die Invasion auch kostete, Tausende und Abertausende wurden von jenem Mann, der nie existierte, gerettet. «Abbott ließ den Vorhang herunterfallen und ging müde zu seinem Sessel zurück.

«Ich habe die Geschichte gehört«, sagte der Mann aus dem Weißen Haus.»Und?«

«Die unsere ist eine Abwandlung jenes Themas«, sagte der >Mönch< und setzte sich müde.»Man schaffte einen lebenden Mann, fast eine Legende, einen Mann, der sich scheinbar gleichzeitig überall befand, ganz Sudostasien unsicher machte. Jedesmal, wenn es einen Mord gab oder einen unerklärten Todesfall, oder wenn eine prominente Persönlichkeit in einen Unfall verwickelt wurde, war auch Cain zur Stelle. Verläßlichen Quellen — bezahlte Informanten, die für ihre Diskretion bekannt waren — wurde sein Name zugesteckt; Botschaften, Lauschposten, ganze Geheimdienstorganisationen erhielten wiederholt Berichte, die sich mit Cains Aktivitäten befaßten. Von Monat zu Monat wurde er gefährlicher. Er war überall… und nirgends, löste sich schier in Luft auf.«

«Sie meinen diesen Borowski?«

«Ja. Er verbrachte Monate damit, alles über Carlos in Erfahrung zu bringen, studierte jede Akte, die wir besaßen, jeden Mordfall, in den Carlos verwickelt war. Er studierte Carlos' Taktik, seine Methoden, alles. Ein großer Teil jenes Materials hatte nie das Licht des Tages erblickt und wird das auch wahrscheinlich nie. Das ist hochexplosiver Zündstoff — Regierungen und internationale Firmen würden sich gegenseitig an die Kehle gehen. Es gab buchstäblich nichts, das Borowski nicht über Carlos erfuhr. Er wechselte immer wieder sein Aussehen. Er sprach einige Sprachen und hatte Zugang zu Verbrecherkreisen. Wenn er verschwand, hinterließ er verwirrte und verstörte Männer und Frauen. Sie hatten Cain gesehen; er existierte und er war rücksichtslos. Das war das Bild, das Borowski sich aufbaute.«

«Und so hat er drei Jahre im Untergrund gelebt?«fragte Stevens.

«Ja. Dann ging er nach Europa, ein Profikiller, Berufskiller, Absolvent der berüchtigten Medusa, und forderte Carlos in seinem eigenen Revier heraus. Dabei rettete er vier Männer, die Carlos sich als Opfer ausersehen hatte, beanspruchte andere Morde für sich, die Carlos begangen hatte, und verspottete ihn bei jeder Gelegenheit… Versuchte dabei die ganze Zeit, ihn ans Licht zu locken. Er verbrachte beinahe drei Jahre damit, die gefährlichste Lüge zu leben, die ein Mann leben kann. Die meisten wären daran zerbrochen, eine Gefahr, die man nie ausschließen kann.«

«Was für ein Mensch ist er?«

«Ein Profi«, antwortete Gordon Webb.»Jemand, der begriff, daß man Carlos finden und aufhalten mußte.«

«Aber drei Jahre…?«

«Wenn Ihnen das unglaublich erscheint«, sagte Abbott,»sollten Sie wissen, daß er sich chirurgisch behandeln ließ. Es war wie ein letzter Bruch mit der Vergangenheit, mit dem Mann, der er einmal war. — Ich glaube nicht, daß man einen Mann wie Borowski je für das entschädigen kann, was er getan hat. Man kann ihm eigentlich nur helfen, wenn man ihm die Chance zum Erfolg gibt — und das habe ich, weiß Gott, vor. «Der >Mönch< hielt exakt zwei Sekunden inne und fügte dann hinzu:»Wenn es Borowski ist.«

Es war, als hätte ein unsichtbarer Hammer Elliot Stevens getroffen.»Was sagen Sie da?«fragte er.

«Ich muß gestehen, daß ich mir das für den Schluß aufbewahrt habe. Ich wollte, daß Sie Bescheid wissen, bevor ich zu diesem dunklen Punkt komme. Vielleicht gibt es ihn auch gar nicht — wir wissen es nicht. Wir können nicht ohne weiteres einen Mann verurteilen, einen Mann, der viel mehr gegeben hat als irgendeiner von uns. Später, wenn alles vorüber ist, kann er wieder in sein eigenes Leben zurückkehren, anonym, seine Identität darf nie bekannt werden.«

«Ich fürchte, Sie müssen das näher erklären«, sagte der erstaunte Mann aus dem Weißen Haus.

«Carlos hat sich eine Armee von Männern und Frauen aufgebaut, die ihm ergeben sind. Wenn er Carlos erledigen kann — oder ihn in die Falle locken, damit wir ihn erledigen können — und dann verschwindet, dann hat er es geschafft.«

«Aber Sie sagen, daß er nicht Borowski ist!«

«Ich sagte, daß wir es nicht wissen. Das in der Bank war Borowski, die Unterschriften waren authentisch. Aber ist es jetzt Borowski? Wir werden es in den nächsten Tagen erfahren.«

«Wenn er an die Oberfläche tritt«, fügte Webb hinzu.

«Das ist höchst kompliziert«, fuhr der alte Mann fort.»Es gibt so viele Möglichkeiten. Wenn es nicht Borowski ist — oder wenn man ihn >umgedreht< hat — dann könnte das den Anruf in Ottawa erklären und den Mord am Flughafen. Nach allem, was wir in Erfahrung bringen können, wurden die Erfahrung und das Fachwissen der Frau dazu eingesetzt, das Geld in Paris abzuheben. Carlos brauchte nur ein paar Erkundigungen beim kanadischen Finanzministerium anzustellen. Der Rest wäre für ihn ein Kinderspiel.«

«Könnten Sie ihr eine Nachricht zukommen lassen?«fragte der Major.

«Ich habe es versucht, aber es ist mir nicht gelungen. Ich ließ Mac Hawkins einen Mann anrufen, der eng mit Marie St. Jacques zusammengearbeitet hat. Ein Mann namens Alan Soundso. Er wies sie an, sofort nach Kanada zurückzukehren. Sie hat aufgelegt.«

«Verdammtl« platzte Webb heraus.

«Sie sagen es. Wenn wir es geschafft hätten, sie zurückzuholen, hätten wir viel erfahren können. Sie ist der Schlüssel. Warum ist sie bei ihm? Warum ist er bei ihr? Das leuchtet einfach nicht ein.«

«Mir noch viel weniger!«sagte Stevens, dessen Verblüffung langsam in Ärger überging.»Wenn Sie die Unterstützung des Präsidenten haben wollen, müssen Sie sich schon deutlicher ausdrücken.«

Abbott wandte sich zu ihm.»Vor etwa sechs Monaten verschwand Borowski«, sagte er.»Etwas ist geschehen; wir sind nicht sicher, was. Aber wir können uns einiges zusammenreimen. Er ließ in Zürich wissen, daß er nach Marseille unterwegs sei. Später — zu spät — begriffen wir. Er hatte erfahren, daß Carlos einen Kontrakt gegen Howard Leland akzeptiert hatte, und Borowski versuchte, das zu verhindern. Und dann — plötzlich — verschwand er. Hatte man ihn getötet? War er unter der Anspannung zerbrochen? Hatte er… aufgegeben?«

«Das kann und will ich nicht akzeptieren«, unterbrach Webb ärgerlich.

«Deshalb möchte ich ja, daß Sie sich diese Akte ansehen. Sie kennen seine Codes. Schauen Sie, ob Sie irgendwelche Abweichungen in Zürich feststellen können.«

«Bitte!«unterbrach Stevens.»Was denken Sie denn? Sie müssen doch etwas Konkretes gefunden haben, etwas, worauf man ein Urteil aufbauen kann. Ich brauche das, Mr. Abbott. Der Präsident braucht es.«

«Ich wünschte, ich hätte es«, erwiderte der >Mönch<.»Was haben wir gefunden? Alles und nichts. Fast drei Jahre lang klappte alles vorzüglich. Die Akten geben Aufschluß über alle Informanten, Kontaktpersonen, Quellen. Wir haben ihre Gesichter, ihre Stimmen, ihre Geschichten. Und jeden Monat, jede Woche kommt Cain etwas näher an Carlos heran. Und dann plötzlich, nichts. Schweigen. Sechs Monate Vakuum.«

«Aber jetzt«, widersprach der Mann aus dem Stab des Präsidenten,»ist das Schweigen doch gebrochen worden. Von wem?«

«Das ist eben die grundlegende Frage«, sagte der alte Mann und seine Stimme klang müde.»Monate des Schweigens und dann plötzlich eine solche Geschichte. Ein Millionenbetrug. Ein Mord. Mehrere Morde. Warum nur?«Der Mönch schüttelte müde den Kopf.»Wer ist der Mann draußen?«

Kapitel 20

Die Limousine parkte zwischen zwei Straßenlampem, schräg gegenüber der schweren, mit Schmiedeeisen verzierten Türe der Backsteinvilla. Auf dem Vordersitz saß ein uniformierter Chauffeur; keineswegs ein ungewöhnlicher Anblick auf der von Bäumen gesäumten Straße. Ungewöhnlich war aber die Tatsache, daß sich im Fond zwei weitere Männer aufhielten und keinerlei Anstalten machten, den Wagen zu verlassen. Sie ließen vielmehr den Eingang zu der Backsteinvilla nicht aus den Augen.

Einer der Männer schob sich die Brille zurecht, er hatte Augen, die von Argwohn geprägt schienen, und sah aus wie eine Eule. Alfred Gillette, Leiter der Personalbewertung für den Nationalen Sicherheitsrat, sagte:»Es tut gut, dabei zu sein, wenn Hochmut vor dem Fall kommt. Und noch viel schöner ist es, dabei mitzumischen.«

«Sie können ihn nicht leiden, was?«sagte Gillettes Begleiter, ein breitschultriger Mann in einem schwarzen Regenmantel, dessen schwerer Akzent darauf hindeutete, daß seine Muttersprache der slawischen Sprachenfamilie angehört haben mußte.

«Ich verabscheue ihn. Er verkörpert für mich alles, was ich in Washington hasse. Die richtigen Schulen, Häuser in Georgetown, Farmen in Virginia, stille Zusammenkünfte in den richtigen Clubs. Die haben ihre kleine, abgeschlossene Welt, und man bekommt keinen Zugang dazu — es ist ihre Welt. Diese Schweine. Die überlegene, aufgeblähte Elite von Washington. Sie nutzen den Intellekt und die Arbeit anderer Menschen aus, um davon zu profitieren und die Nase über sie zu rümpfen.«

«Sie übertreiben«, sagte der Europäer, ohne den Blick von der Villa zu wenden.»Sie haben es ja auch zu etwas gebracht. Sonst hätten wir nie Kontakt mit Ihnen aufgenommen.«

Gillette blickte finster.»Ich habe es zu etwas gebracht, weil ich vielen Leuten wie David Abbott unersetzlich geworden bin. Ich trage tausend Fakten im Kopf, an die die sich unmöglich erinnern können. Für die ist es einfach bequemer, mich an der Stelle unterzubringen, wo die Fragen gestellt werden, wo die Probleme Lösungen brauchen. Leiter der Personalbewertung! Diesen Titel, diesen Posten haben die für mich geschaffen. Wissen Sie warum?«

«Nein, Alfred«, erwiderte der Europäer und sah auf die Uhr.

«Weil die nicht die Geduld haben, Stunden damit zu verbringen, sich Tausende von Lebensläufen und Akten anzusehen. Die dinieren lieber im >Sans Souci< oder protzen vor Senatsausschüssen, indem sie Berichte verlesen, die andere vorbereitet haben — jene Unsichtbaren, Unbekannten, die für sie die Dreckarbeit machen.«

«Sie sind verbittert«, sagte der Europäer.

«Ja, und zwar mehr als Sie ahnen. Ein ganzes Leben lang haben mich diese Schweine ausgenützt. Und wofür? Für einen Titel und gelegentlich ein Mittagessen, bei dem man versucht hat, mich während der Vorspeise und dem Hauptgang auszufragen! Kerle, wie dieser arrogante David Abbott, die ohne jemand wie mich überhaupt nichts sind.«

«Sie sollten den >Mönch< nicht unterschätzen, Carlos tut das auch nicht.«

«Wie könnte er das auch? Er weiß nicht, wie der Hase läuft. Alles, was Abbott tut, wird streng geheimgehalten; niemand weiß, wie viele Fehler er gemacht hat. Und kommt einer ans Licht, gibt man Männern wie mir die Schuld dafür.«

Der Europäer wandte den Blick vom Fenster zu Gillette.»Sie sind sehr emotional, Alfred«, sagte er kühl.»Sie sollten da vorsichtiger sein.«

Der Bürokrat lächelte.»Bis jetzt hat das noch nie gestört. Ich glaube, meine Arbeit beweist das. Wie sieht das denn mit Ihnen aus?«

«Meine Motive sind keine komplizierten. Ich komme aus einem Land, wo gebildete Menschen nach den willkürlichen Ansichten von Schwachköpfen befördert werden, die nichts anderes können, als die marxistische Litanei auswendig herunterbeten. Carlos wußte auch, was er suchen mußte.«

Gillette lachte, und seine ausdruckslosen Augen leuchteten beinahe.»Wir sind doch gar nicht so verschieden. Sie brauchen bloß anstelle unseres Establishments Marx zu nehmen und schon haben Sie eine Parallele.«

«Mag sein«, nickte der Europäer und sah wieder auf die Uhr.»Jetzt müßte er gleich kommen. Abbott nimmt immer die Mitternachtsmaschine; schließlich hat er in Washington einen vollen Terminkalender.«

«Sie sind sicher, daß er alleine ist?«

«Das ist er immer, mit Elliot Stevens läßt er sich bestimmt nicht sehen. Webb und Stevens werden ebenfalls getrennt weggehen; meistens im Abstand von zwanzig Minuten.«

«Wie haben Sie Treadstone gefunden?«

«Das war gar nicht so schwierig. «Der Mann lachte, ohne den Blick von der Villa zu wenden.»Cain hatte Medusa verlassen, das haben Sie uns gesagt, und wenn Carlos' Verdacht zutrifft, deutete das auf den >Mönch<, das wußten wir, das war die Verbindung zwischen ihm und Borowski. Carlos hat uns instruiert, Abbott rund um die Uhr zu überwachen; irgend etwas war schiefgelaufen. Nach der Sache in Zürich wurde Abbott unvorsichtig. Wir folgten ihm hierher. Es war einzig und allein eine Frage der Hartnäckigkeit.«

«Und die hat Sie auch nach Kanada geführt? Zu dem Mann in Ottawa?«

«Der Mann in Ottawa hat sich dadurch verraten, daß er Treadstone suchte. Als wir erfuhren, wer die Frau war, ließen wir das Finanzministerium überwachen, ihre Abteilung. In einem Anruf aus Paris forderte sie ihn auf, Untersuchungen anzustellen. Wir wissen nicht warum, aber wir vermuten jedenfalls, daß Borowski versuchen will, Treadstone zu sprengen. Wenn er eine Kehrtwendung vollzogen hat, ist das eine Möglichkeit, auszusteigen und das Geld zu behalten. Plötzlich wurde diesem Abteilungsleiter, von dem niemand außerhalb der kanadischen Regierung je gehört hatte, zu einem Problem von höchster Priorität. Überall gingen Communiques über die Drähte. Das bedeutete, daß Carlos recht hatte; daß Sie recht hatten, Alfred. Es gibt keinen Cain. Er ist eine Erfindung, eine Falle.«

«Das habe ich Ihnen von Anfang an gesagt«, nickte Gillette.

«Ohne Zweifel die genialste Schöpfung des >Mönchs<, «sinnierte der Europäer.»Bis etwas passierte, und die Schöpfung eine Kehrtwendung vollzog. Jetzt wird ihnen die Sache brenzlig.«

«In Ottawa wurde nämlich der Verdacht geäußert, daß ein Abteilungsleiter im Schatzamt von der amerikanischen Abwehr getötet worden wäre.«

Zwei Scheinwerferbalken stachen plötzlich durch die Windschutzscheibe.»Abbotts Taxi ist hier. Ich kümmere mich um den Fahrer. «Der Europäer griff nach rechts und legte einen Schalter unter der Armstütze um.»Ich werde auf der anderen Straßenseite in meinem Wagen sitzen und zuhören. «Er wandte sich an den Chauffeur.»Abbott kommt jetzt jeden Augenblick heraus. Sie wissen, was Sie zu tun haben.«

Der Chauffeur nickte. Beide Männer stiegen gleichzeitig aus der Limousine. Der Fahrer ging um die Motorhaube herum, als wolle er seinen Chef auf die andere Straßenseite geleiten. Gillette blickte durchs Rückfenster hinaus; die beiden Männer blieben noch ein paar Sekunden beisammen, dann trennten sie sich, und der Europäer ging auf das herannahende Taxi zu, die Hand erhoben, einen Geldschein zwischen den Fingern. Das Taxi würde weggeschickt werden, man brauchte es nicht mehr. Der Chauffeur war inzwischen auf die andere Straßenseite gerannt und hielt sich jetzt im Schatten einer Treppe verborgen.

Dreißig Sekunden später wanderte Gillettes Blick zur Tür der Backsteinvilla. Licht drang ins Freie, als ein ungeduldiger David Abbott herauskam und die Straße hinauf- und hinunterblickte, auf die Uhr sah, offensichtlich verärgert. Das Taxi verspätete sich, und er mußte ein Flugzeug erreichen; mußte präzise Terminpläne einhalten. Abbott ging die Stufen hinunter, bog auf dem Pflaster nach links, hielt Ausschau nach dem Taxi. Binnen Sekunden würde er an dem Chauffeur vorbeikommen. Als er das tat, waren beide Männer außerhalb des Sichtwinkels der Kamera.

Es ging ganz schnell, und binnen weniger Sekunden stieg ein etwas verwirrter David Abbott in die Limousine, während der Chauffeur sich im Schatten entfernte.

«Sie!«sagte der >Mönch<, und aus seiner Stimme klang Ärger und eine Spur von Ekel.»Ausgerechnet Sie.«

«Ihr arrogantes Gehabe, Sie Narr, wird Ihnen gleich vergehen…«, drohte der andere.

«Wie können Sie es wagen. Zürich. Die Medusa-Akte. Sie waren das!«

«Die Medusa-Akten, ja. Zürich, ja. Aber es kommt nicht auf das an, was ich getan habe, es geht um das, was Sie getan haben. Wir haben unsere eigenen Leute nach Zürich geschickt und ihnen gesagt, wonach sie Ausschau halten sollen. Und es hat geklappt, Borowski heißt er, nicht wahr? Er ist der Mann, den Sie Cain nennen. Der Mann, den Sie erfunden haben.«

Abbott zuckte zusammen.»Wie haben Sie das herausgefunden?«

«Mit etwas Hartnäckigkeit. Ich habe Sie beschatten lassen.«

«Sie haben mich beschatten lassen? Was, zum Teufel, haben Sie sich dabei gedacht?«

«Ich habe versucht, etwas klarzustellen. Etwas, was Sie verdreht haben, indem Sie uns anderen die Wahrheit vorenthielten. Und was haben Sie sich denn dabei gedacht?«

«O mein Gott!«Abbott atmete tief.»Warum haben Sie das getan? Warum sind Sie nicht selbst zu mir gekommen?«

«Weil es nichts genützt hätte. Sie haben die ganze Abwehr manipuliert, indem sie uns allen Lügen über einen Killer erzählt haben, den es nie gab. Oh, ich erinnere mich an Ihre Worte — was für eine Herausforderung für Carlos, was für eine unwiderstehliche Falle das sei! Sie haben uns als Marionetten und Schachfiguren benutzt. Als verantwortliches Mitglied des Sicherheitsrates lehne ich dies aus tiefstem Herzen ab. Sie sind alle gleich. Wer hat Sie zum Herrgott gewählt und Ihnen das Recht gegeben, die Regeln zu brechen — nein, nicht nur die Regeln, auch die Gesetze — und uns wie Narren hinzustellen?«

«Es gab keine andere Möglichkeit«, sagte der alte Mann müde, und sein Gesicht war in dem düsteren Licht von tiefen Falten durchzogen.»Wie viele wissen es? Sagen Sie mir die Wahrheit!«

«Ich habe dafür gesorgt, daß es im engsten Kreis bleibt. So viel habe ich für Sie getan.«

«Das reicht vielleicht nicht. O Gott!«

«Ich will wissen, was geschehen ist!«sagte der Beamte eindringlich.

«Was geschehen ist?«

«Was aus Ihrer großen Strategie geworden ist. Sie scheint… aus allen Nähten zu platzen.«

«Warum sagen Sie das?«

«Das liegt doch auf der Hand. Sie haben Borowski verloren; Sie können ihn nicht finden. Ihr Cain ist verschwunden und hat ein Vermögen mitgenommen, das man für ihn in Zürich bereitgelegt hat.«

Abbott schwieg einen Augenblick lang.»Moment mal. Was bringt Sie darauf?«

«Sie«, sagte Gillette schnell und unvorsichtig und schluckte den Köder, den der andere ihm hingelegt hatte.»Ich muß sagen, daß ich Ihre Haltung bewunderte, als dieser Esel aus dem Pentagon so wissend von der Operation Medusa sprach… und dem Mann, der sie schuf, direkt gegenüber saß.«

«Das ist doch ein alter Hut. «Die Stimme des >Mönchs< klang jetzt wieder kräftig.»Daraus konnten Sie doch nichts entnehmen.«

«Sie sagten kein Wort, und das machte mich nachdenklich. Also widersetzte ich mich all der Aufmerksamkeit, die man diesem Märchen namens Cain widmete. Sie konnten nicht widerstehen, David. Sie mußten einen plausiblen Grund liefern, um die Suche nach Cain fortzusetzen. Sie brachten Carlos ins Spiel.«

«Das war die Wahrheit«, unterbrach Abbott.

«Sicher war es das; Sie wußten, wann Sie sie benutzen mußten, und ich wußte, wann ich sie entdecken mußte. Genial. Eine Schlange, die man aus dem Haupt der Medusa zog. Der Herausforderer springt in den Ring des Champions, um den Champion aus seiner Ecke zu locken.«

«Es war von Anfang an perfekt.«

«Sicher! Ich gebe zu, daß es genial war, bis zu den Maßnahmen, die ich vorhin schon erwähnte. Wer eignete sich denn besser dazu, alle Aktionen an Cain weiterzuleiten, als der eine Mann im Vierziger-Ausschuß, der über jede Besprechung Berichte geliefert hatte? Uns alle haben Sie einfach benutzt!«

Der >Mönch< nickte.»Also gut. Bis zu einem gewissen Grad haben Sie vielleicht recht. Es hat einen gewissen Mißbrauch gegeben, aber nicht so, wie Sie glauben. Treadstone besteht aus einer kleinen Gruppe von Männern, die zu den vertrauenswürdigsten der Regierung gehören. Sie reichen vom G-Zwo bis zum Senat, vom CIA bis zur Marineabwehr, und jetzt, offen gestanden, sogar dem Weißen Haus. Wenn es einen wirklichen Mißbrauch geben sollte, wäre kein einziger unter ihnen, der zögern würde, die ganze Operation auffliegen zu lassen. Keiner hat das bis jetzt für notwendig gehalten, und ich bitte Sie inständig, es ebenfalls nicht zu tun.«»Würde man mich in Treadstone aufnehmen?«»Sie sind jetzt schon ein Teil davon.«»Ich verstehe. Was ist geschehen. Wo ist Borowski?«»Ich wünschte, wir wüßten das. Wir sind nicht einmal sicher, daß es Borowski ist.«

«Sie sind nicht einmal sicher…?«

Ich verstehe. Was ist geschehen. Wo ist Borowski?

Ich wünschte, wir wüßten das. Wir sind nicht einmal sicher,

daß es Borowski ist.

Sie sind nicht einmal sicher?

Der Europäer griff nach dem Schalter am Armaturenbrett und legte ihn um.»Das ist es«, sagte er.»Das ist es, was wir wissen mußten. «Er wandte sich zu dem Chauffeur, der neben ihm saß,»So, schnell jetzt. Gehen Sie neben die Treppe. Denken Sie daran, wenn einer von denen herauskommt, haben Sie genau drei Sekunden, ehe die Türe geschlossen wird. Sie müssen schnell arbeiten.«

Der uniformierte Mann stieg aus und ging über das Pflaster auf Treadstone Seventy-One zu. Vor einer der naheliegenden Backsteinvillen verabschiedete sich ein Ehepaar in mittleren Jahren mit lauter Stimme bei seinen Gastgebern. Der Chauffeur verlangsamte seine Schritte, griff in die Tasche, um sich eine Zigarette herauszuholen und blieb stehen, um sie anzuzünden. Er war jetzt ganz der gelangweilte Fahrer, der sich die lange Wartezeit vertrieb. Der Europäer beobachtete ihn, dann knöpfte er seinen Regenmantel auf und holte einen langen, dünnen Revolver heraus, auf dessen Lauf ein Schalldämpfer steckte. Er legte den Sicherungshebel um, schob die Waffe ins Halfter zurück, stieg aus dem Wagen und ging quer über die Straße auf die Limousine zu. Die Spiegel waren vorher richtig gedreht worden; indem er sich im toten Winkel hielt, konnten die beiden Männer im Wagen ihn nicht herankommen sehen. Der Europäer blieb kurz am Kofferraum stehen und warf sich dann schnell mit ausgestreckter Hand zur rechten Vordertüre, öffnete sie, sprang hinein und richtete seine Waffe nach hinten.

Alfred Gillette stöhnte auf und seine linke Hand schoß zum Türgriff; der Europäer drückte den Knopf der Zentralverriegelung nieder. David Abbott blieb reglos sitzen und starrte den Eindringling an.

«Guten Abend, >Mönch<«, sagte der Europäer.»Ein anderer, von dem ich gehört habe, daß er oft ein religiöses Kleid anlegt, schickt Ihnen seine Gratulation. Nicht nur für Cain, sondern auch für Ihr Personal in Treadstone. Den Yachtsegler beispielsweise. Er war einmal ein erstklassiger Agent.«

Gillette fand jetzt seine Stimme wieder; es war eine Mischung aus einem Schrei und einem Flüstern.»Was soll das? Wer sind Sie?«schrie er und gab sich unwissend.

«Ach, kommen Sie, alter Freund. Das ist nicht nötig«, sagte der Mann mit der Waffe.»Mr. Abbotts Gesichtsausdruck sagt mir, daß er bereits erkannt hat, daß seine ursprünglichen Zweifel in bezug auf Ihre Person berechtigt waren. Man sollte immer seinen ersten Instinkten vertrauen, nicht wahr, >MönchMedusa-Akten geliefert, und die haben uns in der Tat zu Borowski geführt.«

«Was fällt Ihnen ein?!«schrie Gillette.»Was reden Sie für ein Zeug!«

«Sie langweilen mich, Alfred. Aber Sie haben immer zu den verdammt guten Leuten gehört. Es ist nur ein Jammer, daß Sie nicht wußten, bei welchen Leuten Sie bleiben sollten; aber Ihresgleichen weiß das nie.«

«Sie!«Gillette bäumte sich auf dem Rücksitz auf, sein Gesicht war verzerrt.

Der Europäer feuerte seine Waffe ab, das leise Husten, das aus dem Lauf kam, hallte nur kurz durch das Innere der Limousine. Der Bürokrat sackte zusammen und rutschte auf den Boden, die Eulenaugen im Tode geweitet.

«Ich glaube nicht, daß Sie ihn beklagen«, sagte der Europäer.

«Nein«, sagte der >Mönch<.

«Dort draußen ist wirklich Borowski, wissen Sie. Cain hat kehrtgemacht; er ist zerbrochen. Die lange Periode des Schweigens ist vorbei. Die Schlange aus dem Medusenhaupt hat beschlossen, sich selbständig zu machen. Vielleicht hat man ihn auch gekauft, auch das ist möglich, nicht wahr? Carlos kauft viele Männer, der jetzt im Wagen liegt, beispielsweise.«

«Von mir werden Sie nichts erfahren. Versuchen Sie es nicht.«

«Es gibt nichts zu erfahren. Wir wissen dies. Delta, Charlie… Cain. Aber die Namen sind jetzt nicht mehr wichtig; eigentlich waren sie das nie. Was uns noch bleibt, ist die Beseitigung des >Mönches<, der die Entscheidungen trifft. Borowski ist in der Falle. Er ist erledigt.«

«Er wird andere finden, die Entscheidungen treffen.«

«Wenn er das tut, werden sie ihn töten. Es gibt nichts Verabscheuungswürdigeres als einen Mann, der seine Loyalität vertauscht hat, aber um das zu tun, muß es unwiderlegbare Beweise geben, daß er am Anfang auf Ihrer Seite stand. Carlos besitzt diesen Beweis; er war Ihr Mann, und sein Ursprung ist ebenso delikat, wie alles andere, was in der Medusa-Akte steht.«

Der alte Mann runzelte die Stirn; er hatte Angst, nicht um sein Leben, sondern etwas unendlich Wichtigeres.»Sie sind nicht bei Sinnen«, sagte er.»Es gibt keine Beweise.«

«Sie haben einen Fehler begangen. Carlos ist gründlich; seine Verbindungen reichen überall hin. Sie brauchten einen Mann von Medusa, jemanden, der gelebt hatte und dann verschwunden war. Sie wählten einen Mann namens Borowski, weil die Umstände seines Verschwindens im dunkel lagen. Aber an Hanois Leute, die Medusa infiltriert hatten, dachten Sie nicht; es existierten Akten darüber. Am 25. März 1968 wurde Jason Borowski von einem Offizier der amerikanischen Abwehr im Dschungel von Tam Quan exekutiert.«

Der >Mönch< warf sich nach vorne; ihm blieb nichts mehr als eine letzte Geste, ein letztes Sichaufbäumen. Der Europäer schoß.

Die Tür der Backsteinvilla öffnete sich. Im Schatten unter der Treppe lächelte der Chauffeur. Der Mann aus dem Weißen Haus wurde von dem alten Mann, der hier wohnte, hinausgeführt, dem, den sie den Yachtsegler nannten. Der Killer wußte, daß die Alarmanlage abgeschaltet war.

«Nett, daß Sie vorbeigekommen sind«, sagte der Yachtsegler und schüttelte ihm die Hand.

«Vielen Dank, Sir.«

Das waren die letzten Worte der beiden Männer. Der Chauffeur zielte über die Ziegelmauer und drückte zweimal ab. Der Yachtsegler fiel zurück; der Mann aus dem Weißen Haus griff sich an die Brust und stürzte gegen den Türrahmen. Der Chauffeur rannte um das Ziegelgeländer herum, eilte die Treppe hinauf und packte Stevens, der langsam zu Boden rutschte. Mit der Kraft eines Bullen hob der Killer Stevens hoch und schleuderte ihn durch die Tür ins Foyer an dem anderen vorbei. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit der Innenseite der schweren, gepanzerten Türe zu. Er wußte, wonach er suchen mußte; er fand es auch. An der oberen Verkleidung führte ein dickes Kabel in die Wand, es war von der gleichen Farbe wie der Türrahmen. Er schloß die Türe teilweise, hob die Waffe und schoß auf das Kabel, um die Sicherheitskameras außer Funktion zu setzen.

Als er die Tür öffnete, kam der Europäer bereits mit schnellen Schritten über die stille Straße. Binnen Sekunden war er die Treppe hinaufgeeilt und im Hause, sah sich im Foyer und im Korridor um. Beide Männer hoben einen Teppich vom Boden, und der Europäer schloß die Türe am Ende des Korridors so, daß der Teppich eingezwängt war und die Türe somit zwei Zoll breit offenstand, mit vorgeschobenem Riegel. So war kein Alarm möglich.

Da öffnete sich oben eine Tür, es waren Schritte zu hören und Worte, eine gepflegte Frauenstimme sprach:»Darling! Ich habe gerade bemerkt, daß die verdammte Kamera ausgefallen ist. Würdest du bitte nachsehen?«Eine kurze Pause — dann:»Oder besser, sollten wir es nicht David sagen?«Wieder die Pause, wieder das exakte Timing.»Du solltest den Jesuiten nicht damit belästigen. Sag es David.«

Zwei Schritte. Schweigen. Das Rascheln von Tuch. Der Europäer musterte das Treppenhaus. Ein Licht ging aus.

«Jetzt!«rief er dem Chauffeur zu und fuhr herum, die Waffe auf die Tür am Ende des Korridors gerichtet.

Der Mann mit der Uniform raste die Treppe hinauf; ein Schuß hallte; er kam aus einer schweren Waffe — ungedämpft. Der Europäer blickte nach oben; der Chauffeur hielt sich die Schulter, sein Uniformrock war blutgetränkt, er hielt die Pistole ausgestreckt und feuerte einige Schüsse ins Treppenhaus hinauf.

Die Tür am Ende des Korridors wurde aufgerissen, der Major stand erschreckt da, einen Aktendeckel in der Hand. Der Europäer feuerte zweimal; Gordon Webb wurde nach hinten geschleudert, die Kehle aufgerissen, die Papiere in dem Aktendeckel flogen herunter. Der Mann im Regenmantel rannte die Treppe zu dem Chauffeur hinauf; oben über dem Geländer lag die grauhaarige Frau, tot, Blut quoll ihr aus Kopf und Nacken.»Ist alles in Ordnung? Können Sie sich bewegen?«fragte der Europäer.

Der Chauffeur nickte.»Dieses Miststück hat mir die halbe Schulter zerfetzt, aber es geht schon.«

«Nehmen Sie meinen Mantel«, befahl sein Vorgesetzter und riß sich den Regenmantel herunter.»Ich will den >Mönch< hier drinnen haben! Schnell!«

«Herrgott!.. «

«Carlos will den >Mönch< hier drinnen haben!«

Der Verwundete fuhr mühsam in den schwarzen

Regenmantel und arbeitete sich die Treppe hinunter, vorbei an den Leichen des Yachtseglers und des Mannes aus dem Weißen Haus. Vorsichtig, mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht ging er zur Türe hinaus und die Treppe hinunter.

Der Europäer beobachtete ihn, hielt ihm die Tür, vergewisserte sich, daß der Mann sich genügend bewegen konnte, um der Aufgabe gewachsen zu sein. Das war er; er war ein Bulle, und Carlos sorgte dafür, daß sein Appetit gestillt wurde. Der Chauffeur würde David Abbotts Leiche in die Villa bringen, würde sie stützen und so tun, als wäre er einem alten Betrunkenen behilflich, für den Fall, daß jemand ihn auf der Straße beobachtete, und nachdem er seine Blutung gestillt hatte, Alfred Gillettes Leiche über den Fluß fahren und im Sumpf begraben.

Der Europäer drehte sich um und ging den Korridor hinunter; es gab Arbeit für ihn. Der Mann, der Jason Borowski hieß, mußte endgültig vernichtet werden.

Die Akten waren ein Geschenk ungeahnten Ausmaßes. Sie enthielten Mappen mit jedem einzelnen Code und jeder Kommunikationsmethode, die der geheimnisvolle Cain je benutzt hatte. Die Szene war klassisch, vier Leichen in einer friedlichen, eleganten Bibliothek, lagen in Positur; David Abbot nach vorne zusammengesunken in einem Stuhl, die toten Augen verstört, Elliot Stevens zu seinen Füßen. Der Yachtsegler hing zusammengesunken über dem Klapptisch, eine umgekippte Whiskyflasche in der Hand, während Gordon Webb auf dem Boden lag und die Aktentasche umklammert hielt. Was auch immer hier geschehen war, die Szene ließ erkennen, daß es völlig unerwartet passierte, daß plötzliches Pistolenfeuer die Gespräche unterbrochen hatte.

Der Europäer ging mit Wildlederhandschuhen herum, prüfte seine Kunst, die wirklich perfekt war. Er hatte den Chauffeur entlassen, jeden Türgriff, jeden Knopf, jede Holzfläche abgewischt. Jetzt war die Zeit für den krönenden Abschluß. Er trat an einen Tisch, auf dem ein silbernes Tablett mit Brandygläsern stand, nahm eines, hielt es ans Licht; es war fleckenlos, wie er erwartet hatte. Er stellte es ab und holte ein kleines, flaches Plastiketui aus der Tasche. Er öffnete es, entnahm ihm einen durchsichtigen Streifen Band und hielt ihn ebenfalls ans Licht. Da waren sie, so klar wie Porträts — denn Porträts waren es, ebenso unwiderlegbar wie jede Fotografie.

Man hatte sie von einem Glas mit Perrierwasser abgenommen, aus einem Büro der Gemeinschaftsbank in Zürich entfernt. Es waren die Fingerabdrücke von Jason Borowskis rechter Hand.

Der Europäer nahm das Brandyglas und drückte das Band mit der Geduld des Künstlers, der er war, um das Glas herum und zog es dann vorsichtig wieder ab. Er hob das Glas. Die Abdrücke zeichneten sich vor dem Licht der Tischlampe perfekt ab.

Er trug das Glas in eine Ecke des Parkettbodens und ließ es fallen. Dann kniete er nieder und untersuchte die Scherben, einige entfernte er, den Rest fegte er unter den Vorhang. Sie würden reichen.

Kapitel 21

«Später«, sagte Borowski und warf ihr den Koffer aufs Bett.»Wir müssen hier weg.«

Marie saß im Sessel. Sie hatte den Artikel erneut gelesen; Satz für Satz sich eingeprägt. Sie konzentrierte sich völlig; war sich der Richtigkeit ihrer Analyse immer sicherer.

«Glaub mir, Jason. Jemand schickt uns eine Nachricht.«

«Wir können später darüber sprechen; wir sind hier schon viel zu lange geblieben. In einer Stunde liegt diese Zeitung überall im Hotel aus, und die Morgenzeitungen sind vielleicht noch schlimmer. Du fällst in jeder Hotelhalle auf, und in dem hier haben dich schon zu viele Leute gesehen. Hol deine Sachen.«

Marie erhob sich und blieb stehen. Sie zwang ihn, sie anzusehen.»Wir werden später über einige Dinge reden müssen«, sagte sie mit fester Stimme.»Du wolltest mich verlassen, und ich möchte den Grund wissen.«

«Ich hab' dir doch gesagt, daß ich dir das erklären würde«, antwortete er und sah ihr in die Augen.»Ich möchte, daß du es weißt. Aber im Augenblick ist es am allerwichtigsten, daß wir hier herauskommen. Hol deine Sachen, verdammt!«Sie kniff die Augen zusammen, sah ihn voll an. Dann tat sein plötzlicher Ärger seine Wirkung.

«Ja, natürlich«, flüsterte sie.

Sie fuhren mit dem Lift in die Halle. Als sie unten ankamen, hatte Borowski das Gefühl, in einem Käfig zu stecken, für alle sichtbar und verletzbar. Auf der linken Seite befand sich die Rezeption, der Portier saß dahinter, einen Stapel Zeitungen vor sich liegen. Es war die Zeitung, die Jason in den Aktenkoffer gelegt hatte, den Marie jetzt trug. Der Portier las ganz vertieft, stocherte mit einem Zahnstocher zwischen den Zähnen. Und hatte für nichts Augen außer dem letzten Skandal.

«Geh einfach durch«, sagte Jason.»Bleib nicht stehen, geh einfach zur Türe. Wir treffen uns draußen.«

«O mein Gott«, flüsterte sie, als sie den Portier sah.

«Ich zahle sofort.«

Das Klicken von Maries Absätzen auf dem Marmorboden ließ den Portier von seiner Zeitung hochblicken.

«Ist sehr schade«, sagte er auf Französisch,»aber leider muß ich noch heute nacht nach Lyon fahren. Runden Sie einfach auf volle fünfhundert Franc auf. Der Rest ist für die Angestellten.«

Der Portier reichte die Rechnung über die Theke. Jason zahlte und bückte sich nach den Koffern, blickte auf, als er den überraschten Laut hörte, der sich dem aufgerissenen Mund des Portiers entrang. Der Mann starrte den Stapel Zeitungen zu seiner Rechten an, und seine Augen ruhten auf der Fotografie von Marie St. Jacques. Er blickte zu den Glastüren des Eingangsportals; Marie stand draußen auf dem Pflaster. Jetzt wanderte sein verblüffter Blick zu Borowski; der Groschen war gefallen, und plötzlich lahmte den Mann eine panische, tödliche Angst.

Jason ging schnell auf die Glastüren zu, schob die Schulter vor, um sie aufzustoßen, und sah zur Rezeption zurück. Der Portier griff nach einem Telefon.

«Schnell!«rief er Marie zu.»Such ein Taxi!«

Sie fanden eines auf der Rue Lecourbe, fünf Blocks vom Hotel weg. Borowski spielte die Rolle eines unerfahrenen amerikanischen Touristen und benutzte das gebrochene Französisch, das ihm in der Valois-Bank so gute Dienste geleistet hatte. Er erklärte dem Fahrer, daß er und seine kleine Freundin auf ein oder zwei Tage Paris verlassen wollten, irgendwohin fahren, wo sie nicht gestört würden. Vielleicht wüßte der Fahrer ein paar Vorschläge, und sie würden sich dann einen auswählen. Das tat er bereitwillig.»Es gibt einen kleinen Gasthof außerhalb von Issy-les-Moulineaux, er nennt sich >La Mai-son Carree<«, sagte er.»Und dann in Ivry sur Seine, das könnte Ihnen auch gefallen. Es ist sehr privat, Monsieur, oder vielleicht die >Auberge du Coin< in Montrouge; die ist sehr diskret.«

«Nehmen wir das, was Ihnen als erstes eingefallen ist«, sagte Jason.»Wie lange dauert die Fahrt?«

«Höchstens fünfzehn, zwanzig Minuten, Monsieur.«

«Gut. «Borowski wandte sich zu Marie und sagte mit leiser Stimme:»Du mußt dein Haar verändern.«

«Was?«

«Dein Haar verändern. Es hochstecken, oder nach hinten kämmen, das ist mir egal, aber verändern mußt du es. Setz dich so, daß er dich im Spiegel nicht sehen kann. Schnell!«

Ein paar Augenblicke später war Maries langes kastanienbraunes Haar streng nach hinten gekämmt, und mit Hilfe von ein paar Haarnadeln, die sie in der Handtasche trug, hinten zu einem Knoten zusammengesteckt. Ihr Gesicht und ihr Nacken lagen jetzt frei. Jason musterte sie im schwachen Licht.

«Wisch dir den Lippenstift weg. Ganz.«

Sie holte ein Papiertaschentuch heraus und entfernte den Rest des Stiftes auf ihren Lippen.»Gut so?«

«Ja. Hast du einen Augenbrauenstift? Mach deine Augenbrauen etwas dicker — nur ein wenig. Vielleicht etwas länger; und den Bogen nach unten auslaufend.«

Wieder befolgte sie seine Anweisungen.»So?«fragte sie.

«So ist's besser«, erwiderte er und musterte sie. Die Veränderungen waren geringfügig, aber wirkungsvoll. Auf subtile Art hatte sie sich von einer weichen, elegant wirkenden, auffälligen Frau in eine mit viel strengeren Zügen verwandelt. Zumindest war sie nicht auf den ersten Blick die Frau von dem Foto in der Zeitung, und das war alles, worauf es jetzt ankam.

«Wenn wir nach Moulineaux kommen«, flüsterte er,»mußt du ganz schnell aussteigen und dich aufrichten. Der Fahrer darf dich nicht sehen.«

«Dafür ist es ein wenig spät, nicht wahr?«

«Tu, was ich sage.«

Endlich erreichten sie den Gasthof. Zur Rechten gab es einen Parkplatz, der von einem Staketenzaun umgrenzt war; soeben kamen ein paar späte Gäste heraus. Borowski beugte sich im Sitz nach vorne.

«Lassen Sie uns auf dem Parkplatz aussteigen, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, befahl er, ohne die seltsame Bitte zu erklären.

«Selbstverständlich, Monsieur«, sagte der Fahrer, nickte und zuckte dann die Achseln, wie um anzudeuten, daß seine Fahrgäste wirklich sehr vorsichtig wären. Es war jetzt ein leichter, nebelhafter Nieselregen. Das Taxi rollte davon. Borowski und Marie blieben im Schatten der Sträucher an der Seite des Gasthofs stehen, bis es verschwunden war. Jason stellte die Koffer ab.»Warte hier«, sagte er.

«Wo gehst du hin?«

«Ich will telefonisch ein Taxi bestellen.«

Das zweite Taxi brachte sie ins Montrouge-Viertel. Diesmal war der Fahrer von dem streng blickenden Paar unbeeindruckt. Es stammte offenbar aus der Provinz und suchte ein billigeres Quartier. Falls er später eine Zeitung in die Finger bekam und die Fotografie einer Frankokanadierin sah, die in einen Mordfall und in einen Bankdiebstahl in Zürich verwickelt war, würde ihm die Frau, die jetzt im Fond seines Wagens saß, nicht in den Sinn kommen.

Die >Auberge du Coin< hielt nicht ganz das, was ihr Name versprach. Es war keine pittoreske Dorfgaststätte in einem verschwiegenen Winkel auf dem Land. Vielmehr war es ein großes, flaches, zweistöckiges Gebäude, etwa eine Viertelmeile von der Straße entfernt. Es erinnerte eher an unpersönliche Motels, die es inzwischen auf der ganzen Welt gab, und die die Außenbezirke der Städte wie eine Krankheit zu befallen schienen.

So trugen sie sich unter falschen Namen ein und bekamen ein Zimmer, in dem jeder Einrichtungsgegenstand aus Kunststoff, dessen Wert zwanzig Franc überstieg, am Boden verschraubt oder mit kopflosen Schrauben an Kunststoffbauten befestigt war. Dafür verfügte das Etablissement über eine Eismaschine am Korridor, die zu funktionieren schien, weil sie selbst bei geschlossener Türe einen Heidenspektakel verursachte.

«Also gut. Wer wollte uns eine Nachricht schicken?«fragte Borowski, der dastand und das Whiskyglas zwischen den Fingern drehte.

«Wenn ich das wüßte, würde ich mit ihnen in Verbindung treten«, sagte sie. Sie saß an dem kleinen Schreibtisch und hatte den Stuhl herumgedreht, die Beine übereinandergeschlagen, und musterte ihn aufmerksam.»Es könnte mit deiner Flucht in Zusammenhang stehen.«

«Dann wäre es eine Falle.«

«Das glaube ich nicht. Ein Mann wie Walther Apfel stellt keine Fallen.«

«Da bin ich mir nicht so sicher. «Borowski ging zu dem einzigen plastikbezogenen Armsessel und setzte sich.»Koenig hat mich auch in dem Wartezimmer markiert.«

«Er war ein bestochener kleiner Angestellter, kein leitender Beamter der Bank. Er handelte alleine. Apfel konnte das nicht.«

Jason blickte auf.»Was willst du damit sagen?«

«Apfels Aussage mußte von seinen Vorgesetzten autorisiert werden. Sie erfolgte im Namen der Bank.«

«Bist du sicher? Dann können wir ja Zürich anrufen.«

«Das hat keinen Sinn. Apfels letzte Worte waren, daß sie keine weiteren Kommentare mehr abgeben wollten. Wir sollten mit jemand anderem Verbindung aufnehmen.«

Borowski trank; er brauchte den Alkohol, denn der Augenblick rückte näher, wo er beginnen würde, die Geschichte eines Killers namens Cain zu erzählen.»Und dann sind wir wieder so schlau wie vorher, nicht wahr?«sagte er.»Dann sitzen wir wieder in der Falle.«

«Du weißt, wer er ist?«Marie griff nach ihren Zigaretten, die auf dem Schreibtisch lagen.»Deshalb bist du doch geflohen, oder?«

«Ja.«Der Augenblick war gekommen. Carlos hatte die Nachricht gesandt. Ich bin Cain, und du mußt mich verlassen. Ich muß dich verlieren. Aber zuerst ist Zürich, und du mußt verstehen.

«Dieser Artikel ist darauf angelegt, mich zu finden.«

«Ich habe darüber nachgedacht und glaube, die wissen, daß das Beweismaterial so falsch ist wie nur möglich. Die Züricher Polizei erwartet jetzt von mir, daß ich Verbindung mit der kanadischen Botschaft aufnehme…«Marie hielt inne, die unangezündete Zigarette in der Hand.»Mein Gott, Jason, das ist es, was sie wollen!«

«Wer will das?«

«Derjenige, der uns die Nachricht schickt, der weiß, daß ich keine andere Wahl habe, als die Botschaft anzurufen und mir den Schutz der kanadischen Regierung zu beschaffen. Ich hatte ja gestern schon einmal mit diesem — wie heißt er, Dennis Corbelier — gesprochen; der weiß Bescheid. «Marie griff nach dem Telefon auf dem Nachttisch.

Borowski sprang aus dem Sessel hoch und hielt ihren Arm fest.»Nicht«, sagte er mit fester Stimme.

«Warum nicht?«

Borowski stellte sich vor sie.»Ich glaube, du solltest dir erst anhören, was ich zu sagen habe.«

«Nein!«schrie sie und überraschte ihn damit.»Ich will es nicht hören. Nicht jetzt!«

«Vor einer Stunde noch, in Paris, wolltest du es unbedingt hören. Also… «

«Nein! Vor einer Stunde bin ich gestorben. Du hattest dich zur Flucht entschlossen, ohne mich. Und ich weiß jetzt, daß es von nun an immer wieder geschehen wird. Du hörst Worte, du siehst Bilder, du erinnerst dich an Dinge, die du nicht verstehen kannst und die dir Angst einjagen. Das wird so lange weitergehen, bis dir jemand beweist, daß es andere sind, die dich mißbrauchen, die deinen Tod wollen. Aber irgend jemand will uns helfen. Das ist die Nachricht! Ich weiß, daß ich recht habe. Laß es mich dir beweisen!«

Borowski hielt ihre Arrne schweigend fest und sah ihr ins Gesicht, ihr liebliches Gesicht, in dem Schmerz und gleichzeitig Hoffnung geschrieben standen; ihre Augen, die ihn anflehten. Verzweiflung packte ihn. Vielleicht hatte sie recht, es gab keine andere Möglichkeit.

«Also gut, ruf an!«Er ließ sie los und ging ans Telefon und wählte die Nummer der Rezeption.»Hier ist Zimmer 341. Ich habe gerade von Freunden in Paris gehört; sie wollen zu uns herauskommen. Haben Sie noch ein Zimmer auf dem gleichen Flur? Sehr schön. Ihr Name ist Briggs, ein amerikanisches Ehepaar. Ich komme hinunter und zahle im voraus, dann können Sie mir den Schlüssel geben. Danke.«

«Was machst du?«

«Ich beweise dir etwas«, sagte er.»Gib mir ein Kleid«, fuhr er dann fort.»Das längste, das du hast.«

«Was?«

«Wenn du dein Telefongespräch führen willst, mußt du tun, was ich dir sage.«

«Du bist verrückt.«

«Das bestreite ich ja gar nicht«, sagte er und holte Hosen und ein Hemd aus seinem Koffer.»Das Kleid bitte.«

Fünfzehn Minuten später war das Zimmer von Mr. und Mrs. Briggs, sechs Türen entfernt und auf der anderen Korridorseite von Zimmer 341, fertig. Die Kleider waren richtig placiert, einige Lampen eingeschaltet, andere funktionierten nicht, weil er die Glühbirnen herausgeschraubt hatte.

Jason kehrte in ihr Zimmer zurück; Marie stand am Telefon.

«Wir sind soweit. Du kannst jetzt anrufen.«

«Es ist schon sehr spät. Hoffentlich ist er noch da.«

«Ich glaube schon, daß er da sein wird. Wenn nicht, wird man dir seine Privatnummer geben. «Marie hob den Hörer ab und wählte. Sieben Sekunden später war Dennis Corbelier am Apparat. Es war fünfzehn Minuten nach ein Uhr.

«Du großer Gott, wo sind Sie?«

«Sie haben also meinen Anruf erwartet?«

«Das kann man wohl sagen! Hier ist alles in Aufruhr, ich warte schon seit fünf Uhr nachmittags hier.«

«Das hat Alan auch getan. In Ottawa.«

«Welcher Alan? Wovon sprechen Sie? Wo zum Teufel sind Sie?«

«Zuerst möchte ich wissen, was Sie mir sagen sollen.«

«Ihnen sagen?«

«Sie haben eine Nachricht für mich, Dennis. Wie lautet

sie?«

«Wie lautet was? Welche Nachricht?«

Maries Gesicht wurde bleich.»Ich habe in Zürich niemanden getötet. Ich würde nie…«

«Dann kommen Sie doch um Himmels willen hierher«, unterbrach sie der Attache.»Hier bekommen Sie allen Schutz, den wir Ihnen geben können. Niemand kann Sie hier behelligen!«

«Dennis, hören Sie mir zu! Sie haben doch auf meinen Anruf gewartet, oder?«

«Ja, natürlich.«

«Jemand hat Ihnen gesagt, daß Sie warten müssen, stimmt das?«

Pause. Als Corbelier wieder sprach, klang seine Stimme gedämpft.»Ja, das hat er. Das haben sie.«

«Was hat man Ihnen gesagt?«

«Daß Sie unsere Hilfe brauchen. Daß Sie sie sogar sehr dringend brauchen.«

Marie atmete jetzt wieder.»Und Sie wollen uns helfen?«

«Ja«, erwiderte Corbelier,»er ist doch bei Ihnen, oder?«

Borowskis Gesicht war dicht neben dem ihren, er hatte den Kopf etwas zur Seite gelegt, um Corbelier hören zu können. Er nickte.

«Ja«, antwortete sie,»wir sind zusammen hier, er ist gerade auf ein paar Minuten weggegangen. Das was in der Zeitung steht, ist alles Lüge; das haben die Ihnen doch gesagt, oder?«

«Die haben nur gesagt, daß wir Sie finden und schützen müssen. Die wollen Ihnen wirklich helfen und Ihnen einen Wagen von uns schicken, ein Diplomatenfahrzeug.«

«Wer sind diese >sie

«Ich kenne sie nicht namentlich; das brauche ich nicht. Ich kenne nur ihren Rang.«

«Rang?«

«Spezialisten, FS-Fünf. Höhere gibt es eigentlich nicht.«

«Sie vertrauen denen also?«

«Mein Gott, ja! Die haben über Ottawa mit mir Verbindung aufgenommen. Ihre Anweisungen kamen aus Ottawa.«

«Sind sie jetzt in der Botschaft?«

«Nein, auf einem Außenposten. «Corbelier hielt inne, offensichtlich strengte ihn das Gespräch an.»Herrgott, Marie, wo sind Sie?«

Borowski nickte wieder. Jetzt sprach sie.

«Wir sind in der >Auberge du Coin<, in Montrouge. Unter dem Namen Briggs.«

«Ich schicke Ihnen den Wagen jetzt gleich.«

«Nein, Dennis!«protestierte Marie und sah dabei Jason an, dessen Augen sie aufforderten, seinen Instruktionen zu folgen.»Schicken Sie am Morgen einen, gleich in der Früh — in vier Stunden, wenn Sie wollen.«

«Das kann ich nicht. Ihretwegen.«

«Sie müssen; Sie verstehen nicht. Man hat ihn in eine Falle gelockt und jetzt hat er Angst; er will fliehen. Geben Sie mir Zeit, ich kann ihn dazu überreden, sich zu stellen. Ich brauche nur noch ein paar Stunden. Er ist noch ganz durcheinander, tut aber alles, was ich sage. «Marie sprach die Worte aus und sah Borowski dabei an.

«Was für ein Schweinehund ist er denn?«

«Einer, der Angst hat«, antwortete sie.»Einer, den man fertiggemacht hat.«

«Marie…?«Corbelier hielt inne.»Also gut, gleich am Morgen. Sagen wir… sechs Uhr. Und, Marie, die wollen Ihnen wirklich helfen.«

«Ich weiß, gute Nacht.«

«Gute Nacht. «Marie legte auf.

«So, jetzt warten wir«, sagte Borowski.

«Ich weiß nicht, was du beweisen willst. Natürlich wird er die FS-Fünfer anrufen und natürlich werden die hier erscheinen. Womit rechnest du denn? Er hat es ja zugegeben.«

«Und diese FS-Fünfer sind diejenigen, die uns die Nachricht schicken?«

«Ich vermute, daß sie uns zu demjenigen bringen, der sie geschickt hat. Oder dafür sorgen werden, daß wir Verbindung mit ihm bekommen.«

Borowski sah sie an.»Hoffentlich hast du recht. Wenn das Beweismaterial, das in Zürich gegen dich aufgebaut worden ist, nicht Teil einer Nachricht ist, um mich zu finden — dann bin ich tatsächlich jener seelisch Kranke, wie du ihn Corbelier geschildert hast. Es gibt niemanden auf der Welt, der sich mehr wünscht, daß du recht hast, als ich. Aber ich glaube es nicht.«

Um drei Minuten nach zwei Uhr flackerten die Lampen im Motelkorridor und verloschen. Die einzige Lichtquelle war jetzt die schwache Beleuchtung, die aus dem Treppenhaus kam. Borowski stand an der Zimmertür, die eine Handbreit geöffnet war, und beobachtete, die Pistole in der Hand, die Lichter ausgeschaltet, den Korridor durch die schmale Spalte. Marie stand hinter ihm und spähte über seine Schulter; keiner von beiden sagte ein Wort.

Die Schritte waren gedämpft, aber nicht zu überhören. Deutlich, auffällig, zwei Paar Schuhe, die vorsichtig die Treppe heraufkamen. Binnen Sekunden konnte man die Umrisse zweier Männer sehen, die aus dem Lichtschein traten. Marie stöhnte unwillkürlich; Jason griff über seine Schulter und seine Hand legte sich über ihren Mund. Er begriff; sie hatte einen der beiden Männer erkannt, einen Mann, den sie schon einmal gesehen hatte. In der Steppdeckstraße in Zürich, wenige Minuten bevor ein anderer sie umbringen wollte. Es war der blonde Mann, den sie in Borowskis Zimmer hinaufgeschickt hatten, der Scout, den man jetzt nach Paris geholt hatte, um Borowski endlich zu erledigen. In der linken Hand hielt er eine dünne Taschenlampe, in der rechten eine Pistole, auf deren langem Lauf ein Schalldämpfer aufgeschraubt war.

Sein Begleiter war kleiner, kompakter; er bewegte sich wie ein Tier, Schultern und Hüften im Einklang mit den Beinen. Er hatte sein Revers hochgeklappt, und auf seinem Kopf saß ein schmalkrempiger Hut, der sein unsichtbares Gesicht in Schatten hüllte. Borowski starrte diesen Mann an; seine Gestalt, seine Art zu gehen, wie er den Kopf hielt, kam ihm irgendwie vertraut vor, wer war das? Er kannte ihn.

Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken; die beiden Männer näherten sich der Tür des Raumes, der auf den Namen von Mr. und Mrs. Briggs reserviert war. Der blonde Mann richtete seine Taschenlampe auf die Zimmernummer und ließ den Lichtkegel dann zur Türklinke und zum Schloß hinunterwandern.

Was dann folgte, verschlug den Zuschauern den Atem. Der breitschultrige Mann hielt einen Schlüsselbund in der rechten Hand, hielt ihn in den Lichtkegel, suchte einen speziellen Schlüssel aus. In der linken Hand hielt er eine Waffe; im schwachen Licht konnte man den übergroßen Schalldämpfer für eine großkalibrige Automatic erkennen, ähnlich der Sternlichtluger, die die Gestapo im Zweiten Weltkrieg so gerne benutzt hatte. Sie konnte Wabenstahl und Beton durchschlagen, und ein Schuß würde nicht lauter als ein rheumatisches Husten klingen, die ideale Waffe, um in einer stillen Umgebung nachts Feinde zu erledigen, ohne daß die Bewohner in der Umgebung irgendeine Störung bemerkten, nur am Morgen das Verschwinden eines Nachbarn.

Der Kleinere schob den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn lautlos und richtete dann den Lauf seiner Waffe auf das Schloß. Ein dreimaliges Husten, begleitet von drei Lichtblitzen; das Holz, das die Schrauben umgab, zersplitterte. Die Tür öffnete sich; die beiden Killer rannten hinein.

Zwei Sekunden lang herrschte Schweigen, dann gedämpftes Pistolenfeuer, hustende Laute und weiße Blitze aus der Dunkelheit. Die Türe flog zu; sie blieb nicht geschlossen, öffnete sich wieder, als lautere Geräusche aus dem Raum drangen. Schließlich fanden sie den Lichtschalter; die Beleuchtung wurde kurz angeknipst und dann die Lampe wütend ausgeschossen. Das Geräusch von zersplittertem Glas. Ein verärgerter Ausruf aus der Kehle eines wütenden Mannes.

Die zwei Killer rannten heraus, die Waffen schußbereit, damit rechnend, in eine Falle zu gehen, verblüfft, daß da keine war. Sie erreichten das Treppenhaus und rannten hinunter. Jetzt öffnete sich eine Türe rechts von dem Raum, in den sie eingedrungen waren. Ein Gast sah blinzelnd heraus, zuckte dann die Achseln und ging wieder hinein. Jetzt herrschte in dem verlassenen Korridor wieder Schweigen.

Borowski rührte sich nicht von der Stelle, hielt Marie St. Jacques im Arm. Sie zitterte, hatte den Kopf an seine Brust gelegt, schluchzte leise, hysterisch, ungläubig. Er ließ die Minuten verstreichen, bis ihr Zittern nachließ und anstelle des Schluchzens tiefe Atemzüge traten. Er konnte nicht länger warten; sie mußte es selbst sehen. Sie mußte es endlich begreifen. Ich bin Cain. Ich bin der Tod.

«Komm!«flüsterte er.

Er führte sie in den Korridor hinaus, auf das Zimmer zu, das sein letzter Beweis war. Er stieß die zerbrochene Türe auf, und sie gingen hinein.

Sie stand reglos da, von dem Anblick, der sich ihr bot, geschockt. Rechts von der offenen Tür war die undeutliche Silhouette einer Gestalt zu erkennen. Das Licht dahinter war so gedämpft, daß man nur die Umrisse sehen konnte. Das Auge mußte sich erst an die seltsame Mischung von Dunkelheit und Helligkeit gewöhnen. Es war die Gestalt einer Frau in einem langen Kleid, der Stoff raschelte leicht im Windzug, der vom offenen Fenster hereinkam.

Fenster. Genau vor ihnen bewegte sich eine zweite Gestalt, kaum sichtbar, aber vorhanden. Ihre Umrisse waren nur ein undeutlicher Fleck, den das Licht von der fernen Straße beleuchtete. Kurze, heftige Zuckungen ließen Marie erstarren.

«O Gott«, stammelte sie.»Schalte das Licht ein, Jason.«

«Nein, es funktioniert nicht«, erwiderte er.»Da sind nur zwei Tischlampen, eine haben sie gefunden. «Er ging vorsichtig durchs Zimmer und fand die Lampe, die er suchte; sie stand nahe bei der Wand auf dem Boden. Er kniete nieder und knipste sie an; Marie schauderte.

Vor der Badezimmertür hing ihr langes Kleid, von Fäden festgehalten, die er aus einem Vorhang gezogen hatte, flatterte es im Wind. Es war von Kugellöchern zerfetzt.

Am Fenster waren Borowskis Hemd und Hose mit Reißzwecken am Fensterrahmen befestigt, die Scheiben an beiden Ärmeln zerschlagen, so daß der Wind von draußen den Stoff bewegen konnte. Das weiße Tuch des Hemds war an einem halben Dutzend Stellen durchlöchert, und eine schräge Reihe von Einschußlöchern verlief quer über die Brust.

«Da hast du deine Nachricht«, sagte Jason.»Jetzt weißt du Bescheid. Und jetzt wirst du dir anhören, was ich zu sagen habe.«

Marie gab keine Antwort. Langsam ging sie auf ihr Kleid zu und musterte es, als könnte sie nicht glauben, was sie sah. Und dann fuhr sie ohne Warnung plötzlich herum und ihre Augen funkelten, ihr Tränenfluß war zum Versiegen gekommen.»Nein! Da stimmt etwas nicht! Ich weiß es. Du mußt die Botschaft anrufen.«

«Was?«

«Tu, was ich sage. Jetzt!«

«Hör auf, Marie. Du mußt begreifen.«

«Nein, verdammt! Du mußt begreifen! Da stimmt etwas nicht.«

«Was soll da nicht stimmen?«

«Ruf die Botschaft an! Nimm das Telefon dort drüben und ruf sofort an! Du mußt Corbelier verlangen. Schnell, um Gottes willen! Wenn ich dir überhaupt etwas bedeute, dann tu, was ich sage!«

Borowski konnte sich ihrer Intensität nicht widersetzen.»Was soll ich sagen?«fragte er und ging ans Telefon.

«Ruf ihn zuerst an! Das ist es, wovor ich Angst habe… o Gott, habe ich Angst!«

«Welche Nummer?«

Sie gab sie ihm; er wählte und mußte eine Ewigkeit warten, bis die Zentrale sich meldete. Als sie das schließlich tat, war die Frau am anderen Ende völlig verwirrt, ihre Stimme schwankte und war teilweise unverständlich. Im Hintergrund konnte er Schreie hören, scharfe Kommandos, die schnell in Englisch und Französisch ausgestoßen wurden. Binnen Sekunden erfuhr er den Grund.

Dennis Corbelier, kanadischer Attache, war um ein Uhr vierzig die Stufen der Gesandtschaft in der Avenue Montaigne hinuntergegangen und hatte einen Schuß in die Kehle bekommen. Er war tot.

«Das ist der andere Teil der Nachricht, Jason«, flüsterte Marie und starrte ihn an.»Und jetzt will ich mir alles anhören, was du zu sagen hast, weil dort draußen wirklich jemand ist, der versucht, dich zu erreichen, dir zu helfen. Jemand hat eine Nachricht ausgeschickt, aber nicht an uns, nicht an mich. Nur an dich, und nur du solltest sie verstehen.«

Kapitel 22

Die vier Männer trafen einer nach dem anderen im überfüllten Hilton-Hotel an der Sechzehnten Straße in Washington, D.C., ein. Jeder ging zu einem anderen Lift und fuhr damit zwei oder drei Stockwerke über oder unter sein Ziel und ging den restlichen Weg zur richtigen Etage zu Fuß. Es war keine Zeit mehr, sich außerhalb der Grenzen des District of Columbia zu treffen; es herrschte äußerste Alarmbereitschaft. Es waren dies alle die Männer von Treadstone Seventy-One; jene, die noch am Leben geblieben waren. Der Rest war tot. In einem Massaker an einer stillen, von Bäumen gesäumten Straße in New York hingeschlachtet.

Zwei der Gesichter waren der Öffentlichkeit vertraut. Das erste gehörte dem alternden Senator aus Colorado, das zweite Brigadegeneral I. A. Crawford — Irwin Arthur, frei übersetzt Iron Ass, Eisenarsch — der anerkannte Sprecher der Militärischen Abwehr und der Verteidiger der Datenbänke von G-2. Die anderen zwei Männer waren praktisch unbekannt, sah man einmal von den Korridoren ihrer eigenen Organisationen ab. Der eine war ein Marineoffizier in mittleren Jahren und ein Mitarbeiter von Information Control, 5th Navel District. Der vierte und letzte Mann war ein sechsundvierzigjähriger Veteran der Central Intelligence Agency, ein schlanker, elastisch wirkender Mann, dem man die aufgestaute Wut anmerkte. Er ging am Stock, weil ihm eine Granate in Südostasien den Fuß weggefetzt hatte; er war damals Geheimagent der Operation Medusa gewesen. Sein Name: Alexander Conklin.

In dem Raum stand kein Konferenztisch; es war ein ganz gewöhnliches Doppelzimmer mit dem üblichen Bett, einer Couch, zwei Armsesseln und einem Beistelltisch. Ein höchst eigenartiger Ort, um an ihm eine Besprechung von solcher Bedeutung abzuhalten; da gab es keine kreisenden Computer, die dunkle Bildschirme mit grünen Buchstaben erfüllten, keine elektronischen Fernmeldeeinrichtungen, die die Verbindung zu ähnlichen Anlagen in London, Paris oder Istanbul herstellen konnten. Ein ganz gewöhnliches Hotelzimmer, in dem vier

Köpfe saßen, die die Geheimnisse von Treadstone Seventy-One hüteten.

Der Senator saß am einen Ende der Couch, der Marineoffizier am anderen. Conklin ließ sich in einen Armsessel sinken und streckte das unbewegliche Bein weg, hielt den Stock zwischen den Beinen, während Brigadegeneral Crawford stehen blieb, das Gesicht gerötet, das Kinn vorgeschoben.

«Ich habe den Präsidenten erreicht«, sagte der Senator und rieb sich die Stirn. Man merkte, daß er nicht ausgeschlafen war.»Das mußte ich; wir treffen uns heute abend. Sagen Sie mir alles, was Sie können. Jeder von Ihnen. Fangen Sie an, General. Was in Gottes Namen ist passiert?«

«Major Webb hatte seinen Wagen um dreiundzwanzig Uhr an die Ecke Lexington- und Zweiundsiebzigste Straße bestellt. Der Zeitpunkt lag fest, aber er erschien nicht. Um dreiundzwanzig Uhr dreißig begann der Fahrer wegen der Entfernung bis zu dem Flugplatz in New Jersey unsicher zu werden. Der Sergeant erinnerte sich an die Adresse — in erster Linie, weil man ihm aufgetragen hatte, sie zu vergessen — fuhr hin und ging an die Türe. Die Sicherheitsriegel waren beschädigt, und die Tür ließ sich öffnen; sämtliche Alarmanlagen waren kurzgeschlossen worden. Der Boden im Foyer war blutbespritzt, auf der Treppe lag die tote Frau. Er ging den Korridor hinunter und fand die Leichen.«

«Dieser Mann hat sich eine Beförderung verdient«, sagte der Marineoffizier.

«Warum sagen Sie das?«fragte der Senator.

Crawford beantwortete die Frage:»Er besaß die

Geistesgegenwart, das Pentagon anzurufen und bestand darauf, mit der geheimen Sendestelle Inland zu sprechen. Er nannte die Zerhackerfrequenz, den Zeitpunkt und den Ort des Empfangs und gab vor, mit dem Sender sprechen zu müssen. Er sagte zu niemandem ein Wort, bis er mich am Telefon hatte.«

«Stecken Sie ihn in die Militärakademie, Irwin«, sagte Conklin grimmig und klammerte sich an seinem Stock fest.»Er ist intelligenter als die meisten Clowns, die Sie dort drüben haben.«

«Das ist nicht nur unnötig, Conklin«, ermahnte der Senator,»sondern offenkundig aggressiv. Bitte, fahren Sie fort, General.«

Crawford wechselte Blicke mit dem Mann vom CIA.»Ich erreichte Colonel Paul McClaren in New York, befahl ihm, sich an den Schauplatz des Massakers zu begeben und absolut nichts zu tun, bis ich einträfe. Dann rief ich Conklin und George an, und dann sind wir gemeinsam hingeflogen.«

«Ich habe ein Abdrucksteam des Büros in Manhatten angerufen«, fügte Conklin hinzu.»Eines, das wir schon früher benutzt haben und dem wir vertrauen können. Ich verlangte, daß sie das ganze Haus durchsuchen und alles, was sie fanden, mir geben sollten. «Der CIA-Mann hielt inne, hob seinen Stock und richtete ihn auf den Marineoffizier.»Dann hat George Ihnen siebenunddreißig Namen durchgegeben, alles Männer, deren Abdrücke in den Akten des FBI sind. Sie fanden den Namen, den wir am allerwenigsten erwarteten…«

«Delta«, sagte der Senator.

«Ja«, nickte der Marineoffizier.»Die Namen, die ich lieferte, umfaßten jeden — gleichgültig wie entfernt — der möglicherweise die Adresse von Treadstone kennen konnte, inklusive übrigens alle hier im Raum Anwesenden. Der ganze Raum war saubergewischt worden; jede Fläche, jeder Knopf, jedes Glas — mit Ausnahme eines einzigen. Es war ein zerbrochenes Brandyglas, nur ein paar Scherben in der Ecke unter einem Vorhang, aber es reichte. Die Abdrücke waren da: Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand.«

«Und Sie sind ganz sicher?«fragte der Senator langsam.

«Abdrücke können nicht lügen, Sir«, sagte der Offizier.»Sie waren da, und an den Glasscherben klebte noch feuchter Brandy. Außerhalb dieses Zimmers ist Delta der einzige, der die Einundsiebzigste Straße kennt.«

«Vielleicht haben die anderen etwas gesagt?«

«Unmöglich«, unterbrach der Brigadegeneral.»Abbott war schweigsam wie ein Grab, und Elliot Stevens hat die Adresse erst fünfzehn Minuten, ehe er hinkam, erfahren, und man hat ihn von einer Telefonzelle aus angerufen. Außerdem würde er, selbst wenn man ihm das Schlimmste unterstellt, wohl kaum seine eigene Exekution betreiben.«

«Was ist mit Major Webb?«drängte der Senator.

«Der Major«, erwiderte Crawford,»erhielt die Adresse über Funk von mir, nachdem er auf dem Kennedy-Flughafen gelandet war. Wie Sie wissen, habe ich eine G-Zwo-Frequenz benutzt und den Zerhacker eingeschaltet. Außerdem darf ich Sie erinnern, daß er ebenfalls sein Leben verloren hat.«

«Ja, natürlich. «Der alternde Senator schüttelte den Kopf.»Es ist unglaublich. Warum!«

«Da muß ich leider auf ein etwas schmerzliches Thema kommen«, sagte Brigadegeneral Crawford.»Ich war von Anfang an von dem Kandidaten nicht begeistert. Ich habe Davids Gründe begriffen und auch akzeptiert, daß er die Eignung besaß, aber, wenn Sie sich erinnern können, war er nicht der Mann meiner Wahl.«

«Ich wußte gar nicht, daß wir eine Wahl hatten«, sagte der Senator.»Wir hatten einen Mann — einen geeigneten Mann, wie auch Sie bestätigen — der bereit war, auf unbestimmte Zeit unterzutauchen, jeden Tag sein Leben zu riskieren und sämtliche Verbindungen zu seiner Vergangenheit zu lösen. Wie viele solche Männer gibt es?«

«Wir hätten sicher auch einen ausgeglicheneren Mann finden können«, konterte der Brigadegeneral.»Darauf habe ich damals hingewiesen.«

«Es gab damals keinen ausgeglicheneren Mann«, wies ihn Conklin zurecht.

«Wir waren beide in Medusa, Conklin«, sagte Crawford verärgert, aber nicht unfreundlich.»Sie sind nicht der einzige, der da Einblick hatte. Deltas Verhalten im Einsatz war die ganze Zeit von offener Feindseligkeit gegenüber seinen Vorgesetzten geprägt. Ich befand mich damals in einer Position, wo ich das deutlicher als Sie beobachten konnte.«

«Die meiste Zeit hatte er dazu auch allen Anlaß. Wenn Sie mehr Zeit draußen im Feld und weniger in Saigon verbracht hätten, dann hätten Sie das begriffen. Ich habe es begriffen.«

«Es mag Sie vielleicht überraschen«, sagte der General und hob die Hand in einer Geste, die andeutete, daß er Waffenstillstand suchte,»aber ich will die vielen Dummheiten gar nicht verteidigen, die in Saigon begangen wurden — das könnte niemand. Ich versuche nur, die Gründe zu eruieren, die so etwas, wie das Verbrechen vorgestern nacht an der Einundsiebzigsten Straße, begreiflich machen können.«

Die Augen des CIA-Mannes ließen Crawford nicht los; dann nickte er langsam, und man spürte, daß seine Feindseligkeit nachließ.»Ja, das weiß ich. Tut mir leid. Das ist eben das Schwierige daran, nicht wahr? Für mich ist das nicht leicht; ich habe in einem halben Dutzend Sektoren mit Delta gearbeitet und war zusammen mit ihm in Phnom Penh stationiert, ehe der >Mönch< auch nur an Medusa gedacht hat.

Nach Phnom Penh war er nie mehr derselbe; deshalb hat er sich ja Medusa angeschlossen und war auch bereit, Cain zu werden.«

Der Senator lehnte sich auf der Couch vor.»Ich glaube, es schon einmal gehört zu haben, aber schildern Sie es noch einmal. Der Präsident muß alles wissen.«

«Seine Frau und seine beiden Kinder wurden auf einem Pier im Mekongfluß getötet, der von einem einzelnen Flugzeug bombardiert und im Tiefflug mit Bordkanonen beschossen wurde — niemand wußte, welcher Seite die Maschine angehörte —, es kam auch nie heraus. Er haßte diesen Krieg, haßte jeden, der damit zu tun hatte. Und daran ist er zerbrochen. «Conklin hielt inne und sah den General an.»Und ich glaube auch, daß Sie recht haben, General, er ist wieder zerbrochen worden. Er ist nicht mehr Delta. Wir haben einen Mythos geschaffen, der Cain hieß. Nur daß es kein Mythos mehr ist. Das ist jetzt wirklich er.«

«Nach so vielen Monaten…«Der Senator lehnte sich zurück, und seine Stimme wurde leiser.»Warum ist er zurückgekommen? Von woher?«

«Aus Zürich«, antwortete Crawford.»Webb war in Zürich, und ich glaube, daß er der einzige ist, der ihn hätte zurückhalten können. Und was die Frage nach dem >Warum< angeht, so werden wir das vielleicht nie erfahren, es sei denn, er hat erwartet, uns alle dort vorzufinden.«

«Er weiß nicht, wer wir sind«, protestierte der Senator.»Seine einzigen Kontakte waren der Yachtsegler, seine Frau und David Abbott.«

«Und Webb natürlich«, fügte der General hinzu.

«Natürlich«, nickte der Senator.»Aber nicht bei Treadstone, nicht einmal er.«

«Das hätte nichts ausgemacht«, sagte Conklin und stieß mit seinem Stock auf den Boden.»Er weiß, daß es einen Ausschuß gibt; Webb hat ihm vielleicht gesagt, daß wir alle dort sein würden, hat das angenommen. Eine Menge Fragen warteten auf ihn — über sechs Monate haben wir nichts von ihm gehört, ein paar Millionen Dollar sind verschwunden. Er könnte uns beseitigen und verschwinden. Ohne Spuren.«

«Warum sind Sie da so sicher?«

«Erstens, weil er dort war«, erwiderte der Mann von der Abwehr und hob die Stimme.»Wir haben seine Fingerabdrücke auf einem Brandyglas, das nicht einmal ausgetrunken wurde.

Zweitens, es ist eine klassische Falle mit dreihundert Variationen.«

«Würden Sie das erklären?«

«Man bleibt selbst stumm«, unterbrach der General und musterte dabei Conklin,»bis der Feind das nicht mehr länger erträgt und selbst seine Deckung verläßt.«

«Und wir sind zum Feind für ihn geworden?«

«Daran besteht jetzt kein Zweifel mehr«, sagte der Marineoffizier.»Aus welchen Gründen auch immer — Delta hat eine Kehrtwendung vollzogen. Das wäre nicht das erste Mal, daß so etwas passiert — Gott sei Dank geschieht es nicht oft. Wir wissen, was zu tun ist.«

Wieder beugte sich der Senator auf der Couch vor.»Was werden Sie tun?«

«Seine Fotografie ist nie in Umlauf gebracht worden«, erklärte Crawford.»Das werden wir jetzt tun. Jede Station, jeder Lauschposten, jeder Gewährsmann und jeder Informant, den wir besitzen, erhält ein Foto. Irgendwohin muß er gehen, und er wird mit einem Ort beginnen, den er kennt, und wäre es nur, um sich eine neue Identität zu kaufen. Er wird Geld ausgeben; man wird ihn finden. Und wenn das geschehen ist, wird die Anweisung lauten…«

«Ihn sofort herzubringen?«

«Ihn zu töten«, sagte Conklin einfach.»Einen Mann wie Delta nimmt man nicht gefangen, und man geht auch nicht das Risiko ein, daß eine andere Regierung das tut. Nicht bei den Informationen, die er hat.«

«Das kann ich dem Präsidenten aber nicht sagen. Es gibt Gesetze.«

«Nicht für Delta«, sagte der Agent.»Er steht jenseits der Gesetze. Er ist nicht mehr zu retten.«

«Nicht… «

«Richtig, Senator«, unterbrach der General.»Nicht mehr zu retten. Ich glaube, Sie wissen, was dieser Satz bedeutet. Sie müssen selbst entscheiden, was Sie dem Präsidenten sagen wollen oder nicht. Es könnte besser sein… «

«Sie müssen alles untersuchen«, sagte der Senator und unterbrach damit den Offizier.»Ich habe letzte Woche mit Abbott gesprochen. Er sagte mir, Maßnahmen seien im Gange, um Delta zu erreichen. Zürich, die Bank, die Benennung von Treadstone; das hängt doch alles damit zusammen, nicht wahr?«

«Ja, und jetzt ist es vorbei«, sagte Crawford.»Wenn Ihnen das Beweismaterial von der Einundsiebzigsten Straße noch nicht reicht, sollte wenigstens das genügen. Delta hat ein klares Signal zur Rückkehr bekommen. Er hat es nicht befolgt. Was wollen Sie noch?«

«Ich will absolut sicher sein.«

«Und ich will, daß er stirbt. «Conklins Worte hatten, obwohl er sie ganz leise ausgesprochen hatte, die gleiche Wirkung wie ein plötzlicher eisiger Windhauch.»Er hat nicht nur sämtliche Regeln gebrochen, die wir uns je selbst gesetzt haben — gleichgültig, welcher Art — sondern er ist abgesunken. Er stinkt. Er ist Cain. Wir haben so oft den Namen Delta gebraucht — nicht einmal Borowski, sondern Delta — und ich glaube, daß wir etwas vergessen haben. Gordon Webb war sein Bruder. Wir müssen ihn finden. Wir müssen ihn töten.«

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